Freie Lehrerbildung - eine Utopie? - Johannes Kiersch - E-Book

Freie Lehrerbildung - eine Utopie? E-Book

Johannes Kiersch

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Beschreibung

Der Geisteswissenschaftler, Philosoph, Künstler und Sozialreformer Rudolf Steiner hat eine weltweite pädagogische Erneuerungsbewegung eingeleitet. Zugleich hat er skizzenhaft provozierende Ideen für eine zeitgemäße Lehrerbildung formuliert. Was lässt sich heute daraus machen? Steiner suchte nicht nach einem allgemein verbindlichen Programm. Er vertraute auf die Initiativkraft seiner Mitarbeiter und eine offene Zukunft. Die Waldorfpädagogik hat sich hundert Jahre lang erfolgreich bewährt. Zugleich ist sie gegenwärtig durch irrationale Zwänge im staatlich organisierten Bildungswesen, aber auch durch die Erosion ihrer spirituellen Grundlagen ernsthaft bedroht. Johannes Kiersch skizziert ein freiheitliches Konzept für die Ausbildung von Waldorflehrern. Im Gegensatz zum staatlichen Lehrerbildungswesen werden hier auch individuelle Initiativkraft, künstlerisches Unterrichten sowie soziale und lebenspraktische Kompetenzen gefördert und gefordert. Die Schrift gibt damit richtungsweisende Anregungen zur Lehrerbildung und Anstöße für allgemeine Veränderungen im Bildungswesen.

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Johannes Kiersch

Freie Lehrerbildung – eine Utopie?

Die vier Entwürfe Rudolf Steiners

Verlag Freies Geistesleben

Inhalt

Vorwort

1. Die Pädagogik Steiners in ihrer Entwicklung

Die grundlegenden anthroposophischen Werke

Die erneuerten Künste

Von Seelenrätseln (1917)

Die Volkspädagogischen Vorträge (1919)

Die Lehrerkurse

«Pädagogik und Kunst» (1923)

Anthroposophie und Waldorfpädagogik im Jahre 1923/24

2. Steiners Ideen zur Lehrerbildung

Akademische Freiheit. Der Entwurf der frühen Jahre

Freiheit durch verantwortliche Arbeit. Der Entwurf der Volkspädagogischen Vorträge (1919)

Arbeit gehört zum Rechtsleben / Die Arbeitswelt der Technik / Politische Bildung / Hochschule und Leben

Freiheit auf anthroposophischen Übungswegen. Der Entwurf der Lehrerkurse (1919–1923)

«Meditativ erarbeitete Menschenkunde»

Freiheit durch artistisches Können. Der Entwurf des letzten Jahres (1923/24)

Die drei Lehrerkünste / Plastizieren / Musikalisches Hören / Sprache / Eurythmie / Pädagogik und Medizin

Freiheit und Kollegialität

3. Zusammenfassung

4. Ausblick

Anhang

1. Annäherungen an die Idee der drei Lehrerkünste

2. Wie studiert man Selbstverwaltungskompetenz? Ein Versuch

Neue Forderungen an die Lehrerbildung – bisher nicht eingelöst

Das Selbstverwaltungskonzept der Waldorfschule – bisher nur begrenzt realisiert

«Arbeitsforschung» in einer Waldorf-Lehrerbildungsstätte

Spezielle Ergebnisse

Raum für das Leben von «unten» / Offenheit für Kooperation / Synergieeffekte / Fachkompetenz und Rechtskompetenz: polare Qualitäten

Ausblick

Anmerkungen

Über den Autor

Vorwort

Vor nun schon über hundert Jahren, in der Umbruchszeit nach dem Ersten Weltkrieg, entschloss sich der Unternehmer Emil Molt, eine Schule für die Kinder der Arbeiter seiner Fabrik zu begründen. Unter abenteuerlichen Umständen kaufte er dafür ein stillgelegtes Ausflugscafé auf der Uhlandshöhe in Stuttgart. Weitsichtig plante er schon vor der Eröffnung der Schule ein neues Haupthaus und gleich dahinter ein zweigeschossiges Hochschulgebäude, denn die erste deutsche Gesamtschule, eine «einheitliche Volks- und höhere Schule», um die es hier ging, sollte ein Modell für weitere Gründungen werden.1 Dafür mussten begabte Mitarbeiter gefunden und professionell ausgebildet werden. Zugleich mit der neuen Schule war deshalb eine Lehrerbildungsstätte gefordert.

Wir können nur vermuten, welches Konzept Rudolf Steiner, der die Schulleitung übernahm, in dem geplanten Haus dafür entwickelt hätte. Eine Vielzahl verstreuter Bemerkungen, die sich erhalten haben, lassen vier konturierte Entwürfe erkennen, die in unterschiedliche Richtungen gehen, aber doch miteinander harmonieren. Im Folgenden wird dargestellt, worum es sich dabei handelt.

Das vorliegende Buch entstand in seiner ersten Fassung aus kollegialen Gesprächen während der ersten Aufbaujahre des Instituts für Waldorfpädagogik Annener Berg in Witten/Ruhr, das im Jahre 1973 gegründet wurde, zu einer Zeit lebhafter Debatten über grundlegende Reformen im Bildungswesen (siehe den Bericht im Anhang, S. 79ff.). Liberale Stimmen, die sich im Sinne Wilhelm von Humboldts für Freiheit im Schul- und Hochschulwesen einsetzten, drangen damals nicht durch. Stattdessen etablierte sich, beginnend mit dem Strukturplan für das Bildungswesen von 1970, ein technokratisch gesteuerter Zentralismus, der individuelle Initiativen bis heute massiv behindert.

Steiners vier Entwürfe sind faszinierende Kontrastprogramme dazu. Bisher sind sie nirgendwo hinreichend realisiert worden. Aber sind sie deshalb utopisch? Das vorliegende Buch sucht Antworten auf diese gewichtige Frage.

Witten/Ruhr, im Oktober 2021 Johannes Kiersch

1. Die Pädagogik Steiners in ihrer Entwicklung

Steiner hat seine Anthroposophie einen «Erkenntnisweg» genannt. Alles utopistische Streben nach endgültiger Vollkommenheit, nach der Perfektion eines Paradieses auf Erden, liegt seiner Art der Weltauffassung fern. Für keines der Lebensgebiete, die sie befruchtet hat, bietet die Anthroposophie ein fertiges Programm. «Eine Universalarznei zur Ordnung der sozialen Verhältnisse gibt es so wenig wie ein Nahrungsmittel, das für alle Zeiten sättigt.»2 Das gilt auch für die Waldorfpädagogik. Sie eröffnet Erkenntniswege, die in der unterschiedlichsten Weise begangen werden können. Alles Allgemeinverbindliche ist ihr fremd. Wer die pädagogischen Ideen Steiners zu verstehen sucht, entdeckt sie als die wegweisende Spur eines individuellen Schicksals, nicht – wie viele meinen – als ein in sich geschlossenes dogmatisches System. Waldorfpädagogik ist nicht offenbart, nicht als eine Art Heilslehre verkündet, sie ist im Verlaufe eines außerordentlichen Lebens erst nach und nach entdeckt worden, in entscheidenden Teilen erst ganz zuletzt und bruchstückhaft. Daher ihr fordernder, dynamischer Charakter. In besonderem Maße gilt dies für gewisse grundlegende Einsichten in die Notwendigkeit und in die Möglichkeiten einer erneuerten Lehrerbildung.

In drei deutlich unterscheidbaren Stadien, ähnlich wie Anthroposophie und anthroposophische Bewegung als Ganzes, entfalten sich nach dem erkenntnistheoretischen Vorbereitungsprozess, der die frühen Jahre Steiners etwa bis 1900 in Anspruch nimmt, die Waldorfpädagogik und ihre Theorie: in der Darstellung des anthroposophischen Welt- und Menschenbildes etwa bis 1910, in der Erneuerung der Künste, die von 1913 an in der Errichtung des ersten Goetheanum-Baues kulminiert, und in der öffentlichen Wirksamkeit der anthroposophischen Bewegung, die 1917 mit dem Buch Von Seelenrätseln einsetzt.

Die grundlegenden anthroposophischen Werke

Anthroposophie ist das Ergebnis der individuellen Erkenntniswege ihres Begründers, zugleich aber auch Antwort auf Fragen bestimmter Menschenkreise, mit denen Steiner vom Schicksal zusammengeführt wurde. Sie erscheint immer auch als sozialer Impuls, und von Anfang an zielten Steiners Bemühungen auf die lebenspraktischen Auswirkungen seiner Lehre. Wir übergehen hier die frühen Jahre, die in vieler Hinsicht die Realisierung der Waldorfpädagogik vorbereiten, aber für unsere Fragestellung weniger von Belang sind. Es mag genügen, daran zu erinnern, dass Steiner nach einem Studium an der Technischen Hochschule in Wien bei der Herausgabe von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften mitwirkte, dass er auch sonst schriftstellerisch tätig war und in verschiedenen Lebensfeldern auch pädagogische Erfahrungen machen konnte, als Hauslehrer in Wien und Weimar, als Lehrer an einer Mädchenschule und vor allem an der von Wilhelm Liebknecht begründeten Arbeiterbildungsschule in Berlin.

Kurz nach der Jahrhundertwende, im Alter von vierzig Jahren, suchte er in Berlin ein Forum für die Ideen, zu denen das Erkenntnisringen seiner Wiener und Weimarer Zeit ihn geführt hatte. Im stillen Kreis der Theosophischen Gesellschaft, deren deutsches Sekretariat er im Jahre 1902 übernahm, fand er eine erste Wirkensmöglichkeit. Er hatte es dort mit Menschen zu tun, die nach Anregungen zur Pflege ihres inneren Lebens suchten, mystisch oder spekulativ veranlagte Naturen, darunter viele ernsthaft Suchende, die geneigt waren, Gedankenbildungen, die den positivistischen Denkgewohnheiten der Zeit abstrus erscheinen mussten, unbefangen zu verfolgen. Hier, im geschützten Raum theosophischer «Logen», erscheint Anthroposophie zunächst als okkulte Wissenschaft, in Wort und Begriff eingehend auf die von H. P. Blavatsky und ihren Schülern gepflegte orientalisierende Weisheitslehre, in ihrer Denkweise aber der Philosophie des deutschen Idealismus verbunden und durchaus eigenständig.

Die eigentlich erhoffte Wirkung bleibt dabei zunächst aus. Die lebenspraktischen Intentionen, die Steiner, wohl auch bewegt durch Eindrücke aus seiner Lehrtätigkeit an der Arbeiterbildungsschule, der Theosophenschaft nahezubringen versucht, finden dort kein Echo. Vorträge über «praktische Karma-Übungen»3, über «Ernährungsfragen und Heilmethoden»4, über Erziehungs- und Schulfragen (mehrfach 1906/07) vermögen das von ihm zweifellos erwartete Interesse an konkreten Realisierungsmöglichkeiten anthroposophischer Ideen nicht auszulösen. So bewegen sich die Darstellungen jener Zeit zunächst im Erkenntnismäßig-Grundsätzlichen. Der «Pfad» der übersinnlichen Forschung wird beschrieben, die Lehre von den vier Wesensgliedern des Menschen und von der Wiederverkörperung des menschlichen Geistes entwickelt, eine umfassende Darstellung der Evolution des Kosmos in seiner Beziehung zum Menschen erarbeitet. Eine umfangreiche Vortragstätigkeit erweitert die grundlegenden Werke nach den verschiedensten Seiten.

Steiner ist zuversichtlich, dass daraus eines Tages bedeutende soziale Wirkungen hervorgehen werden. «Die Geisteswissenschaft wird künftig berufen sein, im Einzelnen das Nötige anzugeben, und das vermag sie. Denn sie ist nicht eine leere Abstraktion, sondern eine Summe lebensvoller Tatsachen, welche Leitlinien für die Wirklichkeit abzugeben vermögen.»5

Dabei treten die Schwierigkeiten, die sich später so deutlich beim Versuch der praktischen Realisierung anthroposophischen Ideenguts im Bereich der Pädagogik zeigen werden, noch gar nicht in Erscheinung. Der Übergang vom theoretischen Wissen zum praktischen Tun erscheint durchaus ohne Probleme. Der bekannte Vortrag über «die Erziehung des Kindes» von 1907 zum Beispiel vergleicht die Kenntnis der menschlichen Wesensglieder als Grundlage der Erziehungskunst mit der Kenntnis der Teile einer Maschine. Wer die Natur des Menschen kennt, wird auch erziehen können. Ein konturiertes, klares Gedankenbild vom Menschen, ein erneuertes anthropologisches Wissen, wie es in den Ergebnissen der exakten Geistesforschung vorliegt, wird die Erneuerung der Pädagogik bewirken. Erst in den letzten Lebensjahren gelangt Steiner dazu, diesen Ansatz in entscheidender Weise zu erweitern und zu modifizieren.

Was wird nun hinsichtlich der Waldorfpädagogik in diesem Stadium der theoretischen Grundlegung erreicht? Zweierlei vor allem, wenn wir vom Detail einmal völlig absehen: zum einen der Entwurf eines sinnvollen Weltbildes als eines umfassenden Erziehungsprozesses, der – in der Intention dem Vorbild Lessings oder Herders folgend, in der Ausführung aber weit darüber hinausgreifend – die Evolution von Mensch und Welt als ein organisch sich weiterbildendes Ganzes begreift, zum andern ein vielfältiges Anleiten zur individuellen Teilnahme an diesem Prozess, der davon ausgeht, dass man die Welt und ihre Evolution als einen fortschreitend geordneten Sinnzusammenhang begreifen könne und dass es möglich sei, in voller persönlicher Freiheit innerhalb dieses Zusammenhanges tätig zu werden.

Diese beiden Ideen treten jetzt in den grundlegenden anthroposophischen Schriften Steiners eindringlich hervor. Die den Sinnen vertrauende, weltoffene Erkenntnisart Goethes, um die sich die früheren Schriften bemüht haben, und die zuversichtliche Ethik der Philosophie der Freiheit von 1894 werden dadurch auf ein ganz anderes Niveau gehoben. Wo sinnvolle Entwicklung gedacht werden kann, wird auch Pädagogik denkbar. Erst die anthroposophische Evolutionslehre gibt den Ideen Steiners ihre pädagogische Dynamik.

Die erneuerten Künste

Man weiß heute allgemein, dass Waldorfschulen musisch orientiert sind, dass sie die Künste pflegen. Weniger bekannt ist es, dass dies auf der Grundlage bestimmter gestalterischer Anregungen geschieht, die auf das Vorbild Steiners zurückgehen. Es liegt außerhalb des Rahmens unserer Darstellung, diese Anregungen im Einzelnen zu verfolgen. Sie betreffen die Architektur und die bildenden Künste ebenso wie Eurythmie, Musik, Sprachpflege und Schauspielkunst. Nun geht aber Steiners Auffassung, auch Pädagogik sei in bestimmtem Sinne Kunst, aus seinen Ideen zu anderen Gebieten künstlerischen Schaffens unmittelbar hervor. Als ein weiteres Stadium in der Entwicklung der Waldorfpädagogik betrachten wir deshalb zunächst die in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg beginnende anthroposophische Erneuerung der Künste.

Schon im Winter 1905/06 sprach Steiner über Theosophie und die Künste. Der geeignete Ort für diesen Versuch war München, die Stadt, in der Neuerer wie Wassily Kandinsky, Franz Marc, Alexander Jawlensky in regem geistigem Austausch miteinander wirkten, in der die Neue Künstlervereinigung und der Blaue Reiter sich formieren konnten. Münchens Aufgeschlossenheit für die Künste hatte auch die dortige Theosophenschaft berührt. (Ein besonders fesselndes Bild von den Verhältnissen um den theosophischen Zweig in München, um Sophie Stinde und Pauline von Kalckreuth, archetypische Gestalten der frühen anthroposophischen Bewegung, vermitteln die erst jetzt erschienenen Lebenserinnerungen des symbolistischen Dichters Andrej Bely, bürgerlich Boris Bugajev, der ein langjähriger Schüler Steiners war.6)

Steiner gibt dem internationalen theosophischen Kongress von 1907 in München einen würdigen künstlerischen Rahmen.7 Der gemietete Saal ist mit rotem Tuch ausgehängt, Siegelbilder und gemalte Säulen schmücken die Wände, vor der Bühne werden die Büsten von Schelling, Hegel und Fichte aufgestellt. Marie von Sivers rezitiert aus dem zweiten Teil von Goethes Faust. Edouard Schurés Rekonstruktion des Heiligen Dramas von Eleusis wird mit musikalischen Beigaben zur Aufführung gebracht. Nicht mehr nur in Gedanken soll lebendiger Geist erfahren werden, sondern unmittelbar durch die Sinne. «Aus solchen Anregungen kann die Kraft erwachsen, die es der Theosophischen Gesellschaft nach und nach möglich macht, nicht nur eine Stätte zur Verbreitung von diesen oder jenen Dogmen zu sein, sondern tief einzugreifen in das ganze Leben des Menschen.»8 Das ist gemeint: Nicht nur Erkenntnisprobleme soll die neue Geisteswissenschaft lösen; sie soll die Wirklichkeit verändern. Zunächst im Gebiet der Kunst, aber letzten Endes nicht nur dort. «Die Theosophie kann man auch bauen: man kann sie bauen in der Architektonik, in der Erziehung und in der sozialen Frage.»9

Diese Intention wird vollends deutlich durch die Mysteriendramen, die in vier aufeinanderfolgenden Sommern 1910 bis 1913 von Steiner mit Laienspielern der Theosophischen Gesellschaft in München aufgeführt werden. Das erste dieser Dramen beginnt mit einem Vorspiel, das dem unvorbereiteten Publikum die besondere künstlerische Absicht des Ganzen nahebringt. Man sieht zwei Freundinnen im Gespräch. Sophia, Vertreterin der theosophischen Lebensauffassung, verständigt sich mit ihrer Freundin Estella, die nach zeitgemäßen Formen des Theaters sucht, über das Wesen und die Aufgaben moderner Kunst. Dabei werden Worte gesprochen, die wie eine Art Manifest der neuen Auffassung theosophisch-anthroposophischen Wirkens klingen.

«Du kennst, wie so viele, von dem, was Geist genannt wird, nur das, was Träger des Wissens ist; du hast nur ein Bewusstsein von der Gedankenseite des Geistes. Auf den lebendigen, den schöpferischen Geist, der Menschen gestaltet mit elementarer Macht, wie Keimeskräfte in der Natur Wesen gestalten, willst du dich nicht einlassen. […] So wenig die Samenkräfte die Pflanze erst lehren, wie sie wachsen soll, sondern sich als lebendig Wesen in ihr erweisen, so lehren unsere Ideen nicht: sie ergießen sich, Leben entzündend, Leben spendend in unser Wesen. Ich verdanke den Ideen, die mir zugänglich geworden sind, alles, was mir das Leben sinnvoll erscheinen lässt. Ich verdanke ihnen den Mut nicht nur, sondern auch die Einsicht und die Kraft, die mich hoffen lassen, aus meinen Kindern Menschen zu machen, die nicht nur im hergebrachten Sinne arbeitstüchtig und für ein äußeres Leben brauchbar sind, sondern die innere Ruhe und Befriedigung in der Seele tragen werden.»10

Bei aller lehrhaft-abstrakten Stilisierung lässt die Szene deutlich werden, welche erweiterten Perspektiven sich inzwischen für Steiner ergeben haben. Hier kündigt sich eine neue, erweiterte Auffassung vom Wesen des Erziehens an. Nicht nur die erneuerten Künste, sondern ein neu und anders aufgefasstes Verhältnis von Theorie und Praxis des Erziehens verdanken die Waldorfschulen und die anthroposophische Lehrerbildung der zweiten Phase der anthroposophischen Bewegung. Wir werden noch sehen, wie dieses Verhältnis später auch theoretisch formuliert wird.

Von Seelenrätseln (1917)

Die russische Revolution und der Kriegseintritt Amerikas machen im Jahre 1917 deutlich, dass eine tiefgreifende Änderung aller sozialen Verhältnisse bevorsteht. Steiner sieht die Notwendigkeit vor sich, die lebenspraktischen Intentionen, die sich im bürgerlichen Milieu der theosophischen Zeit zunächst nicht realisieren ließen, in neuer Form aufzugreifen. Anthroposophie soll öffentlich wirksam werden. Diesem Zweck dient eine Schrift, die es entschiedener als alle anderen Werke Steiners unternimmt, die anthroposophische Geistesart vor dem wissenschaftlichen Zeitbewusstsein zu rechtfertigen: Von Seelenrätseln (GA 21). Zugleich erweist sich dieses Buch in mehrfacher Hinsicht als ein bedeutender weiterer Schritt in der theoretischen Begründung der Waldorfpädagogik. Steiner befasst sich darin zunächst mit einer Klärung des Verhältnisses von wissenschaftlicher Forschung, die von Sinnesdaten ausgeht («Anthropologie»), und Geistesforschung in seinem Sinne («Anthroposophie»). Dabei zeigt sich, dass die Frage nach dem Verhältnis von sinnlicher und «geistiger» Erfahrung, die ihn seit den frühesten Jahren beschäftigt hat, endlich gelöst ist. Die Lösung wird über den Begriff der «Grenzvorstellung» gewonnen, der es möglich macht, in abstrakter Allgemeinheit einen deutlicheren Begriff vom Wesen geistiger Erfahrung im Sinne der Anthroposophie zu bilden, als er jemals vorher von Steiner entwickelt worden ist.

Steiner beschreibt, wie alles wissenschaftliche Forschen, das auf sinnliche Wahrnehmungen aufbaut, an Grenzen stößt. Der nach Erkenntnis Suchende scheut davor zurück, sich diese Grenzen bewusst zu machen. Er bewegt sich lieber im gewohnten Element des bereits erworbenen Wissens und der Denktechnik, die er zu beherrschen gelernt hat. (Alle wissenschaftliche Hypothesenbildung verfährt auf diese Weise.) Bringt er die Energie und die Geduld auf, an den «Grenzen des Erkennens» zu verweilen, ohne sogleich in den vertrauten Bereich des diskursiven Denkens zurückzuweichen, so bildet er allmählich neue Wahrnehmungsfähigkeiten aus. Er erfährt – zunächst wie tastend, später in sehr differenzierter Weise – das, was Steiner in seinen anthroposophischen Schriften als «Geist» bezeichnet.

Steiner führt an dieser Stelle nicht mehr im Einzelnen aus, wie die Übungsmittel, die er in anderen anthroposophischen Werken darstellt, das hier gemeinte Verweilen an den «Grenzen des Erkennens» methodisch herbeiführen: Übungen der Meditation, Übungen im Medium der Künste, soziale Übungen. Deutlich wird in dem Buch Von Seelenrätseln vor allem, wie das jenseits des Bereichs der sinnlichen Wahrnehmung und des diskursiven Denkens, jenseits der «Erkenntnisgrenzen» liegende Gebiet des «Geistes», von dem in der Anthroposophie so viel die Rede ist, durch einen rational gelenkten und kontrollierten Grenzprozess des Erkennens zugänglich wird, einen Prozess, der sich auf jeweils eigene Art im Bereich des Denkens wie im Bereich des künstlerischen Empfindens oder im sozialen Bereich, im Bereich der Arbeit vollziehen lässt. Wir haben hier einen Schlüssel zu dem merkwürdigen scheinbaren Widerspruch, dass Steiners Lehre ein so ungewöhnliches Vertrauen in die Kraft der menschlichen Vernunft setzt und zugleich mit Kräften rechnet, die der Vernunft nicht unmittelbar zugänglich sind; dass sie mit irrationalen, oder vielleicht genauer: mit überrationalen Gegebenheiten des Lebens umgeht und zugleich mit einer für die heutigen Kulturverhältnisse erstaunlichen Zuversicht an der intellektuellen Tradition der Aufklärung festhält.

Zugleich führt Steiner in den Seelenrätseln den Doppelbegriff des «lebendigen» («imaginativen») und des «herabgelähmten» (auf die sinnliche Wahrnehmung bezogenen) Vorstellens ein, der für das Verständnis der Waldorfpädagogik fundamentale Bedeutung hat. Auch finden sich in dieser Schrift bedeutende Beiträge zur anthroposophischen Lehre von den zwölf Sinnen und zur Dreigliederungslehre. Es ist hier nicht der Ort, darauf im Einzelnen einzugehen.

Die Volkspädagogischen Vorträge (1919)

Die erste Waldorfschule entstand, wie heute allgemein bekannt ist, als beispielhafte Einrichtung im Zusammenhang des Versuchs, die politischen Verhältnisse in Württemberg, die im Jahre 1919 geeignete Voraussetzungen dafür boten, im Sinne der «Dreigliederung des sozialen Organismus» neu zu ordnen. Im April 1919 waren die Kernpunkte der sozialen Frage erschienen und hatten gezeigt, «dass die Verworrenheit unseres öffentlichen Lebens von der Abhängigkeit des Geisteslebens vom Staate und der Wirtschaft herrührt».11 Eine Einrichtung des «freien Geisteslebens» sollte die neue Schule sein, neben ähnlich beispielhaften Einrichtungen im Bereich des Rechts- und des Wirtschaftslebens. Die dramatischen Ereignisse jener Zeit sind oft geschildert worden.12