Freie Spitzen - Bernd-Lutz Lange - E-Book

Freie Spitzen E-Book

Bernd-Lutz Lange

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Beschreibung

Ein Streifzug durch die vielfältige Landschaft des politischen Witzes im gesamten Ostblock vom Kriegsende bis zum Mauerfall

Bernd-Lutz Lange verwebt in seinen Texten die politischen Witze dieser Jahre mit der Beschreibung der herrschenden Zustände in jenen Ländern, mit anekdotischen Streiflichtern und seinen persönlichen Reiseerlebnissen.

„Jeder Witz ist eine winzige Revolution.“ George Orwell

Mit Illustrationen von Egbert Herfurth.

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Über das Buch

Ein Streifzug durch die vielfältige Landschaft des politischen Witzes im gesamten Ostblock vom Kriegsende bis zum Mauerfall. Von Leipzig bis Moskau, von Krakau bis Bukarest: Politische Witze sind allgegenwärtig in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs, sie persiflieren und nehmen eine wenig beeinflussbare Realität auf die Schippe. Die Machthaber fürchten Opposition und offene Kritik der Öffentlichkeit, sie fürchten das Gelächter als subversive, anarchische Kraft.

»Die politischen Witze im Ostblock haben den Boden für Veränderung mit gelockert und letztlich ihren Beitrag zum Sturz des Systems geleistet.« Bernd-Lutz Lange

Mit Illustrationen von Egbert Herfurth.

Über Bernd-Lutz Lange

Bernd-Lutz Lange, geboren 1944 in Ebersbach/Sachsen, wuchs in Zwickau auf. Nach einer Gärtner- und Buchhändlerlehre studierte er an der Fachschule für Buchhändler in Leipzig. 1966 war er Gründungsmitglied des Kabaretts »academixer«, von 1988 bis 2004 trat er im Duo mit Gunter Böhnke auf, bis 2014 mit der Sängerin und Kabarettistin Katrin Weber. Von Bernd-Lutz Lange liegt inzwischen zahlreicheBücher vor. Im Aufbau Verlag sind »Dämmerschoppen«, »Magermilch und lange Strümpfe«, »Mauer, Jeans und Prager Frühling«, »Ratloser Übergang«, »Das Leben ist ein Purzelbaum«, »Davidstern und Weihnachtsbaum«, »Nischd wie hin. Unsere sächsischen Lieblingsorte« (zusammen mit Tom Pauls), »Das gabs früher nicht« und »David gegen Goliath. Erinnerungen an die Friedliche Revolution« (zusammen mit Sascha Lange) lieferbar. Als Hörbuch bei Aufbau Audio sind »Zeitensprünge. Kreuz und quer durch mein Leben«, »Das Leben ist ein Purzelbaum. Von der Heiterkeit des Seins«, »Teekessel und Othello. Meine sächsischen Lieblingswitze« und »Sternstunden. Begegnungen mit besonderen Menschen« lieferbar. 2014 erhielt Bernd-Lutz Lange das Bundesverdienstkreuz. Seit 2019 ist er Ehrenbürger der Stadt Zwickau.

Egbert Herfurth, geboren 1944 in Wiese, ist einer der angesehensten deutschen Buchillustratoren und Grafiker. Er studierte bei Wolfgang Mattheuer an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig und war dort Meisterschüler bei Albert Kapr. Seit 1977 arbeitet er freischaffend. Sein Werk umfasst etwa 180 Buchillustrationen sowie zahlreiche Plakate und Bilder. Egbert Herfurth lebt in Leipzig.

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Bernd-Lutz Lange

Freie Spitzen

Politische Witze und Erinnerungen aus den Jahren des Ostblocks

Mit Illustrationen von Egbert Herfurth

Dieses Buch widme ich meiner langjährigen Lektorin Birgit Peter.

Viel zu früh starb sie im Januar 2020.

Ich verdanke Birgit viele gute Hinweise zu meinen Texten, und aus unserer Zusammenarbeit entwickelte sich eine herzliche Freundschaft.

Das Thema des Buches hätte ihr bestimmt gefallen – sie hat so gern gelacht.

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Für immer vorbei

Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken

Volksrepublik Polen

Tschechoslowakische Sozialistische Republik

Volksrepublik Albanien/Volksrepublik Bulgarien

Volksrepublik Rumänien

Volksrepublik Ungarn

Deutsche Demokratische Republik

Kleine Schlussbemerkung

Dank

Verwendete Literatur

Bildnachweis

Impressum

Für immer vorbei

Zunächst eine kurze Erklärung zum Titel dieses Buches: Hinter dem Begriff »Freie Spitzen« verbargen sich in der DDR pflanzliche und tierische Produkte, die über das Ablieferungssoll hinaus produziert und verkauft wurden. Vom staatlichen Aufkaufbetrieb wurden dann deutlich höhere Preise gezahlt.

Die DDR hatte bekanntlich eine Planwirtschaft (auch wenn das nicht immer so aussah …), also gab es auch ein Plansoll. Dieses Soll war sozusagen ein Zielwert, in einer bestimmten Zeit sollte eine Ware produziert werden. Die »Freie Spitze« wiederum war ein Produkt über den eigentlichen Plan hinaus – das konnten auch Erzeugnisse aus anderen Bereichen als der Landwirtschaft sein.

Für das Leben in der DDR und im Ostblock hat der Begriff nun automatisch eine Doppelbedeutung. Der politische Witz läuft immer zu großer Form auf, wenn die Wahrheit nicht mehr öffentlich gesagt werden darf. Dann wurde er eine echte freie Spitze gegenüber dem Staat.

Millionen Menschen nahmen sich in all den Jahren des Ostblocks diese Freiheit im vertrauten Kreis, um auf- und durchzuatmen.

Die Pointe befreite für Sekunden.

In einer Runde von Gleichgesinnten zelebrierte man letztlich schon »Wir sind das Volk« und siegte über Unfreiheit, Dogmatismus und die Borniertheit der Funktionäre.

Und ich denke in diesem Moment des Schreibens an die vielen Menschen im Ostblock, die in den Jahrzehnten von der Veränderung träumten und sie nicht mehr erlebten.

Wir haben in der DDR nie vom »Ostblock« gesprochen. Wir sagten zumeist »Warschauer Pakt« oder »sozialistisches Lager«. Auch den offiziellen Begriff der Volksdemokratie für die osteuropäischen Länder hat umgangssprachlich kein Mensch benutzt. Lakonisch analysierte der jeweilige Bewohner:

«Was ist der Unterschied zwischen einer Demokratie und einer Volksdemokratie?

Derselbe wie zwischen einer Jacke und einer Zwangsjacke.«

Der Begriff Volksdemokratie ist doppelt gemoppelt. Wenn eine Demokratie schon eine Volksherrschaft ist, dann wäre das ja letztlich eine Volksvolkherrschaft …

Von einem Westblock war bezeichnenderweise weder drüben noch hüben die Rede.

In diesem Buch werden die Witze ins Umfeld ihrer Zeit gestellt und durch anekdotische Streiflichter, Informationen und eigene Reiseerlebnisse etwas näher beleuchtet.

Es soll also an jene Zeiten erinnert werden, in denen für viele Menschen das Lachen und das Verlachen ihrer Nöte eine Art Überlebenshilfe war.

Natürlich handelt es sich um eine völlig subjektive Auswahl, es sind meine persönlichen politischen Lieblingswitze aus jenen Ländern.

Der von mir hochgeschätzte Kabarettist Werner Finck, der die Nazi-Diktatur erlebt und die sogenannte Diktatur des Proletariats beobachtet hatte, schrieb in seinem Vorwort zu »Der politische Witz« von Milo Dor und Reinhard Federmann:

»Wovor muss ein Politiker auf der Hut sein?

Vor freien Wahlen, vor freien Meinungsäußerungen, vor Fanatikern. Und vor Witzen.«

In einem totalitären Staat kann er die Wahlen verfälschen, die Meinungsäußerungen knebeln, die Fanatiker unschädlich machen.

Nur gegen den Witz ist er machtlos. Allenfalls kann er den Witzerzählern an den Kragen. Die Witze selbst entziehen sich der Verfolgung.

Die lauteste Propaganda, die gängigste Phrase, die raffinierteste Lüge: ein treffender Witz, und sie werden lächerlich gemacht, das Schlimmste, was ihnen passieren kann!«

Finck hatte es in der Nazizeit am eigenen Leibe erfahren. In der »Katakombe«, dem letzten bedeutenden Kabarett, das noch bis in die Nazizeit hinein spielte. Auf Anordnung von Goebbels wurde es geschlossen. Finck bekam Auftrittsverbot.

So viel Angst hatten die Mächtigen vor einem Kabarettisten.

Im April 1936, die Olympischen Spiele in Deutschland ermöglichten für kurze Zeit etwas Lockerung, durfte er im »Kabarett der Komiker« wieder auftreten. Sein Solo hieß »Spaß – ernst genommen« und endete folgendermaßen:

»Ich bitte Sie noch um Nachsicht, dass ich von Zeit zu Zeit in das Manuskript gesehen habe. Aber ich bin es nicht mehr gewöhnt, frei zu sprechen.«

Finck war aus gutem Grund der Überzeugung, dass der politische Witz zu seiner Existenz die politische Unfreiheit braucht.

Und auf diesem Gebiet hatte ja der Ostblock allerhand zu bieten …

In westdeutschen Büchern wird der politische Witz des Ostens mitunter als »Flüsterwitz« bezeichnet. Das Wort stammt aus der Nazi-Zeit. Diesen Begriff hat kein DDR-Bürger benutzt.

Ich möchte hier aber eine kleine Exkursion zum politischen Witz in der Nazi-Zeit machen … Im Leipziger Antiquariat »Die Bücherinsel« erwarb ich ein besonders seltenes Exemplar aus jenen Tagen: Jörg Willenbacher, »Deutsche Flüsterwitze. Das Dritte Reich unterm Brennglas«. Die Publikation erschien bereits 1935 in der Verlagsanstalt »Graphia« Karlsbad.

Die Broschur hat seinerzeit, das ist am Ex Libris ersichtlich, ein gewisser Edgar Goldschmid erworben. Und zwar in der Buchhandlung Librairie Nouvelle von Edwin Frankfurter in Lausanne. Diese Information kann man wiederum auf einem kleinen Etikett lesen, das von der Firma ins Buch geklebt wurde.

Beim Schreiben dieser Zeilen kam mir plötzlich die Idee, doch einmal bei Wikipedia nachzusehen, ob über die beiden Herren vielleicht zufällig ein Eintrag vorhanden ist.

Und schon erzählen mir die zwei eingeklebten Etiketten eine interessante Geschichte: Zur Buchhandlung von Edwin Frankfurter gehörte auch ein Verlag, ein paar Publikationen sind tatsächlich heute noch antiquarisch zu haben. Vor wenigen Jahren wurde im bekannten Versteigerungshaus Ketterer für über 4000 Euro ein Brief von Rainer Maria Rilke an Edwin Frankfurter versteigert.

Edgar Goldschmid steht wiederum für das Schicksal eines deutschen Juden. Er wurde in Frankfurt am Main als Sohn eines Bankiers und Kunstsammlers geboren, studierte Medizin, arbeitete in München, London, Berlin und Genf. Er war dann an der Frankfurter Universität Professor für Pathologie und konnte zum Glück schon im Jahr 1933 in die Schweiz emigrieren und war dort an der Universität Lausanne tätig. Goldschmid gelang es sogar noch, die väterliche Sammlung von Gemälden und anderen Kunstwerken nach Lausanne zu retten. Er war unter Kennern in der Stadt für seine große Bibliothek bekannt. Eine Publikation daraus befindet sich nun in meinem Besitz.

Sie hat seinerzeit ein Frankfurter bei Frankfurter gekauft … Wie kam sie aber von Lausanne nach Leipzig? Bücher haben eben ihre Schicksale.

Zurück zum Autor der Sammlung politischer Witze aus der Nazi-Zeit: Der Name Jörg Willenbacher, so habe ich wiederum bei Wikipedia erfahren, ist das Pseudonym von Franz Osterroth. Er trat schon mit siebzehn Jahren der SPD bei, war ab 1928 in Magdeburg in der Redaktion der Zeitung »Das Reichsbanner« tätig und leitete unter anderem das Kabarett »Rote Spielschar«.

Der drohenden Verhaftung entging er mit seiner Familie durch die Flucht in die Tschechoslowakei. 1938 konnte Osterroth mit seiner Familie nach Schweden fliehen, zehn Jahre später kehrte er wieder nach Deutschland zurück.

Über den politischen Witz wird im Vorwort die folgende Passage aus dem »Neuen Vorwärts« (also der Exilausgabe der SPD-Zeitung) zitiert: »Er entsteht in der Luft zwischen den Menschen. Er kristallisiert als Niederschlag der Atmosphäre wie die Rauhreifnadeln an kahlen Zweigen. Seine Anonymität gibt ihm symptomatische Bedeutung als knapp gesammelter Ausdruck übereinstimmender Meinungen. Und diese Übereinstimmung macht ihn geflügelt. Er wird nicht nur kolportiert – er wird überall sofort verstanden. Er ist das Chiffretelegramm der Gleichgesinnten: Wir verstehen uns!«

Interessant ist nun die Tatsache, dass es trotz der immensen Unterschiede zwischen Nationalsozialismus und Sozialismus Witze gab, die wenige Jahre nach dem Ende des sogenannten Dritten Reiches in der damaligen Sowjetzone bzw. in der DDR entsprechend aktualisiert ihre Auferstehung erlebten. Die Strukturen einer Diktatur schaffen eben bestimmte Parallelen.

Zwei Beispiele für aus der Nazi-Zeit übernommene politische Witze, die ich in dem Band von Franz Osterroth fand. Bei ihm drehte sich der Text natürlich um den Nationalsozialisten an sich. Schon wenige Jahre nach dem Krieg wurde er so erzählt:

Man kann nicht gleichzeitig Kommunist, ein ehrlicher und ein intelligenter Mensch sein.

Ist man intelligent und ehrlich, dann ist man nicht Kommunist.

Ist man intelligent und Kommunist, dann ist man nicht ehrlich.

Und ist man ehrlich und Kommunist, dann ist man nicht intelligent.

Eben reisten in dem folgenden Witz noch Hitler, Göring und Goebbels nach Paris. Und nun wollen Pieck, Grotewohl und Ulbricht inkognito in die französische Hauptstadt fahren.

Nachdem es ihnen gelungen ist, die Grenze unerkannt zu passieren, hören sie in Paris beim Aussteigen auf dem Bahnsteig jemanden rufen: »Bagage, Bagage!«

Darauf sagt Ulbricht: »Schnell weg! Wir sind erkannt!«

Bei Bertolt Brecht heißt es in den »Flüchtlingsgesprächen«: »In einem Land leben, wo es keinen Humor gibt, ist unerträglich, aber noch unerträglicher ist es in einem Land, wo man Humor braucht.«

Damals konnte er nicht ahnen, dass er nach der Nazi-Zeit in dem Teil Deutschlands leben sollte, wo man – wie im gesamten Ostblock – den Humor schon wieder bitter nötig hatte, wo er geradezu überlebenswichtig war. Wo es einen danach verlangte und man allerdings auch dafür belangt werden konnte.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war einigen Menschen schnell klar, was in den osteuropäischen Ländern passieren würde. Der Schriftsteller Klaus Kordon hat es so formuliert: »… aber es wird werden wie in der Sowjetunion: Aus dem Lehren wird Belehren, aus dem Belehren Bevormundung, aus der Bevormundung Vormundschaft, aus der Vormundschaft Diktatur.«

Und so kam es auch.

Im Kalten Krieg wurden aus propagandistischen Gründen auch vom Westen Witze eingesetzt. Ich habe antiquarisch zwei Hefte erworben, die das belegen. Vielleicht landeten sie als Flugblätter mittels großer Ballons auf dem Gebiet der DDR. Solche Aktionen inszenierten zum Beispiel die »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit« oder das »Ostbüro der SPD«, das eine Außenstelle in Westberlin hatte.

Das eine dünne Heft heißt »Die Sowjetzone flüstert … Die Sowjetzone lacht!«, und darunter steht der Text »Besser als alle Wahlen gibt dieses Anekdoten-Heft die wahre Volksstimmung wieder! Bitte lesen und weiterverbreiten!«

Das konnte für den »Weiterverbreiter« schon sehr dumm ausgehen. Genauso trifft das für das zweite Heft zu: »Wer lacht da? Flüsterwitze aus der Sowjetunion, aus der Sowjetzone und aus den Volksdemokratien«. Weder ein Verlag noch ein Herausgeber tauchen auf, und einige Witze machen mir eher den Eindruck, dass sie »drüben« erfunden wurden. Es fehlt der ostdeutsche Pfiff. Agitation und Propaganda von der anderen Seite eben.

Es ist auch keiner dabei, den ich in dieses Buch aufgenommen habe.

Witze habe ich mir schon in meiner Jugend gut merken können.

Meine ersten kabarettistischen Versuche waren gestaltete Witze. Das habe ich mir nicht bewusst gemacht. Ich versuchte stets, das ist mir später klar geworden, die darin vorkommenden Figuren in einem bestimmten Gestus darzustellen.

In der Frühphase unseres Studentenkabaretts »academixer«, das ich 1966 mit gegründet hatte, bemerkte ich, dass mich einmal unser Chef Jürgen Hart in unserer Stammkneipe »Schwalbennest« genau fixierte, während ich einen Witz erzählte. Nach der Pointe beugte er sich über den Tisch, tippte mir auf die Brust und sagte: »Genauso musst Du auf der Bühne spielen!«

In meiner Jugendzeit habe ich gern im Kreis der Freunde oder auf Feten Witze erzählt. Ich freute mich über die Resonanz. Das Lachen der anderen war mein erster Beifall. Und bei guten politischen Witzen war es besonders stark.

Walter Ulbricht tauchte damals oft auf. Schoten über ihn, wie sie mein Berliner Freund Peter »Pepe« Laube nannte, konnten logischerweise nur die Sachsen richtig erzählen, an der Imitation seines Dialektes scheiterten alle Berliner, Mecklenburger oder gar Schwaben und Bayern. Um das auch mal in sächsischer Schriftsprache zu verdeutlichen …

Ulbricht besucht eine Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft. Ein musterhaftes Gut. Er lobt die fleißigen Bauern und gibt sein fachmännisches Urteil ab:

»Dähr Roggn schdehd ja sähr guhd, ja!«

Schonend wird ihm beigebracht, dass es sich bei diesem Roggen um Weizen handelt.

Darauf er: »Na, machd nichds – Haggfruchd bleibd Haggfruchd!«

Die westdeutschen Aussteller, die jedes Jahr zur Frühjahrs- oder Herbstmesse nach Leipzig kamen, waren immer besonders scharf auf neue politische Witze.

1967 lud mich, nachdem ich mit Bekannten in der Leipziger Gaststätte »Altes Kloster« gesessen hatte, eine benachbarte Männerrunde auf ein Bier ein. Sie hatten mitbekommen, dass ich ab und an unseren Tisch unterhalten und zum Lachen gebracht hatte und wollten auch gern davon profitieren.

Es waren sympathische fröhliche Menschen, und sie kamen alle aus der Bundesrepublik.

Also holte ich aus dem Portemonnaie meine Kärtchen, die ich manchmal nutzte. Auf denen standen Stichpunkte oder Abkürzungen, beispielsweise »Wüste/Sand«.

»Was passiert, wenn man in der Wüste den Sozialismus aufbaut?

Zunächst gar nichts, aber mit der Zeit wird der Sand knapp.«

Und was verbarg sich hinter »Impr./Express. Soz. Real.?«

»Beim Impressionismus malten die Künstler, was sie sahen.

Im Expressionismus malten sie, was sie fühlten.

Und beim Sozialistischen Realismus malen sie, was sie hören.«

Es wurde ein unvergesslicher Abend, und die Freundschaft mit einem der Teilnehmer, mit Fritz »Friedel« Haase aus Hannover, die hat ein Leben lang gehalten. Mittlerweile also schon über fünfzig Jahre.

Wären die Kärtchen der Stasi in die Hände gefallen, hätte ich mich auf Erinnerungslücken berufen. Die habe ich nun nach fünf Jahrzehnten tatsächlich, und so kann ich manche Stichwörter mittlerweile leider nicht mehr entschlüsseln …

Wenn ich mich an die DDR-Zeit erinnere, so sehe ich Menschen bei der Arbeit, bei Feiern, am Kaffeehaus- oder Kneipentisch in dieses entspannte und verschwörerische Lachen ausbrechen. Für ein paar Minuten hatte man dem System eine Nase gedreht und gegen die da oben gewonnen.

Nicht umsonst formulierte einst George Orwell: »Jeder Witz ist eine winzige Revolution.«

Und er hat auch eine Sentenz formuliert, die für alle Länder des Ostblocks galt: »Je weiter sich eine Gesellschaft von der Wahrheit entfernt, desto mehr wird sie jene hassen, die sie aussprechen.«

Einen großen Sammler von Witzen aus dem Bereich der Politik in Ost und West schätze ich außerordentlich – Willy Brandt. Er hat sogar ein Buch herausgegeben. Darauf komme ich im DDR-Kapitel noch zu sprechen.

Und einen guten Witzerzähler aus der Bundesrepublik, der Pointen setzen konnte, lernte ich in den frühen 90er Jahren in Düsseldorf kennen: Ministerpräsident Johannes Rau. Wir zapften unser Reservoir nach einem Gastspiel beim Bier an, das ich mit meinem Kollegen Gunter Böhnke im legendären Düsseldorfer Kommödchen hatte. Da schallte frisch vereinigtes ost-westliches Lachen durch das Foyer.

Politische Witze sind aber mehr als Witze. Geistvolle Satire geht mit Humor eine Verbindung ein. Es sind mitunter philosophische Miniaturen, die dem Wert einer Anekdote oder eines Aphorismus ebenbürtig sind. In der Literaturgeschichte tauchen sie allerdings nirgends als kleine Form auf. In seinem Buch »Der Witz« schreibt Lutz Röhrich »Der politische Witz ist von hohem kulturgeschichtlichen Interesse, weil er in einer kurzen Erzählung die Probleme einer Zeit anschaulich macht … Es wäre möglich, die Geschichte des 20.Jahrhunderts auf der Basis von Witzen zu schreiben.«

Wir Kabarettisten in der DDR mussten unsere Programme vor der öffentlichen Premiere den verantwortlichen Funktionären vorspielen. Diese Veranstaltung nannte sich »Abnahme«.

Das war ein geschöntes Wort für Zensur.

Dagegen war der Volkshumor unzensiert. Er hätte bei der Abnahme keine Chance gehabt.

Aber letztlich waren die politischen Witze im Ostblock mitunter die kürzesten Kabaretttexte, die es im Sozialismus gab.

Und wenn Freud seinerzeit sagte: »Ein neuer Witz wirkt fast wie ein Ereignis von allgemeinstem Interesse; er wird wie die neueste Siegesnachricht von dem einen dem anderen zugetragen« – so stimmte das vor allem für den politischen Witz im Ostblock. Einige wurden sogar von Land zu Land getragen, denn die Lebensbedingungen waren weitgehend vergleichbar.

Die Führung jedes Landes behauptete, auf der Seite des imaginären Fortschritts zu sein – der Vergleich mit der Realität fiel verheerend aus. Deshalb glaubte sie, man müsse nur die »Werbung« für das System verbessern. Dafür gab es die Agitation und Propaganda, und diese beiden Hohlkörper verschlimmerten dann die Bestandsaufnahme und forderten erst recht den Witz des Volkes heraus. Der seziert die Plumpheit und Verlogenheit.

Die Misere der Gesellschaft ist für jeden deutlich, der Augen hat, zu sehen, und Ohren hat, zu hören.

Wenn ich an Gebäuden die Losung »Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist« las, dann erinnerte mich das stark an ein religiöses Bekenntnis – im Namen einer angeblich wissenschaftlichen Weltanschauung.

Wie der Teufel das Weihwasser scheute die Parteiführung dagegen diese grundlegende Lebensweisheit von Karl Marx: »An allem ist zu zweifeln.«

Wer zweifelte, war schon fast ein Feind. Nur der gläubige Marxist war erwünscht.

»Alles ist zu glauben«, lautete unausgesprochen eigentlich die Parole.

Und wenn jene Gläubigen auf grobe Widersprüche stießen, dann trösteten sie sich, wie es mir einer mal erklärte, » dass man wegen der großen Gerechtigkeit in der Zukunft die kleinen Ungerechtigkeiten der Gegenwart ertragen müsse«.

Die vollkommene Gesellschaft wurde in die Zukunft verlegt. Dadurch musste niemand den Beweis antreten, dass das System tatsächlich einmal funktionieren würde.

Es ging immer um die Idee an sich. Um das große Ganze.

Und es wurde nicht mal das kleine Halbe.

Witze erzählte man in den sozialistischen Ländern überall, in den frühen stalinistischen Jahren natürlich vorsichtiger, denn da konnten ein paar Sätze mit einer Pointe noch zu Verhaftung und Gefängnis führen. Die Schätzungen belaufen sich für den Ostblock auf etwa 200000 verurteilte Witze-Erzähler. In der zeitgeschichtlichen Sendung des ORF »Was ist schöner: Sex oder Sozialismus?« heißt es: »Allein in der Sowjetunion wurden mehr als 100000 Menschen für das Erzählen eines Witzes verfolgt, inhaftiert, deportiert. Viele überlebten die jahrelange Lagerhaft nicht.«

Menschen kamen also ins Gefängnis, weil sie sich »ihre Meinungs- und Gedankenfreiheit« bewahrt hatten. Verfolgt und geahndet wurden solcherlei Delikte mindestens bis in die sechziger Jahre. Dabei ging es nicht um den Witz an sich. Es gab keinen Paragraphen, der das Erzählen von Witzen unter Strafe stellte. Es ging um den Inhalt. Richtete der sich nach Meinung der Zensoren gegen den Sozialismus, so konnten sie schnell den Tatbestand der »Hetze« konstruieren – und das führte dann zur Verurteilung.

Der ungarische Schriftsteller György Dalos, der in Berlin lebt, schreibt in seinem Buch »Proletarier aller Länder, entschuldigt mich!«: »Die Philosophie, die dem Ostblockwitz zugrunde liegt, ist in der tiefsten Überzeugung verwurzelt, dass es im realen Sozialismus weder Gleichheit noch Freiheit gibt. Die heiligen Prinzipien der Gründerväter des Sozialismus werden missachtet, die kleinen Leute werden unterdrückt, gedemütigt und betrogen. Das System ist mit Ausnahme seines Gewaltapparates funktionsunfähig.«

Und Gabriel Laub, der bedeutende Satiriker, Aphoristiker und Publizist, der den realen politischen Witz in der Sowjetunion, in Polen und der ČSSR erlebte, ehe er nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Vertrages aus Prag floh und im Jahr 1968 in Hamburg eine neue Heimat fand, schrieb seinerzeit: »Politische Witze sind wie synthetische Diamanten – sie entstehen unter hohem Druck. Und sie sind – wie synthetische Diamanten – ein scharfes Instrument, mit dem man die hermetisch geschlossenen, undurchsichtigen Fenster des engen, offiziell zugeteilten geistigen Raumes aufschneidet, um ein wenig Luft zu schnappen … Politische Witze sind die besten Zeugen der Geschichte: Sie sind unbestechlich, ihre Aussage ist kurz und einleuchtend.«

Das trifft auch für seine Aphorismen zu: »Denken ist kriminell. Die Gedanken werden ja gleich in grauen Zellen geboren.« Oder: »Alle Macht geht vom Volke aus und kommt nie wieder zurück.«

Laub war einst ein »gläubiges Parteimitglied«. Aber er verlor diesen Glauben Stück für Stück beim Betrachten der Realität. Als er 1968 in den Westen floh, verlor der »ironische Humorist«, wie ihn mal ein Kritiker nannte, seinen scharfsinnigen Blick auf die Wirklichkeit nicht: »In einem totalitären Regime kommen die Idioten durch Gewalt und Intrigen ans Ruder, in einer Demokratie durch freie Wahlen.«

Ich habe Gabriel Laub 1994 in Hamburg bei seiner Tante Anni Grynbaum kennengelernt. Durch meine Beschäftigung mit der Geschichte der Leipziger Juden war ich auf sie gestoßen. Ihn kannte ich durch seinen bei Hanser erschienenen Band »Verärgerte Logik«, den mir eine Bekannte aus der Bundesrepublik 1969 geschenkt hatte. Es waren Aphorismen von höchster Qualität. Und nun saßen wir 25 Jahre später gemeinsam am Tisch, sprachen über Gott und die Welt, ein Satiriker und ein Kabarettist. Und nach dem Motto »Wo ein Jude ist, ist auch ein Witz« dauerte es nicht lange, bis er sein Repertoire anzapfte. Viele Juden sind auf diesem Gebiet grandiose Erzähler. Gabriel konnte hervorragend Pointen setzen. Das erlebte auch bald das Leipziger Publikum im »Boccaccio«, denn ich lud ihn zu einer Lesung ein. Er initiierte eine Gegeneinladung, und so trat ich mit meinem Kabarettkollegen Jürgen Hart im Literaturhaus Hamburg auf. Beim anschließenden Umtrunk erzählte mir Gabriel, dass er Max Brod, den Retter und Bewahrer der Manuskripte von Franz Kafka, einmal in Israel besuchen konnte. Ich habe seinen Satz im wohlklingenden böhmischen Dialekt noch im Ohr: »Brod machte die Tür auf, ich ging in die Wohnung, und es roch wie in Prag.«

Er hatte quasi seine Prager Küche »mitgenommen«. Und so duftete es in Tel Aviv nicht nach orientalischen Gewürzen, sondern nach böhmischer Küche.

Es wird wohl nicht lange gedauert haben, bis die beiden die ersten Anekdoten und jüdischen Witze ausgetauscht haben …

Jüdischer Witz ist für mich der brillanteste, der intelligenteste. Wenn sich diese Denkstrukturen mit den Konflikten im Ostblock mischen, entstehen besondere satirische Perlen. Ich denke, man kann sogar sagen, dass der jüdische Witz im Ostblock zu seiner letzten großen Form in Europa aufgelaufen ist. Es sind nicht etwa neue Witze über arme Schnorrer und weise Rabbis, die da entstanden, aber die Tradition, das Denken, die Dialektik wurden benutzt, um die neue Zeit zu beschreiben, zu entlarven und ad absurdum zu führen.

Mitunter wehrte man sich im Witz gegen den Antisemitismus, der in Ländern wie Polen, der Sowjetunion oder Ungarn besonders verbreitet war und leider nicht nur dort selbst heute noch in bestimmten Kreisen existent ist.

Viele Juden haben eine besondere Affinität zu Satire und Humor, sowohl im Erfinden als auch im Erzählen und Sammeln.

Auf eine interessante Information stieß ich in dem Buch von Ben Lewis »Das komische Manifest«. Er verweist darin auf eine frühe Publikation zum Thema mit dem Titel »Humor hinter dem Eisernen Vorhang«, die ein gewisser Mischka Kukin herausgegeben hat. Und nun die Überraschung: Dieser Name ist das Pseudonym von Simon Wiesenthal. Der Mann, der eine ganze Reihe von Nazi-Verbrechern aufspürte, der sein Leben dem Recht und nicht etwa der Rache gewidmet hat, brauchte vermutlich ab und an etwas Entspannung von seiner aufregenden Arbeit.

Da die Strukturen gleich sind, verstehen alle Ostblock-Bewohner die Witze aus den anderen Ländern. Die Mächtigen ähneln einander. Es sind immer bestimmte Charaktere, die an die Macht streben.

In einem guten politischen Witz kann die Leitidee eines tragikomischen Stückes in wenigen Sätzen formuliert sein.

Milo Dor und Reinhard Federmann schreiben in ihrem Buch »Der politische Witz«:

»Ihre Erfinder und Erzähler machen sich über ihre eigene Ohnmacht lustig. Der Witz bewährt sich hier als geistiges Ventil, als Wirkstoff gegen die totale Verzweiflung und als Regulativ zur Wiederherstellung des seelischen Gleichgewichts. Mehr noch, er verleiht dem Unterdrückten dem Unterdrücker gegenüber eine Position geistiger Überlegenheit.«

Und weiterhin: »Die Fähigkeit, Witze zu machen, unterscheidet aber nicht nur den Menschen von allen anderen Lebewesen, sondern auch den geistigen Menschen von seinen geist- und humorlosen Widersachern. Tyrannen haben keinen Humor – ebenso wenig wie ihre sturen Gefolgsleute. Zum Humor gehören Freiheit, Individualität, Toleranz und Großzügigkeit, jenes Element der Urbanität, das den zivilisierten Menschen vom Barbaren unterscheidet … Solange der Mensch lacht – über alle Bedrohungen, denen er ausgesetzt ist, über alle Einschränkungen, denen er unterworfen wird, und selbst über seine eigene Schwäche –, kann er nicht untergehen.«

Aus gutem, nein aus schlechtem Grund gibt es unzählige Witze über den sogenannten Sozialismus, der nie einer war. Er hatte zwar den Kapitalismus abgeschafft, aber keine gerechtere Ordnung geschaffen.

Marx schwebte ja eine Diktatur der Gerechtigkeit vor. Die dann sich etablierende Diktatur des Proletariats war aber lediglich eine der Funktionäre.

Und trotz der vielen Funktionäre funktionierte sie nicht mal. Oder vielleicht gerade deswegen.

Mit diesem Buch möchte ich dem Volkswitz ein kleines Denkmal setzen. Vor der lange erhofften Befreiung von diesem System gab es wenigstens mal ein kurzzeitiges befreites Auflachen.

Die politischen Witze im Ostblock haben den Boden für Veränderung mit gelockert und letztlich ihren Beitrag zum Sturz des Systems geleistet.

Aber wir mussten ganz schön lange Witze erzählen, ehe es zu einem grundlegenden Wandel kam. Immerhin über vierzig Jahre …

Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken

Die Struktur der späteren politischen Ostblockwitze entstand logischerweise mit der Gründung der Sowjetunion, mit der Bürokratie und Unterdrückung, die ein kommunistisch regierter Staat hervorbringt.

Zwischen 1917 und 1945 gab es diese Art von Humor, diesen satirischen Blick auf eine neue Gesellschaftsordnung, nur dort. 28 Jahre waren sie in dieser Beziehung allein auf der Welt (genauso lange gab es übrigens zufälligerweise in der DDR die Mauer …).

Erst im Zuge der Besetzung Osteuropas im Zweiten Weltkrieg durch die sowjetischen Truppen bildete sich dann nach und nach das sogenannte sozialistische Lager, weil die Sowjetarmee nun ihr Regime auch in diesen befreiten Ländern errichten konnte.

Hitler, der angetreten war, den Bolschewismus zu vernichten, hat durch seinen verbrecherischen Krieg die Ausbreitung des Bolschewismus in Europa erst ermöglicht.

Die Kommunisten in jenen Ländern verdanken nur den sowjetischen Besatzungstruppen die Übernahme der Macht. Ich erinnere mich noch an eine Diskussion mit meinem Geschichtslehrer, der die Entstehung dieser Staaten als »gesetzmäßig« im Sinne der marxistischen Weltanschauung einstufte. Das leuchtete mir nicht ein, es war für mich lediglich ein Zufall: Nur wo Sowjettruppen das Land erobert hatten, entstand Sozialismus. Ich brachte den Lehrer damit in die Bredouille, dass nach seiner Lesart dann ja Hitler und der Zweite Weltkrieg »gesetzmäßig« gewesen wären.

Er eierte herum und meinte, die Zeit wäre sowieso für diese revolutionären Veränderungen reif gewesen … Er behauptete also einfach etwas, das er nicht beweisen konnte, wir aber für wahr halten sollten.

Fakt ist jedenfalls, dass der Sieg der Sowjetunion über die Nazis und die Umwandlung jener Staaten in Volksdemokratien wiederum die Geburtsstunde jenes besonderen politischen Witzes in Osteuropa ist.

Schon die Oktoberrevolution 1917 in Russland stand unter einem denkbar schlechten Stern. Arthur Koestler schreibt in seinem Buch »Der Yogi und der Kommissar«: »Die Bedingungen waren ungünstig, weil die sozialistische Theorie auf der Grundlage beruht, dass die Arbeiterklasse die politische Macht zuerst in industriell fortgeschrittenen Ländern erobern werde, in denen die Massen eine höhere politische Reife erreicht haben; während das zaristische Russland sogar sprichwörtlich das rückständigste Land Europas war, mit asiatischer Tradition und einer Landbevölkerung, die zehnmal größer war als das Industrieproletariat, und mit mehr als 80 Prozent Analphabeten.«

Blicken wir bei der Gelegenheit in die Zeit der Kollektivierung der Landwirtschaft zurück, die in den Jahren von 1929 bis 1933 vom Staat mit harter Hand durchgesetzt wurde. Es gab viel Widerstand, denn man zwang die Bauern mit Gewalt in die Kolchosen. Viele Menschen wollten sich aber nicht von ihrem Hof trennen. Umsonst: Sie verloren ihr Hab und Gut. Wer den Beitritt verweigerte, musste mit Verbannung nach Sibirien rechnen.

Ein Agitator hat endlich einen Bauern überzeugt, dass er Kolchosmitglied wird:

»Iwan Iwanowitsch, bist du bereit, deine Kühe an den Kolchos abzugeben?«

»Ja, ich bin bereit.«

»Und die Pferde?«

»Ja.«

»Und die Ziegen?«

»Nein, die Ziegen nicht.«

»Aber warum? Du gibst die Kühe und die Pferde, aber wieso nicht die Ziegen?«

»Ich hab nur Ziegen.«

Die vielen Widersprüche boten reichlich Stoff für den Volkswitz. Und so ist es logisch, dass über die lange Zeit von 1922 (dem Gründungsjahr der UdSSR) bis 1991 die meisten Witze über Sozialismus und Kommunismus in der Sowjetunion entstanden. In fast 70 Jahren kommt einiges zusammen …

Die führenden Vertreter des Systems versuchten immer wieder, ein »neues Lachen« zu installieren, also eine Art »positiven Humor«, der die lichte Zukunft beschreibt. Man behauptete, alles Hässliche sei Überbleibsel des Kapitalismus. Und das redeten sich auch viele gläubige Kommunisten aus dem Ostblock ein, wenn sie das erste Mal ins Mutterland des Kommunismus reisten und von den wirklichen Zuständen im Land stark irritiert waren.

Ich kam 1950 in die Schule und bin seit frühester Kindheit mit den Bildern von Stalin aufgewachsen. Was hat man uns in der Schule für Geschichten über ihn erzählt, von Väterchen Stalin, der alle friedliebenden Menschen der Welt liebt und für sie kämpft!

Es dauerte ein paar Jahre, bis ich mit dem Älterwerden und durch westliche Quellen nach und nach die Wahrheit über ihn erfuhr.

Der kranke Lenin hatte in einem Brief noch vor Stalin gewarnt. Er erkannte augenscheinlich die Gefahr, die von dessen Charakter ausging. Als Stalin zum Generalsekretär des Zentralkomitees gewählt wurde, kommentierte das Lenin mit dem Satz: »Dieser Koch wird uns noch scharf gewürzte Speisen bereiten!«

Und im Jahre 1923 forderte Lenin in einem Testament-Nachtrag sogar die Absetzung von Stalin als Generalsekretär und schrieb: »Stalin ist rücksichtslos.«

Der Volksmund hatte das alles längst durchschaut und spitzte das Geschehen schwarzhumorig zu:

Als Lenin im Sterben liegt, ruft er Stalin zu sich.

»Ich bin sehr besorgt, ob die Menschen dir folgen werden.«

Stalin antwortet überzeugt: »Doch, werden sie, ganz bestimmt werden sie das.«

»Ich hoffe es«, meint Lenin, »aber wenn sie es nicht tun?«

»Dann werden sie eben dir folgen.«

Und dann war der Georgier, der eigentlich Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili hieß, doch an der Macht.

Von den engsten Mitarbeitern Lenins, also von denjenigen, die mit ihm die russische Revolution und die weitere Entwicklung verwirklichten, blieb keiner am Leben.

Von Trotzki bis Sinowjew, von Kamenew bis Bucharin, von Rykow bis Tuchatschewski und viele andere.

Fassungslos nahmen die Menschen zur Kenntnis, dass plötzlich die engsten Mitarbeiter von Lenin Volksfeinde oder Spione gewesen sein sollten. Stalin entledigte sich aller Menschen, die potenzielle Konkurrenten seiner Herrschaft sein könnten.

Wilhelm Herzog schreibt in seinem Buch »Menschen, denen ich begegnete«: »Nur so konnte er die von ihm angestrebte Alleinherrschaft erreichen und festigen. Nur so war es möglich, dass ein Personenkult entstand, wie er unmarxistischer kaum gedacht werden kann. Byzantinisch bis zur Lächerlichkeit … Der Weg führte in Russland vom Matriarchat über das Patriarchat zum Sekretariat, zur Herrschaft einer selbstherrlichen, größenwahnsinnig gewordenen und in ihrem Größenwahn ausschweifenden Bürokratie, die in Josef Stalin, dem ›Unfehlbaren‹, gipfelte.«

Der vor allem von ihm ausgelöste Massenterror in den Jahren 1937/38 betraf Millionen Menschen. Das russische Innenministerium schätzt nunmehr die Zahl der Hinrichtungen auf über 700000.

Es kam zu völlig absurden »Geständnissen« durch permanente Verhöre, Folter und Psychoterror. Die Moskauer Schauprozesse mit vielen Todesurteilen, der Terror des NKWD (Volkskommissariat des Innenministeriums mit eigenen Truppen und einer Geheimpolizei), die Lager in Sibirien verbreiteten Angst und Schrecken. Von 1930 bis in die fünfziger Jahre waren in den Lagern etwa 18 Millionen Menschen inhaftiert. Mehr als 2,7 Millionen starben dort oder in der Verbannung. So steht es bei Wikipedia. Anne Applebaum zählt in ihrem monumentalen Werk »Der Gulag« noch sechs Millionen Verbannte nationaler Minderheiten dazu. Sie kommt deshalb auf viereinhalb Millionen Opfer, die im »Fleischwolf« zu beklagen sind. So nannten die Betroffenen im Jargon den Gulag.

Auch diese Tatsache ist eigentlich unvorstellbar: Ein großer Teil der KPD-Mitglieder, die sich nach der Machtergreifung der Nazis in Deutschland in die Sowjetunion gerettet hatten, wurde verhaftet und nicht selten in der Zeit des Nichtangriffspaktes bis 1941 sogar an die Nazis ausgeliefert. Sie entkamen Hitler, dem »Führer«, aber nicht Stalin, der in der UdSSR übrigens oft »Großer Führer« genannt wurde.

Hätten Rosa Luxemburg (sie begrüßte die Oktoberrevolution, aber warnte andererseits auch vor einer Diktatur der Bolschewiki) und Karl Liebknecht noch gelebt und in Moskau Zuflucht gesucht, dann wären sie mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls im Gulag gelandet …

Rosa Luxemburg sagte: »Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer nur Freiheit des Andersdenkenden.« Sie wollte nicht, dass sie »zum Privilegium« wird.

Trotzki, einer der potenziellen Nachfolger von Lenin, wurde auf Befehl Stalins im mexikanischem Exil ermordet, deutsche Antifaschisten klagte man als »deutsche Trotzkisten« an. Aufrechte Linke erklärte man zu »rechten Abweichlern«.

Manés Sperber schreibt in seinen »Sieben Fragen zur Gewalt« über Aussagen von Trotzki, die sich als Prophezeiung erweisen sollten: »Die Parteiorganisation, sagte er voraus, wird sich anstelle der Partei setzen; das Zentralkomitee wird die Parteiorganisation ersetzen und schließlich wird ein einziger Mensch die Macht des Zentralkomitees an sich reißen.«

Ich habe aus meiner Kindheit in Erinnerung, dass meine Mutter über meinen leider früh verstorbenen Vater erzählte, dass er einmal zu ihr gesagt hatte: »Stalin watet im Blut.« Eine Sendung im Londoner Rundfunk, den wir mit Mühe und etwas Glück in unserem veralteten Radio in Zwickau hören konnten, hatte ihn über dessen Verbrechen aufgeklärt.

In die Zelle eines Moskauer Gefängnisses werden drei Verhaftete gesperrt. Nachdem die Tür geschlossen wurde, kommen sie gleich auf den Grund ihrer Verhaftung ins Gespräch.

»Ich bin verhaftet worden, weil ich für den Genossen Popow war.«

Das wundert den neben ihm Stehenden: »Ich bin verhaftet worden, weil ichgegen den Genossen Popow war!«

Da sagt der Dritte: »Ich bin der Genosse Popow!«

Ich erinnere mich noch, wie ich als Kind diesen Satz von Erwachsenen aufschnappte: »Den hammse abgeholt!« Ich wusste natürlich nicht, warum und wozu man ihn »abgeholt« hatte, ahnte nur, dass es sich um etwas völlig anderes handelte, als wenn ich meinen Schulfreund Rudi von zu Hause abholte … Durch die Stimmlage der Erwachsenen, durch ihre Mimik ahnte ich, dass von etwas Bedrohlichem geredet wurde.

Das waren dann die ostdeutschen »Popows«.

Aber zurück in das Moskauer Gefängnis.

Eine Zelle weiter sitzen ebenfalls drei Insassen und unterhalten sich über ihre Haftgründe:

»Weshalb hat man dich eingesperrt?«

»Ich kam zu spät zur Arbeit. Das hat man mir als Sabotage ausgelegt.«

»Und du?«

»Ich kam zu früh. Deshalb hielt man mich für einen Spion.«

Die beiden wenden sich dem dritten Mann zu: »Tja, ich kam pünktlich, aber mein Fleiß und Eifer war in ihren Augen nur ein Deckmantel für meine Feindschaft gegenüber dem Kommunismus.«

Noch ein paar Beispiele aus jenen Jahren:

Drei angebliche Trotzkisten sind zum Tode verurteilt worden.

Ein Pole, ein Tscheche und ein Jude.

Sie werden alle drei nach ihrem letzten Wunsch befragt.

Der Pole sagt: »Wenn ich erschossen worden bin, dann soll man meine Asche auf das Grab von Pilsudski streuen.«

Der Tscheche meint: »Ich möchte, dass meine Asche auf das Grab von Masaryk gestreut wird.«

Der Jude bittet darum, dass seine Asche auf das Grab von Stalin gestreut wird.

Verwundert antwortet man ihm: »Aber Stalin ist doch noch gar nicht tot!«

Darauf der Jude: »Ich kann warten.«

Ein Staatsanwalt besucht einen befreundeten Richter. Der sitzt am Schreibtisch vor einer Akte und lacht.

»Warum lachst du?

»Ach, das ist wirklich ein toller Witz.«

»Erzähl!«

»Nein, das geht nicht. Ich habe den Erzähler gerade zu fünf Jahren verurteilt.«

Um drei Uhr morgens klopft jemand bei Rabinowitsch an die Tür.

Er schreckt aus dem Schlaf hoch, zittert und überlegt, ob er öffnen oder gleich aus dem Fenster springen soll.

Da hört er die Stimme des Nachbarn: »Erschrecken Sie nicht, es ist nichts Ernstes! Ich wollte Ihnen nur sagen, dass das Haus brennt.«

Ein Amerikaner, ein Franzose und ein Russe unterhalten sich über Glück.

Der Amerikaner erzählt: »Ich war kurz vor der Pleite. Da ruft mich mein Börsenmakler an und gibt mir einen Tipp. Über Nacht habe ich eine Million verdient. Das war mein größtes Glück.«

Der Franzose sagt: »Ich war seit Monaten unglücklich verliebt. Eine Traumfrau. Und dann hat sie mich plötzlich doch erhört, und ich verlebte mit ihr eine sagenhafte Liebesnacht – mein größtes Glück!«

Schließlich berichtet auch der Russe von seinem größten Glückserlebnis: »Es war an einem Montag, fünf Uhr morgens. Es klopft laut an meiner Tür. Ich erwache, erschrecke und zittere vor Angst. Natürlich muss ich öffnen. Draußen stehen drei Geheimpolizisten von der GPU.

»Sind Sie Alexej Stepanowitsch Sokolow?«

»Nein … eine Treppe höher.«

Im Zimmer einer Verwaltung klingelt das Telefon.

»Ich hätte gern den Genossen Aronowitsch gesprochen.«

»Er ist nicht da.«

»Ist er auf Arbeit?«

»Nein.«

»Auf einer Dienstreise?«

»Nein.«

»Hat er Urlaub?«

»Nein.«

Nach einer kleinen Pause: »Habe ich Sie richtig verstanden?«

»Ja.«

Dieser Dialog, der vielleicht sogar tatsächlich so an einem Telefon stattgefunden hat, ist ein Witz aus jenen Tagen, der eine Gänsehaut erzeugt.

Zwei Juden sind zum Tod verurteilt worden. Sie sollen erschossen werden. Kurz vor dem Termin teilt man ihnen mit, dass sie nicht erschossen, sondern erhängt werden.

»Siehst du«, sagt der eine, »nicht einmal Munition haben sie noch!«