Zu Staub sollst du zerfallen - Chris Tvedt - E-Book

Zu Staub sollst du zerfallen E-Book

Chris Tvedt

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Beschreibung

Als Kommissar Edvard Matre gerade drei Mordfälle an Frauen aufklären will, wirft ihn eine unerwartete Nachricht völlig aus der Bahn: Edvard erfährt, dass seine vor Jahren tödlich verunglückten Eltern gar nicht seine leiblichen Eltern waren. Die Gebeine seiner wahren Mutter hat man durch Zufall in einem namenlosen Massengrab neben einer Klinik in Oslo gefunden. Offenbar hat man dort die Leichen verstorbener Patienten beiseitegeschafft. Aber wieso gehörte Edvards Mutter zu ihnen?

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Seitenzahl: 483

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Chris Tvedt

Zu Staub sollst du zerfallen

Roman

Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob

Knaur e-books

Über dieses Buch

Als Kommissar Edvard Matre gerade drei Mordfälle an Frauen aufklären will, wirft ihn eine unerwartete Nachricht völlig aus der Bahn: Edvard erfährt, dass seine vor Jahren tödlich verunglückten Eltern gar nicht seine leiblichen Eltern waren. Die Gebeine seiner wahren Mutter hat man durch Zufall in einem namenlosen Massengrab neben einer Klinik in Oslo gefunden. Offenbar hat man dort die Leichen verstorbener Patienten beiseitegeschafft. Aber wieso gehörte Edvards Mutter zu ihnen?

Inhaltsübersicht

WidmungPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Kapitel 50Kapitel 51Kapitel 52Kapitel 53Kapitel 54Kapitel 55Kapitel 56Kapitel 57Kapitel 58Kapitel 59Kapitel 60Kapitel 61Kapitel 62Kapitel 63Kapitel 64Kapitel 65Kapitel 66Kapitel 67Kapitel 68Kapitel 69Kapitel 70Kapitel 71Kapitel 72Kapitel 73Kapitel 74Kapitel 75Kapitel 76Nachwort
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Elisabeth

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Prolog

Die Riis-Kirche liegt im Westen von Oslo, unweit der Ringstraße. Um die Kirche herum liegen die Gräber. Die meisten sind gepflegt, viele mit Blumen geschmückt. Nur eines hebt sich deutlich von den anderen ab. Auf ihm steht kein traditioneller Grabstein, sondern ein runder, unebener Felsen, der einen Umfang von gut drei Metern hat. Auf dem Fels ist nur ein Relief eingraviert. Es zeigt Gebäude, die von hohen Bäumen umgeben sind. Wer einmal in der Psychiatrischen Klinik Gaustad gewesen ist, wird das Motiv erkennen.

Im Grab liegen Patienten dieser Klinik.

Wer sie sind und wie viele dort liegen, ist unbekannt.

Die Roma und Sinti, die über lange Zeit vom Staat verfolgt wurden und die sowohl Opfer von Zwangseinweisungen als auch von Lobotomie geworden sind, glauben, dass in diesem Massengrab vorwiegend ihre Ahnen liegen.

Am 7. Mai jeden Jahres wird am Grab eine Andacht gehalten, und vor einigen Jahren erhielt der Stein eine kleine Tafel.

 

Verzeih, aber vergiss niemals

In Erinnerung an die Mitmenschen, die ihr Leben lassen mussten, weil die Gesellschaft unfähig und nicht willens war, ihr Schicksal und ihre Eigenart zu verstehen.

Friede, Friede, denen in der Ferne und denen in der Nähe, spricht der HERR,

Jesaja 57,19.

 

Nach Ansicht vieler Menschen haben die Behörden die volle Wahrheit über das Massengrab an der Riis-Kirche unterschlagen. Erst als die Massenmedien, allen voran die Zeitung VG, sich für das Grab interessierten, regte sich etwas, und schließlich gaben die Behörden nach und willigten ein, das Grab zu öffnen. Im Herbst 2010 wurden die Leichen exhumiert, und die Identifizierung der Toten begann.

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Kapitel 1

Es war unmöglich, Details zu unterscheiden. In der Dunkelheit waren nur die Umrisse eines steilen Dachs und die Silhouette eines Turms zu erkennen, der sich auf dem Dachfirst erhob. Vor dem Haus lagen schneebedeckte Felder. Dahinter begann der Wald. Die Nadelbäume standen so dicht, dass sie wie eine Wand wirkten, undurchdringlich, aber das war eine Illusion, eine optische Täuschung. Zwischen den Stämmen und unter den schneebedeckten Zweigen war reichlich Platz.

Die Dämmerung begann. Ein verzerrtes Rechteck aus Licht leuchtete kurz unter dem Vordach auf und verlosch wieder. Nach einer Weile blitzte ein Feuerzeug auf, und danach war rote Glut zu sehen, nicht aber der Mann, der dort stand, eingehüllt in einen dicken Pelz.

Er schlief nicht mehr gut, wachte nachts oder früh am Morgen immer wieder auf. Und das war in der letzten Zeit noch schlimmer geworden. Er wusste, warum.

Verbotene Träume. Verbotene Erinnerungen, die er ein halbes Leben lang verdrängt hatte, die aber plötzlich wieder an die Oberfläche gekommen waren und ihn seither nicht mehr in Frieden lassen wollten. Ihn immer wieder aus dem Vergessen des Schlafs rissen.

Egal, das wird so oder so bald vorbei sein, dachte er. Dann werde ich wieder schlafen. Es gibt Erinnerungen, die sind wie Trolle, sie vertragen kein Tageslicht.

Er gähnte herzhaft und nahm noch einen Zug von seiner Zigarette. Um ihn herum dämmerte es. Das Dunkel sickerte aus der Landschaft, lief von den Wänden, dem Dach und von den filigran geschnitzten Säulen, die das Vordach stützten. Alles, was vorher schwarz gewesen war, wurde erst bleigrau und glänzte dann wie Schiefer.

Er lebte abseits, weitab von den Menschen, war die meiste Zeit allein, nur umgeben von Tieren, die er selten sah. Nur ihre Spuren blieben wie geheime Zeichen auf den gefrorenen Flächen zurück.

Da draußen gibt es ein Leben, das ich nicht kenne, dachte er. Ich sehe die Spuren, kann sie aber nicht lesen.

Auch mit ihm war das so, auch ihm war sein Leben unbekannt und undurchdringlich. Ein Leben in der Randzone, in dem schmalen Bereich zwischen Dickicht und Waldrand, in den das Tageslicht noch eindrang.

Die Zigarette verbrannte ihm die Finger, er hatte sie, ohne es zu bemerken, ganz heruntergeraucht. Er warf sie weg und hörte irgendwo unterhalb des Geländers das Zischen im Schnee. Spürte, dass er fror, und sah auf das Thermometer, das an der Säule hing. Minus fünfzehn. Über den Hügeln war der Himmel bereits hell. Es würde ein schöner, aber eiskalter Tag werden. In der Küche war es warm, und der Kaffee sollte jetzt auch fertig sein. Als er sich umdrehen und ins Haus gehen wollte, schlug die Kugel dicht über dem Nasenrücken in seinen Kopf. Sie drang in sein Hirn, bohrte sich durch graue Hirnmasse, zerfetzte Nerven und Adern, ehe sie ihm ein faustgroßes Loch in den Hinterkopf riss. Der Mann sackte zusammen, eine Marionette, deren Fäden man abgeschnitten hatte. Die Wand hinter ihm glänzte vor Blut und Hirnmasse, die tropfend und zäh an dem schwarz geteerten Holz nach unten glitten.

Ein großer Vogel flog krächzend im Wald auf, alarmiert durch den scharfen Knall. Dann wurde es wieder still. Der Wald war wie zuvor, ebenso dunkel und geheimnisvoll. Nach einer Weile trafen die ersten Sonnenstrahlen auf die Hügel im Westen, ließen die Schneekristalle glitzern und zeichneten schwarze Schatten in die Tierspuren auf dem gefrorenen Boden. Das einzige Lebenszeichen, das an diesem kalten Dezembermorgen zu erkennen war, war der Rauch, der aus dem Schornstein des Holzhauses emporstieg, aber gegen Ende des Tages, als die Schatten einen bläulichen Ton bekamen, wurde auch die Rauchsäule dünner und dünner, um schließlich ganz zu verschwinden.

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Kapitel 2

Edvard Matre ließ die Scheibe herunter. Die eiskalte Luft stach ihm ins Gesicht. Ein Polizeibeamter beugte sich vor und sah in den Wagen. Er hatte sich die Mütze tief ins Gesicht gezogen und sich einen Schal um Kinn und Nase gewickelt, so dass er wie ein maskierter Bandit aussah.

»Hauptkommissar Matre, Kripos«, sagte Edvard.

Der Beamte streckte seinen Arm aus. »Ausweis, bitte.«

Edvard suchte seinen Dienstausweis heraus. Der Beamte warf einen Blick auf das Bild und musterte Edvard. Er erkannte die markanten Züge und die kleine, aber deutliche Narbe unter dem linken Auge. Ein verschlossenes Gesicht.

»Sie müssen dahinten parken«, sagte er und deutete zu einer Gruppe von Autos am Wegrand. »Von da aus geht es nur noch zu Fuß weiter. Der Weg ist nicht bis zum Haus geräumt.«

»Wie weit ist es?«

»Nicht weit. Aber der Schnee liegt ziemlich hoch. Man kommt kaum vorwärts.«

Edvard nickte. Er stellte den Wagen ab, schaltete den Motor aus und blieb noch ein paar Sekunden sitzen. Plötzlich graute ihm davor, in den kalten Morgen hinauszugehen. Und vor dem, was ihn dort erwartete. Er würde sich nie daran gewöhnen. Jedes Mal, wenn er an einem Tatort eintraf, bekam er dieses sinkende Gefühl im Magen, ihm wurde leicht übel, und er hatte einen metallischen Geschmack im Mund. Er hatte keine Details erfahren, als ihn das Telefon aus dem Schlaf gerissen hatte, und war so weit weg gewesen, dass er gar nichts kapiert hatte. Deshalb musste er erst noch einmal nachfragen, bevor er verstand, dass ein älterer Mann ermordet worden war und dass die lokale Polizeibehörde die nationale Kriminalpolizei, Kripos, um Unterstützung gebeten hatte.

Er riss sich zusammen, schob den Fahrersitz, so weit es ging, nach hinten, zog sich die Schuhe aus und streifte sich die gefütterten Stiefel über. Dann legte er Mütze, Schal und Handschuhe an. Er stieg aus, nahm den Parka aus dem Kofferraum und sah blinzelnd in die tiefstehende, hell glitzernde Sonne. Die Spur zog sich wie eine unebene Fährte über die weiße Fläche, bevor sie hinter einem Baumgrüppchen einige hundert Meter entfernt verschwand.

 

Der Beamte hatte recht. Man kam wirklich kaum vorwärts. Edvard war groß und sank bei jedem Schritt bis zu den Knien ein. Er fluchte und begann trotz der Kälte zu schwitzen. Als er die Hälfte der Strecke geschafft hatte, blieb er stehen und drehte sich um. Etwa fünfzig Meter hinter ihm kam jemand. Die Person war so dick eingepackt, dass sie wie ein kleiner, runder Bär aussah. Und dahinter folgte ein großgewachsener Mann ohne Mütze, der Schwierigkeiten hatte, sich auf den Beinen zu halten. Edvard schüttelte den Kopf und ging weiter. Hinter den Bäumen erkannte er den Giebel eines Hausdachs.

Auf der Veranda vor dem Haus kniete ein Mann. Er drehte sich um, als er Edvard kommen hörte. »Hallo«, sagte er und stand, etwas steif in den Knien, auf. »Ich bin Dr. Lunden.«

Edvard stellte sich vor und sah sich um.

»Die örtlichen Polizeibeamten sind in der Küche«, sagte der Arzt. »Hier draußen war es ihnen zu kalt.«

»Ist das das Opfer?«

»Ja, kommen Sie ruhig näher.«

Der Tote lag flach auf dem Rücken. Ein älterer, rundlicher Mann in einem schwarzen Pelzmantel. Unter dem Mantel trug er einen abgetragenen Wollpullover. Er hatte nichts auf dem Kopf, und seine grauen Haare waren dünn. Eine Fellmütze, wie sie die russischen Politiker getragen haben, lag wie ein totes Tier ein paar Meter entfernt auf dem Boden. Das eine Auge starrte milchig weiß und matt in die Ewigkeit, und dort, wo das andere hätte sein sollen, war nur ein Loch, umringt von schwarzem, koaguliertem Blut. Das schmale, rote Rinnsal, das aus dem Loch gelaufen war, schien schnell versiegt zu sein.

»Was ist mit seinem Auge? War er blind?«

Dr. Lunden streckte den Arm aus. »Nein, das glaube ich nicht. Ich denke, das war die Kälte. Die Feuchtigkeit auf dem Augapfel ist gefroren. Das andere hat sich vermutlich ein Vogel geholt. Aber es waren auch schon andere Tiere hier. Sie sehen ja die Spuren, die haben ihn ein bisschen angeknabbert.«

Edvard nickte. »Getötet haben die ihn aber nicht.«

 

Von Solveig Reiten war nicht mehr zu sehen als eine rote Nasenspitze und ein Paar hellblauer Augen, in denen Tränen standen. Der Rest verschwand in Daunenjacke, Mütze, Schal und wattierten Hosen. Sie nickte Dr. Lunden kurz zu und begrüßte Edvard. »Was haben wir hier?«, fragte sie.

Edvard winkte sie nach oben auf die Veranda. Sie standen schweigend da und betrachteten den gefrorenen Leichnam. Ein paar Minuten später kam Tommy Wallberg keuchend zu ihnen. Er trug eine kurze Lederjacke über einem Rollkragenpullover. Die blaue Jeans klebte auf seinen kräftigen Oberschenkeln, und seine Füße steckten in spitzen Cowboystiefeln. Tommy trug Lederhandschuhe, hatte aber nichts auf dem Kopf. Fancy Haarschnitt, kurz an den Seiten und hinten, oben dafür potent und aggressiv nach oben gestylt. Er rieb sich die Ohren. »Verdammt kalt.«

Edvard sah ihn an, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schwieg dann aber. Das war jetzt weder die richtige Zeit noch der passende Ort. Tommy sah auf die Leiche. »Was ist denn mit seinem Auge passiert?«

»Ein Vogel.«

»Ein Vogel soll das gefressen haben …? Bäh, mein Gott!«

Edvard ignorierte ihn. »Was sagen Sie, Doktor? Ein Mann … etwa … etwa sechzig?«

»In etwa ja.«

»Kopfschuss. Die Todesursache dürfte ziemlich klar sein.«

»Ja.« Lunden deutete mit dem Zeigefinger auf den Nasenrücken. »Das ist die Einschusswunde.«

»Das sehe ich. Und die Austrittswunde?«

»Ich habe noch nicht nachgesehen. Sein Hinterkopf ist am Boden festgefroren. Wollen Sie, dass ich ihn umdrehe?«

»Später. Wie lange ist er schon tot?«

Ein Schulterzucken. »Bei der Kälte ist das unmöglich zu sagen. Mal sehen, ob ich eine Kerntemperatur finde, aber der kann längst gefroren sein. Es ist ja schon mindestens vierzehn Tage so kalt.«

»Sie meinen, er kann schon vor vierzehn Tagen erschossen worden sein?« Solveig hatte das Wort ergriffen.

»Ich meine nur, dass es schwierig werden wird, einen genauen Todeszeitpunkt zu ermitteln, wenn die Leiche gefroren ist. Ich glaube aber nicht, dass er schon so lange hier liegt. Dann hätten die Tiere ihm mehr zugesetzt. Aber das ist bloß eine Vermutung, ich bin kein Spezialist, was das angeht.«

»Ein paar Tage, meinen Sie?«

Ein neuerliches Schulterzucken. »Vielleicht. Kann sein.«

Tommy hockte sich hin. »Vielleicht ist die Kugel gar nicht wieder ausgetreten. Die kann doch noch in seinem Kopf stecken.«

Ein Klingeln unterbrach das Gespräch. Solveig tastete mit steifen Fingern in ihrer Tasche nach dem Handy. Obwohl sie sich abwandte, hörten alle ihre etwas unsichere Stimme: »Hallo, Papa, ich rufe dich nachher zurück. Ich bin auf der Arbeit, es passt gerade schlecht. Ja, mit der Bank ist alles in Ordnung, mach dir keine Gedanken. Ich melde mich.«

Sie steckte das Handy zurück in ihre Tasche und drehte sich wieder zu den anderen um. »Tut mir leid.«

»Die ist durch den Kopf geschlagen«, sagte Edvard, ohne weiter darauf einzugehen. »Guck dir doch mal die Wand an. Wegen des Reifs ist das nicht so gut zu erkennen, aber ich glaube, dass das Blut und Gehirnmasse ist. Er muss … ungefähr hier gestanden haben, als die Kugel ihn getroffen hat.«

Tommy trat einen Schritt näher an die Wand heran. »Du hast recht. Und da ist dann wohl auch unsere Kugel.«

»Wahrscheinlich ja«, sagte Edvard. Er sah über die Felder. Eine ungebrochene, reinweiße Fläche bis zum dunklen Waldrand.

Dr. Lunden nahm die Schulter des Toten und versuchte, ihn umzudrehen, aber der Körper rührte sich nicht. Er fluchte und packte den Leichnam noch einmal mit beiden Händen. Der Kopf löste sich mit einem Laut wie von zerreißendem Papier von der Unterlage, und Lunden drehte den Toten auf den Bauch. Der Hinterkopf war ein dunkelroter, fast schwarzer Krater.

»Da haben wir die Austrittswunde«, sagte Lunden mit grimmiger Zufriedenheit in der Stimme.

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Kapitel 3

Die Verandatür öffnete sich, und ein längliches, bedrücktes Gesicht schob sich durch den Türspalt. »Da sind Sie ja. Gut, sehr gut. Kommt rein, wir haben in der Küche angeheizt. Es ist kalt draußen, verdammt kalt.«

Die Küche dampfte. In der Ecke stand ein bollernder Holzofen. Edvard sah sich um. Ein großer, altmodischer Raum. Drei Männer in Uniform standen um den Ofen herum und wärmten sich. Sie waren kräftig, mit breiten Schultern, und fast so groß wie Edvard. Der Mann, der sie hereingebeten hatte, war älter und schlanker. Er reichte ihnen die Hand.

»Polizeihauptmeister Berg«, sagte er. »Ich bin froh, dass Sie hier sind. So was wie das hier kommt bei uns nur selten vor.«

Edvard ergriff die ausgestreckte Hand, stellte sich vor und präsentierte die anderen.

»Hallo«, sagte Tommy. Solveig nickte, nahm die Mütze ab und wickelte sich aus dem Schal. Die Männer starrten sie an, während ihr Gesicht langsam zum Vorschein kam. Kurze, dunkelblonde Haare, Himmelfahrtsnase und ein großer, fröhlicher Mund mit vollen Lippen. Nicht hübsch, aber auch kein Allerweltsgesicht, das man schnell vergaß.

»Na ja, Morde passieren bei Ihnen ja wohl auch«, sagte Edvard.

»Ja«, sagte Berg. »Schon, aber wirklich nicht oft. Und das sind dann meistens irgendwelche Prügeleien im Suff, die aus dem Ruder laufen, oder Familientragödien. Sie wissen schon, Männer, die es nicht verkraften, verlassen zu werden, und so was in der Art.«

Edvard nickte. Er wusste genau, was Berg meinte.

»Das hier ist anders«, fuhr der Polizist fort. »Das sieht eher wie eine Hinrichtung aus. Der Mann wurde aus weiter Distanz erschossen. Das war ein geplanter Mord.«

Er hielt inne und sah Edvard ein bisschen verunsichert an, bis dieser nickte. »Ich bin ganz Ihrer Meinung. Das sieht nach einem vorsätzlichen Mord aus. Aber erst einmal interessiert mich, wer das Opfer ist.«

»Oh, tut mir leid. Er heißt Hjalmar Holst.«

»Ist er identifiziert worden?«

»Unser Ort ist nicht so groß. Ich kenne die meisten. Oder weiß wenigstens, wer sie sind. Hjalmar Holst hat beinahe sein ganzes Leben hier gewohnt. Abgesehen von ein paar Jahren in Oslo.«

»Okay, was hat er gemacht?«

»Nichts, soweit ich weiß.«

Edvard zog die Augenbrauen hoch.

»Hjalmar Holst war ein Einsiedler, die meiste Zeit über war er hier draußen allein. Das ist sein Elternhaus, die Familie hatte früher einmal ziemlich viel Geld. Ich weiß nicht, ob er eine Rente bekommen oder von dem Erbe gelebt hat, aber soweit ich weiß, hat er nie gearbeitet. Ich habe allerdings keine Ahnung, was er in seiner Zeit in Oslo gemacht hat.«

»Wer hat ihn gefunden?«

»Der Postbote. Holst hatte schon ein paar Tage lang seine Post nicht mehr geholt, deshalb wollte er nachschauen, ob mit dem Alten alles in Ordnung ist.«

Edvard nickte nachdenklich. Die anderen sahen ihn abwartend an.

»Okay«, sagte er schließlich. »Wir brauchen einen Schneescooter, Berg. Die Leiche muss abtransportiert werden, und wir müssen den Waldrand untersuchen, sobald die Spurensicherung gekommen ist. Der Mörder hat vermutlich von dort aus geschossen. Solveig, darum kümmerst du dich. Tommy, wir zwei sehen uns mal das Haus an.«

Er redete langsam und methodisch und verteilte die Aufgaben. Berg machte sich Notizen, nickte und war sichtlich froh darüber, dass ein anderer die Verantwortung übernommen hatte.

Jacken wurden zugeknöpft und Handschuhe und Mützen angezogen. Die anderen verschwanden, und Edvard drehte sich zu Tommy.

»Weißt du eigentlich, wie kalt es da draußen ist, Tommy?«

Ein Schulterzucken. »Das wissen die Götter. Minus zwanzig Grad, vielleicht?«

»Und du hast nichts auf dem Kopf, trägst eine kurze Jacke und ungefütterte Stiefel? Bist also unbrauchbar für alle Arbeiten, die nicht drinnen stattfinden. Du hättest das wissen müssen. Beim nächsten Mal ziehst du dich passend an, egal ob das zu deinem Image und deiner modischen Frisur passt, verstanden?«

Tommy zuckte mit den Schultern, ohne zu antworten. Edvard ärgerte sich, schluckte seinen Ärger aber runter. Sie kannten sich nicht gut, waren erst vor ein paar Tagen einander vorgestellt worden und arbeiteten jetzt zum ersten Mal zusammen. Es war auch das erste Mal, dass Edvard eine Mordermittlung leitete. Er wollte aber nicht mit einem Streit anfangen, nicht autoritär und steif wirken.

»Na, dann fangen wir an«, sagte er einfach.

 

Das Haus war riesig. Vier Zimmer mit hohen Decken, vollgestopft mit Möbeln, unordentlich, voller Schatten und Staub. Ihr Atem blieb wie weiße Wolken in den Räumen hängen.

Eine halbvolle Tasse Kaffee und eine löchrige, zerknüllte Decke auf einem abgenutzten Ledersessel verrieten, wo Hjalmar zu sitzen pflegte. Ein kleiner Stapel Bücher und Hefte lag neben der Kaffeetasse. Schnell warf Edvard einen Blick auf die Bücher. Sie schienen von Religion und verschiedenen Kirchengemeinschaften zu handeln.

»Darüber solltest du mit Solveig reden«, sagte Tommy.

»Wieso das denn?«

»Sie gehört selbst irgend so einer Sekte an.«

»Woher weißt du das denn?«

Tommy zuckte mit den Schultern. »Das wissen alle. Über so etwas wird geredet.«

Edvard legte die Bücher wieder weg. »Geh schon mal nach oben, ich kümmere mich um den Rest.«

Keines der anderen Zimmer schien benutzt worden zu sein. Edvard schaltete ein paar Lampen ein, aber sie waren nicht mehr als gelbe Lichtflecken in halbdunklen Räumen. Ein viel zu großes Haus, um allein darin zu wohnen, zu groß und zu düster. Er ging zurück ins erste Zimmer. Auf einem kleinen Tisch, gerade noch in Reichweite des Sessels, stand ein altmodisches, schwarzes Telefon. Edvard nahm den Hörer ab, lauschte dem Freizeichen und legte wieder auf. Ein weißer Zettel ragte unter dem Telefon hervor. Er nahm ihn und las die wenigen handschriftlichen Worte. »Der Weg zur Erlösung führt über das leere Grab. Wer seine Sünden bekennt, wird Vergebung und Gnade finden«, stand dort geschrieben.

»Amen«, murmelte Edvard.

»Chef!« Tommys Stimme kam aus dem ersten Stock. »Chef! Heh, Chef!«

Er saß vor einem alten Schreibtisch im Schlafzimmer. Auf der Tischplatte stand ein PC mit eingeschaltetem Monitor. Edvard beugte sich vor und kniff die Augen zusammen, brauchte aber seine Brille. Ein blutjunges Mädchen, so jung, dass sie noch keine Brüste hatte, posierte zurückgelehnt auf einem Sofa. Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt und die Lippen zu einem Kussmund verzogen, aber ihre Augen waren schwarz und ängstlich, wie bei einem gefangenen Tier. Und sie war nackt.

»Holst mochte kleine Mädchen«, sagte Tommy. »Kein Wunder, dass ihn jemand erschießen wollte.«

»Und ebenso logisch, dass er auf der Suche nach Vergebung war«, murmelte Edvard.

 

Als sie etwas später nach draußen auf die Treppe traten, war die Sonne bereits hinter den dunklen Hügeln im Westen untergegangen. Es war vollkommen still und noch kälter geworden. Edvard sah sich um und schauderte.

»Wer zum Henker wohnt denn an einem derart gottverlassenen Ort? Mitten im Wald?«, sagte er.

Tommy sah ihn überrascht an. »Meine Großeltern kommen von hier«, sagte er. »Als Kind war ich viel hier. Mir gefällt’s.«

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Kapitel 4

Kommen Sie rein, Edvard.« Katrine Gjesdahl war eine kleine, stämmige Frau mit grünen Augen und grauen Haaren. Sie wirkte wie ein gutmütiges Mütterchen und war deshalb oft unterschätzt worden, aber Edvard war nie in diese Falle getappt. Sie war seine Chefin.

»Sie wollten mit mir sprechen?«

»Ja. Ja, wie läuft es mit dem Holst-Fall? Es sind jetzt drei Monate vergangen. Sind Sie weitergekommen?«

Edvard zuckte mit den Schultern und musste plötzlich gähnen.

»Entschuldigen Sie, aber nein, wir stecken irgendwie fest.«

Sie zog die Augenbrauen hoch. »Halten Sie das für eine ausreichende Zusammenfassung?«

»Wir haben wirklich nichts, es deutet alles darauf hin, dass der Mörder am Waldrand darauf gewartet hat, dass Holst sich zeigt. Es hat aber geschneit, und heftigen Wind hatten wir auch, bevor die Leiche entdeckt wurde, und das hat uns die Sache zusätzlich erschwert. Wir haben keinerlei Spuren von dem Mörder finden können. Wir haben nur die Kugel, die Holst getötet hat, aber die ist von einem sehr verbreiteten Kaliber und wertlos, solange wir keine Waffe haben, mit der wir sie vergleichen können. Keiner der Nachbarn hat etwas Verdächtiges bemerkt, und wir haben auch sonst kaum Hinweise. Nur die Aussage eines Pärchens, das draußen war, um in Ruhe knutschen zu können, und das auf einem verlassenen Waldweg einen Wagen stehen sah. So einen SUV, vermutlich einen Volvo. Zeitlich passt das mit dem angenommenen Tatzeitpunkt zusammen.«

»Keine Verdächtigen?«

»Nein. Hjalmar Holst war unverheiratet und kinderlos. Seine Verwandten, also die Erben seines nicht sonderlich üppigen Vermögens, können wir ausschließen. Sie hatten wenig Kontakt zu ihm, und das sind alles schon ältere Leute, denen es finanziell recht gut geht. Der Mann hatte überdies kaum soziale Kontakte und lebte da oben ein sehr abgeschiedenes Leben. Es gibt keine Hinweise, dass er in irgendwelche Konflikte oder Ähnliches verstrickt war.«

»Und was ist mit seiner Vergangenheit?«

»Auch da ist nichts. Holst ist in einem ganz normalen Elternhaus aufgewachsen und hat nach der weiterführenden Schule eine landwirtschaftliche Ausbildung begonnen, die er jedoch nicht beendet hat. Er hat ein paar Jahre in Oslo gelebt, war Bote, hatte einen Putzjob und hat als Nachtwache in einem Krankenhaus gearbeitet. Jobs eben, wenn man keine Ausbildung hat. Wir haben keine Hinweise gefunden, dass damals etwas passiert ist, was mit der jetzigen Tat in Verbindung stehen könnte. Dann starben seine Eltern innerhalb eines knappen Jahres. Danach ist er wieder nach Hause gezogen.«

»Und welchem Ansatz folgen Sie jetzt?«

»Den Kinderpornos auf seinem Rechner. Es ist ziemlich viel Material, mehrere tausend Bilder, viele davon sehr brutal und ein Großteil davon offensichtlich ausländischer Herkunft. Es ist mühsam, aber wir haben jetzt die unangenehme Aufgabe, die Opfer und die Umgebung auf den Bildern zu analysieren. Wir gehen dabei von der Hypothese aus, dass Hjalmar Holst vielleicht selbst einige der Bilder gemacht hat und dass er aus Rache für Übergriffe, die er begangen hat, ermordet wurde.«

»Haben Sie etwas gefunden?«

»Bis jetzt nicht, nein.«

Katrine Gjesdahl drehte sich auf dem Stuhl herum und sah abwesend aus dem Fenster. Der Schnee war auch auf den Wiesen rund um die Kripos-Zentrale in Bryn weitestgehend geschmolzen. Nur ein paar vereiste Flecken waren geblieben. »Das ist Routinearbeit. Die kann eigentlich jeder machen«, sagte sie.

Edvard antwortete nicht, sah sie aber überrascht und voller Aufmerksamkeit an. Er witterte eine Chance, der Sklaverei vor dem Computerbildschirm zu entkommen, die endlosen Tage mit Bildern von missbrauchten, zerstörten Kindern, die sich in seine Netzhaut einbrannten und ihn mehr und mehr abstumpften, was fast das Schlimmste war.

»Ihr Team, Edvard, funktioniert es?«

Er dachte nach und zögerte mit der Antwort. »Es funktioniert eigentlich ganz gut. Tommy ist ziemlich schlau, er hat einen wachen Geist, zieht aber manchmal vorschnelle Schlüsse. Die Routinearbeit liebt er nicht sonderlich, aber er ist loyal. Solveig ist … sie macht ihre Arbeit gründlich und gewissenhaft, aber ihre eigentliche Domäne ist das Verhör. Da ist sie brillant, wenn ich das sagen darf, auch wenn wir bislang ja noch nicht viele Leute zum Verhör hier hatten. Dieser Fall hat den beiden noch nicht die Chance gegeben, sich wirklich von der besten Seite zu zeigen.«

»Gilt das auch für Sie?«

Edvard lächelte schief. »Wenn es so eine Seite gibt.«

»Das liegt auf der Hand, Edvard. Sie sind methodisch und systematisch, haben sich dabei aber die Fähigkeit bewahrt, kreativ und manchmal gar intuitiv zu denken. Diese beiden Eigenschaften sind nur selten in dieser Kombination zu finden, und das wissen Sie genau. Es ist wichtig, sich seiner Stärken bewusst zu sein. Ebenso wichtig, wie seine Schwächen zu kennen.«

»Und die wären?«

Katrine Gjesdahl antwortete nicht direkt. »Wie funktionieren Sie sozial?«

»Sozial?«

Sie seufzte.

»Das ist also Ihre Antwort auf meine Frage. Sie müssen Ihre Mitarbeiter leiten, Edvard. Sie sind der Chef, und das verlangt mehr, als nur ein guter Ermittler zu sein. Sollen Sie als Team funktionieren, müssen Sie einander kennenlernen. Sie müssen die starken Seiten des jeweils anderen schätzen lernen und die Schwächen tolerieren. Ihr Job ist es, genau dafür zu sorgen. Haben Sie die beiden mal auf ein Bier eingeladen? Nein, dachte ich mir. Gehen Sie mit Ihren Kollegen mal in einen Pub, und reden Sie über etwas anderes als die Arbeit.«

»Ich gehe nicht so oft in Pubs.«

»Dann gehen Sie in den McDonald’s, und kaufen Sie ihnen ein Happy Meal. Tun Sie, was Sie wollen, aber machen Sie Ihren Job als Teamleiter.«

Edvard wartete, aber das war’s, mehr kam nicht. Katrine Gjesdahl beugte sich über den Stapel Dokumente, die vor ihr auf dem Schreibtisch lagen. Er stand auf und drehte sich zur Tür, um zu gehen. Als er die Klinke schon fast in der Hand hatte, sagte sie:

»Sie dürfen für eine Weile nach Hause, Edvard.«

»Wie bitte?«

»Sie müssen nach Bergen. Sie kommen doch von da, oder?«

»Bergen? Warum das denn?«

»Da ist letzte Woche eine junge Frau ermordet worden.«

»Ist das nicht ein Fall für den Polizeidistrikt Hordaland?«

»Schon. Es ist auch sonst weit unter deren Würde, Hilfe aus der Hauptstadt anzufordern, aber es gibt noch ein zweites Opfer. Auch eine junge Frau, die mit schweren Verletzungen bewusstlos im Krankenhaus liegt. Die beiden Fälle haben, wenn ich das richtig verstanden habe, Gemeinsamkeiten, aber um das zu erkennen, haben unsere Bergenser Genies ganz schön lange gebraucht. Jetzt fürchten sie, es mit einem Serienmörder zu tun zu haben, und in solchen Fällen sind selbst die Bergenser schlau genug, um Unterstützung anzufordern. Kurzum, sie haben uns gerufen.«

Sein Puls stieg. Ein neuer Fall. Endlich Schluss mit der Sklaverei vor dem Bildschirm. Schluss mit einer Ermittlung, die nicht vom Fleck kam, einem Fall, der vollkommen festgefahren war. »Und der Holst-Fall?«

Sie blickte nicht einmal auf.

»Den übernimmt Petterson. Er versteht sich auf Routinearbeit. Geben Sie den anderen Bescheid, und machen Sie sich auf den Weg, bevor die da im Westen es sich doch noch anders überlegen.«

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Kapitel 5

Edvard blieb vor der offenen Bürotür stehen. Ragnar Petterson saß am Tisch und hatte den Kopf in die Hände gestützt.

»Hallo, Edvard«, sagte er, ohne aufzublicken.

»Woher wusstest du, dass ich das bin?«

»Weil du kaum ein Geräusch gemacht hast. Du bewegst dich für deine Größe unglaublich leise.«

»Ist doch eine gute Eigenschaft, oder? Dann hören mich die bösen Buben nicht kommen.«

Petterson schüttelte den Kopf. »Ich trampele lieber wie ein Elefant durchs Leben. Auf diese Weise hören sie mich kommen und können sich vom Acker machen, bevor es Probleme gibt.«

Edvard grinste und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Petterson war elf Jahre älter. In seinem langen, schmalen Gesicht schienen alle Linien vertikal ausgerichtet zu sein. Trotz des Altersunterschieds waren sie Freunde. Jeden Herbst gingen sie für eine Woche gemeinsam auf Hirschjagd. Sie schossen nie etwas, und es war ein stehender Witz zwischen ihnen, dass Petterson das auch gar nicht wollte und extra lautstark durchs Unterholz stolperte, um kein Tier erlegen zu müssen.

»Was machst du gerade?«, fragte Edvard.

»Routinearbeit. Ich habe mich gefragt, ob ich nicht ein paar Tage freimachen kann. Eine Woche Gran Canaria käme jetzt gerade recht.«

»Ich fürchte, das kannst du vergessen.«

»Was? Wieso?«

»Bescheid von oben. Du sollst den Holst-Fall übernehmen.«

»Holst? Diesen Einsiedler aus Finnskogen?«

»Nicht Finnskogen, aber in der Richtung.«

»Tretet ihr da nicht auf der Stelle? Ich habe erst neulich gehört, wie Tommy Wallberg sich in der Kantine beschwert hat, dass er seit Wochen nur irgendwelchen Scheiß durcharbeiten muss.«

»Kinderpornos, ja, das ist richtig«, sagte Edvard. »Tut mir leid, Ragnar.«

Petterson zuckte mit den Schultern. »Dann scheiß auf Gran Canaria. Ich hätte doch nur wieder einen Sonnenbrand bekommen und zu viel getrunken. Und du, was musst du machen?«

»Ich muss nach Bergen. Da ist eine junge Frau umgebracht und eine andere schwer verletzt worden. Möglicherweise gibt es einen Zusammenhang.« Edvard stand auf. »Ich muss nach Hause und packen. Ich schreibe dir heute Abend einen Bericht, okay?«

Ragnar Petterson nickte etwas resigniert. »Bergen, na ja? Einen Sonnenbrand kriegst du da wenigstens auch nicht.«

 

»Ruf mich an«, tippte Solveig. »Muss nach Bergen. Das Essen am Freitag klappt damit nicht.«

Er war nicht ans Handy gegangen, als sie ihn angerufen hatte. Vermutlich war er bei einer Chorprobe, sicher war sie sich aber nicht. Sie wusste nie, an welchen Abenden er Termine hatte. Als Musiker dirigierte er verschiedene Chöre, und auch sie beide hatten sich so kennengelernt – durch den Chor, in dem sie sang. Der vorherige Dirigent war krank geworden, und Hans Christian hatte übernommen. Und das mit so viel Freude und Enthusiasmus, dass sie sich immer schon voller Erwartungen auf die nächste Probe gefreut hatte.

Irgendwann hatte sie realisiert, dass sie sich nicht nur auf die Musik freute. Er war so voller Begeisterung, konnte vollkommen in dem aufgehen, was er tat, ohne sich aber darüber bewusst zu sein, dass er sie buchstäblich verführt hatte.

Sie war nicht sonderlich überrascht, als es an der Tür klingelte, irgendwie hatte sie darauf gewartet.

»Du musst weg?«, war das Erste, was er fragte. »Ich hatte mich so auf Freitag gefreut.« Die Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Manchmal dachte Solveig, dass er ganz schön kindisch war und sein immerwährendes Auf und Ab sie anstrengte, andererseits wusste sie, dass es gerade seine Impulsivität und seine Intensität waren, die sie an ihm liebte.

»Ja, ich muss verreisen«, sagte sie und umarmte ihn.

Sie gingen ins Schlafzimmer und liebten sich nach demselben ruhigen Muster, das sich für sie beide als das beste herausgestellt hatte. Anfangs hatte Solveig darauf bestanden, das Licht auszuschalten. Es war ihr unangenehm, wenn er sie beim Sex sah, sie war noch nie glücklich mit ihrem Körper gewesen. Ihrer Meinung nach waren ihre Hüften zu breit und ihre Brüste zu klein. Hans Christian hatte den Kopf geschüttelt.

»Sieh mich an«, hatte er gesagt. »Zwanzig Kilo zu viel, ein Bauch wie ein Fußball, eine Brille der Stärke minus 4 und schüttere Haare. Quält es dich, mich zu sehen?«

Sie hatte den Kopf geschüttelt, ihm über den runden Bauch gestreichelt und gesagt, dass sie das alles liebe.

»Genau«, sagte er. »Und warum kannst du mir nicht das gleiche Vertrauen entgegenbringen? Glaubst du nicht an die Liebe, du zynische Polizistin?«

Sie wusste, dass er ihr guttat. In jeder Hinsicht. Mit ihm fühlte sie sich frei, er half ihr, sich schön zu fühlen, geliebt, begehrt. Und er brachte sie zum Lachen. Trotzdem spürte sie Verärgerung in sich aufsteigen, als er sich ihr zuwandte, nachdem sie wieder zu Atem gekommen waren, und sagte, dass sie zusammenziehen sollten. Es war nicht das erste Mal, dass er dieses Thema ansprach.

Er merkte es und richtete sich im Bett auf. »Willst du nicht?«

Sie wich der Frage aus. »Ich bin gerne mit dir zusammen. Aber ich weiß nicht, ob du mich noch magst, wenn du mich jeden Tag, im Alltag, erlebst.«

»Da irrst du dich. Ich will dich, Solveig. Mit allem Drum und Dran. Im grauen Alltag und an Feiertagen. In guten wie in schlechten Zeiten.«

Er wirkte so ernst, dass sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Der Gedanke daran, sich nicht mehr zurückziehen zu können, keine eigene Wohnung mehr zu haben, keine Zeit für sich, war plötzlich unerträglich, klaustrophobisch.

»Können wir nicht ein anderes Mal darüber reden, Hans Christian? Wenn ich zurückkomme. Jetzt muss ich wirklich versuchen, ein bisschen zu schlafen, ich muss morgen früh los.«

Er nickte. »Wenn du aus Bergen zurück bist«, sagte er. »Dann reden wir.« Sie wusste nicht, ob es wie ein Versprechen oder wie eine Drohung klang.

 

Tommy Wallberg tropfte der Schweiß herunter. Er lag auf dem Boden, keuchte und konzentrierte sich. Die letzte Wiederholung. Nur noch zehn Liegestützen, dann war er fertig. Seine Brust- und Oberarmmuskeln brannten, als er seinen langen Körper hochstemmte und wieder absenkte.

Anschließend betrachtete er sich im Spiegel. Studierte das Spiel seiner Muskeln, drehte und wendete sich und war zufrieden. Er sah gut aus. Früher war er einmal ein kleiner, schmächtiger Knirps gewesen. Er erinnerte sich gut daran, wie die Menschen ihn damals behandelt hatten, und wollte das nie mehr erleben.

Unter der Dusche fantasierte er über den neuen Fall, stellte sich vor, wie er den Mörder entlarvte, ihn jagte und zuletzt stellte und übermannte. Tommy wusste, dass diese Gedanken kindisch waren, aber das war ihm egal. Es ging doch eigentlich um nichts anderes als Gerechtigkeit, Jagd, Kampf und Sieg. Waren sie alle nicht genau deshalb zur Polizei gegangen? War das alles nicht ganz einfach?

Bevor er ins Bett ging, leerte er den Kühlschrank. Er machte sich nicht die Mühe, erst zu sortieren, was haltbar war und was nicht, sondern warf alles in den Mülleimer.

Er fragte sich, ob er seine Mutter anrufen und sie informieren sollte, dass er nach Bergen musste, ließ es dann aber bleiben. Sie wurde oft ärgerlich, wenn er anrief. Stattdessen schickte er eine SMS, wohl wissend, dass er keine Antwort bekommen würde.

 

Edvard suchte seinen Koffer heraus und öffnete den Kleiderschrank. Alles war an seinem Platz. Die Hemden hingen frisch gebügelt und ordentlich nebeneinander. Pullover und T-Shirts waren messerscharf gefaltet und nach Farben sortiert. Hosen, Unterhosen, Socken sahen allesamt neu aus. Eine Reihe blank geputzter Schuhe.

Natürlich war das neurotisch, er kümmerte sich aber nicht darum. Er brauchte um sich herum System und Struktur, um sich auf die wichtigen Dinge konzentrieren zu können. Er packte rasch und systematisch, aber mit Sorgfalt. Nach zehn Minuten war er fertig.

Danach putzte er die Wohnung und räumte auf. Das machte er immer, wenn er woanders arbeiten musste. Als Letztes nahm er sich den Kühlschrank vor und warf alle Reste weg. Die frischen Sachen packte er in eine Plastiktüte und nahm sie zusammen mit einer Topfpflanze mit zu der Nachbarin, die unter ihm wohnte. Er klingelte.

»Edvard!« Elise hatte rote Haare, war üppig, wenn nicht übergewichtig und sprach seinen Namen immer so aus, als wäre sie vollkommen überrascht, ihn zu sehen.

»Ein paar Sachen aus dem Kühlschrank«, sagte er und hielt ihr die Tüte hin. »Wär doch schade, wenn das alles verkommen würde.«

»Edvard Matre, der letzte Moralist des Universums«, sagte Elise und nahm die Tüte. »Musst du wieder weg?«

»Ja, könntest du dich …?« Edvard hielt ihr die Pflanze hin.

Sie seufzte. »Aber klar. Aber ich verspreche nichts. Ich will keine Schuldgefühle oder ein schlechtes Gewissen haben, wenn auch die stirbt.«

»Ich vergeb dir schon im Voraus.«

»Gut. Willst du einen Moment reinkommen?« Sie legte ihre Hand auf seinen Unterarm. »Kann ich dir ein Glas Wein anbieten? Eine schnelle Nummer?«

Edvard lächelte. »Verlockend, das alles, Elise, aber ich muss morgen verdammt früh los, und du würdest mich bestimmt ziemlich fertigmachen.«

»Feigling«, sagte sie und machte einen Schmollmund.

Auf dem Weg nach oben fragte Edvard sich, was sie wohl getan hätte, wenn er sie beim Wort genommen hätte. Vermutlich Panik bekommen, oder auch nicht? Der Gedanke ließ ihn nicht los, das spürte er. Es war Ewigkeiten her, dass er zuletzt etwas mit einer Frau gehabt hatte. Seine wenigen festen Beziehungen hatten nie lange gehalten. Er war sich bewusst, dass das an ihm lag, dass er sich immer wieder zurückzog, wenn es zu eng wurde. Denn mit der Nähe kam die Angst vor Verlust.

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Kapitel 6

Der Kriminaltechniker in dem weißen Overall dachte an alte Leichen. Er war in dem Raum mit den Skeletten gewesen, sorgsam aufgereiht und zusammengesetzt aus den Knochenresten, die sie aus dem Massengrab auf dem Friedhof der Riis-Kirche ausgegraben hatten. Zweiundvierzig Gebeine, die Überreste früherer Patienten der Gaustad-Klinik, nebeneinander auf glänzenden Metalltischen, mitsamt einem überzähligen Oberschenkelknochen. Dieser Oberschenkelknochen hatte in der Kantine des Rechtsmedizinischen Instituts eine Reihe von Spekulationen ausgelöst und war Anlass für schlechte Witze gewesen, aber niemand hatte eine vernünftige Erklärung für das Vorhandensein dieses Knochens vorbringen können.

Die Reste der Skelette waren größtenteils intakt. Einem fehlte ein Finger, aber die Pathologen hatten nachweisen können, dass die entsprechende Person dieses Fingerglied schon zu Lebzeiten verloren haben musste. Der Kriminaltechniker ging davon aus, dass man das aus der Bruchfläche schließen konnte, war sich aber nicht ganz sicher. Sein Fachgebiet waren DNA-Tests, und auf dem Bildschirm vor ihm wurde nun endlich das DNA-Profil eines Skeletts aus dem Massengrab angezeigt. Die flimmernden Säulendiagramme aus unterschiedlichen Blautönen faszinierten und verwunderten ihn noch immer, repräsentierten sie doch den genetischen Code eines Menschen, der ihn von allen anderen Menschen unterschied. Auf der ganzen Welt.

Er gähnte und verließ seinen Schreibtisch, um sich eine Tasse Kaffee zu holen. Als Nächstes musste er das Profil mit den DNA-Profilen all derjenigen abgleichen, die annahmen, Verwandte in diesem Massengrab zu haben. Verblüffend viele Menschen hatten DNA-Proben abgegeben. Viele tausend. Bei den meisten handelte es sich wohl um Zigeuner, aber allem Anschein nach hofften oder fürchteten auch viele andere, die Gebeine ihrer Eltern oder Großeltern in diesem Grab zu finden. Einige Kollegen rissen zynische Witze darüber, aber der Techniker verstand nicht, was daran lustig war. Die verzweifelte Suche der Menschen nach ihrer Vergangenheit, nach Wurzeln und Antworten rührte ihn. Nein, er verstand wirklich nicht, was daran witzig sein sollte.

Er bereitete den Datenabgleich vor. In das hochmoderne Programm waren die Erfahrungen aus großen Katastrophen eingeflossen: der Angriff auf das World Trade Center 2001 und der Tsunami 2004. Es suchte nicht nur nach identischen DNA-Sequenzen, sondern auch nach Ähnlichkeiten zwischen den Proben, um mögliche Verwandtschaften aufdecken zu können. Seine Finger tanzten über die Tastatur. Er hatte das schon so oft gemacht, dass die Arbeit wie von selbst ging. Er gähnte. Eigentlich war er zu müde, aber er brauchte das Geld für die Überstunden. Er wurde Vater, und sie brauchten eine größere Wohnung. Er drückte »Enter« und startete die Suche. Lehnte sich zurück und wartete. Jedes Mal, wenn er an sein ungeborenes Kind dachte, den lebendigen, kleinen Menschen, stürmten widersprüchliche Impulse auf ihn ein: Angst und Freude. Dabei sollte man doch erwarten, dass man sich irgendwann auch an diesen Gedanken gewöhnte.

Als er wieder auf den Bildschirm blickte, sah er, dass die Suche längst abgeschlossen war. Es gab einen Treffer. Zum ersten Mal hatten sie wirklich jemanden gefunden. Er überlegte, ob der Betreffende sich freuen, ob er erleichtert sein würde, endlich die Wahrheit zu kennen, oder ob die Verzweiflung überwog, weil seine bangen Ahnungen sich bestätigten. Doch dann bemerkte er, was ganz oben auf dem Bildschirm stand, und fluchte. Der Treffer war wertlos. Er hatte, einer alten Gewohnheit folgend, die DNA mit der DNA-Datenbank der aktuellen Kriminalfälle abgeglichen und nicht mit der Datei der potenziellen Verwandten. Er hob die Hand, um das Suchergebnis zu löschen, hielt dann aber inne. Die Wahrscheinlichkeit, dass es in dieser Datenbank einen Treffer gab, war verschwindend gering. Er sah sich die Daten auf dem Bildschirm genauer an, kontrollierte den Verwandtschaftsgrad und warf einen Blick auf den blinkenden Namen. Er wusste, wer das war.

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Kapitel 7

Einen Latte, bitte«, sagte Victoria.

Es machte Spaß, die Bedienung arbeiten zu sehen. Sie ging so systematisch vor, jede Bewegung war zielgerichtet und elegant.

Victoria nahm den Kaffee entgegen und verbrannte sich an dem heißen Glas die Finger. Sie nahm zwei Tütchen Zucker mit, setzte sich ans Fenster und stellte ihre Tasche auf den leeren Stuhl neben sich. Hoffentlich dauerte es nicht so lange, bis Unni kam. Sie musste oft auf sie warten und fragte sich bei diesen Anlässen immer wieder, ob sie etwas an ihrer Verabredung falsch verstanden hatte. Sie warf einen Blick auf ihr Handy und kontrollierte die Uhrzeit. Als sie den Kopf wieder hob, sah sie Unni die Straße überqueren. Ihre schnellen, hektischen Bewegungen waren so vertraut.

Victoria kam mit einem Mal in den Sinn, wie sie Unni das erste Mal begegnet war. Wie klein sie an diesem eiskalten Herbstabend gewirkt hatte. Unni hatte allein an der Kreuzung gestanden und geweint, weil sie den Nachhauseweg nicht finden konnte. Sie war nur ein paar hundert Meter von dem Haus entfernt gewesen, in dem sie wohnte, aber das war für sie unendlich weit entfernt gewesen. Sie war sich mutterseelenallein vorgekommen. Wie anders sie jetzt wirkte.

Unni sah Victoria durch das Fenster und winkte ihr zu. Als sie an dem Spiegel auf dem Flur vorbeikam, warf sie rasch einen Blick hinein. Die Sonnenstrahlen ließen ihre Augen aufleuchten, und die grünen Punkte auf ihrer Iris waren sehr deutlich zu erkennen. Unwillkürlich dachte sie an Gunnar, der immer betont hatte, dass sich ihre Augenfarbe je nach Licht änderte. Sie zögerte einen Augenblick, ehe sie zu Victoria an den Tisch kam. Sie umarmten einander.

 

Es war nur noch Schaum in den Gläsern, als Unni sagte: »Gunnar und ich überlegen, zusammenzuziehen.«

»Oh?«, sagte Victoria vorsichtig.

»Ja. Ja, wir sprechen schon länger darüber, aber ich war mir nicht sicher. Aber das ist ja … ich meine, vielleicht ist das die Chance meines Lebens.« Sie lachte leise. »Ja, ich glaube, das ist es.«

Victoria ließ sich von all den Vorbehalten nicht täuschen. Unni redete oft so, auch wenn sie sich längst entschieden hatte. Sie ist verliebt, dachte sie, dieses Mal ist sie wirklich verliebt. Und jetzt wird alles anders.

»Wie wunderbar«, sagte sie laut. Victoria beugte sich vor und drückte ihre Freundin an sich. Sie lächelten sich an. Trotzdem hatte Unni irgendwie das Gefühl, Victoria zu hintergehen.

Unni sah auf die Uhr. »Ich muss los«, sagte sie.

 

Auf dem Heimweg kam Unni an einer schwangeren Frau vorbei. Seit geraumer Zeit fielen ihr Schwangere auf, und in den letzten Wochen war sie beinahe ständig von runden Bäuchen umgeben. Als beneidete sie sie um ihre Unförmigkeit und um die Fruchtbarkeit, die von dem Leben erzählte, das in ihnen heranwuchs. Sie wusste, dass es idiotisch und dumm war, aber manchmal provozierte sie all das Glück, das diese Frauen ausstrahlten. Ohne Übergang dachte sie plötzlich an Gunnar. Wie er aussah, wenn sie am Küchentisch saßen und etwas aßen, nachdem sie sich geliebt hatten. Wie sein Lächeln sein ganzes Gesicht öffnete und die kleinen Fältchen an den Augen hervortraten.

 

Victoria blieb noch eine Weile im Café sitzen und sah in das Sonnenlicht, das durch die Blätter der Bäume gefiltert wurde. Ein schimmerndes Muster aus Licht und Schatten zeichnete sich auf der Straße ab. Dann entschloss sie sich, nach unten zum Atelier zu gehen. Vielleicht konnte sie ja ihr Bild abschließen. Die Arbeit war ins Stocken geraten, aber an diesem Tag würde sie sie beenden.

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Kapitel 8

Edvard saß schräg auf seinem Flugzeugsitz. Egal welche Stellung er einnahm, der Platz reichte für seine Knie nicht aus. Er neigte den Kopf und sah nach unten auf eine Landschaft ohne Farben. Keine Städte, keine Dörfer, nur weißer Schnee und schwarze Berge. Es war eine Wohltat, als seine Augen schließlich eine Linie fanden, die sich durch das Gelände zog und bestätigte, dass auch hier schon einmal Ingenieure und Arbeiter gewesen waren.

Das Flugzeug war nur spärlich besetzt. Zwei Reihen vor ihm saßen Tommy und Solveig, aber Edvard hatte unter dem Vorwand, müde zu sein, eine Reihe für sich allein vorgezogen. Eine Stunde Smalltalk hätte er nicht verkraftet, und über den Fall, der sie erwartete, wusste er nichts, so dass auch dieses Thema sinnlos gewesen wäre.

»Sie dürfen für eine Weile nach Hause«, hatte Katrine Gjesdahl gesagt, was ihn verwirrt hatte. Bergen war für Edvard kein Zuhause, sondern bloß die Stadt, aus der er stammte. Jeder kam ja irgendwoher. Bei der Polizei arbeiteten viele, die an irgendwelchen Fjorden, in Bergdörfern oder verstaubten Käffern an verlassenen Landstraßen aufgewachsen waren. Sie alle waren zu guter Letzt in Oslo gelandet und mit der Zeit zu Großstädtern geworden, urbanisiert, vertrauter mit der Karl Johan als mit ihrem Dorf. So auch Edvard.

Er erinnerte sich nicht einmal daran, wann er zuletzt in Bergen gewesen war. Am dreißigsten Geburtstag seines Bruders Bjørn? Er hatte sich bei seinem Bruder und seiner Schwägerin durch den Abend gequält, umgeben von selbstzufriedenen Freunden, allesamt aus dem Banker- und Finanzmilieu. Das war vor mehr als einem Jahr gewesen. Sie hatten ihn zwar wie immer Weihnachten zu sich eingeladen, aber Edvard hatte wie üblich höflich abgelehnt.

Nein, Bergen war nicht sein Zuhause. Ihm fiel niemand ein, den er dort gerne besucht hätte. Absolut niemand.

Unter dem linken Flügel tauchte plötzlich der Mast auf dem Berg Ulriken auf. Er wirkte so nah, als brauchte man nur die Hand auszustrecken, um ihn zu berühren. Ein paar Sekunden später flog die Maschine über die steil abfallende Bergflanke, und unter ihnen breitete sich die Stadt aus. Er erkannte den Lille Lundegårdsvann mit dem Springbrunnen, das charakteristische Hanseviertel Vågen, den Puddefjorden und die Landzunge Nordnes mittendrin, doch dann verschwand das Flugzeug in einer Wolkenbank, so dass mit einem Mal nur noch ein schmutziges Grau zu sehen war.

»Typisch«, murmelte Edvard vor sich hin. »Typisch Bergen.«

 

Auf dem Weg zum Zentrum schwiegen sie. Das war zu Beginn eines Falls immer so. Unsicherheit, eine Mischung aus Spannung, Tatendrang, aber auch der Widerwille, erneut in die Abgründe der menschlichen Seele eintauchen zu müssen, beschäftigte sie alle.

Edvard sah die ersten Blocks in Fyllingsdalen. Rechter Hand lag das Stadion. Wann war er zuletzt in diesem Viertel, in der Landschaft seiner Kindheit gewesen? Plötzlich spürte er die Asche unter den Stollen seiner Schuhe, das Brennen der aufgescheuerten Knie und die Wut, wieder auf eine der schnellen Finten seines Bruders reingefallen zu sein. Edvard war immer ein guter Spieler gewesen, stark und solide, aber Bjørn war schneller gewesen und hatte, obwohl er jünger war, eine bessere Technik gehabt. Bjørn war in fast allem besser als Edvard gewesen, wenigstens ein bisschen. In der Schule, sozial, bei den Mädchen. Nur beim Prügeln und im Schach war Edvard besser.

Solveig brach das Schweigen.

»Wo bist du aufgewachsen, Edvard?«, fragte sie.

»In einer Vorstadt. Einer hässlichen, nichtssagenden Vorstadt.«

Draußen vor den Autoscheiben zog Fyllingsdalen grau wie die Kulisse eines finnischen Films vorbei.

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Kapitel 9

Hauptkommissar Preben Jordal war groß und dick, ging etwas gebeugt und hatte fast keine Haare mehr. Aus seinem leicht geöffneten Hemd quollen dunkle Locken.

»Ich dachte, dass ich Sie erst einmal informieren sollte, damit Sie eine Übersicht haben. Ist das in Ordnung?«

Ohne auf eine Antwort zu warten, teilte er drei dünne Mappen aus. Kippelte auf seinem Stuhl. »Das erste Foto zeigt Laila Nilsen, sechsundzwanzig Jahre alt. Single, keine Kinder. Sie arbeitete in einer Boutique in der Galerie und wohnte in einer kleinen Wohnung in Kalfaret.«

Auf dem Foto lächelte die junge Frau breit, sie hatte weiße Zähne und neckende, braune Augen. »Ein schönes Mädchen«, sagte Solveig.

»Auf den nächsten Fotos ist sie nicht mehr so schön.«

Preben Jordal musterte die anderen, als sie weiterblätterten. Laila Nilsen lag auf dem Rücken auf einem Bett. Ihre Hände waren mit Klebeband an den Bettpfosten gefesselt. Auch ihre Beine waren mit einem Seil zusammengebunden und am Bett fixiert worden. Jemand war mit einem scharfen Gegenstand auf sie losgegangen. Edvards Gesicht verschloss sich, als wendete er sich ganz nach innen. Tommy bekam rote Flecken auf den Wangen, und Solveig schloss kurz die Augen. »Mein Gott.«

»Ja, übel, nicht wahr? Sie wurde in ihrem eigenen Bett getötet. Ich war am Tatort. Ich glaube, ich habe so etwas vorher noch nie gesehen. Für die Details sollten Sie den Obduktionsbericht lesen, aber Sie sehen ja schon, dass sie schrecklich zugerichtet worden ist.«

»Es sieht so aus, als hätten die Brüste und der Unterleib das meiste abbekommen. Ein Sex-Sadist?« Das war Edvard.

»Ja, das haben wir auch gedacht«, sagte Jordal. »Aber wie dem auch sei, klar im Kopf kann der nicht sein. Sie sieht aus, als wäre sie von einem Raubtier angegriffen worden.«

»Genau das ist passiert«, sagte Solveig.

Einen Moment lang war es still am Tisch.

»Woran ist sie gestorben?«, fragte Tommy. Seine Stimme klang heiser.

»Ob Sie es glauben oder nicht, aber trotz all der Stiche und Verletzungen ist die eigentliche Todesursache Ersticken. Sie sehen ja, dass der Täter ihr auch den Mund mit Gaffa-Tape verklebt hat. Irgendwann, während sie misshandelt worden ist, hat sie sich wegen der Schmerzen oder des Schocks erbrochen und ist an ihrem Erbrochenen erstickt.«

Edvard stand auf und streckte sich.

Jordal fuhr fort: »Sie wurde Donnerstag vor einer Woche von einer Freundin gefunden, nachdem sie nicht zu einer Verabredung gekommen ist und auch nicht ans Telefon ging. Die Freundin ist zu ihr nach Hause gefahren, hat durch die Gardinen umgestürzte Gegenstände und zerbrochenes Glas auf dem Boden liegen sehen und uns angerufen.«

»Was ist mit den Wundrändern, die sehen so uneben aus. Ist die Tatwaffe gefunden worden?«, fragte Solveig.

»Nein, am Tatort haben wir nichts gefunden, aber der Rechtsmediziner hat eine Theorie. Er meint, dass es sich um ein Tauchermesser handeln könnte. So ein Ding, womit man auch Fische reinigen kann. Einige haben oben am Schaft eine gezackte Klinge. Laut Rechtsmediziner haben diese Zacken die Wundränder verursacht.« Er beugte sich über den Tisch und zeigte auf das Bild. »Hier an der linken Brust sehen Sie deutlich, was ich meine.«

»Und was sagen die Ärzte über den Todeszeitpunkt?«, fragte Edvard.

»Im Laufe des Mittwochs. Vermutlich Mittwochvormittag.«

»Okay. Und der andere Fall?«

Neue Unterlagen wurden auf den Tisch gelegt. Edvard öffnete die Mappe und sah das Gesicht einer weiteren, hübschen, jungen Frau, die ihn anlächelte. Im Gegensatz zu Laila war sie stark geschminkt und hatte einen unnatürlichen Rotschimmer in den Haaren.

»Sølvi Gjerstad ist vierundzwanzig Jahre alt, Single und kinderlos. Sie arbeitet normalerweise in einem Nagelstudio namens Nail Me. Sie macht da die Maniküre. Jetzt liegt sie im Haukeland Universitätskrankenhaus mit schweren Kopfverletzungen.«

»Kopfverletzungen? Warum glauben Sie dann, dass es …?«

»Sie hat sich die Kopfverletzungen zugezogen, als sie durch das geschlossene Fenster ihrer Wohnung in Nygårdshøyden gesprungen ist. Aus dem ersten Stock, sie ist mit dem Kopf voran auf dem Platz vor dem Haus gelandet. Sie war nackt, ihr Mund war verklebt, ebenso ihre Hände. Blättern Sie um, und sehen Sie sich die nächsten Bilder an.«

Es folgte eine Reihe von Nahaufnahmen von Sølvi Gjerstads Händen. Auf den ersten Blick sah es so aus, als betete sie.

»Eine seltsame Fesselmethode«, sagte Tommy. »Ich glaube, ich würde das anders machen. Es reicht doch, die Handgelenke zusammenzukleben. Aber die Hände sind an den Handflächen zusammengeklebt, wie Asiaten, die sich grüßen.«

Jordal nickte. »Ja. Und nicht nur das, gucken Sie mal genau hin. Die Daumen sind separat verklebt, so dass sie vom Rest der Hand abstehen. Hier sind Bilder von Laila Nilsens Händen. Da ist es genauso, eine ziemlich charakteristische Methode.«

»Und …?«

Jordal sah zu Tommy. »Was meinen Sie?«

»Was haben Sie sonst noch?«

»In beiden Fällen wurde die gleiche Art Klebeband verwendet.«

»Das gleiche Klebeband, nicht von derselben Rolle?«

»Das wissen wir nicht. Die Abrissstellen passen nicht zusammen.«

»Das ist alles?«

»Ja.«

»Das ist verdammt dünn.«

»So, wie wir das sehen, ist Sølvi Gjerstad zu Hause überfallen worden. Sie bekam wahrscheinlich zuerst einen Schlag ins Gesicht oder auf den Kopf, aber das ist aufgrund der anderen Kopfverletzungen schwer zu sagen. Dann hat man ihr den Mund und die Hände verklebt, aber bevor der Mörder auch ihre Beine fesseln konnte, muss sie es irgendwie geschafft haben, aufzustehen und aus dem Fenster zu springen. Sie ist Turnerin und außergewöhnlich stark und durchtrainiert.«

»Vielleicht.« Tommy sah noch immer skeptisch aus, aber Jordal ignorierte ihn und blickte zu Edvard.

»Ja«, sagte Edvard schließlich. »Das könnte passen. Eine wirklich seltsame Methode, um Hände zu fesseln. Ich bezweifle, dass das ein Zufall ist. Ihr Szenario hört sich nicht unlogisch an. Aber gibt es sonst eine Verbindung zwischen den beiden jungen Frauen? Kannten sie einander? Haben sie in den gleichen Kreisen verkehrt?«

»Wir konnten da nichts finden.«

»Dann haben wir ein Problem. Gibt es irgendwelche Spuren?«

Jordal seufzte. »Es gibt natürlich eine Unmenge an Beobachtungen aus der Gegend, aber es zeichnet sich kein Muster ab, nichts, das in eine konkrete Richtung deuten würde.«

 

Edvard joggte. Es war nach zehn, er war schrecklich müde, hatte sich aber trotzdem gezwungen, noch die Joggingschuhe anzuziehen, nachdem sie im Hotel eingecheckt hatten. Er wusste, dass er das brauchte. Gewöhnlich trainierte er mindestens vier Mal die Woche, aber in den letzten Monaten war er mehr und mehr von dieser Routine abgewichen. Er spürte das deutlich, als er den Kalfarhügel hochlief. Es hatte am Nachmittag geregnet, und der Asphalt glänzte nass. Das Licht der Autoscheinwerfer spiegelte sich in den Pfützen auf dem Bürgersteig. Oben folgte er der Hauptstraße nach links und lief an der alten Hansa-Brauerei vorbei. Als Jugendlicher hatte er dort einen Ferienjob gehabt. Die Erinnerung an das ohrenbetäubende Klirren der Flaschen auf dem Sammelband und den quälenden Malzdunst war nie verblasst. Jetzt waren Wohnungen in der Fabrik. Er bog in den Svartediksveien ein und wusste, dass er ganz in der Nähe des Ortes war, an dem Laila Nilsen ermordet worden war, schob den Gedanken aber beiseite und machte sich an die heftige Steigung zum Bellevue. Als er den Fjellveien erreichte, waren seine Beine schwer, und er rang nach Atem, aber danach flachte das Gelände wieder ab, und er fand endlich eine Art Rhythmus.

Er versuchte, alle Gedanken zu verdrängen und nur auf den Rhythmus zu achten, die Schritte, das Geräusch der Joggingschuhe auf dem nassen Asphalt, aber die Tatortfotos gingen ihm nicht aus dem Kopf. Edvard wusste, dass das kein gewöhnlicher Mordfall war. Das war kein Vergewaltiger, der Panik bekommen hatte, kein eifersüchtiger Ehemann. Da steckte mehr dahinter. Etwas anderes. Ein Mörder, der aus Lust tötete. Ein Sadist, ein Folterer, jemand, der seine Opfer allem Anschein nach ganz zufällig auswählte. Es konnte jede treffen.

Unbewusst beschleunigte Edvard seine Schritte. Er lief keuchend und mit klopfendem Herzen durch das Dunkel, ein Mann auf der Flucht vor einer unsichtbaren Bedrohung.

 

Nachdem er geduscht hatte, rief er Bjørn an.

»Hei, hier ist Edvard.«

Eine Sekunde Stille. »Edvard, so was. Lange nichts von dir gehört.«

»Ja, ich dachte nur … weißt du, ich bin in Bergen.«

»In Bergen? Mein Gott, warum rufst du nicht vorher an?«

»Ich bin wegen dem Job hier. Ein Fall. Ich werde wohl eine Weile hier sein.«

»Verstehe. Wegen dem Mädchen, das ermordet worden ist?«

»Ja.«

»Ein hässlicher Fall, wenn ich das richtig mitbekommen habe.«

»Ja, das kannst du laut sagen.«

»Aber dann müssen wir uns treffen. Wann kommst du zu uns?«

»Im Augenblick ist es ziemlich hektisch.«

»Klar, das verstehe ich. Aber du musst uns besuchen. Die Kinder werden sich freuen, dich zu sehen, Cecilie auch.«

»Klar schaue ich vorbei. Wir müssen nur erst richtig in Gang kommen. Ich rufe dich in ein paar Tagen an.«

»Ja, gut. Edvard …«

»Ja?«

»Du weißt das sicher, aber nächste Woche jährt sich der Unfall zum fünfzehnten Mal. Wenn du schon hier bist, willst du doch bestimmt mit zum Grab kommen?«

Edvard schwieg einen Augenblick.

»Natürlich, ich komme mit.«

 

Er hatte gehofft, durch das Joggen schlafen zu können, aber sein Hirn war wach, egal wie erschöpft sein Körper auch sein mochte. Edvard drehte sich in dem großen Hotelbett hin und her, während er die Liste der Dinge, die zu erledigen waren, wieder und wieder durchging. Immer wenn er kurz davor war, einzuschlafen, poppten Bilderfetzen des misshandelten Körpers von Laila Nilsen auf. Die roten, klaffenden Wunden, einige davon so tief, dass Knochen und Sehnen zu sehen waren. Der matte Schleier über den aufgerissenen Augen und die Streifen des geronnenen Blutes, die wie ein abstraktes Muster über ihre blasse Haut verliefen.

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Kapitel 10

Es knirschte unter Edvards Schuhsohlen. Er blieb abrupt stehen und sah nach unten. Ein vertrockneter Rosenstrauß und eine zerbrochene Vase. Zwischen den glänzenden Scherben kleine Spritzer getrockneten Blutes, als hätte jemand einen Pinsel ausgeschüttelt.

»Sieh mal hier, Tommy.«

»Blutflecken?«

»Ja.«