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Was muss passieren, damit ein Strafverteidiger seine ethischen Prinzipien über Bord wirft und sich in einer Welt wiederfindet, deren Spielregeln nicht im norwegischen Gesetz verankert sind? Diese Frage stellt sich der Anwalt Mikael Brenne aus Bergen leider viel zu spät. Zu diesem Zeitpunkt ist er bereits so in die lukrativen Machenschaften seines ausländischen Mandanten verstrickt, dass die ein oder andere Gesetzesübertretung für ihn lebensnotwendig geworden ist. Als Brenne einen Gehilfen seines Klienten im Aff ekt erschlägt, scheint sich die Schlinge um seinen Hals gefährlich zuzuziehen …. Frei von Schuld von Chris Tvedt: Spannung pur im eBook!
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Seitenzahl: 516
Veröffentlichungsjahr: 2010
Chris Tvedt
Frei von Schuld
Kriminalroman
Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob
Knaur e-books
Für Elisabeth und Oda. Danke für eure Hilfe, eure Unterstützung und euren unerschütterlichen Optimismus.
Und für Christian und Ida, die es mit mir aushalten.
VERBRECHEN
Die Nachmittagssonne fiel schräg durch die hohen, gebogenen Fenster und ließ den tanzenden Staub wie Sterne und Planeten aussehen. Es war vollkommen still, ich war allein in dem großen Raum. Für einen kurzen Moment saß nur ich hier in diesem Saal des Gerichts. Wie viel hatte ich hier erlebt und gehört, Tränen und Wut – Triumphe und Verzweiflung, doch nie die Stille. Die erlebte ich erst jetzt.
Es war nicht die Ruhe vor dem Sturm. Auch nicht die Ruhe nach einer geschlagenen Schlacht. Es war der Moment der Stille dazwischen. Nach dem Kampf, vor dem Urteil. Die Stille, die noch alle Möglichkeiten in sich birgt und für einen Augenblick zwischen Sieg und Niederlage schwebt.
Eigentlich müsste es hier drinnen Geister geben, Schwingungen und Vibrationen von all der Trauer, all der Verzweiflung und all den zerstörten Leben, doch der große, leere Raum mit seinen schweren Eichenmöbeln schien die Wirklichkeit hinter den hohen Fenstern auf Distanz zu halten.
Als ich die schwarze Robe anzog, öffnete sich die Tür an der Schmalseite des Raumes, und der Staatsanwalt kam herein. Er ging langsam zu seinem Platz, während auch er seine Robe anlegte. Seine Schritte hallten im Raum wider. Er nickte mir schweigend zu, ohne zu lächeln. Dann standen wir uns wartend gegenüber.
Schließlich kam der Gerichtsdiener herein. »Wo ist Ihr Mandant, Herr Brenne?«, fragte er.
Ich zuckte mit den Schultern. »Auf dem Weg, nehme ich an. Er war im Untergeschoss des Präsidiums und hat dort etwas zu essen bekommen. Haben Sie dort angerufen?«
»Ja, die sollten längst hier sein.«
In diesem Moment öffnete sich die Tür rechts neben mir, und mein Mandant betrat den Raum. Er trug Handschellen und wurde von zwei Beamten begleitet. Nachdem sie seine Fesseln gelöst hatten, kam er auf mich zu. Er war recht jung, hatte kurzgeschorene, blonde Haare, ein dickliches Gesicht und einen kräftigen Körper. Er trug ein weißes T-Shirt und eine Jeans. Ich hatte ihn schon die ganze Woche bearbeitet, etwas anderes anzuziehen, aber er wollte nicht. Jetzt war es zu spät. Er setzte sich auf seinen Platz und stützte den Kopf auf die Hände. Angeklagt war er wegen zweifachen Mordversuchs. Mit einem Messer. Ich hatte auf Notwehr plädiert.
Ich ging zu ihm, zögerte etwas und legte ihm dann für einen kurzen Moment die Hand auf die Schulter. Als er zu mir aufblickte, sah er wie ein kleiner Junge aus. Er hatte Angst.
»Wie sieht’s aus?«, fragte er. »Warum brauchen die so lange?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich. »Wir werden es bald wissen.«
Dann warteten wir auf das Gericht. In diesen Augenblicken des Wartens gibt es keine Zeit für Trost. Das ist die Stunde der Wahrheit, in der sich die Sekunden für die Angeklagten endlos in die Länge ziehen.
Schließlich kamen die Richter. Alle drei trugen schwarze Roben mit Samtbesätzen. Zwei Männer und eine Frau. Sie blieben stehen. Wie wir anderen. Ich sah zu meinem Mandanten. Er klammerte sich an die Tischplatte vor sich und sah aus, als hätte er Schwierigkeiten, aufrecht zu stehen.
Der vorsitzende Richter nickte dem Gerichtsdiener zu. »Bitten Sie die Geschworenen herein«, sagte er. Mein Magen zog sich zusammen.
Die Tür hinter dem Staatsanwalt wurde geöffnet, und die Geschworenen betraten langsam den Raum. Sie gingen zu ihren Plätzen, an denen sie die ganze Woche gesessen hatten. Auch mir kamen diese Momente wie eine Ewigkeit vor. Ich versuchte, ihre Blicke einzufangen und etwas in ihren Gesichtern zu lesen. Dabei wusste ich aus Erfahrung, wie wenig das nützt. Zehn ganz normale Menschen, die meisten schon recht betagt. Sie sahen grau und müde aus. Ich legte meine Hände auf den Rücken, um sie gleich darauf wieder vor meinem Bauch zu falten. Meine Handflächen waren feucht. Für einen Augenblick kochte die Wut in mir hoch. Wut darüber, eine Woche in diesem Gerichtssaal verbracht und bis zur Erschöpfung gerungen zu haben und jetzt keinerlei Einfluss, keine Kontrolle mehr über die Situation zu haben. Zum Warten verdammt zu sein.
»Bitte«, sagte der vorsitzende Richter zum Sprecher der Jury. »Sie können Ihre Entscheidung verlesen.«
Er stand auf, ein etwas gebeugter, älterer Mann in Strickjacke und weißem Hemd. Er fingerte an dem Papier in seinen Händen herum und räusperte sich. Meine Hände hatten sich fest ineinander verhakt.
»In der Hauptanklage«, las er mit viel zu lauter Stimme, »haben wir auf schuldig erkannt. Mit mehr als sieben Stimmen.« Die Übelkeit schoss in mir hoch, so dass ich mich beinahe zusammenkrümmen musste.
Das ist jedes Mal so. Die Enttäuschung ist so überwältigend, dass sie mich lähmt. Ich setzte mich und nahm den Rest der Verhandlung durch einen Schleier der Gleichgültigkeit wahr, bis der Richter die Verhandlung vertagte.
»Es ist schon spät«, sagte er. »Wie Sie wissen, können wir morgen aus terminlichen Gründen keine weitere Verhandlung ansetzen. Wir werden uns aber am Wochenende zusammensetzen und über das Urteil beraten. Das Gericht vertagt sich deshalb auf Montagmorgen, neun Uhr. Wir rechnen damit, dass die Verhandlung bis gegen Mittag abgeschlossen sein wird.«
Wir standen auf, als die Richter den Saal verließen – mit Ausnahme meines Mandanten, der wie betäubt auf seinem Platz verharrte. Ich setzte mich neben ihn und versuchte, die richtigen Worte zu finden. Als er mich ansah, stand in seinen Augen die blanke Angst. Erst jetzt schien er wirklich an eine Verurteilung zu glauben. »Was bekomme ich, Herr Brenne? Wie viele Jahre kriege ich?«
Ich konnte ihm kaum in die Augen sehen. »Ich weiß es nicht. Ein paar werden es schon sein, das wissen Sie. Ich muss mir alles übers Wochenende noch mal durch den Kopf gehen lassen.«
Er nickte. Mehr gab es nicht zu sagen. Wir saßen noch ein paar Minuten nebeneinander, konnten aber nur die Enttäuschung teilen. Dann wurde er von den Polizisten abgeführt.
Der Staatsanwalt kam durch den Saal auf mich zu, reichte mir die Hand und wünschte mir ein schönes Wochenende. Ich schlug ein, erwiderte seinen Wunsch, konnte ihn aber nicht anlächeln. Ich bin Verteidiger und will gewinnen, wenn ich vor Gericht stehe. Das hat nichts mit meinen Mandanten oder den jeweiligen Fällen zu tun. Es spielt keine Rolle, ob ich sie für schuldig halte oder nicht. Ich will einfach nur gewinnen.
Jetzt brauchte ich ein Bier.
Der Lärmpegel war hoch und das Gedränge groß. Ich saß ganz hinten im Lokal, umringt von Journalisten und Anwälten. Schon nach dem zweiten Bier hörte ich mich selbst über den Rechtsfall lamentieren und ununterbrochen wiederholen, was ich gesagt und getan hatte, wie viele Fehler der Staatsanwalt gemacht hatte und warum ich diesen Fall hätte gewinnen müssen. Ich wusste, dass ich für meine Umgebung eine Plage war, konnte aber kein Ende finden. Zwei Kollegen nickten mir mit glasigen Blicken zu. Als wäre der Druck dieser einen Woche im Gericht, in der ich jedes Wort auf die Goldwaage hatte legen müssen, so übermächtig geworden, dass jetzt all die Enttäuschungen und Frustrationen in einem einzigen, langen Monolog aus mir herausquollen.
Die Gläser leerten sich immer schneller. Ein paar Menschen gingen, andere kamen. Aus dem Nachmittag wurde Abend, doch ich redete noch immer. Als die Promillewerte auch bei den anderen stiegen, war ich nicht mehr der Einzige, der zu viel redete. Ich wusste, dass ich etwas essen sollte, konnte mich aber nicht aufraffen.
Irgendwann im Laufe des Abends gingen wir noch in eine andere verrauchte Kneipe. Hier verkehrte ich schon seit der Studienzeit. Der Lärm machte es beinahe unmöglich, ein ordentliches Gespräch zu führen, und der Service war schrecklich; dennoch hatte ich das Gefühl, als wäre ich nach Hause gekommen. Früher war das mal die Stammkneipe der Schauspieler, Künstler und Intellektuellen gewesen. Jetzt waren die Künstler jünger und gingen in die angesagten Bars, während die Intellektuellen zu Hause blieben. Bei den wenigen, die immer noch kamen, handelte es sich um Anwälte und Journalisten mittleren Alters, die zu viel tranken.
Wir bekamen noch eine Runde und zogen über Kollegen her. Als ich auf die Toilette ging, bemerkte ich, dass ich mich beim Pinkeln mit einer Hand an der Wand abstützen musste. Ein schlechtes Zeichen. Ich nahm mir fest vor, als Nächstes einen Kaffee zu bestellen.
Als ich wieder zurückkam, saßen mit einem Mal Frauen am Tisch. Jemand hatte den Nachbartisch an den unseren geschoben, um Platz zu schaffen. Ich presste mich dazwischen und stellte zu meiner Überraschung fest, dass mein Glas fast leer war. Georg, der Journalist bei einer Boulevardzeitung war, stellte mich vor.
»Das ist Mikael«, sagte er. »Mikael Brenne. Strafanwalt. Der Verteidiger der Schwachen. Der weiße Ritter des Gerichtssaals, heute allerdings mit gebrochener Lanze und verbeulter Rüstung. Sag hallo zu den Mädchen, Mikael.«
Ich nickte lächelnd und begrüßte diejenigen, die mir am nächsten saßen, mit Handschlag. Die Namen vergaß ich sogleich wieder.
Es gelang mir tatsächlich, einen doppelten Espresso zu bestellen, der aber nur wenig half. Die Enttäuschung über das Urteil begann sich etwas zu legen, falls sie nicht bloß vom Alkohol betäubt wurde. In einem Augenblick der Klarheit wusste ich, dass mich nicht nur dieses Verfahren bedrückte, auch wenn ich es natürlich gerne gewonnen hätte. Ich hatte in letzter Zeit zu oft verloren und zu viele Mandanten eingebüßt. Ich befand mich in einem Teufelskreis und fragte mich, ob ich diesen Job vielleicht schon zu lange machte. Ob ich darunter litt, mir unentwegt die gleichen traurigen Geschichten meiner oft chancenlosen Mandanten anhören zu müssen.
»Du bist so still«, säuselte mir eine Stimme ins Ohr. »Machst du dir um deine gebrochene Lanze Sorgen? Oder um die verbeulte Rüstung?«
Ich drehte mich in Richtung Stimme. Neben mir saß plötzlich eine andere Frau. Irgendjemand war aufs Klo gegangen, was rund um den Tisch zu einer neuen Sitzordnung geführt hatte.
Ich sah sie lächelnd an. Volle Lippen, große Brüste unter einem lockeren Pullover. Kurze, dunkle Haare und braune Augen in einem offenen Gesicht. Nicht hübsch, aber attraktiv. Ihr Mund gefiel mir, er war ebenso sinnlich wie hungrig.
»Ich hab heute schon zu viel geredet, und die meiste Zeit über mich selbst. Meine Umgebung und ich brauchen eine Pause.«
Sie lachte. »Warum denn? Und was sollte das mit der Lanze und der Rüstung bedeuten?«
»Ich habe heute einen Gerichtsfall verloren, einen, den ich gerne gewonnen hätte. Deshalb bin ich etwas geknickt.«
Und dann redete ich wieder über mich. Nach einer Weile kam das Thema aber auch auf sie zu sprechen. Sie hieß Mette und arbeitete im Jugendamt. Sie lachte viel und war eine angenehme Gesprächspartnerin. Als sie aufstand, um aufs Klo zu gehen, fiel mein Blick auf ihren runden Po, der sich unter der engen Jeans abzeichnete. Sie kam wieder zurück und presste sich erneut lächelnd neben mich. Wenn sie sich bei einem Thema ereiferte, berührte sie mit ihrer Hand leicht meinen Arm, um sicherzugehen, dass ich ihr auch zuhörte.
Später gingen wir noch in eine Bar. Draußen war es dunkel, ein milder Spätsommerabend mit einem Hauch von Herbst in der Luft. Als wir zu viert oder fünft durch die Straßen der Stadt liefen, hakte sich Mette bei mir ein. Mir gefiel der Druck ihrer Hand auf meinem Unterarm, ihre Nähe.
Die Bar war so voll, dass wir nur noch einen Stehplatz am Ende des Tresens fanden. Ich hatte wieder begonnen, Bier zu trinken. Georg war inzwischen vollends betrunken und hatte mir wichtige Dinge mitzuteilen.
»Pass auf, Mikael«, sagte er. »Hör mir gut zu, ich bin dein Freund.«
Eine maßlose Übertreibung, aber ich kannte ihn schon lange und mochte ihn einigermaßen.
»Du … du musst dich zusammenreißen, Mikael. Du bist auf dem absteigenden Ast.«
Ich sah ihn nur an, während er sich die weiteren Worte zusammensuchte und Anlauf nahm.
»Ich meine das so, Mikael. Pass … ich kenne dich schon lange und hab dich oft im Gericht gehört. Du bist gut.« Er nickte. Seine Augen waren glasig, aber er redete so eindringlich, wie das nur betrunkene Leute können. »Du bist verdammt gut, wirklich. Genauso gut wie … ach, egal.« Ihm fiel niemand ein, mit dem er mich vergleichen konnte. »Ja, das bist du, und das weißt du. Aber dir … dir fehlt der Drive, Mikael. Es wirkt fast so, als hättest du dein Interesse verloren. Du setzt die Zeitungen nicht mehr richtig ein. Du kriegst nicht mehr die besten Fälle. Du verkaufst dich den Mandanten gegenüber nicht richtig. Du musst aufpassen, Mikael. Und …«, er hob seinen Zeigefinger und richtete ihn auf mich, »… und du hast zu viele Fälle verloren.«
Ich wollte mir das nicht anhören. Was er sagte, glich zu sehr den Gedanken, die ich mir an diesem Abend selbst gemacht hatte. Mette stand hinter mir und sprach mit einer Freundin. Ich konnte ihre Hüfte spüren, die Rundung ihres Schenkels an meinem. Ich wollte mich umdrehen.
»Ich werde dir was zeigen, Mikael«, sagte Georg und fasste mich am Arm. »Etwas, das du wissen musst und das du schon wüsstest, wenn du aufgepasst hättest. Dreh dich um, so dass du das ganze Lokal im Blick hast.«
Er zog mich am Arm, drehte mich um und sprach mir ins Ohr. Einen Augenblick lang roch ich seinen Atem, Rauch und Alkohol.
»Guck mal nach ganz hinten links, da in der Ecke. Ein Tisch mit drei Leuten. Siehst du die?«
Ich sah sofort, wen er meinte. Sie saßen an einem Ecktisch und waren trotz der vielen Leute in der Bar unter sich. Zwei Männer und eine Frau. Zwei Männer, die äußerlich total unterschiedlich waren und sich trotzdem glichen. Sie kamen nicht von hier. Die Menschen hielten Abstand zu ihnen.
Beide trugen dunkle Anzüge und Hemden ohne Schlips. Ihre Schuhe glänzten, sie waren frisch geputzt. Allein das reichte schon, um hier aufzufallen. Ihre Kleider sahen teuer aus, und trotzdem wirkte alles ein wenig falsch, als hätten sie die aktuellen Modetrends um ein Haar verfehlt. Etwas zu große Hemdkragen, zu dicke Ringe und Uhren. Ich gab einen Tipp ab.
»Keine Norweger, Osteuropäer?«
»Richtig«, flüsterte Georg in mein Ohr. »Nicht schlecht, Jugoslawen … ich meine, Serben.«
»Aha, ja und? Was soll das?«
»Du passt nicht richtig auf. Sonst wüsstest du das. Die wohnen hier in der Stadt. Sind vor ein paar Monaten aus Schweden gekommen. Von denen da ist die Rede, wenn von der Jugomafia gesprochen wird, und dieses Wort sollte dir eigentlich ein Begriff sein. Sie wohnen seit zwei Monaten hier. Gib ihnen noch zwei, und sie kontrollieren die gesamte Verbrecherszene hier in der Stadt. Das sind Profis, Mikael. Leute, die du kennen musst, wenn du hier weiter als Strafverteidiger arbeiten willst. Neue Zeiten, neue Machthaber.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. Aber ich weiß nicht, ob mir das so wichtig ist. Auch wenn du recht hast, es sind ja nie diese Leute, die geschnappt werden. Das sind doch immer die kleinen Fische. Ich werde wohl weiter meine Anrufe von den üblichen zugedröhnten Dummköpfen bekommen.«
»Wart’s ab«, sagte Georg.
Je mehr ich die beiden Männer studierte, desto unterschiedlicher erschienen sie mir. Der Mann auf dem Sofa hatte sich nach hinten gelehnt und sah vollkommen ruhig aus. Er redete, ohne die Hände zu bewegen. Sein Kopf war ungewöhnlich groß und rund mit kurzgeschnittenen, dunklen Haaren und tiefen Geheimratsecken. Ich schätzte ihn auf knapp fünfzig Jahre. Der andere redete beinahe unaufhörlich. Sein Gesicht war länglich und schmal. Sein kleiner Mund wurde von tiefen Falten umgeben. Er war schlank, seine Hände bewegten sich ohne Unterlass und unterstrichen jedes seiner Worte mit kurzen, abrupten Bewegungen. Das war die Körpersprache eines Mannes, in dem Wut steckte.
Dann betrachtete ich die Frau, die bei den beiden saß. Sie beteiligte sich nicht am Gespräch und schien sich zu langweilen. Ich musterte sie, während mir Georg etwas von Gewalt und Blut, Tod und Drogen ins Ohr flüsterte.
Ich sah lange Beine und hohe Absätze. Sie wippte mit dem Fuß, saß aber ansonsten ganz still da. Sie rauchte schnell und gierig, wie so viele Frauen, die stark rauchen. Dunkle, glatte Haare, dunkle Augen, blasse Haut und rote Lippen. Ihre Brüste waren klein, die Hüften schmal. Die Art, wie sie den Kopf hielt, prägte sich mir ein, dieser leichte Winkel, der gleichermaßen anziehend wie abweisend wirkte. Der Mann auf dem Sofa legte ihr eine Hand auf den Schenkel, ohne sich umzudrehen.
Ich bekam eine unbändige, unerklärliche Lust auf sie.
Draußen zeigte das sonderbare Licht, dass die Nacht bald vorüber war. Die Taxischlange war lang, und Mette hing an meinem Arm. Ich drehte mich zu ihr. Ihr Blick war tief, die Lippen halb geöffnet. Im Licht der Straßenlaterne sah ich den Rest des Lippenstifts auf ihrem etwas trockenen Mund und den verschmierten Lidschatten unter ihren Augen. Sie sah mich abwartend an. Ich wusste, dass ich sie mit nach Hause nehmen konnte. Aber ich spürte all die Biere, die ich getrunken hatte. Sie lagen tonnenschwer in meinem Magen, und plötzlich brach mir am ganzen Körper der Schweiß aus. Ich hatte einen metallischen Geschmack im Mund, befreite mich aus ihrem Arm und sagte ihr, dass sie mich anrufen könne. Dann ging ich.
Ich schaffte es gerade noch um die nächste Ecke, ehe ich mich wie ein Schiffbrüchiger an einen Laternenpfahl klammerte und auf den Bürgersteig kotzte, während mir Tränen in die Augen stiegen. Es muss schon ein merkwürdiger Anblick gewesen sein: ein erwachsener Mann, der in einem gutsitzenden Anzug an einem frühen Herbstmorgen mitten in der Stadt steht und kotzt. Eine Gruppe Jugendliche machte einen großen Bogen um mich. Jemand lachte.
Ich ging zu Fuß nach Hause. Nach einer halben Stunde war ich da. Unterwegs verlor ich immer wieder das Gleichgewicht und begann zu torkeln. Nachts träumte ich von einer dunklen Frau. Ich war in ihr und nahm sie schnell und hart. Sie lag zurückgelehnt auf einem Sofa und rauchte mit kleinen, hastigen Zügen, während sie mich ausdruckslos ansah. Ihre Brüste waren klein, mit wütenden, roten Nippeln. Ich kniff hart hinein und zog an ihnen, damit sie reagierte, aber sie sah mich nur an.
Am nächsten Morgen ging ich zu Fuß ins Büro. Der Sommer hatte sich endgültig verabschiedet. Ein kalter Wind schlug mir entgegen, die Wolken kündigten Regen an. Die ersten Blätter flogen durch die Luft und wirbelten in schnellem Tanz über die Straße. Das Laufen tat mir gut.
Als ich um halb zehn das Bürohaus erreichte, fühlte ich mich bereit für einen neuen Tag. Ich fuhr mit dem Fahrstuhl in den fünften Stock. An der Tür stand: Mikael Brenne, Fachanwalt für Strafrecht. Seit vielen Jahren erfüllte mich der Anblick dieses Schilds jeden Morgen mit einer gewissen Zufriedenheit.
Drinnen lief ich direkt durch das Vorzimmer, rief meiner Sekretärin »Kaffee« zu, hängte meinen Mantel auf und ging in mein Büro.
Die Morgenzeitung lag bereits auf meinem Schreibtisch. Auf Seite zwei war ein großes Bild von mir unter der Überschrift »Messerstecher verurteilt«. Es war ein altes Bild, das jemand aus dem Archiv herausgesucht haben musste.
Ich betrachtete es. Dunkle, lockige, kurz geschnittene Haare. Ein Foto aus der Zeit vor den grauen Schläfen. Meine Nase war groß und krumm. Als Kind war ich wegen ihr gehänselt worden, doch inzwischen hatte ich mich mit ihr angefreundet. Die tiefliegenden Augen lagen im Schatten, und die Falten an den Mundwinkeln sahen wie markante Klammern aus. Ein ausdrucksstarkes, aber auch verschlossenes Gesicht. Ich fand, es passte zur Headline. Man musste allerdings die kleine Bildunterschrift lesen, um zu kapieren, dass ich nicht der Messerstecher, sondern sein Anwalt war.
Nach ein paar Minuten hörte ich das Klacken der Absätze meiner Sekretärin und bekam einen großen Becher kochend heißen Kaffee. Sie nahm auf der anderen Seite des Schreibtischs Platz.
»Du kommst spät«, sagte sie und bemühte sich um einen strengen Gesichtsausdruck. Sie versteht sich nicht besonders gut darauf, aber das weiß sie. Kari ist jetzt schon seit zwei Jahren bei mir.
»Ich weiß«, sagte ich. »Aber ich hatte keine Termine. War also nicht so schlimm.«
Kari fand es trotzdem nicht gut. Sie ist der Meinung, ich sollte jeden Tag um punkt halb neun ins Büro kommen. Wenn sie unzufrieden mit mir ist, kneift sie immer den Mund zusammen und heftet ihren Blick auf einen Punkt, der sich etwa einen Meter über meinem Kopf befindet. So auch jetzt.
Ich hob meine Hände. »Nicht schimpfen, bitte! Dafür ist heute nicht der richtige Tag.«
»Ich schimpfe nicht«, sagte sie. Dann musste sie lächeln. Sie ist nie lange sauer. »Warst du gestern unterwegs?«
Ich nickte, und sie lächelte nur noch breiter, als hätte sie bei einer Diskussion die Oberhand behalten. »Trink deinen Kaffee, ich hol dir die Post. Und dann müssen wir mal über das Finanzielle reden.«
Ich hätte am liebsten protestiert, aber sie war schon wieder aus dem Zimmer verschwunden.
Die Post war rasch erledigt. Ein paar Sachen zum Ablegen, anderes musste an Mandanten weitergeschickt werden, aber darum kümmerte sich Kari. Ein kleiner Stapel Anfragen, die ich bearbeiten musste. Kari holte die Akten und stapelte sie auf der Ecke des Schreibtischs, wobei sie die Briefe jeweils auf die entsprechenden Akten legte.
Ich beobachtete sie bei ihrer Arbeit. Sie war klein, blond und flink. Beige Bluse, dunkelblauer Rock und schöne Schuhe. Ihre Haare steckt sie immer zu einem kleinen Knoten hoch, der nie richtig sitzt. Immer rutschen einzelne Locken heraus, fallen ihr vor die Augen und zwingen sie zu der raschen, automatischen Handbewegung, mit der sie ihre Haare beiseiteschiebt. Sie sah stark, gesund und durchtrainiert aus. Ihre Beine waren eine Spur zu kräftig, aber sie hatte schlanke Fesseln. Ich fühlte mich alt und aufgedunsen.
»So«, sagte sie und setzte sich. »Das war’s. Wir brauchen zehn Minuten für die Finanzen. Dann hast du bis zum Mittag Zeit für die Korrespondenz, da schaffst du das meiste, vielleicht sogar alles.«
Ich nickte.
»Am Nachmittag hast du zwei Termine. Um eins kommt Frau Andersen. Sie will wieder ihr Testament ändern, und um halb drei kommen die Eltern von Kim.«
Ich sah sie fragend an.
»Kim. Dieser achtzehnjährige Junge, der in Untersuchungshaft sitzt – wegen des Tankstellenraubs. Sie wollen, dass du ihn verteidigst. Er hat bei seiner Verhaftung erst mal einen Pflichtverteidiger zugewiesen bekommen.«
Ich nickte. »Ja, okay. Jetzt kann ich dir folgen. Haben wir vom Gericht schon die Vollmacht bekommen?«
»Nein.« Sie dachte nach. »Aber wir haben vor drei Tagen per Fax darum gebeten. Ich werd mal nachfragen.«
»Gut. Sollte ich sonst noch was wissen?«
»Du hast Dienstag früh einen Haftprüfungstermin. Reidar Larsen. Vielleicht solltest du heute Nachmittag oder am Montag mal ins Gefängnis fahren.«
Ich dachte nach. »Glaube nicht, dass das nötig ist. Seit seiner Verhaftung ist nichts passiert, und die lassen ihn sicher nicht frei, bevor die Verhandlung stattgefunden hat. Ich werde ihn anrufen. Vielleicht auch die Polizei … ja doch, die Polizei sollte ich zur Sicherheit auch anrufen. Haben wir den Haftantrag vom Staatsanwalt gekriegt?«
Kari schüttelte den Kopf.
»In Ordnung. Erinnere mich dran, dass ich noch vor dem Mittagessen anrufe.«
Sie richtete sich auf und zupfte an ihrem Rock herum. »Dann also zu den Finanzen.«
Ich bekam einen Stapel Kopien. Kari ging die Dokumente, Kontoauszüge und Rechnungen bis zum heutigen Tag durch. Sie wusste alles auswendig und genoss es, die volle Kontrolle zu haben. Ich hasste diese Dinge und spürte die Kopfschmerzen bereits kommen.
Kari fasste zusammen: »Es sieht nicht sonderlich gut aus. Wir haben noch Geld genug, um die Löhne und laufenden Kosten im nächsten Monat zu bestreiten, aber keine Rücklagen mehr. Die haben wir in letzter Zeit aufgebraucht. Wenn das so weitergeht, bekommen wir in vier bis sechs Wochen Liquiditätsprobleme.«
Sie beugte sich vor und nutzte den Zeigefinger, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. »Wir – nein, du musst Geld verdienen, Mikael. Stell mehr in Rechnung, akquiriere mehr Fälle. Du musst dich wirklich zusammenreißen.«
Ich wusste, dass sie recht hatte. Schließlich war ich es, der ihr die Aufgabe gegeben hatte, sich um die Rechnungen und die Finanzen zu kümmern. Ich habe ihr gezeigt, wie sie es machen soll, und streng aufgetragen, alles deutlich anzusprechen und nicht um den heißen Brei herumzureden.
Kari stand auf. Sie hatte hektische Flecken auf den Wangen. Vermutlich registrierte sie, wie unwohl ich mich fühlte, und fürchtete, eine Grenze überschritten zu haben. Ich zwang mich zu einem Lächeln und murmelte, dass sie vollkommen recht habe und wir die Sache schon in Ordnung bringen würden. Als sie sich umdrehte, um zu gehen, fiel mein Blick auf ihren Po, der sich rund und fest wie bei einem jungen Mädchen unter dem Stoff ihres Rocks abzeichnete.
»Gehst du eigentlich joggen, Kari?«, fragte ich, ohne nachzudenken. Sie drehte sich überrascht um. Ich bemerkte, dass sie rot wurde, als wüsste sie, wie ich auf diese Frage gekommen war.
Sie schüttelte den Kopf. »Aerobic«, sagte sie. »Drei Mal die Woche.« Dann lächelte sie wieder und klackte auf ihren Absätzen aus meinem Büro.
Ich blickte auf die Akten mit der Arbeit des Tages, nahm die erste zur Hand und schlug sie auf.
Ein paar Tage später saß ich nachmittags in einem Café, vor mir auf dem Tisch drei Zeitungen und ein Espresso. Ich war ganz zufrieden mit meinem Leben. Ich hatte eine Anhörung vor dem Untersuchungsgericht gehabt, bei der ich mich erfolgreich gegen das Besuchsverbot und die Kontaktsperre eines inhaftierten Mandanten eingesetzt hatte. Ein zufriedener Mandant in der Untersuchungshaft führt oft zu neuen Mandanten, wenn man ihn erst mal aus der Isolation befreit hat. Einen Moment lang dachte ich an Kari und unsere finanzielle Situation, die wirklich schlechter war, als sie sein sollte, aber ich verdrängte den Gedanken und nahm die erste Zeitung.
Ein Handy klingelte. Die Hälfte der Leute im Café durchsuchte ihre Taschen, aber es war meins.
»Brenne«, meldete ich mich.
»Hallo, hier ist Mette«, sagte eine Frauenstimme. »Ich wollte mich noch mal für den schönen Abend neulich bedanken.« Ich stand auf der Leitung. »Das war wirklich nett«, fuhr sie fort, »auch wenn der Abschied ein bisschen … plötzlich war.«
Schließlich fand ich meine Stimme wieder und begrüßte sie. Sie hörte sich am Telefon herzlich und entspannt an. Ich musste mich räuspern und suchte nach den richtigen Worten. »Äh, ja, das stimmt. Es war nett, meine ich. Ich … fürchte, ich hatte ein bisschen viel getrunken. Bier, meine ich. Mir … war ein bisschen schlecht.«
Sie lachte. »Ich dachte mir schon so was. Du warst ein bisschen blass.« Noch mehr Lachen. »Falls du nicht vor mir weggelaufen bist. Aber so schlimm war es doch wohl nicht?«
»Nein, ganz und gar nicht. Das war ein sehr … schöner Abend.«
»Dann kann ich ja die Frage riskieren, ob wir nicht mal abends etwas unternehmen können. Natürlich nur, wenn du willst? Es ist aber auch ganz in Ordnung … wenn du keine Lust hast.« Plötzlich hörte sie sich etwas unsicher an.
»Nein, nein, ich möchte gerne«, sagte ich. »Wie wäre es denn am … Freitag, wenn dir das passt.«
Es passte. Wir verabredeten Ort und Zeit und legten auf. Ich bemerkte, dass ich lächelte. In Gedanken sah ich sie vor mir und erinnerte mich daran, wie gut mir ihr Mund gefallen hatte. Zufrieden dachte ich, dass ich mir wohl ein Nachmittagsbier gönnen durfte, aber nur eins.
Sie roch nach Wein und Gewürzen. Ihre Blicke waren tief, und als wir miteinander schliefen, war sie aufreizend ernst und langsam. Normalerweise bevorzuge ich schlankere Frauen. Mette aber war nicht schlank. Sie war eine große, weiche Frau mit Brüsten und Hüften, Bergen und Tälern. Ich lag zwischen ihren Schenkeln, war in ihr und hatte beständig das Gefühl, als bewegte ich mich zurück in eine halb vergessene Kindheit. Als schliefe ich mit den Tanten und Müttern von Freunden, an deren Namen ich mich längst nicht mehr erinnerte, oder mit der Frau vom Kiosk an der Ecke, die mich mit ihren Riesenbrüsten und den hochgesteckten Haaren durch so viele Träume meiner Jugend begleitet hatte.
Sie sah mich an, bewegte sich langsam und rhythmisch, ohne jede Eile. Ihre Brüste waren schön, und ihre Hände lebten ihr eigenes Leben auf meinem Rücken und in den zerwühlten Laken, wo sie nach etwas zu suchen schienen, woran sie sich festklammern konnten. Ein endloser Rhythmus voller Ruhe und Gleichmäßigkeit.
Sie neigte den Kopf nach hinten und öffnete den Mund. Ich wusste, dass wir gleichzeitig kommen würden. Der Orgasmus begann wie eine Verheißung tief in meinem Rückenmark, während sich ihr Körper unter mir in einem weichen Bogen zu spannen begann und ihre Stimme lauter und lauter wurde. Als ihre Worte jede Kontur und jeden Sinn verloren und zu einem lauten Stöhnen wurden, kam ich und entschwand in eine ganz eigene Welt ohne Sicht, Geruch oder Gehör.
Wir lagen nebeneinander. Ich sah an die Decke und spürte, wie die Nachtluft meinen Körper kühlte. Einen Augenblick lang dachte ich an Kari, an ihre raschen Bewegungen und an die Locke, die ihr immer vor die Augen fiel. Ich weiß nicht, wo dieser Gedanke herkam.
»Ich hätte nicht gedacht …«, sagte Mette.
»Was?«
»Dass ich mit zu dir nach Hause kommen würde. Heute, meine ich. Und du?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube, ich habe überhaupt nicht darüber nachgedacht. Bereust du’s?«
Sie schüttelte den Kopf und schmiegte sich an mich. »Nein, es war wunderbar.«
Als ich wach wurde, roch es im Haus nach Kaffee und gebratenem Speck. Ich konnte Mette singen hören. Ich zog die Decke über den Kopf, hörte sie aber trotzdem. Der Morgen ist nicht gerade meine beste Tageszeit. Nach einer Weile gab ich auf und ging duschen. Ich wusste, dass ich eigentlich lieber allein gewesen wäre.
Sie trug eins meiner T-Shirts. Der Küchentisch war für zwei gedeckt. Sie lächelte, als ich hereinkam, und küsste mich. Ich bekam Speck und Eier und Saft und Kaffee. Sie hatte sogar die Zeitung geholt. Sie war fröhlich und effektiv und redete nicht viel. Wir lasen in der Küche Zeitung und tauschten wortlos die Seiten aus. Danach setzte sie sich rittlings auf meinen Schoß und sagte, sie müsse gehen.
»Warum?«
Sie lehnte sich lächelnd zurück. »Ich habe eine Verabredung mit einer Freundin«, sagte sie und küsste mich noch einmal. Ihre Brüste zeichneten sich schwer unter dem T-Shirt ab.
Nachdem sie gegangen war, saß ich in der Küche und wünschte mir, sie wäre noch da. In diesem Moment ging mir auf, dass ich gar nicht wusste, wie sie mit Nachnamen hieß, und dass sie mir ihre Telefonnummer nicht gegeben hatte.
Am Montagvormittag kam Kari mit zwei Nachrichten in mein Büro.
»Da war ein Anruf aus dem Präsidium, als du am Telefon warst. Johnny Hansen ist festgenommen worden. Er will, dass du kommst. Es scheint wichtig zu sein.«
»Ah ja«, sagte ich. »Warum? Soll er verhört werden? Wann?«
Kari schüttelte den Kopf. »Ich hab keine Ahnung. Die haben nur gesagt, dass es dringend ist.«
»Du hättest fragen können.«
Kari sah mich nur schweigend an, und ich wusste, dass ich ungerecht war.
»Okay«, sagte ich. »Ich fahr hin – ich hab doch Zeit, oder?«
Sie nickte. »Ja, du hast erst heute Mittag um eins einen Termin.«
»Und die zweite Nachricht?«, fragte ich und zog mir den Mantel an.
»Ach ja, stimmt«, sagte Kari. »Eine Mette hat angerufen und nach dir gefragt. Ich hab ihr gesagt, du bist am Telefon.«
»Hat sie eine Telefonnummer hinterlassen?«
»Ja, hier.« Sie reichte mir einen gelben Zettel mit der Nummer. »Sie hat weder ihren Nachnamen genannt noch um was es geht. Weißt du, wer das ist?«
Ich nickte. »Ja.«
Kari sah mich an. Ihre Haare hatten sich wieder selbständig gemacht und hingen ihr vor den Augen. »Eine neue Mandantin?«
Ich schüttelte lächelnd den Kopf.
Draußen schien eine blasse Herbstsonne. Kalter Wind wehte. Ich knöpfte meinen Mantel bis oben zu und ging pfeifend in Richtung Polizeipräsidium.
Am Empfang musste ich wie üblich warten, während ein gähnender Polizist jemandem half, Anzeige gegen unbekannt zu erstatten. Fahrraddiebstahl und Einbruch. Dabei würden sicher niemals Ermittlungen aufgenommen werden. Solche Anzeigen werden einzig für die Versicherungen gemacht, die sonst nicht zahlen. Auf einer Bank in der Ecke saß ein Ausländer, den Kopf auf die Hände gestützt. Er hatte ein großes blaues Auge und sah reichlich verloren aus.
Die Zellen im Polizeipräsidium sind bekanntes Terrain für einen Strafverteidiger. Wir sind hier öfter als viele Polizisten. Hier treffen wir unsere Mandanten zum ersten Mal. Wir sehen sie in der Regel unmittelbar nach den ersten Verhören und noch bevor sie sich über ihre Lage bewusst geworden sind und eine Maske aufgesetzt haben. Verängstigte Drogenabhängige auf Turkey, die am ganzen Körper zittern. Junkies, die immer noch high sind. Junge Männer, die nach Schlägereien auf der Straße einen derart hohen Adrenalinspiegel haben, dass sie mit vor Wut zuckenden Muskeln, häufig noch blutverschmiert, in ihren Zellen randalieren.
Am schlimmsten sind die erwachsenen Ersttäter, häufig Leute mit guten Jobs und sicheren Positionen, die irgendeiner Verlockung erlegen sind. Sie haben jeden Halt verloren. Normalerweise sind es diese Menschen gewohnt, ihre Lage zu kontrollieren und mit Problemen rational und vernünftig umzugehen. Sie versteigen sich dann nicht selten zu abstrusen Erklärungen. Doch an diesem Ort, an dem alles neu und unbekannt ist, leuchtet die Angst so verzweifelt aus ihren Augen, dass man sich selbst davon anstecken lässt.
Schließlich hatte der Beamte Zeit für mich. Er begleitete mich über den hinteren Flur bis zum Fahrstuhl. Aus einem Verhörraum drang das Schreien und Fluchen von jemandem, der gerade hereingebracht worden war. Mit seiner Chipkarte öffnete der Beamte die Tür des Aufzugs.
»Kennen Sie das System?«, fragte er und gähnte wieder.
Ich nickte, drückte auf den richtigen Knopf und fuhr mit dem langsamsten Aufzug der Welt ins Untergeschoss.
Ich begrüßte den Wärter namens Berg. Die meisten hier kenne ich inzwischen, und manchmal vermitteln sie mir sogar neue Mandanten. Er bot mir einen Kaffee an. Berg war groß und dünn mit einem vorstehenden Adamsapfel und nach hinten gekämmten, lockigen Haaren. Wie die meisten, die es hier aushielten, war er ein phlegmatischer, toleranter Mann, der schon einiges erlebt hatte.
Ich nickte ihm zu: »Ja, gerne, Kaffee wäre gut.«
Er winkte mich in seine Wachstube. Volle Aschenbecher, fast volle Kaffeebecher und ein Monitor mit einem stummen Bild. »Und?«, fragte er, als er mir den Pappbecher reichte, der so heiß war, dass ich mir fast die Hand verbrannte. »Sie wollen zu Johnny?«
»Ja«, sagte ich, stellte den Becher hin, ohne etwas zu verschütten, und blies mir in die Handflächen. »Wie geht’s ihm?«
Er wich meinem Blick aus. »Nicht so gut. Der ist total durch den Wind.« Er zuckte mit den Schultern. »Sie wissen ja, wie das ist, Herr Brenne. Der ist schon ewig auf Drogen. Müsste eigentlich längst tot sein, wenn Sie mich fragen. Aber einige von denen, die scheinen das Zeug so lange zu nehmen, dass ihnen nichts mehr passieren kann. Nur Haut und Knochen, aber verdammt zäh.«
Er machte eine Pause, sah mich noch immer nicht an. »Aber es geht ihm dreckig, wenn er hierherkommt. Ist ja klar. Ich frage mich wirklich, wozu das gut sein soll.«
Für Berg war das eine ziemlich lange Rede gewesen. Er stand auf. »Ich sage ihm, dass Sie hier sind. Sie müssen zu ihm in die Zelle, das Besuchszimmer ist besetzt. Ich gebe ihm ein bisschen Zeit, damit er sich sammeln kann.«
Ich blies in meinen Kaffee, betrachtete das stumme Bild auf dem Monitor und lauschte den anderen Geräuschen. Hier unten hörte man ein ständiges Rufen, Stöhnen und Klopfen. Ich nahm einen Schluck Kaffee. Er schmeckte nach Gerbsäure, was die vielen halbvollen Becher erklärte. Ich fragte mich, was mit Berg heute los war.
Johnny Hansen saß in der Ausnüchterungszelle. Er hockte mit verschränkten Beinen auf dem Boden auf einer Matratze. Das Bettzeug lag zusammengeknüllt in einer Ecke, während vor ihm neben einer halbvollen Flasche Cola und einem Stapel alter Comichefte ein paar angebissene Brotscheiben lagen. Fantomas und Silberpfeil. Ich lehnte mich an die Wand, sitzen konnte man hier ohnehin nirgendwo. Es roch säuerlich.
»Hallo, Johnny«, sagte ich. »Wie geht’s Ihnen?«
Er antwortete nicht, aber warum sollte er das auch tun? Johnny Hansen, aufgewachsen in einem Vorstadtblock Anfang der sechziger Jahre, glich einem alten Indianer. Aus seinem Gesicht war jegliches Fleisch verschwunden, es sah aus wie aus Stein gemeißelt. Seine Haare waren lang und grau. Er bewegte den Oberkörper vor und zurück. Hin und wieder ging ein Zucken durch ihn.
»Haben Sie etwas bekommen?«, fragte ich. »Tabletten oder irgendetwas zur Beruhigung?«
»Nein. Nichts.«
»Warum nicht?«, fragte ich. »Das klappt doch sonst immer?«
Er schüttelte nur den Kopf, zeigte mit dem Finger nach oben und richtete seinen Blick an die Zellendecke.
»Johnny«, sagte ich. »Können wir hier ein bisschen reden? Wenn ich Ihnen helfen soll, müssen Sie mir …«
Er unterbrach mich. »Entscheidung von oben«, sagte er und zeigte weiter an die Decke.
»Meinen Sie die Kommissare oben im fünften Stock? Die hindern Sie daran, Medizin zu bekommen? Wollen Sie mir das sagen?«
Er nickte.
»Kommen Sie, Johnny, das kann ich nicht glauben. Die kennen Sie doch. Und Sie kennen die. Warum sollten sie das tun?«
Er sah mich betrübt an, als wäre ich ein vielversprechender Schüler, der eine wichtige Frage falsch beantwortet hatte. »Diese Stadt hat sich verändert«, sagte er. »Sehr verändert.« Dann schlang er die Arme um seinen Oberkörper und erzählte mir seine Geschichte.
Als er fertig war, ging ich in die Hocke. »Okay«, sagte ich. »Noch mal im Klartext. Sie sind im Park mit anderthalb Gramm Heroin geschnappt worden?«
Er nickte.
»Und dafür will man Sie vier Wochen in Untersuchungshaft nehmen? Noch dazu isoliert, weil man glaubt, Sie mit weiteren Heroindeals in den letzten Wochen in Verbindung bringen zu können? Sie sagen – und haben das auch der Polizei gegenüber erklärt –, dass man gar nichts gegen Sie in der Hand haben kann, weil sie seit Monaten kein Körnchen mehr verkauft haben?«
Er nickte wieder.
»Weiter behaupten Sie, die Polizei hätte Ihnen damit gedroht, Beweise gegen Sie zu konstruieren, um Sie für mindestens acht Wochen in Untersuchungshaft zu stecken, auch wenn diese Beweise niemals für eine Verurteilung ausreichen würden. Und dass sie diese Drohung wahrmachen wollen, wenn Sie ihnen nicht ganz bestimmte Informationen über gewisse Personen geben. Wollen Sie mir wirklich nicht sagen, was das für Informationen sind und um welche Personen es sich handelt?« Ich hielt inne und holte tief Luft. »Das ist in etwa der Sachverhalt, richtig?«
Johnny nickte. »Richtig.«
»Hören Sie mal, Johnny. Hören Sie mir gut zu.« Ich hob die Hand, um meinen Worten mehr Gewicht zu verleihen. »Das ist doch Scheiße. Ich weiß nicht mal, ob ich Ihnen glaube. Mir ist jedenfalls noch nie zu Ohren gekommen, dass unsere Polizei so etwas macht. Aber okay, sagen wir mal, ich glaube Ihnen. Auch dann ist das Scheiße. Die sollten mit so einem Mist nicht durchkommen. Wenn Sie wirklich nichts gemacht haben, kriege ich Sie bis morgen Vormittag hier raus. Eine Nacht halten Sie durch, Johnny. Eine Nacht. Sie waren doch früher schon öfter mal auf Entzug, davon sterben Sie nicht. Ich werde Berg dazu bringen, Ihnen ein paar Tabletten zu geben.«
Ich musste daran denken, wie Berg meinem Blick ausgewichen war. Vielleicht sagte Johnny tatsächlich die Wahrheit.
Er schüttelte bloß den Kopf. »Ich weiß, dass Sie recht haben und dass wir genau das tun sollten. Aber ich schaffe das nicht. Denn Sie werden mich hier nicht rausbringen. Nicht, wenn die wirklich tricksen wollen, dann wandere ich in den Knast. Sie wissen, wie das vor dem Untersuchungsrichter läuft.«
Ich wusste, dass er recht hatte. »Okay, es ist Ihre Entscheidung. Was soll ich tun?«
»Gehen Sie nach oben und reden Sie mit dem Sonnenkönig.« Damit war der leitende Kommissar des Drogendezernats gemeint.
»Warum? Das können Sie doch selber tun, oder?«
Er zitterte jetzt noch mehr. »Ich will einen Zeugen. Damit sie sich auch an die Abmachung halten … vielleicht.«
Ich nickte. »Geht in Ordnung. Aber … eine Sache noch. Sie wissen, dass die etwas gegen Sie in der Hand haben, wenn Sie jetzt in einen solchen Deal einwilligen. Es wird ein zweites Mal geben, ein drittes Mal und so weiter.«
Langsam, wie eine stürzende Statue, ließ er sich der Länge nach auf die Matratze sinken. »Tun Sie’s einfach, Brenne. Ich halte das nicht länger aus. Ich bin zu alt für so etwas.«
Der »Sonnenkönig« hieß eigentlich Breivik. Seinen Spitznamen hatte er aufgrund seiner roten, lockigen Haare erhalten, die wie ein Kranz um seinen Kopf standen. Er hatte ein breites, flaches Gesicht mit Himmelfahrtsnase. Das Lächeln, das über sein Gesicht huschte, als er mich sah, war nicht gerade angenehm. Er drückte seine Stuhllehne nach hinten, als er mit mir redete.
»Hören Sie auf, den Moralapostel zu spielen, Brenne! Vergessen Sie’s! Ich bin hier auf der Seite der Engel, nicht Sie.«
Am liebsten hätte ich den Stuhl unter ihm weggetreten. »Wenn Sie auf der Seite der Engel sind, dann aber mit höchst zweifelhaften Methoden.«
Sein Lächeln wurde nur noch breiter. »Wissen Sie, wie leid mir dieser Johnny Hansen tut?« Er zeigte mit Daumen und Zeigefinger, wie sehr er das alles bedauerte. »Bei der Menge Heroin, die Johnny jeden Tag nimmt, sollte er längst über die Klinge gesprungen sein. So etwas kostet doch Geld. Um sich das zu beschaffen, muss er entweder Stoff verkaufen oder klauen, wenn nicht beides. Er ist ein Verbrecher, nicht mehr und nicht weniger.« Sein Lächeln verschwand. »Ich mag keine Verbrecher. Mein Job ist es, sie aus dem Verkehr zu ziehen, die großen wie die kleinen. Wenn Johnny Hansen dafür ein bisschen schwitzen muss, dann ist mir das, mit Verlaub gesagt, scheißegal.«
Ich schaute ihn schweigend an.
»Also, was soll jetzt werden, Brenne ? Will er einen Deal oder nicht?«
Ich nickte. »Er will. Sie können ihn hochholen. Aber halten Sie Ihr Wort! Wenn nicht, mache ich Ihnen verdammten Ärger. Dann gehe ich zum Oberstaatsanwalt und zur Presse, zu allen, die mir zuhören wollen.«
Die Tür des Büros ging auf, und Bjørn Kvarme kam herein. Er nickte mir höflich zu. Kvarme war klein und gut gekleidet mit einem runden, offenen Jungengesicht. Er sah kaum wie ein Polizist aus und bildete einen seltsamen Kontrast zum Sonnenkönig – dabei sah man sie stets zusammen, im Job wie auch im Privatleben.
Er wedelte mit der rechten Hand. »Lassen Sie sich nicht stören, meine Herren, ich will nur ein paar Papiere holen.«
Der Sonnenkönig lächelte mit geschlossenem Mund, wobei seine Augen ernst blieben. »Ich halte meine Versprechen immer. Wenn er mir gibt, was ich haben will, ist er in zwei Stunden wieder auf freiem Fuß. Nicht wahr, Bjørn, ich halte meine Versprechen.«
»Immer«, bestätigte Kvarme und grinste.
»Auf was wollen Sie eigentlich hinaus? Was soll Johnny Ihnen erzählen?«
Sein Lächeln wurde breiter. »Das geht Sie ja eigentlich nichts an, nicht wahr, Brenne?«
Ich antwortete nicht, und nach einem Augenblick der Stille fuhr er fort: »Da sind neue Leute in der Stadt, verstehen Sie. Neue Leute mit neuen Methoden. Und Johnny – nun, er kennt alle und weiß alles.«
Der Regen klatschte schräg durch die Straßen der Stadt. Ich lief mit dem Aktenkoffer in der Hand und einer Robe unter dem Arm, die ich trocken zu halten versuchte, zwischen den Pfützen Slalom. Es war unmöglich, einen Schirm aufzuspannen, ohne ihn mit zwei Händen zu halten.
Auf der Treppe des Gerichtsgebäudes war ich vor dem Regen geschützt und konnte mir das Wasser von den Kleidern schütteln. Ganz oben standen wie gewöhnlich bereits die Anwälte, die rauchend auf ihre Mandanten warteten. Ich nickte ihnen zu. Die meisten von ihnen kannte ich. Heute war auch Peter Ula unter ihnen, ein großgewachsener, magerer Mann mit dünnen Haaren und einem gesprenkelten Schlips, der häufig als Pflichtverteidiger arbeitete. Er war ein guter Freund und einer der besten Anwälte, denen ich je begegnet war.
»Hallo, Peter«, sagte ich. »Was läuft?«
»Ach, nur Wirtschaftskram. Betrug und Steuerhinterziehung, getürkte Rechnungen, frisierte Zahlen und so weiter.« Er wedelte mit den Armen. »Mir brummt jetzt schon der Kopf. Wer soll da noch durchblicken? Wenn das noch Wochen so weitergeht, dreh ich durch.«
Ich lachte. »Du schaffst das schon. Und dann stellst du die dickste Rechnung der Welt.«
»Natürlich schaffe ich das.« Sein plötzliches Lächeln war voller Bosheit. »Die Richter haben nämlich noch weniger Durchblick als ich. Und wenn ich erst mit ihnen fertig bin, werden sie … gar nichts mehr verstehen. Wirtschaftskriminalität ist ein Paradies für uns Verteidiger. Nur eben schrecklich langweilig.«
»Ich hatte ja schon immer den Verdacht, dass es im Paradies langweilig ist«, sagte ich. Dann ging ich hinein, um meinen Mandanten zu suchen.
Er wartete drinnen in der Halle auf einer Bank und sah äußerst unscheinbar aus. Trug eine alte, graue Hose und einen blauen Pullover mit V-Ausschnitt. Er hatte eine Brille und kurze Haare. Die Anklageschrift gegen ihn umfasste fünf Seiten und reichte von unerlaubtem Drogenbesitz über Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz bis hin zu Hehlerei. Er war dreiunddreißig Jahre alt, Sozialhilfeempfänger und lebte vom Umsatz von Diebesgut.
Wir begrüßten uns per Handschlag. »Sie erinnern sich, was wir besprochen haben?«, fragte ich. »Reden Sie nett, ruhig und höflich, und werden Sie nicht wütend. Weichen Sie nicht aus, und sprechen Sie deutlich. Okay?«
Er nickte eifrig. »Klar, ich weiß Bescheid. Hab mir schon überlegt, was ich sage.«
»Gut, aber bleiben Sie bescheiden. Fangen Sie bloß nicht an, den harten Mann zu spielen.«
Im Gerichtssaal hängte ich meinen Mantel auf und zog die feuchte Robe an. Auch meine Schuhe waren durchnässt und unangenehm. Dann kam die Staatsanwältin. Sie war klein und dunkelhaarig und schien kaum älter als zwanzig zu sein. Sie zog ihre Stiefeletten aus, streifte hochhackige Pumps über und nahm ihre Robe aus einer Plastiktüte. Eines war sicher, sie hatte diesen Verhandlungstag auf jeden Fall klüger begonnen als ich – und sie hatte schöne Beine. Dann begrüßte sie den Angeklagten per Handschlag und stellte sich vor. Sie war neu hier, sehr gut erzogen und sicher sehr fachkundig.
Stuhlbeine kratzten über den Boden, als wir uns für die Richter erhoben. Als sie sich gesetzt hatten, erteilte der Vorsitzende der Staatsanwältin das Wort.
Sie war wirklich ein Frischling. Las ihr langatmiges Eingangsplädoyer vom Blatt ab und blickte beim Lesen kaum einmal auf. Überdies sprach sie viel zu viele Details an.
Ich musterte die beiden anderen Richter, eine Frau und einen Mann, beide mittleren Alters. Schon bald hatten sie diesen leicht glasigen Blick, den Juristen oft bekommen, wenn ihnen wieder einmal bewusst wird, wie langweilig ein Gerichtsverfahren sein kann.
Dann begann ich, sie zu unterbrechen. Ich bat höflich darum, gewisse Details erklärt zu bekommen, die sie nicht erklären konnte, und forderte Verweise auf Dokumente, die ihr nicht vorlagen. Sie verlor den Faden und fand im Manuskript nicht weiter. Die Richter wurden ärgerlich – auf sie. Das Ganze war nicht boshaft oder gegen ihre Person gerichtet. Es war einfach mein Job.
Als sie fertig war, sah sie erhitzt und hektisch aus. Der Richter fragte, ob ich etwas zu dem Eingangsplädoyer sagen wolle, und ich antwortete ihm, das sei kaum nötig, so ausführlich, wie die Staatsanwältin gewesen sei. Alle Richter nickten und sahen mich zufrieden an. Stattdessen bat ich um eine kurze Pause.
Nach der Pause kam mein Mandant zu Wort. Er war perfekt. Höflich und bescheiden, redete leise, aber deutlich. Er saß mit leicht gesenktem Kopf auf der Anklagebank in der Mitte des Saals und erinnerte an einen Schuljungen. Er räumte die Schuld für den Tablettenmissbrauch ein und erklärte, eine Invalidenrente zu bekommen, weil er nervenkrank sei und einen kaputten Rücken habe. Die Ärzte hätten ihm leider über Jahre hinweg zu viele Medikamente verschrieben, so dass er abhängig geworden sei. Da er heute jedoch viel weniger bekäme, müsse er sich die restlichen Tabletten auf dem Schwarzmarkt beschaffen. Das alles sei ganz schrecklich für ihn, er sähe aber wohl ein, dass er dafür bestraft werden müsse.
All die Gegenstände in seinem Haus habe man ihm verpfändet, wenn er sie sich nicht selbst gekauft hatte, meistens von Freunden. Er habe keine andere Einnahme als die Sozialhilfe, lebe aber bescheiden. Außerdem verwaltete er die Rente seines Vaters, die recht umfangreich sei. Viele seiner Freunde seien leider ein bisschen auf die schiefe Bahn geraten, aber er kannte sie seit der Schulzeit und wollte sie nicht mit in die Sache hineinziehen. Sie brauchten halt häufig Geld und verpfändeten oder verkauften ihm dann alle möglichen Dinge. Er wisse ja selbst, dass sich da im Laufe der Jahre eine Menge angesammelt hätte. Natürlich sei er naiv gewesen und vielleicht ausgenutzt worden. Vielleicht hätte er vorsichtiger sein sollen, das wisse er nicht, das müsse das Gericht entscheiden. Doch sollte es so sein, würde er seine gerechte Strafe annehmen.
Die Staatsanwältin konnte sagen, was sie wollte. Mein Mandant bot ihr während der gesamten Verhandlung nicht die geringste Angriffsfläche.
Dann war ich an der Reihe, Fragen zu stellen. Wir begannen mit den einzelnen Anklagepunkten. Er räumte ein, dass er vielleicht hätte erkennen müssen, dass einige der größeren Gegenstände aus Diebstählen stammten. Das hatten wir vorher besprochen.
Dann hakten wir auch noch die letzten Punkte ab. Er erklärte, warum er guten Glaubens all die Kameras, Fahrräder, PCs und so weiter angenommen habe. Wir hatten das alles vorbereitet und tagelang in meinem Büro eingeübt. Der Junge hatte ein verdammt gutes Gedächtnis.
»Herr Vorsitzender«, sagte ich zum Richter. »Darf ich mich auch nach den derzeitigen persönlichen Verhältnissen des Angeklagten erkundigen? Das ist so sicher am praktischsten. Dann wären wir mit ihm fertig.«
Der Richter nickte. »Ja, ich denke schon. Ist das auch in Ihrem Sinne, Frau Staatsanwältin?«
Sie willigte ein.
Ich blickte auf meinen Block. Vor einem Verfahren notiere ich mir immer die wichtigsten Punkte, die ich einen Angeklagten oder Zeugen fragen will. Vor Gericht vergisst man so schnell einmal etwas. Mein Mandant sah mich abwartend an. Er war noch immer ruhig. Dann begann ich ihn vorsichtig nach seinem persönlichen Hintergrund, seiner Jugend und seiner jetzigen Lebenssituation zu fragen. Ich brauchte nicht viele Fragen zu stellen.
Es war ein echtes Erlebnis. Ohne Faxen und Übertreibungen, einzig mit einem leichten Zittern in der Stimme, berichtete er uns von seiner ausnehmend traurigen Kindheit und Jugend. Er redete über seinen alkoholkranken Vater, der seelisch unheilbar krank sei, seit er im Krieg bei der Marine gedient habe. Er sprach von Mobbing, seinem Rückenleiden, das er sich bei einem Autounfall zugezogen habe, und von seiner Tablettenabhängigkeit, gegen die er nicht angekommen sei. Er sagte, er habe das Haus seines Vaters übernommen, der jetzt als Pflegebedürftiger im Erdgeschoss wohne. Ohne die Fürsorge und tägliche Hilfe seines Sohnes würde er sich zu Tode saufen. Mein Mandant betonte zu wissen, dass er bestraft werden würde, dass er sich aber gewaltige Sorgen um das Wohlergehen seines Vaters mache, sollte er ins Gefängnis müssen.
Seine Vorstellung war wirklich oscarreif. Ich musterte die Richter. Die Frau hatte Tränen in den Augen. Aber auch die beiden anderen hingen hellwach an seinen Lippen. Ebenso die Staatsanwältin. Als wir fertig waren, war es mucksmäuschenstill im Gerichtssaal. Anschließend folgte die Mittagspause.
Ich habe ein ambivalentes Verhältnis zu solchen Komödien im Gerichtssaal. Ich kannte meinen Mandanten, wusste, dass er zynisch und berechnend war und dem Publikum etwas vorspielte. Schließlich hatte ich gemeinsam mit ihm diese Strategie entwickelt. Und ich zweifelte keine Sekunde daran, dass er schuldig war. Trotzdem stimmte es, was er über seinen Background und seine Lebenssituation erzählte. Vielleicht nicht bis ins letzte Detail, aber seine Geschichte war mindestens ebenso wahr wie diejenige, die aus den Dokumenten der Staatsanwältin hervorging und ihn ausschließlich auf seine Verbrechen reduzierte. Deshalb hatte ich keine Skrupel, diese Mittel so effektiv wie nur möglich einzusetzen. Wollte das Gericht jemanden verurteilen, dann musste es auch wissen, um was für einen Menschen es sich handelte.
Nach dem Mittagessen kamen die Zeugen zu Wort. Zuerst die Polizisten, die an der Razzia beteiligt gewesen waren, dann ein paar Betroffene, die bestohlen worden waren. Es ging schnell. Mit Polizisten, insbesondere den weniger wichtigen Zeugen, muss man vor Gericht schnell fertig werden, sonst sagen sie noch etwas Negatives über die Angeklagten.
Dann kamen die Schlussplädoyers. Zuerst die Staatsanwältin. Sie war, wenn das überhaupt möglich war, noch langweiliger als zu Beginn der Verhandlung, so dass man ihr kaum folgen konnte. Das Wetter war inzwischen ebenso trostlos geworden. Der Regen floss in dichten Strömen über die Scheiben und ließ die Gebäude auf der anderen Straßenseite verschwimmen. Im Saal war es warm und feucht, die Luft war schwer. Ich hatte noch immer nasse Beine, und die ersten Kopfschmerzen meldeten sich. Die Staatsanwältin redete und redete. Ich fragte mich, ob ich sie unterbrechen sollte, konnte mich aber nicht aufraffen.
In diesem Moment ging die Tür auf, und ein Mann kam herein. Er zog sich vorsichtig den Mantel aus, faltete ihn zusammen und legte ihn auf die Bank, ehe er selbst Platz nahm. Alle Blicke richteten sich auf ihn. Die Staatsanwältin hielt mit ihrem Plädoyer inne, doch alle schwiegen. Nach einer Weile fuhr sie wieder fort. Die Verhandlungen sind zwar öffentlich, für gewöhnlich kommt aber niemand.
Ich beugte mich zu meinem Mandanten hinüber und fragte ihn, ob er wisse, wer der Zuhörer sei, aber er zuckte nur mit den Schultern. »Keine Ahnung«, sagte er dann.
Dabei wusste ich es, denn ich hatte ihn sofort wiedererkannt. Das war der Mann aus dem Nachtclub, der Serbe, den Georg mir gezeigt hatte. Der größere der beiden, der so ruhig dagesessen hatte. Er saß auch jetzt ruhig da, sah die Staatsanwältin an und verfolgte alles aufmerksam.
Ich hatte mich ablenken lassen und nicht mitbekommen, was die Staatsanwältin gesagt hatte. Es deutete aber nichts darauf hin, dass es wichtig gewesen war. Ich konzentrierte mich erneut, doch meine Augen huschten immer wieder zu dem Zuschauer.
Endlich kam sie zum Ende. Ich bat um fünf Minuten Pause und schlug vor, einmal kurz die Fenster zu öffnen, damit wir ein bisschen frische Luft bekämen. Mein Vorschlag stieß auf Gegenliebe.
Ich ging nach draußen auf den Flur und lief ruhelos auf und ab. Wie immer vor meinem Plädoyer war ich nervös, obgleich dieser Fall weder groß noch schwierig war. Mir war etwas übel, mein Kopf fühlte sich leer an. Aber das musste so sein und gab sich, sobald ich anfing.
Als die Pause zu Ende war, sammelte ich die Dokumente zusammen, die ich brauchte, füllte mein Wasserglas und stellte mich an meinen Platz, das Gesicht dem Gericht zugewandt. Die Richter kamen herein und alle nahmen wieder Platz. Ich blieb stehen. Der Vorsitzende nickte mir zu. »Bitte, Rechtsanwalt Brenne.«
»Hohes Gericht«, begann ich. »Es ist Zeit für mein Plädoyer. Es ist bereits später Nachmittag, ein langer, grauer Gerichtstag liegt hinter uns, und wir alle werden langsam müde. Deshalb werde ich versuchen, mich kurz zu fassen. Mein Plädoyer wird deutlich kürzer sein als das der Staatsanwältin.«
Ich nahm einen Schluck Wasser und redete weiter: »Aber auf einige wichtige Aspekte möchte ich doch eingehen. An erster Stelle ist da die Beweislast. Mein Mandant muss freigesprochen werden, wenn es berechtigte Zweifel daran gibt, dass er wirklich getan hat, wofür er angeklagt worden ist.« Ich hob einen Finger. »Dann muss er freigesprochen werden.«
Damit war ich in Gang. Meine Nervosität fiel von mir ab, und ich spürte die Worte wie von selbst kommen. Ich tat, was ich wirklich am besten kann und was mir am besten gefällt. Sprach meine Punkte an, einen nach dem anderen. Die Struktur stimmte, und ich musste nicht einmal auf den Zettel gucken, auf dem ich mir die wichtigsten Aspekte der Reihe nach notiert hatte. Ich sprach engagiert, mit Nachdruck, und ich wusste, dass ich überzeugend war. Der vorsitzende Richter schrieb eifrig mit, und auch seine beiden Beisitzer waren bei der Sache. Und noch etwas wusste ich, während ich redete, meine Argumente mit dem Zeigefinger unterstrich, wohlberechnete Kunstpausen einlegte und meine Stimme hob oder das Tempo verlangsamte, damit sich etwas richtig setzen konnte: Hinter mir auf der Zuhörerbank saß jemand, regungslos, die Hände im Schoß, das breite Gesicht meinem Rücken zugewandt, und hörte mir aufmerksam zu. Ich fragte mich immer wieder, warum dieser Mann erschienen war.
Als ich nach Hause kam, war ich leer, müde und nass. Ich duschte und zog mich um. Anschließend machte ich mir ein Fertigmenü in der Mikrowelle heiß, das ich aß, ohne etwas zu schmecken. Ich versuchte, mich eine halbe Stunde auf dem Sofa auszuruhen, konnte aber wie üblich nach einer Verhandlung nicht schlafen.
Draußen war es dunkel, feucht und windig. Ich blätterte lustlos in der Zeitung und zappte unruhig durch die verschiedenen Fernsehkanäle. Dann rief ich Mette an und fragte, ob sie nicht zu mir kommen wolle.
Als sie bei mir eintraf, trug sie einen Regenmantel und hatte Tropfen auf der Nase. Ihr Mund war kalt und nass. Ich nahm ihr den Mantel ab und zog ihr noch im Flur die restlichen Kleider aus. Sie stand nackt vor mir und ließ sich betrachten, bevor ich sie in mein Schlafzimmer führte.
Danach schlief ich wie ein Kind. Als ich am nächsten Morgen in der Dämmerung aufwachte, war Mette gegangen. Aber es hatte aufgehört zu regnen, und in der Küche stand frisch gekochter Kaffee. Auf dem Tisch lag ein gelber Zettel mit einem Smiley und drei Küssen darunter.
Als er ein paar Wochen später plötzlich in meiner Kanzlei auftauchte, wurde mir bewusst, dass ich auf ihn gewartet hatte. Kari kam herein und sagte, da sei ein Mann, ein Ausländer, der gerne mit mir sprechen wolle.
»Wenn du denn Zeit hast«, sagte sie. »Ich habe den Namen nicht mitbekommen, er meinte aber, wir könnten auch einen Termin vereinbaren, er würde dann wiederkommen.«
»Ausländerrecht?«, fragte ich. Das gehörte nicht gerade zu meinen Lieblingsthemen.
Sie schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Er hat teure Klamotten an, ist höflich und spricht gut norwegisch. Also so ein Schwedisch-Norwegisch. Er wollte mir aber nicht sagen, um was es geht.«
»Ich habe doch Zeit, oder?«
»Schon. Du hast heute keine Termine mehr. Aber du musst dieses Protokoll noch fertig schreiben.«
Es handelte sich um ein ungemein langweiliges Protokoll über Mängel nach einem Hauskauf. »Bring ihn rein«, sagte ich. »Und frag ihn, ob er auch einen Kaffee will.«
Als er mein Büro betrat, war er wie schon bei unseren anderen Begegnungen tadellos gekleidet. Dunkles Jackett über einem dunkelgrünen Rollkragenpullover, graue Hose und braune, robuste Schuhe. Er war groß und kam mit ausgestreckter Hand auf mich zu, noch ehe ich aufgestanden war.
»Slavo Mihailovic«, sagte er. »Danke, dass Sie mich ohne Termin empfangen.«
Seine Hand war trocken und warm.
»Mikael Brenne.« Ich zeigte mit der Hand auf den Besucherstuhl. »Nehmen Sie doch Platz. Eine Tasse Kaffee?«
»Ihre Sekretärin hat mich bereits gefragt. Ich nehme gern eine Tasse, danke.«
Die Tür ging auf, und Kari kam mit dem Kaffee und zwei Tassen herein. »Ich habe zu fragen vergessen, ob Sie Milch oder Zucker möchten«, sagte sie.
Er warf ihr ein rasches Lächeln zu und zeigte seine kräftigen, weißen Zähne. »Nein, das ist gut so, vielen Dank.«
Sein Norwegisch, in das sich ein schwedischer und ein fremdländischer Akzent mischten, war sehr gut. Ich musterte ihn. Er sah wie ein erfolgreicher Geschäftsmann aus. Saß aufrecht und entspannt auf dem Stuhl, die Hände auf den Oberschenkeln, und wartete darauf, dass ich begann.
»Was kann ich für Sie tun, Herr Mihailovic?«, fragte ich.
»Slavo«, sagte er. »Bitte, nennen Sie mich Slavo. Das ist einfacher.«
Ich nickte.
»Ich brauche einen Anwalt, und ich hätte gerne Sie. Wenn Sie Zeit haben und bereit wären …«
»Nun, ich bin zwar Anwalt …« Ich lächelte ihn an. »Aber ich bin nicht in allen Sachfragen gleich kompetent. Es gibt bestimmte Themen, bei denen Ihnen andere Kanzleien vielleicht besser helfen können. Wenn Sie mir kurz skizzieren könnten, was für Probleme Sie haben, dann kann ich Ihnen etwas konkreter sagen, ob ich Ihnen helfen kann.«
Er hob abwehrend die Hand und streckte mir die Handfläche entgegen. »Nein, nein, ich habe keine Probleme.«
Ich öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, aber er fuhr fort.