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Meurer Tanja

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Beschreibung

Durch die Hilfe des Kommissars Daniel Kuhn können Oliver und seine Brüder Michael und Christian vor einem weiteren Geisterangriff in der Villa Aboutreika flüchten - doch nicht ohne Konsequenzen. Amman Aboutreika zieht alle Fäden und scheint ihnen immer einen Schritt voraus zu sein. In seinem Sanctum hinter den Spiegeln wirkt er unverwundbar. Als Daniel und sein Kollege Matthias Habicht auf unbestimmte Zeit suspendiert werden, scheint die Lage aussichtslos. Oliver bleibt nichts anderes übrig, als sich seinen Ängsten zu stellen und Aboutreika in die Geisterwelt zu folgen ...

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Ähnliche


Tanja Meurer

Inhaltsverzeichnis

Freigeist

Freigeist

Impressum

Über die Autorin

Freigeist

Schock

Ein Leben voller Angst

Kerstins Entscheidung

Konsequenz

Ertrinken

Parallelen

Am Ende der Straße

Rückkehr

Eine eigene Welt

Verbündete

Papyri

Tag 3: Geteilte Körper

Seelen

Werkzeuge

Freigeist

Tag 4: Zusammenführung

Nebel

Portal

Geisterwelt

Zwei Seelen

Überwindung

Der innere Kern

Gegner

Der letzte Kampf

Rückkehr

5 Wochen später: Neuanfang

Programm

Der Rebell

Freigeist

Wiener Klänge

Transberlin

Friedenszeit

Friedensboten

Friedensfreunde

More Gay Movie Moments

Tanja Meurer

Schattengrenzen 4

Mystery Thriller

1. Auflage

Frühjahr 2024

Tanja Meurer, Freigeist

© HOMO Littera

Am Rinnergrund 14/5, A-8101 Gratkorn,

www.HOMOLittera.com

E-Mail: [email protected]

Covergestaltung: Rofl Schek

Bildnachweis:

Bloody background © holwichaikawee – Stock.adobe.com

Witch zombie © Nomad_Soul – Stock.adobe.com

Hieroglyphen © S-S-S– istockphoto.com

Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages gestattet.

ISBN Print: 978-3-99144-032-1

ISBN PDF: 978-3-99144-033-8

ISBN EPUB: 978-3-99144-034-5

ISBN PRC: 978-3-99144-035-2

Über die Autorin

Tanja Meurer wurde in Deutschland geboren, absolvierte die Ausbildung zur Bauzeichnerin mit Schwerpunkt Hochbau und lebt heute mit ihrer Frau und mehreren Vierbeinern in Wiesbaden. 1997 veröffentlichte sie ihren ersten Roman. Vorwiegend schreibt sie im schwul-lesbischen Bereich und ist als freie Illustratorin für verschiedene Magazine, Internetseiten und Verlage tätig.

Veröffentlichungen bei HOMO Littera:

Der Rebell, Schattengrenzen 2, Mystery Thriller 2018

Grenzgänger, Schattengrenzen 3, Mystery Thriller 2023

Weitere Informationen auf www.tanja-meurer.de, www.facebook.com/Schattengrenzen sowie HOMO Littera.

SCHOCK

Nachdem sie das Haus verlassen hatten, nahm Ruths Verhalten gewohnte Züge an. Sie richtete sich auf Olivers Knien aus. Ihre weiche, pelzige Nase zuckte, als sie an seiner Hand schnupperte. Sacht begann er sie zu streicheln. Noch bevor sie das Villenviertel verließen und wieder auf die Biebricher Allee zufuhren, sank sie in sich zusammen und klapperte mit den Zähnen.

Das ist das vollkommene Wohlbefinden, dachte Oliver und schaute zu Daniel. Aus dessen Zügen war alle Leichtigkeit, die sein Wesen ausmachte, verloren gegangen. Seine Kiefermuskeln arbeiteten ohne Unterlass. Seit sie sich vor Ammans Villa voneinander getrennt hatten, ging mit Daniel eine nicht zu übersehende Veränderung vor sich. In der vergangenen Nacht hatte er bereits krank gewirkt, doch das war nichts im Vergleich zu seinem momentanen Zustand. Er glich einem Geist. Seine Haut war trocken und rau, die Wangen eingefallen, unter seinen Augen lagen dunkle Schatten – und hinter der Äußerlichkeit war eine innere Leere. Daniels positive Lebenseinstellung zerbrach und räumte dem Teil seiner Seele, der bereits in der Totenwelt weilte, den Weg frei. Oliver wusste, dass er dafür verantwortlich war. Mit seiner Verbissenheit hatte er jedem geschadet. Wenn es doch nur eine Möglichkeit gäbe, die Zeit zurückzudrehen und allem seinen Lauf zu lassen …

Er streckte die Finger nach Daniels Arm aus, zog sie aber zurück, als dieser fahrig auswich. Schwach schluckte er und zwang sich, nach draußen zu sehen. Schemenhaft zogen Bäume und Häuser an ihm vorüber. Nur die Fahrzeuge konnte er leidlich ausmachen. Trostlos, hoffnungslos, verfahren, ablehnend, fremd und fern von allem Halt. Alles verlor sich in einem dumpfen Schwebezustand. Er fühlte, wie er den Boden unter den Füßen verlor. Die ganze Situation bildete einen negativen, kraftraubenden Sog, dem er sich schwer entziehen konnte. Wenn er sich jetzt treiben ließe, würde er jedem in den Rücken fallen, der ihm bis hierher beigestanden hatte. Das konnte er vor sich selbst nicht verantworten.

Er zwang seine dunklen Empfindungen in eine Ecke zurück und wandte sich um. »Gibst du mir bitte dein Handy, Chris? Ich will Kerstin anrufen.«

Anstatt seiner entsperrte Micha das Gerät und reichte es ihm.

»Danke.«

Zu Michas Füßen grollte Daphne ungehalten. Oliver versuchte einen Blick auf sie zu erhaschen, aber so weit konnte er sich mit Ruth auf den Knien nicht verdrehen. Anstatt dessen betrachtete er Jamal, der wach, aber teilnahmslos und blass zwischen Chris und Micha saß. Inständig hoffte er, dass sich der Kleine fing.

Daniel lenkte den Wagen in den Konrad-Adenauer-Ring und beschleunigte.

Oliver richtete sich wieder aus und tippte Kerstins Mobilnummer ein. Das Klingelzeichen brach schon nach dem zweiten Signal ab.

»Aboutreika.« Sie klang abgespannt.

»Hallo Kerstin, ich bin’s, Oliver.«

Sie antwortete nicht. Aus dem Hintergrund drangen Gesprächsfetzen, aber auch leise Radiomusik und das Klappern von Tasten.

»Kerstin?«

»Ja, entschuldige. Ich habe nur gerade den Satz fertig geschrieben.« Ihre Stimme verströmte Kälte – sie wollte nicht mit ihm telefonieren.

Er musste sich überwinden, um nicht einen Rückzieher zu machen. Egal wie er es anfing, es würde unangenehm werden. »In eurem Haus ist etwas passiert.« Er machte eine Pause, in Erwartung, dass sie sofort laut würde, aber er hörte nur die Hintergrundgeräusche, abzüglich des Tastengeklappers. »Es ist etwas mit Jamal, wir bringen ihn zur Untersuchung ins Paulinenstift.«

»Was ist passiert?« Sie schrie nicht, war nicht hysterisch, wie er erwartet hatte, aber ihr Tonfall besaß eine beißende Schärfe, der er nichts entgegenzusetzen hatte.

»Eure Hausdame Sandra …« Oliver wusste nicht, wie er die Geschehnisse in Worte fassen konnte. »Sie…«

»Was? Sandra? Unmöglich …« Sie klang verunsichert. Dann fragte sie: »Oliver, bitte, was hat sie mit Jamal gemacht?«

»Sie hat ihm nichts getan, aber er hat etwas Schreckliches beobachtet und steht jetzt unter Schock.«

»Paulinenstift, ich bin sofort da.« Sie legte auf.

Keine Rückfrage, was geschehen war? Nicht einmal die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Jamals Zustand und Sandra?

Verständnislos betrachtete er den Bildschirm des Smartphones. Das kurze Telefonat ließ ihn mit einem dumpfen, beinah betäubenden Gefühl zurück. Langsam manifestierte sich die Erkenntnis, dass Kerstin über Sandras Natur Bescheid wusste. Aber wenn ihr bekannt war, was Amman in seinem Haus hielt, wie konnte Oliver ihr noch trauen? War Kerstin in mehr involviert?

Oliver massierte sich die Schläfe. Er konnte sich nicht so sehr in ihr getäuscht haben; oder doch?

Ihm war nicht klar, warum sie ein solches Geschöpf in der Nähe Jamals tolerierte. Ihr Sohn war der Fokus all ihrer Gefühle. Weshalb sollte sie ihn einer möglichen Gefahr aussetzen?

Er atmete durch.

»Wie hat sie reagiert?«, fragte Daniel unvermittelt. Es war das Erste, was er sagte, seit sie das Haus verlassen hatten. »Du wirkst ziemlich verwirrt.«

»Nicht, wie erwartet.«

Daniel brummte. »Was meinst du?«

»Ich glaube, sie weiß von der Wiedergängerin.«

»Echt?«, fragte Chris.

Oliver winkte ab. »Wir werden es sicher noch früh genug erfahren, denn sie wird gleich ins Krankenhaus kommen.«

Daniel hielt an der Ampel auf Höhe des ehemaligen Fernmeldeamtes. Zwischen seinen Brauen entstand eine steile Falte, und um seinen Mund bildete sich ein harter Zug. Seine Lippen klafften auf, doch bevor er etwas sagen konnte, murmelte Chris: »Das wird sicher ziemlich ätzend mit ihr.«

Oliver wandte sich ihm zu. »Sag das nicht. Ich glaube ihr, dass sie Angst um Jamal hat.«

Chris verzog nur das Gesicht, schwieg aber.

Als Daniel anfuhr, gab er ein undeutliches Geräusch von sich, bevor er mit brüchiger Stimme meinte: »Egal wie sie reagiert, aus dem, was wir gerade in der Villa gemacht haben, ergeben sich ziemlich große Probleme.« Er steuerte den Wagen über die Ampelkreuzung.

»Warum?«, fragte Micha. »Sie kennt dich als unseren Freund, nicht als Kommissar.«

»Stimmt schon«, entgegnete er. Fast schien es, als wollte er mehr sagen, aber er schwieg.

Oliver konnte seine Sorgen nachvollziehen. Die Kameras hatten alles eingefangen, was im Aboutreika-Haus passiert war. Es würde nicht lang dauern, bis Amman wusste, dass Daniel zur Ermittlungsgruppe Hoffmann gehörte. Das konnten sich Micha und Chris aber selbst ausrechnen.

Schweigend schaute er aus dem Fenster. Jenseits der Kreuzung Schiersteiner Straße erhob sich rechts von ihnen das alte Mutterhaus der Klinik aus dem Nebel. Der historische Krankenhausflügel aus rotem Klinker hatte beinah etwas Unheimliches an sich; der Anblick glich einer Mischung aus einer verlassenen gewaltigen Kirche und einem Spital, in dem sich Geister der Patienten herumtrieben. Von hier aus war es nicht mehr weit bis zu ihrem Zuhause …

Nein, ein Zuhause gab es nicht mehr … Er seufzte leise.

Am Rande nahm er wahr, wie Daniel blinkte – das Parkhaus. Oliver hob den Blick. Nebel wogte in der bodenebenen Etage der offenen Stahlkonstruktion. Es war alles dicht zugeparkt. Ihnen kam ein Wagen aus dem Untergeschoss entgegen. Daniel lenkte den Passat auf die Rampe nach unten. Soweit Oliver sich erinnern konnte, gab es einen Außenzugang über das Parkdeck zur Notaufnahme. In den letzten Jahren war er oft die Begleitperson seiner Geschwister gewesen, mal mit, mal ohne Tom. Jedes Mal war er bei Elli gewesen, wenn sie unvermittelt angefangen hatte, hoch zu fiebern, Marc Kropphusten bekam oder Micha sich mit seinen labilen Knochen einen weiteren Bruch zugefügt hatte. Natürlich passierten all diese Dinge ausschließlich an Wochenenden und in der Nacht. Aber er war auch bei Chris’ unzähligen Fußballunfällen mit ihm hier gewesen.

Als das Motorengeräusch erstarb, öffnete Oliver die Beifahrertür und setzte Ruth in den Fußraum. Hoffentlich wurde es den beiden Tieren hier nicht zu kalt. Sie kauerte sich zusammen. Beleidigt starrte sie ins Leere.

»Du kannst da nicht mit rein«, murmelte Oliver und fühlte sich schuldig. Sacht hob er sie hoch und drückte sie an sich. Sofort legte sie ihren Kopf vertraut in seine Halsbeuge und kuschelte sich an. Behutsam gab er ihr einen Kuss ins Fell und setzte sie auf dem Sitz ab. Dieses Mal nahm sie es hin.

Chris zog seine Jacke aus und deckte Daphne zu. Sie störte sich nicht daran.

»Lang können die beiden nicht im Auto allein bleiben«, sagte Daniel. »Wenn Jamal warten muss, fahre ich kurz zu mir nach Hause und bringe die beiden Monster ins Warme.«

Dankbar nickte Oliver. »Du kannst auch erst zu dir fahren. Ich komme hier schon klar.«

Prüfend musterte Daniel ihn. »Und wenn lauter Fragen von Kerstin Aboutreika kommen? Kannst du alles beantworten?«

»Sicher nicht, aber ihre Hauptaufmerksamkeit liegt vermutlich auf Jamal.«

Daniel rang sich ein Lächeln ab. »Gut, ich bin gleich wieder bei euch.«

***

Oliver stand im Warteraum, den Rücken an den Tresen gelehnt und hörte mit halbem Ohr zu, was ein Mädchen, vermutlich war sie in seinem Alter, mit der Schwester besprach. Sie versuchte, ihre Stimme so weit wie möglich zu senken, dennoch klang immer wieder das Wort Menstruationskrämpfe durch. Eigentlich stand er viel zu nah bei ihr, und er konnte sich vorstellen, dass es ihr wahnsinnig peinlich war, dass ausgerechnet ein Kerl zuhörte. Aber wo sollte er sonst warten? Wenn er sich nicht verzählt hatte, waren, mit dem Mädchen neben ihm, noch fünf Patienten vor ihnen.

Er versuchte, sich auf seine Brüder und Jamal zu konzentrieren. Chris kümmerte sich um seinen Freund, der glücklicherweise nicht mehr in demselben elenden Zustand war wie in der Villa und während der Fahrt hierher. Scheinbar erholte er sich aus eigener Kraft. Micha hatte sich das Smartphone genommen und strich darauf herum. Ob er sich die Fotos ansah, die sie bei Amman gemacht hatten?

Im selben Moment betrat Kerstin den Raum. Kurz, unsicher, hob er die Hand. Aber sie ignorierte ihn und durchquerte Empfang und Wartezimmer.

»Kerstin?«, begann Oliver. Er fühlte sich in ihrer Gegenwart schutzlos. Sie ignorierte ihn weiterhin und setzte sich neben ihren Sohn in den schmuddeligen Schalensitz. Behutsam umarmte sie Jamal und drückte ihn an sich.

»Hast du seine Versichertenkarte dabei?«, fragte er mit belegter Stimme.

Sie hob den Kopf, ihre Kiefer mahlten. Entweder gab sie hier und jetzt ihrer Wut nach, oder sie brach in Tränen aus.

Oliver straffte sich, auf beide Optionen gefasst. Aber es passierte nichts. Sie ließ Jamal los, zog ihre Umhängetasche nach vorne und entnahm ein überdimensioniertes Damenportemonnaie. Mit der Karte in der Hand trat sie zu ihm. Kommentarlos drängte sie ihn fort.

Oliver wich einige Schritte aus dem engen Gang zurück und blieb mit in die Hüften gestützten Händen stehen. Bis zu einem gewissen Grad verstand er sie, aber warum redete sie nicht mit ihm?

In der selben Sekunde drehte sich das Mädchen vor Kerstin um. Zum ersten Mal sah er sie von vorne. Er spürte ihren fragenden Blick und die starke Anziehungskraft ihrer dunklen Augen. Ihre überschminkten Lippen klafften auseinander, als wollte sie etwas sagen, aber sie flüchtete sich in ein hilfloses Lächeln, was ihr das Aussehen einer Bollywood-Schönheit gab. Oliver zwang sich, ebenfalls zu lächeln, was misslang, denn das Mädchen zog eine Schnute und drehte sich wieder um. Ihre langen, schwarzbraunen geglätteten Haare strich sie dabei über den Ärmel der Kunstlederjacke.

Kerstin klopfte mit der Faust auf den Tresen, sodass Oliver wieder zu ihr sah. »Setz dich hin!« In ihren Worten schwang ein Befehl mit.

Die Assistenz räusperte sich. Scheinbar hatte jeder hier mitbekommen, dass zwischen ihnen etwas nicht stimmte.

Oliver atmete tief durch, rollte mit den Augen und ließ sich neben Micha in den Sitz sinken. Er spürte, dass ihn die meisten Leute im Wartezimmer beobachteten, allein deswegen versuchte er zu niemand anderem Blickkontakt aufzunehmen. All das hier war sicher kein Fehler, aber unangenehm, besonders weil außer dem Mädchen, das bis eben noch vor ihm gestanden hatte, auch andere Teenager hier warteten.

»Dicke Luft«, murmelte Chris.

Oliver zog eine Grimasse. »Mal schauen, was dieser Tag noch bringt. Wir haben erst Mittag und sicher die übleren Katastrophen noch vor uns.«

Darauf antwortete Chris nicht, schaute aber zu Kerstin, die sich gerade der Assistenz zuwandte und leise mit ihr redete.

Oliver sah zu dem Mädchen zurück. Sie strich sich ihre Haare nach hinten und nestelte an ihrer Handtasche herum, schien sie aber mit ihren langen Nägeln nicht aufzubekommen. Ohne nach vorne zu schauen, schob sie sich aus dem schmalen Gang und stieß gegen Chris’ Knie.

»Tut mir leid«, flüsterte sie.

»Schon gut.« Chris klang beinah wie ein kleiner Junge. Sie schenkte ihm ein kurzes, aber irgendwie ehrliches Lächeln, bevor sie sich setzte.

Oliver wusste nicht, warum er sie unverhohlen anstarrte. Es war ihm sogar peinlich, aber er konnte nicht anders. Vielleicht lag es daran, dass sie ein gewöhnlicher Mensch war, nichts Übersinnliches, und irgendwie tat das gut. Sie war eine zierliche Person, vermutlich aus einem mediterranen Land und stark überschminkt, aber bildhübsch und herrlich lebendig. Sie hatte den grauen Kunstlederbeutel auf den Knien abgestellt und zog nun den Reißverschluss auf, nur um ihre Karte in einem riesigen, rosa Portemonnaie unterzubringen.

Unvermittelt schaute sie auf. Sie hatte sein Starren bemerkt und interpretierte es wahrscheinlich falsch. Ihr Blick traf den seinen. Unsicher lächelte sie, wies dann aber mit dem Kopf auf Jamal. »Was hat er denn?«

Oliver legte den Kopf schräg. »Wissen wir nicht genau.«

Ihm war klar, dass er ausweichend klang, aber vielleicht erkannte sie die Anzeichen eines Schocks nicht sofort.

Sie steckte ihr Portemonnaie ein. »Er ist abwesend, als hätte er was krass Schlimmes gesehen«, sagte sie. »Ist er ein Freund von euch?«

Dieses Mal war es nicht an Oliver, zu antworten. Chris zögerte, bevor er mit einem kurzen Ja zustimmte; Micha enthielt sich konsequent. Ihre höfliche Neugier befremdete die Zwillinge offenbar.

Als die Stille unangenehm zu werden drohte, fühlte sich Oliver gezwungen, zu reagieren. »Jamal geht mit meinen Brüdern in dieselbe Klasse und ist mit ihnen befreundet.«

Sie hatte gerade ihr Smartphone herausgesucht und strich mit dem Daumen über das Display, hielt dann aber mitten in der Bewegung inne. Über ihre Lippen huschte ein weiteres schüchternes Lächeln. »Lieb, dass du mitgehst.« Es klang eher pflichtschuldig.

Oliver begann das Gespräch zu hassen. Warum konnte Jamal nicht vorgezogen und aufgerufen werden – oder Daniel zurückkommen? So weit hatte er es doch mit dem Auto nicht in die Gneisenaustraße. Rheingauviertel und Westend lagen schließlich nebeneinander. Er schaute zu Kerstin, die sich zu ihnen umgedreht hatte. Sie wirkte vollkommen erschöpft. Er versuchte zu lächeln, doch sie sah durch ihn hindurch.

»Seine Ma’«, er blickte das Mädchen wieder an, »löst uns gerade ab. Und bei dir?« Er hatte zwar eine vage Vorstellung und wusste, dass er sich damit nur in die Bredouille brachte, aber er konnte den Schnellschuss nicht mehr zurücknehmen.

Zögernd antwortete sie: »Einer hat mich im Sport mit ’nem Hockeyschläger erwischt, ziemlich ungünstig …« Sie brach ab. Ihr Blick irrte durch den Raum und fand keine Ruhe. Es war ihr überaus peinlich.

Oliver blinzelte. Das war höllisch dünnes Eis, auf dem er stand, zumal er sich mit solchen Dingen kaum auskannte. Es lockte ihn nicht und war einfach nicht sein Interessengebiet. »Tut mir leid, dass ich gefragt habe«, murmelte er.

»Ist alles doof gelaufen.« Betreten senkte sie den Kopf.

»Warum bist du nicht zu deinem Frauenarzt gegangen?«, fragte Kerstin, die das Gespräch verfolgt hatte, egal wie leise sie gesprochen hatten.

»Ich hab’ keinen«, flüsterte das Mädchen, wobei sie sich angespannt im Raum umsah.

Oliver folgte ihrem Blick, aber niemand hörte ihr zu – außer seinen Brüdern, und denen schien das Thema erst recht gegen den Strich zu gehen. Chris zog Micha das Handy aus den Fingern und tippte darauf herum. Mit einem ärgerlichen Schnauben versank Micha in seiner Jacke, bis der Kragen über den Kiefer reichte.

Das war seltsam. Oliver kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. Erst jetzt bemerkte er, dass es tatsächlich ziemlich kühl war. Waren die wartenden Personen Geister? Aber das konnte nicht sein, das Mädchen, wie immer sie hieß, sah doch auch zu den Leuten. Er stupste Chris an, ohne zu wissen, wie er ihn unauffällig darauf ansprechen sollte.

Überrascht schaute sein Bruder vom Handy hoch. »Was? Ich hab’ nix gemacht.«

»Hast du noch Probleme, ich meine, Schmerzen?«, fragte Kerstin das Mädchen indessen unvermittelt.

Erschrocken schaute diese sich abermals um. Ihr Blick streifte jeden im Wartezimmer.

Oliver beobachtete die Situation. Wenn alles mit rechten Dingen zuginge, sollte Kerstin sich aufgrund der anderen Wartenden doch etwas zurücknehmen – oder unter den Leuten wenigstens irgendeine Reaktion zu merken sein. Doch nichts.

Das Mädchen drehte sich zu Kerstin. »Ja, in beiden Fällen.«

Oliver nutzte den Moment und neigte sich zu seinem Bruder. Dicht neben seinem Ohr flüsterte er: »Siehst du außer uns und dem Mädchen noch andere Leute auf den Stühlen?«

Überrascht schüttelte Chris den Kopf. »Nur uns. Hier sind Jamal, Micha, Kerstin, die da, die Frau hinterm Tresen, du und ich. Wen siehst du denn?«

Olivers Mund fühlte sich schlagartig trocken an, sodass er nicht schlucken konnte. Eine der Personen schaute stur auf ihr Handy, eine andere in die Zeitschrift, an der sie sich festhielt, und eine weitere starrte ihn aus leeren Augen an, als hätte sie bemerkt, als Geist erkannt worden zu sein. Jetzt wurde ihm auch bewusst, dass das Rascheln von Papier ausblieb und der Junge nur auf sein Display stierte, ohne die Finger zu bewegen. Eigentlich hätte es schon längst nicht mehr an sein dürfen.

Oh verdammt, dachte er. Was hat das zu bedeuten? Vermehrt zeigten sich Erscheinungen. Zog er Geister etwa an?

Leider konnte er nicht mehr auf Franz’ Wissen zurückgreifen. Er biss sich auf die Unterlippe und fixierte die Ansammlung gestaltlicher Wesen. Anders als das Geschöpf im Aufenthaltsraum der HSK schienen sie friedfertig zu sein, teilnahmslos sogar. Keiner von ihnen lockte einen Wächter an.

Dennoch war es eigenartig. Die Leute sahen lebendig aus. Sie konnten doch nicht alle hier, in diesem Raum, tot umgefallen sein. Einige von ihnen waren in seinem Alter.

Sein Blick blieb abermals an dem Mädchen hängen. War sie auch ein Geist?

Er verwarf den Gedanken sofort wieder. Kerstin und Chris konnten sie sehen, ebenso die Schwester am Empfang der Notaufnahme. Aber vielleicht …

Er versuchte seine Fantasie davon abzuhalten, sich zu verselbstständigen. Darüber könnte er sehr ausgedehnt spekulieren, ohne je zum Erfolg zu kommen. Ohne einen wissenden Mentor wie Franz war er aufgeschmissen. Doch auf seine Hilfe konnte er nicht mehr hoffen. Franz war geschwächt und hatte ihn – wenigstens für eine Weile – verlassen. Oder bezog sich das nur auf Aboutreikas Villa? Auch Ruth hatte sich wieder vollständig in den Griff bekommen, nachdem sie sich nicht mehr im Haus aufhielt.

Er atmete tief durch und schaute zur Glastür, die hinaus in den Empfang führte. Insgeheim sehnte er sich danach, nicht allein mit dem Problem zu sein. Jetzt wäre wirklich der ideale Moment, dass Daniel zurückkäme. Leider wurde ihm der Wunsch nicht erfüllt.

»Warum dauert das so lang?«, fragte Kerstin. »Meiner Erinnerung nach gibt es viele Notbehandlungszimmer, und hier sitzen kaum Patienten.«

»Bleiben Sie doch bitte ruhig«, entgegnete die Schwester in unmissverständlich deutlichem Ton. »Ihr Sohn kommt dran.«

»Aber wann?« Kerstin machte eine Kopfbewegung zu den Räumen hinter der Schwester. »Er steht unter Schock. Das sehen Sie doch.«

»Dennoch sind die Räume belegt.«

»Alle?«, fragte Kerstin skeptisch.

Oliver widmete sich nun ebenfalls der Assistenz. Ihre Lippen klafften auseinander, aber es dauerte einige Sekunden, bevor sie antwortete: »Bitte, ich möchte mich nicht mit Ihnen streiten.« In ihrer Stimme lag eine Schärfe, die ihn aufhorchen ließ. Ob es einen Unfall gegeben hatte?

Eine Person trat aus dem Gang hinter dem Tresen – die Frau kam von der linken Seite. Sie war blass, desorientiert und ihr Blick glitt über die Stuhlreihen. An dem Jungen mit dem Handy blieb er hängen. Erleichtert trat sie nach vorne, durch die Schranke, ohne dass sie sich öffnete.

Oliver biss sich auf die Lippen und versuchte nicht zu auffällig dorthin zu starren. Micha packte sein Handgelenk und drückte es hart. Oliver warf ihm einen warnenden Blick zu, der hoffentlich jeden verfänglichen Kommentar seines Bruders unterband. Tatsächlich sank Micha in seinem Stuhl zusammen und sah verunsichert zu Boden.

Er legte einen Arm um ihn und zog ihn sacht an sich. Wie bei Chris flüsterte er ihm zu: »Bleib ruhig. Ich glaube, die Geister hier wissen noch gar nicht, dass sie ihren Körper verlassen haben, sie warten, vermutlich auf ihre Angehörigen.«

»Ein Verkehrsunfall vielleicht?«, wisperte Micha, den Kopf zu ihm gehoben.

»Wahrscheinlich.«

Stumm nickte der Kleine. Oliver schaute zu dem Mädchen, auch sie hatte die Frau bemerkt. Unsicher rutschte sie auf dem Stuhl herum. Das war die letzte Bestätigung: Sie konnte Geister sehen. Er zog sein Handy aus der Tasche und schaute aufs Display. Vielleicht sollte er Daniel von ihr schreiben … andererseits, war es wichtig, ihm davon zu erzählen? Sicher existierten viel mehr Menschen, die die Fähigkeit besaßen.

Trotzdem musste er aus diesem Raum raus. Der Mann, der ihn fixiert hatte, drängte sich immer weiter von ihm weg. Als ob er Angst hätte. Oliver vermutete, dass er den Wächter in ihm mitbekam. Demnach musste er sich über seinen Zustand bewusst sein.

Er rieb sich die Nasenwurzel – er brauchte einen logischen Vorwand. Mittag war beinah vorbei, und sein Magen knurrte. Zumindest hatte er Sandras angerichtetes Frühstück eher gesehen, als davon probiert. Banaler Hunger sollte als Ausrede reichen. Hastig stand er auf. »Kerstin, ich würde was zu essen für uns alle holen und für Jamal was mit viel Zucker.«

Sie nickte kurz und machte eine Kopfbewegung zu dem Mädchen. »Willst du auch etwas haben?«

Das Mädchen brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, dass Kerstin sie angesprochen hatte. Irritiert schüttelte sie den Kopf. »Nein…«

»Unsinn.« Ohne zu zögern, zog Kerstin einen 50-Euro-Schein aus dem Portemonnaie und winkte damit.

Widerstrebend schüttelte Oliver den Kopf. Auch wenn in seiner Börse Ebbe herrschte, so hatte er doch eine Bankkarte und ein Konto, das hoffentlich nicht ganz so leer war. »Was willst du?«, fragte er das Mädchen und wusste, dass er sie nur noch weiter beschämte. Aber wahrscheinlich sah er sie nach heute nie wieder. »Was zu essen, was zu trinken?«

»Ich hab’ Wasser dabei. Aber vielleicht was Süßes?« In ihrer Stimme schwang eine leise Bitte mit.

Oliver erkannte den Unterton. Das war ein erzwungenes Nachgeben-Müssen, um eine erwachsene Respektsperson nicht vor den Kopf zu stoßen. Aus dem unsicheren Plaudern zwischen ihnen war durch Kerstins Einmischung etwas noch Unangenehmeres geworden. Stumm entschuldigte er sich bei ihr, bevor er seine Brüder ansah. »Ihr, Jungs?«

»Cola«, orderte Chris selbstsicher.

»Ein Brötchen.« Michas Bestellung klang mehr nach einer Frage.

Kerstin hatte sich zu der Dame hinter dem Tresen umgedreht, sagte aber eindeutig an Oliver gerichtet: »Für Jamal Traubenzucker und für mich ein Snickers, danke.«

»Jaja …« Er konnte sich gerade noch zurückhalten, um die Worte nicht in demselben Tonfall auszusprechen, den er in Gedanken verwendete.

Rasch durchschritt er den stickigen Warteraum und blieb kurz irritiert in der Halle stehen. Für einen Moment fiel ihm nicht ein, wo sich der verdammte Kiosk befand. In der HSK hätte er sofort gewusst, wohin er sich zu wenden hatte, aber diese Klinik war eines jener Bauverbrechen aus den Siebzigern, die die Stadt an den unmöglichsten Stellen verschandelten. Das Entree war mit beigebraunem Betonwerksteinen ausgekleidet und mit schwarzen Kunstlederbänken versehen. Der Boden bestand ebenfalls aus Betonwerkstein und senfgelben Läufern, die seit Erbauung sicher nicht mehr ausgetauscht worden waren. Hinter Glas saß ein Mann in Anzug, der gerade mit zusammengezogenen Brauen auf den Monitor seines Rechners blickte und telefonierte. Aus dem Aufzug links vom Empfang trat ein junger Mann in Jogginghosen und steuerte fast direkt auf Oliver zu, bog dann aber in einen kleinen Vorraum ab.

Oliver sah um die Ecke zu seiner Rechten und schaute in einen beengten Raum mit Theke und Zeitungsregalen. Unter der Decke zog sich ein schmales Fenster beinah über die ganze Länge der Wand. Helligkeit kam kaum herein, weswegen das elektrische Licht, Neonröhrenraster in der Odenwalddecke, brannte. Mit dem schmutzig blauen Linoleumboden ergab der Anblick etwas Abstoßendes. Der Kiosk.

Oliver folgte dem Mann durch die Glastür und sah sich um. In der Kühlung lagen ein paar Brötchen, die nicht mehr sonderlich frisch aussahen, Softdrinks, eingefallene Blätterteigteilchen und Süßwaren. Eine traurige Auswahl.

Tief atmete er durch und blinzelte. Obwohl er sich gerade alles andere als wohlfühlte, hatte die Situation doch etwas sehr Normales.

Nachdem der Mann in den Jogginghosen sich mit Zigaretten eingedeckt hatte und Oliver dran war, betete er seine Bestellung runter und zahlte mit Karte. Die meisten Sachen passten in die weiten und tiefen Taschen seiner Cargopants, den Rest trug er in den Händen.

Glücklicherweise hatte das Wartezimmer eine Tür mit Bewegungssensor. Als er eintrat, hatte sich der Raum verändert. Außer seinen Brüdern und den beiden Aboutreikas saß nur noch das Mädchen auf ihrem Platz. Alle anderen Personen waren verschwunden.

Innerlich atmete er auf. Was immer passiert war, kurzzeitig hatte es zu einem großen Andrang von Geistern, Angehörigen geführt.

Er setzte sich neben Chris. Der Kunststoff protestierte dieses Mal nicht unter seinem Gewicht. Vorhin war das noch anders gewesen. Er hob den Kopf und schaute die Assistenz an. Es handelte sich immer noch um dieselbe Frau. Dennoch hatte sich der Raum um Nuancen verändert, als wäre er zuvor mit allen Anwesenden jenseits der Spiegel gewesen. Misstrauisch sah er an den Wänden entlang. Im goldgelben Licht der Einbaudeckendownlights glänzte die lackierte Tapete in weitestgehend sauberem Weiß und Grün. Die Bilder an der Wand hatten ebenso ihr Aussehen geändert. Es waren immer noch die Blumenmotive in Großformat und auf weißem Hintergrund, aber das Plexiglas glänzte.

Er betrachtete Kerstin. In ihm wuchs der Wunsch, allen vorzuführen, dass etwas nicht stimmte. Warum auch nicht? Vielleicht machte er sich vor Kerstin und der Assistenz lächerlich, möglicherweise erfuhr er aber, ob außer Micha, dem Mädchen und ihm noch jemand die Geister bemerkt hatte.

Während er die Süßigkeiten und Getränke aus seinen weiten Beintaschen räumte, fragte er: »Sagt mal, wo sind all die anderen Patienten?«

»Bitte?«, fragte Kerstin. Wenn sie verstört klingen wollte, ging es grandios daneben.

Aber das Mädchen setzte sich gerade auf und sagte: »Du hast sie auch gesehen?«

Er nickte.

Hilflos lachte sie auf und ließ sich nach hinten sinken, die Hand über die Stirn gelegt. »Das war wieder was, das mir keiner glaubt.« Sie schüttelte den Kopf.

»Was meinst du genau?«, fragte Oliver.

Sie richtete sich auf, verschränkte ihre Finger über der Tasche und sagte: »Als du eben raus bist, sind alle außer uns«, sie nickte zu Micha, Chris, Jamal, Kerstin und der Assistenz, »geschlossen aufgestanden und haben den Raum verlassen.«

Micha verschränkte die Arme vor der Brust. Sein Blick blieb an ihm hängen. »Sie haben vielleicht nur darauf gewartet, dass du verschwindest.«

»Wir waren allein hier«, sagte Chris, klang dabei aber zögernd. Er blinzelte kurz. »War es das, was du vorhin gemeint hast, Olli?«

»Logisch!«, fiel ihm Micha ins Wort und kassierte einen bitterbösen Blick von Kerstin.

Das Mädchen räusperte sich. »Sie waren da«, versicherte sie, klang aber noch verunsicherter als vorhin, »und sind plötzlich gegangen. Es war ihnen irgendwie …«, sie stockte, »ich denke, dass er recht hat und es ihnen wichtig war, dass du nicht da bist, wenn sie gehen.« Sie schaute von ihm zu Micha und zurück.

Wortlos reichte Oliver ihr ein Hanuta.

»Aber vielleicht …« Verunsichert nahm sie die Schokowaffel und zupfte mit ihren unglaublichen Nägeln an dem Papier. Sie zweifelte viel zu sehr an sich, was er nicht wollte.

»Nein, du bist nicht allein damit, Micha und ich können solche … Dinge auch sehen.«

Ihre Augen weiteten sich. »Was? Passiert euch das oft?« Angst klang durch, aber auch Freude und Hoffnung. Ihr rutschte das Hanuta aus den Fingern.

Just in diesem Moment quietschten Gummisohlen auf dem PVC. Ein Mann in türkisgrüner Kleidung trat an die Seite der Assistenz und sprach leise mit ihr.

Schließlich sagte die Assistenz: »Frau Mousavi, ist es für Sie in Ordnung, wenn wir den Jungen«, sie nickte zu Jamal, der immer noch in sich zusammengesunken dasaß, »vorziehen?«

»Machen Sie nur«, entgegnete das Mädchen mit dem Nachnamen Mousavi. Sie lächelte dabei Jamal herzlich an.

Der Arzt winkte ihm. »Frau Aboutreika, kommen Sie und Jamal bitte mit?«

Kerstin erhob sich, pickte sich im Vorbeigehen ihr Snickers und den Traubenzucker vom Stuhl und lotste den Kleinen hinter den Tresen zur Tür.

Jamal schien wieder bei sich zu sein. Sein Blick irrte durch den Raum und fraß sich Hilfe suchend in Olivers. Er versuchte, etwas zu sagen, aber seine Kraft reichte nicht aus.

Oliver war versucht, aufzuspringen und hinterherzulaufen, alles in ihm schrie danach. Er biss sich auf die Unterlippe und widerstand dem Drang.

Als Kerstin sich vor ihren Sohn schob und beide aus seinem Sichtfeld verschwanden, hielt ihn nichts mehr. »Entschuldigt mich bitte!«

***

Daniel hatte Katze und Karnickel in seiner Wohnung zurückgelassen. Als er die Treppe hinabeilte, vibrierte sein Handy – ausgerechnet Gregor. Matthis und er hatten die Besprechung versäumt. Darüber hinaus hatte er keine Ahnung, wo Matthis sich herumtrieb, denn er war nicht hinter ihnen gewesen, als sie von der Villa aus zum Paulinenstift gefahren waren. Er hatte sich nicht einmal gemeldet. Hoffentlich fragte Gregor nicht nach ihm.

Er nahm das Gespräch unwillig an. »Moin.«

Gregor atmete tief durch, bevor er sagte: »Spar dir deine gute Laune, dafür gibt es bei Habicht und dir keinen Grund.«

Daniel stöhnte innerlich auf. Aber wenigstens blieb Gregor im Gegensatz zu Bernd vergleichsweise ruhig. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Aboutreika sich wegen der Entführung bereits gemeldet hatte, dafür war Gregor zu gelassen. Daniel hielt auf den Stufen inne. »Was ist los?«, fragte er, ohne wirklich hören zu wollen, worum es sich drehte.

»Warst du gestern Nacht im Markgraf-Haus?«

Daniel griff unsicher nach dem Geländer und presste die Lippen aufeinander. Wahrscheinlich hatte der Schlosser die Rechnung abgegeben. »Ja.« Leugnen war Quatsch.

»Bist du noch bei Trost? Was suchst du in dem Laden, wenn niemand von uns dich damit betraut?«

Daniels Gedanken schalteten sich ab. Er fühlte sich wie in einem Labyrinth enger Gassen gefangen, und in jeder verlosch die Beleuchtung, sodass er sich nur noch auf engem Raum, in absoluter Finsternis befand. Alle Ausreden, die er sich ausdenken konnte, waren idiotisch, und er blieb ideenlos zurück. Fühlte sich Matthis gegenüber Bernd genauso?

»Das würdest du mir nicht glauben«, sagte er dumpf und ging die letzten Stufen zum Podest hinunter. Mit dem Rücken lehnte er sich an die weiß-gelb getünchte Flurwand neben dem Fenster und starrte das v-förmige Muster des Geländers an.

»Versuch es wenigstens.«

»Geht nicht.«

Am anderen Ende der Leitung gab Gregor einen schnaubenden Laut von sich. »Verarsch mich bitte nicht.«

»Willst du hören, dass es wieder was ist, das du keinem weitergeben kannst?«

»Drück dich nicht um die Sache herum, so billig kommst du dieses Mal nicht weg, klar?« Schärfe lag in der Stimme.

Himmel, was sollte er nur sagen? In seinem Kopf herrschte Leere. »Ich musste Olli und das Karnickel aus dem Laden befreien.«

»Und wie sind die beiden da reingekommen? Oliver muss doch einen Schlüssel dabeigehabt haben.« Er klang weniger wütend als irritiert.

»Hatte er nicht.« Ihm kam der Gedanke zu sagen, dass ihn einer seiner Brüder eingesperrt habe, aber das war Unfug. »Es ist etwas ziemlich Seltsames passiert, und genau das kann ich keinem einfach so erklären.«

»Versuch es.«

Daniel stöhnte. Er zog seine Zigaretten heraus und zündete sich eine an. Der erste Zug beruhigte ihn leider nicht. »Er ist durch einen Spiegel und durch die …« er senkte die Stimme, »Totenwelt in das Archiv gelangt.« Langsam ging er weiter und lauschte auf Gregors Reaktion, die ausblieb. »Gregor?«

»Ich bin noch dran, aber ich kapiere nicht, was du sagst.«

»War mir klar. Kannst du es nicht dabei belassen, dass ich ihn einfach aus dem Laden holen musste?«

Wieder schwieg Gregor, dieses Mal so lang, dass Daniel unwohl wurde. Er eilte die letzten beiden Etagen nach unten und öffnete die Haustür.

Gregor räusperte sich. »Persönlich halte ich deine Erklärung für Quatsch. Du wolltest unter allen Umständen noch einmal in den Laden.«

Unsicher blieb Daniel zwischen Haustür und Torfahrt stehen, die Zigarette zwischen den Lippen und den Autoschlüssel in der Hand. Er nahm einen tiefen Zug und wartete auf das raue, heiße Brennen in der Kehle, aber es blieb aus. Anstatt dessen breitete sich ein feucht-kühler klebriger Film über Zunge und Luftröhre aus, der einfach nur widerlich war.

»Redest du jetzt gar nicht mehr mit mir?«, fragte Gregor.

»Entschuldige.« Daniel fühlte sich schlecht. »Ich weiß nur nicht, was ich dir noch erzählen kann …«

»Ach!«, schnappte Gregor.

Dieses Mal ließ Daniel sich nicht beirren. Ohne die Stimme zu heben, fuhr er fort: »Ich muss viele Fakten für dich verändern und die Wahrheit biegen, damit du nicht gezwungen bist, meine bizarre Welt zu erklären – und glaube mir, Matthis hat genau dasselbe Problem mit Bernd.«

»Ich will davon nichts hören …«

»Das ist ignorant!«, fuhr Daniel ihm scharf dazwischen. Im selben Moment, in dem er es ausgesprochen hatte, tat ihm der Tonfall schon wieder leid, aber die Worte ließen sich nicht mehr zurücknehmen. Am anderen Ende knarrte ein Sessel. Gregor schwieg.

»Entschuldige bitte«, murmelte Daniel betroffen. »So sollte das nicht rauskommen.«

»Es ist nicht nur deine Schuld.«

Jetzt war es an Daniel, den Mund zu halten. Das alles war doch scheiße. Warum gab es Menschen wie ihn, wenn sie dazu gezwungen waren, die Wahrheit mit Füßen zu treten?

»Deine Tante lässt ja zu, dass du Sonderrechte hast, und sie ist nicht mehr in der Lage, die Ermittlung so weiterzuführen.«

»Was Irene betrifft, weißt du viel zu wenig über sie und all die Sorgen, die sie mit sich herumschleppen muss. Und ich finde, dass es dir nicht zusteht, über ihre Beziehung zu mir zu urteilen.«

»Dann sag mir…«

»Du willst die Wahrheit und Hintergründe doch gar nicht hören! Alles, was nicht in deine biedere Lebensweise und dein Weltbild passt, ignorierst du, damit es dich nicht berührt. Das ist für mich, als ob du dich nicht an uns schmutzig machen willst.« Daniel erschrak über seine Lautstärke. Aber er wollte Irene unter allen Umständen verteidigen, sie gehörte zu den besten und wichtigsten Menschen in seinem Leben.

Gregor schwieg abermals.

»Bin ich suspendiert, weil ich dich verbal angegriffen habe?«

»Das könnte dir so passen. So leicht lasse ich dich nicht vom Haken.«

Daniel fühlte sich, als hätte Gregor ihm den Boden unter den Füßen weggezogen; aber nicht im negativen Sinn.

»Bleiben wir professionell. Emotionalität brauchen wir beide gerade nicht.«

Innerlich atmete Daniel auf und ging zu seinem Wagen. »Ist okay. Entschuldige nochmals.«

Darauf blieb Gregor ihm die Antwort schuldig. Also war er wütend. Daniel verstand ihn; einerseits …

»Zurück zu dem Buchantiquariat: Warst du lang dort?« Eine Art Kraftlosigkeit hatte sich Gregors bemächtigt. Er klang erschöpft.

Wie würde er erst reagieren, wenn Matthis zurückkam und beichtete, dass sie gerade die Jungen und Jamal aus dem Haus geholt hatten? Das gab den größten Krach.

Etwas in ihm drängte darauf, sich diese Last von seinem Gewissen zu laden, aber da war immer noch Matthis, der vermutlich schon ins Präsidium zurückgekehrt war. Den folgenden Sturm mussten sie zusammen durchstehen.

»Einige Stunden. Natürlich habe ich die Chance genutzt zu schnüffeln, und ich frage mich gerade, warum wir unsere Beweissuche allein auf die Markgraf-Wohnung beschränkt haben, ohne den Laden zu durchsuchen.«

»Kann nicht sein.« Die Ausschließlichkeit in Gregors Stimme verärgerte Daniel beinah sofort wieder.

»Dann erklär mir bitte, warum wir im Geschäft Verbindungen zu Aboutreika gefunden haben: ein Anwaltsschreiben, in dem Walter Markgraf unter Druck gesetzt wird, Diebesware aus seiner Soldatenzeit in Afrika der Familie Aboutreika zurückzugeben.«

»Wirklich?«

»Wenn ich es dir sage?« Daniel setzte sich auf die Motorhaube des Passats. »Es war gut versteckt, zugegeben, aber wir haben eine normalerweise sehr gründliche Spurensicherungs- und Rechercheeinheit. Das Geschäft haben sie allerdings ignoriert. Gab es dafür einen Durchsuchungsbefehl?«

»Nein«, gestand Gregor. Er klang nachdenklich.

»Warum nicht?«

»Wir sind mit der Auswertung der Unterlagen aus der Wohnung noch nicht einmal durch.«

Das stimmte auffallend. Daniel räusperte sich. »Andere Frage, hat Lukas dir den Brief gegeben?«

»Noch nicht. Ist es denn eine brauchbare Spur?«

»Ja. Wir müssen nur herausfinden, um was es sich bei den gestohlenen Kunstwerken aus dem Stammsitz der Aboutreikas handelt. Dafür müssen wir uns mit der Familie von Amman Aboutreika in Ägypten auseinandersetzen.«

»Arbeit für Matthias also«, murmelte Gregor.

»Zuvor müssen aber einige Dinge geklärt werden.«

»Denke ich auch … Moment.« Stark gedämpft hörte Daniel jemand mit Gregor reden, ohne verstehen zu können, was gesagt wurde. Die Stimme gehörte nicht Irene. Der Stuhl knarrte, dann knackte etwas. Offensichtlich hatte Gregor den Hörer beiseitegelegt. Sein Stuhl knarrte abermals vernehmlich. Einen Augenblick später entfernten sich seine Schritte.

Daniel verdrehte die Augen und atmete tief durch. Während er wartete, drückte er seine Zigarette aus und zündete sich die nächste an.

Gregor sollte sich einen Durchsuchungsbefehl für Laden und Büro besorgen. Wenn Matthis sich an die Arbeit machte und anfing, über alle Verbindungen aus dem Afrika-Feldzug zwischen den Aboutreikas und Walter Markgraf zu recherchieren und sich die ganze Sache vielleicht kurz nach dem Anwaltsbrief in Luft aufgelöst hatte, waren sie nicht nur auf der falschen Spur, sie machten Aboutreika auch auf sich aufmerksam.

Der Hörer wurde wieder aufgenommen, es knackte. »Ja, danke noch mal für die Unterlagen«, sagte Gregor und wandte sich wieder an Daniel. »War Reichwein.«

»Spurensicherung?«

»Ja«, entgegnete Gregor.

»Was Wichtiges? Heute früh war auch einer von den ganz jungen Fotografen aus Reichweins Team da und hat Lukas Bilder gebracht.«

»Ach?« Gregor klang etwas verärgert. »Warum war er nicht zuerst bei mir?«

»Wahrscheinlich, weil du noch nicht im Haus warst?«, schlug Daniel vor.

Gregor brummte nur.

»Was hat er dir denn gebracht?«, fragte Daniel nach.

»Abzüge vom Medikamentenschrank von Markgraf. Da sind Dinger drin, die gut zur Betäubung ausreichen.«

»Ja, das hatte Reichweins Kollege auch angemerkt. Sind starke Schmerzhemmer.«

»Ich glaube, ich muss dir nicht sagen, dass das einen erneuten Verdacht auf den alten Markgraf wirft.«

»Er kann sich darüber nicht mehr beschweren. Wenn es hilft, nicht in Erklärungsnotstand über die eigentliche Situation zu geraten, sollten wir den Verdacht vielleicht vertiefen«, schlug Daniel vor.

»Ja.« Gregor seufzte. »Wir sind schon jetzt in großem Erklärungsnotstand.«

»Wenn sich die Diebstahlsgeschichte in den Vierzigern nicht als Sackgasse erweist, haben wir vielleicht die Chance, alles auf Amman Aboutreika umzulenken, das wir aktuell nicht offenlegen können, ohne uns lächerlich zu machen.«

»Aboutreikas dringende Bemühungen, sich Zugang zum Markgraf-Haus zu verschaffen? Du denkst, Markgraf hat irgendetwas in seinem Besitz, das ihm so wichtig ist, sogar leichtsinnig zu werden?«

»Ja«, sagte Daniel nur.

»Wenn er Vormund der Jungen ist, hat er immer Zugang. Er muss nur warten, bis alles rechtlich geregelt ist. Rein theoretisch hätte er jederzeit, bei jedem Besuch die Chance gehabt, sich den alten Mann vorzuknöpfen oder die zugänglichen Orte zu durchsuchen.« Gregor verstummte, nur um unvermutet hinzuzufügen: »Dann ist das, was er sucht, nicht offensichtlich verborgen, nicht in der Wohnung und nicht im Geschäft.«

Daniel war sicher, den Grund zu kennen, der das effektiv zu verhindern wusste: Erna, die Empuse. Aber das konnte er Gregor nicht sagen. »Vielleicht im Archiv?«

»Ich glaube, wir müssen noch einmal alles auf den Kopf stellen.« Gregor klang alles andere als begeistert.

»Lukas vermutet, dass es sich dabei um Papyri handelt«, sagte Daniel und schloss seinen Wagen auf. »Ich kann mir vorstellen, dass sie die Grundlage von Markgrafs Sammlung begründet haben.« Er setzte sich ins Auto, ließ aber die Tür auf, um den Rauch rausziehen zu lassen.

»Gibt es Hinweise darauf?«

»Einige bekanntere Exponate oder Werke müssen bis zum Krieg im Besitz der Aboutreikas gewesen sein. Red’ mal mit ihm. Er hat sich da schon einige sehr wertvolle rausgesucht gehabt.« Daniel steckte den Schlüssel ins Zündschloss.

»Mache ich gleich.« Gregor hustete kurz. »Was anderes: Wie läuft es mit den Brüdern im Hause Aboutreika?«

Daniel versteifte sich im Sitz. Seine Hand glitt vom Schlüssel und fiel auf sein Knie. Das war die Frage, die er gehofft hatte, umgehen zu können. Er zog an seiner Zigarette, um einen Moment mehr Zeit zu gewinnen. Sollte er Gregor die Wahrheit sagen? Erfahren würde er sie ohnehin, aber jetzt? Er entschied sich dagegen. »Nicht gut. War eine idiotische Idee.«

»Habe ich von Anfang an gesagt.«

Daniel wollte nicht einlenken. »Aboutreika handelt, als wäre er nicht ganz bei sich.«

»Aboutreika, der Mann, der so aalglatt ist, dass jeder Zugriff aus Berlin daran scheiterte?« Gregor klang ungläubig. »Kann ich nicht verstehen. Wie äußert sich das?«

»Er verhält sich zwiespältig«, erklärte Daniel. »Einerseits ist er der aalglatte Typ, wie du sagtest, aber die meiste Zeit fällt er von einem Verhaltensmuster ins andere. Er ist aggressiv, droht, ist gewalttätig und dann verfällt er in ein hilfloses, unsicheres Schema, entschuldigt sich, ist irritiert, weiß nicht, was er getan hat.«

»Das ist nicht derselbe Mann, mit dem sich die Kollegen seit Monaten beschäftigen. Der Aboutreika ist entschlossen, weiß genau, was er tut, hinterlässt keine Spuren.« Er machte eine winzige Pause. »Bist du wirklich sicher?«

»Ja. Nach Ollis Berichten kommt er mir krank und ausgelaugt vor …« Daniel musste eine kurze Pause machen, weil eine alte Frau nicht mit ihrem Einkaufstrolley an seiner geöffneten Autotür vorbeikam. Sie nickte ihm dankbar zu. »Wenn ich Ollis SMS richtig gedeutet habe, hat Aboutreika auch versteckt sexuelle Annäherungen…«

Gregor schnappte nach Luft. »Sicher? Dann haben wir ihn wenigstens damit. Schick mir die Nachricht bitte weiter.«

Ganz so problemfrei ließ sich das nicht machen, es standen zu viele andere Informationen darin, die Daniel nicht mit ihm teilen wollte. »Mache ich gleich.«

»Wo bist du eigentlich?«, fragte Gregor.

Daniel kurbelte das Fenster runter, warf die Zigarette aus dem Wagen und legte die Hand um den Lenker. »Ich war eben kurz zu Hause.«

Gregor gab ein Seufzen von sich. »Und du machst wieder etwas Dummes, von dem ich nichts wissen soll.«

Das habe ich bereits hinter mir, dachte Daniel mit einem bitteren Gefühl. Laut sagte er: »Mit etwas Glück kann mir der Anwalt von Thomas Hoffmann noch mal einen Termin im Gefängnis verschaffen. Ich glaube, ich muss allein wegen Aboutreika noch einmal mit ihm reden. Jetzt ist so viel Zeit vergangen, dass er vielleicht wieder klar antworten kann. Damals stand er unter dem Einfluss dessen, was er getan hatte, und war nicht in der Lage, den Schock zu überwinden.«

»Verstehe.« Gregor klang nachdenklich. »Aber vielleicht solltest du ihn nicht mit dem überfahren, was du mir gerade über Aboutreika erzählt hast. Der Mann ist ziemlich jähzornig. Wer weiß, was er macht, wenn er von dem Verhalten seines einstmaligen Freundes gegenüber seinen Kindern erfährt?«

»Ich habe eine lebhafte Fantasie. So verrückt bin ich nicht.« Daniel war nicht sicher, ob er sein Versprechen halten konnte. Hoffmann gehörte nach seinem Gefühl nicht zu der Sorte Mensch, der man Halbwahrheiten erzählte.

»Dann meldest du dich bitte heute noch bei mir, sobald du wieder an deinem Schreibtisch im Präsidium sitzt, verstanden? Ich will einiges mit dir besprechen.«

»Ist gut. Bis später.« Daniel wartete noch einen Moment, aber Gregor verabschiedete sich nicht, sondern beendete das Gespräch einfach. Das war überhaupt nicht gut. Spätestens im Büro würde die Bombe platzen. Blieb nur zu hoffen, dass er am Ende des Tages immer noch Polizeikommissar war und nicht suspendiert wurde.

EIN LEBEN VOLLER ANGST

Oliver folgte Kerstin und Jamal am Tresen vorbei in den Flur zwischen den Behandlungsräumen. Ihm war bewusst, dass sie ihn nicht darum gebeten hatte, ihr würde es auch nicht recht sein. Aber Jamals Blick hatte sich in seine Seele gebohrt. Es war ein stummes Flehen, nicht allein zu bleiben. Ob er Angst hatte oder einen anderen Menschen brauchte, der sein Erlebnis teilte, konnte er nur erahnen. Unter diesen Umständen musste er ihn einfach begleiten.

Glücklicherweise hielten ihn weder die Schwester noch Kerstin auf, und der Arzt schien kein Interesse an seiner Gegenwart oder Abwesenheit zu haben.

Während er hinter ihnen herging, sah Oliver sich um. Die meisten der großen, dunkelroten Schiebetüren standen offen. Aus dem Augenwinkel bemerkte er Personen in blaugrünen Krankenhauszweiteilern. Einige wenige kümmerten sich um Patienten, andere bereiteten die Räume vor.

Er dachte wieder an den Kreis der Geister, die brav auf ihre Angehörigen gewartet hatten. Ein eigenartiges Gefühl war in ihm zurückgeblieben. Würde ihn diese Fähigkeit wirklich sein ganzes Leben begleiten? In einigen Fällen konnte er die lebenden Menschen nicht von den toten unterscheiden – und sie sahen in ihm den Wächter –, das würde irgendwann kräftig schiefgehen.

Oliver bemerkte, dass Kerstin angehalten hatte. Der Arzt winkte Jamal in den letzten Raum auf der rechten Seite. »Da hinein, bitte. Ich bin gleich wieder bei Ihnen.«

Kerstin nickte knapp und schob Jamal durch die Tür. Eine Schwester nahm ihn in Empfang. »Hallo. Du bist Jamal Aboutreika?«, hörte Oliver sie sagen.

»Ja«, antwortete Kerstin anstatt ihres Sohnes und klang keineswegs freundlich.

»Na, dann komm mal mit.« Die Schwester ignorierte sie und konzentrierte sich allein auf Jamal.

Kerstin blieb in der Tür stehen, und ihre Schultern hoben und senkten sich einmal, als würde sie seufzen.

Oliver schaute an ihr vorbei in den Raum mit dem hässlich beigen PVC und den gelben Schränken. Die Schwester, eine vielleicht dreißigjährige mollige Frau mit dunklem Zopf, dunkler Haut und einem wunderschönen Gesicht, half Jamal sich hinzulegen. Sie ging sanft mit ihm um, redete leise, fragte lauter belanglose Kleinigkeiten und lächelte zugleich. Oliver kam es vor, als strahlte sie von innen heraus. Er mochte sie auf Anhieb, und unter ihren kleinen Scherzen verlor Jamal langsam seine Scheu. Er entspannte sich etwas, verschränkte die Hände über dem Bauch und richtete sich auf der Liege aus. Es gefiel ihm offenbar, dass sie mit charmanten Worten sein schönes, langes Haar bewunderte. Die Situation nahm endlich eine positive Entwicklung.

Kerstin schaute über die Schulter. »Er scheint sich zu fangen«, sagte sie. Sie klang nicht aufgeregt, nicht einmal ärgerlich, sondern schlicht besorgt. »Was ist passiert?«

Stockend atmete Oliver ein. Er wusste, dass er mit ihr reden musste. »Ich glaube, wir sollten uns nicht hier darüber unterhalten.«

»Hat es«, sie zögerte und senkte den Blick, »etwas mit den Geschehnissen zu Hause zu tun?«

Mit ihren Worten hatte sie ihm bestätigt, dass sie bestens über die unheimlichen Ereignisse in der Villa Bescheid wusste. Sicher war sie auch über Nedas Verbleib im Bilde.

In Oliver ballte sich unterschwellige Wut, die sich als Druck auf seine Kehle legte. Jeder wusste irgendetwas, behielt es aber eisern für sich. Er schob die Hände in die Hosentaschen und ballte sie zu Fäusten. »Sandra Reus ist ihm passiert«, entgegnete er gezwungen leise. Er machte keinen Hehl aus seinem Ärger.

Kerstin ging auf den Tonfall nicht ein und blieb ruhig. Ihr Blick streifte Jamal und die Schwester.

»Geht es dir eigentlich mit all den Lügen und Geheimnissen gut, die du mit dir herumschleppst?«, fragte er.

Seufzend schüttelte sie den Kopf. »Überhaupt nicht. Wie auch?«

»Dann teil wenigstens das, was du weißt, denn ich ersticke langsam an allem, was um mich herum passiert.«

»Jemandem zu vertrauen, fällt mir schwer«, gestand sie.

Ihre Worte berührten ihn in ihrer schlichten, einfachen Wahrheit. Ihr war von jedem in ihrem Umfeld etwas angetan worden. »Das kann ich verstehen.«

Sie neigte den Kopf nach vorne und schwieg.

»Was ist mit Jamal, vertraust du nicht einmal ihm?«

»Doch, sicher, aber …« Sie drehte sich zu ihm um, und Oliver erkannte die Resignation in ihren Augen. »Wäre er in deinem Alter, könnte ich ganz anders mit ihm sprechen. Aber jetzt bleibt mir nichts anderes, als ihn zu beruhigen und zu beschützen, soweit es in meiner Macht steht.«

Soweit es in ihrer Macht stand – das sagte alles. Langsam begriff Oliver, dass sie dem kaum greifbaren Gebilde, das ihr Mann geschaffen hatte, völlig hilflos gegenüberstand. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter, und sie sah zu ihm auf. Alle Aggression war aus ihren Zügen verschwunden. Er versuchte, ihren Blick festzuhalten, und fuhr mit gesenkter Stimme fort: »Wusste Jamal, dass Sandra eine Erscheinung ist?«

Kerstin stöhnte. »Komm, lass uns ein Stück außer Hörweite gehen«, bat sie.

Oliver folgte ihr einige Schritte weiter in den Flur.

Zwischen zwei leeren Zimmern blieb Kerstin stehen und sah sich sichernd um. Erst danach flüsterte sie: »Er weiß nur rudimentär, was im Haus passiert, erzählt mir immer wieder, was er sieht, stellt viele Fragen und bekommt von mir keine zufriedenstellenden Antworten. Langsam verliert er sein Vertrauen in mich.«

»Du weichst ihm aus, er weiß einiges und reimt sich den Rest zusammen.«

»Er sieht viel, und Daphne …« Kerstin hob hilflos die Arme.

»Sie beschützt ihn«, riet Oliver. Etwas zögernd fügte er hinzu: »Ich habe schon oft gehört, dass Katzen Grenzgänger sind, und eure ist definitiv mehr als das. Sie hat mich gestern Nacht vor Sandra gerettet.«

Kerstins Kopf zuckte hoch. In ihrem Gesicht zeichnete sich Schrecken ab. »Aber Sandra Reus sollte doch nur tagsüber im Haus sein.«

Er fokussierte sie. War es klug, ihr von seinen Erlebnissen zu erzählen? Die Zeit, um seine Antwort gründlich abzuwägen, blieb ihm nicht. »Sie ist rund um die Uhr im Haus, nur nicht immer auf der Seite der Lebenden. Gestern Nacht bin ich auf Sandras Seite der Realität geraten und der Wiedergängerin, die sie ist, begegnet.«

»Was?« Sie fuhr zusammen, fasste sich aber gleich wieder. »Du kommst in die Zwischenwelt?«

»Die Welt hinter den Spiegeln«, sagte Oliver. »Ja. Vergiss nicht, dass ich schon tot war und es mir damit sehr viel leichter fällt.«

»Ach so.« Kurz flatterten ihre Lider, dann atmete sie durch. »Mach das bitte nicht mehr.« Sie legte ihm beide Hände auf die Unterarme, und in Oliver erwachte ein Gefühl von vertrauter, lang vermisster Wärme – wie damals vor Ellis Geburt. Er versuchte, den Kloß im Hals zu ignorieren, aber es fiel ihm schwer.

Kerstins Lippen zitterten leicht. »Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, aber ich glaube, je öfter du an diesem Ort bist, desto mehr bleibt von dir zurück, bis du unmenschlich bist.«

Unmenschlich, wiederholte er wortlos. Das beschrieb Ammans Verhalten. Er hatte den Boden verloren und entfernte sich rasend schnell von allem Leben.

Mit mehr Nachdruck sagte Kerstin: »Hörst du mir zu? Diese Daseinsebene entmenschlicht einen Menschen.«

So also entstehen die unterschiedlichen Persönlichkeiten eines Wächters, dachte er. Schwerfällig nickte er. »Ich habe eine vage Vorstellung von dem Gesamtkonstrukt dieser Welt.«

»Hast du? Auch von der Komplexität und Tiefe?«

Hatte sie eine Vorstellung dieser Welt? Woher wusste sie so viel darüber? Die Fragen behielt er lieber für sich und sagte stattdessen: »Das sicher nicht, aber ich weiß einiges.«

»Durch Silke?« In ihre Stimme hatte sich ein wesentlich kühlerer Ton geschlichen.

Er schüttelte den Kopf. »Für eine Weile war ich auf der anderen Seite; als einer von ihnen, nicht als Besucher.«

Sie presste die Lippen aufeinander. Was immer ihr auf der Seele lag, sie behielt es für sich. In ihrem Gesicht arbeiteten die Muskeln.

Oliver konnte sich nicht zurücknehmen, sacht strich er ihre Hände ab und ergriff sie. »Warum stehen wir uns nicht mehr nah genug, dass wir ehrlich zueinander sind?«

Der Druck ihrer Finger verstärkte sich. Um ihren Mund bildete sich ein bitterer Zug.

Er setzte erneut an. »Wenn wir alle unsere Erlebnisse zusammentragen, können wir vielleicht die Lücken in unserem Wissen schließen.«

»Das müssen wir«, bestätigte sie ernst und blinzelte. »Was Sandra Reus betrifft, weiß ich nur, dass sie uns gegenüber nie aggressiv aufgetreten ist, deshalb kann ich kaum glauben, dass sie an Jamals Zustand schuld ist. Sie ist freundlich, scherzt gerne und ist …« Kerstin brach ab. Sie wirkte noch etwas hilfloser und zugleich traurig.

»Sie hat nicht den Stellenwert von Neda, aber du magst sie.« Er wollte wissen, wie Kerstin auf den Namen ihrer Vertrauten und Freundin reagierte.

Sie nickte lediglich und sah ihn offen an. »Natürlich hat Sandra für mich nicht denselben Stellenwert. Für mich ist sie keine Freundin, aber ein liebes Mädchen. Neda war da ganz anders.«

»Kein Geschöpf, das sich für einige Stunden aus ihren Schatten wagt«, sagte er ernst. »Warum hast du zugelassen, dass Neda gekündigt wurde? War das nicht schrecklich für dich?«

»Doch, aber ich hatte kein Mitspracherecht. Sie war von einem Tag auf den anderen fort und Sandra da. Zuerst wollte ich mich mit dem Wechsel nicht abfinden, aber als ich gemerkt habe, wie unwohl sich Sandra fühlte, besonders in Ammans Gegenwart, musste ich einfach auf sie zugehen. Sie sagte mir, dass sie sich von ihm«, Kerstin senkte die Stimme weiter, »bedroht fühle und sie eigentlich sehr große Angst habe, obwohl er ihr nie etwas getan hat.«

»Sicher?«, fragte Oliver.

Ihr Blick ging an ihm vorbei. Stumm presste sie die Lippen aufeinander. Offenbar hegte sie Vermutungen, wenn sie nicht sogar den Hintergrund kannte.

»Weißt du, was aus Neda geworden ist?«

Knapp schüttelte sie den Kopf, aber er meinte, in ihren Zügen bitteres Wissen zu lesen. Konnte es sein, dass Amman Neda aus dem Weg hatte schaffen lassen, weil sie zu viel wusste? Oliver versuchte Kerstins Blick aufzufangen, doch sie senkte den Kopf.

»Hat Sandra es getan?«, wisperte Oliver.

»Nein.« Sie schien nicht davon überzeugt zu sein.

Er stützte die Hände in die Hüften. »Du weißt, dass sie hinter den Spiegeln ein Monster ist?«

Sie blieb ihm die Antwort schuldig. Aber Oliver ahnte, dass sie mit Sandra dasselbe Mitleid empfand wie er selbst. Ob sich das jetzt änderte?

***

Als Daniel den Wartebereich betrat, entdeckte er nirgends Olli. Dafür saßen Chris und Micha bei einem dunkelhaarigen Mädchen und unterhielten sich. Sie war deutlich älter als die beiden Jungs, vielleicht in Ollis Alter, und gar nicht der Typus Mensch, mit dem die beiden sich sonst abgaben. Sie fiel unter Chris’ Vorstellung von Tussi. Ihre südländischen, sicher sehr hübschen Züge verschwanden vollständig unter einem Panzer aus Make-up. Aber was hießen schon Äußerlichkeiten? Scheinbar war sie sehr lieb und herzlich, denn sie hatte eine Art zu lächeln, die ihre Züge zum Strahlen brachte.

Er trat näher und blieb stehen.

Mitten im Satz verstummte Micha und sah auf. »Da bist du endlich.«

Das Mädchen nahm die Gesprächspause, um in das Hanuta zu beißen, das sie festhielt. »Hi«, sagte sie, wobei sie den Mund mit einer Hand bedeckte und gleichzeitig die Augen niederschlug.

Daniel nickte ihr zu und setzte sich neben Chris. »Sind Jamal und Olli drin?«, fragte er und bekam ein dreiköpfiges Nicken.

»Und Jamals Mama«, fügte sie lächelnd hinzu.

»Du, Daniel«, begann Micha und sah sich im Raum um. Sein Blick blieb an der Frau hinter dem Tresen hängen. Unwillkürlich senkte er die Stimme: »Siehst du außer uns und der Schwester noch jemanden hier?«

Daniel musste sich zusammennehmen, um kein allzu dummes Gesicht zu machen. »Nichts Besonderes …« Trotzdem sah er sich um. Nein, keine Erscheinung, nichts. Er kniff die Lider zu Schlitzen und betrachtete das Mädchen. Sie kaute noch immer, erwiderte aber seinen Blick. Soweit er es beurteilen konnte, gab es auch bei ihr keine Überlagerungen. Er hob die Schultern. Just in dem Augenblick stach ihm ein Lichtstrahl in die Augen. Er stand auf und streifte die Lederjacke ab. Natürlich passierte nichts, wenn er genau hinsah. Als er sich wieder in den Sitz fallen ließ, bemerkte er noch einmal eine Reflexion in einem der hochglanzverglasten Bilder. Ihm blieb nur ein kurzer Moment, um zu erfassen, wer ihn anstarrte: Aboutreika!

Der Spiegeleffekt war fort und mit ihm die Erscheinung. Er spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich und ein unangenehmes Prickeln hinterließ.

»Was ist?«, fragte Micha. »Hast du sie etwa wieder gesehen?«

Die Worte brauchten etwas, um in seinem Kopf an die Stelle zu rücken, wohin sie gehörten. Nervös befeuchtete er die Lippen. »Wen meinst du mit sie?«

»Die Wartenden«, antwortete das Mädchen.

Irritiert zuckte er die Schultern. »Nein.«

»Sie sind auch nicht mehr da«, sagte Micha.

Verzagt seufzte sie. »Aber wir haben sie uns nicht eingebildet, oder, Micha?«

»Haben wir nicht«, murmelte er.

Chris drehte sich ganz zu Daniel um und verschränkte die Arme vor der Brust: »Aber du hast eben was gesehen. Du bist erschrocken.«

Stockend atmete Daniel ein und rieb sich die Lider. »Ja.«

»Wirklich?« Ihre Stimme überschlug sich und nahm einen schrillen Ton an. Sofort sah sie zu der Frau hinter dem Tresen und hielt die Hand vor den Mund. »Echt? Die sind doch weg.«

Daniel ignorierte sie. Vielleicht war Aboutreika in der Lage, jede spiegelnde Fläche für sich zu nutzen – und wenn er dieses Vielleicht weiterspann, hing es mit vermehrten Erscheinungen zusammen. Das würde das Phänomen erklären. In Kliniken gab es ohnehin eine Vielzahl von Geistern. Er suchte den Blick des Mädchens. »Ich bin Daniel, und du?«

»Samira, äh, Samira Mousavi.« Auf ihre Lippen stahl sich ein ehrliches und erleichtertes Lächeln.

Daniel beschlich eine Ahnung, weshalb. Er war ein Punk innerlich wie äußerlich. Als sie ihm die Hand reichte, war die Berührung angenehm warm und fest. Sie löste den Griff und senkte den Kopf. Irgendetwas lag ihr auf dem Herzen.

Mit ihren Wimpern überschattete sie die dunklen Augen, sie zögerte, doch dann sagte sie: »Michael hat erzählt, dass du dich ein wenig mit«, sie zierte sich auszusprechen, was ihr auf der Zunge lag, »bestimmten Sachen auskennst.«

Mit zusammengezogenen Brauen lehnte er sich zurück.

Sie seufzte und schaute auf ihre Finger, dann wandte sie den Kopf Micha zu. »Hoffentlich hast du mich nicht verarscht«, flüsterte sie beleidigt.

»Nein! Nie!«

Ein-, zweimal atmete sie durch, bevor sie Daniel direkt in die Augen sah. Es kostete sie Überwindung, auszusprechen, was immer sie sagen wollte. »Solches Zeug wie bei Supernatural«, wisperte sie aufgeregt. »Dinge, die unheimlich sind, die kein anderer sehen kann.«

Daniel hatte etwas in dieser Art erwartet. Dennoch verblüffte ihn die Offenheit des Mädchens, insbesondere, weil immer noch eine Schwester im Wartezimmer war. Die Frau hörte alles, weiß Gott, was sie dachte. Daniel warf ihr einen Blick zu, aber die Frau hatte den Kopf gesenkt, schrieb offenbar etwas ab. Er schaute Samira wieder an. »Erscheinungen?«

Bei seiner Frage richtete sie sich gerade auf. »Ja, Menschen, die andere nicht wahrnehmen.« Über ihre Lippen huschte ein erleichtertes Lächeln, das sofort wieder verschwand, als sie hinzufügte: »Einige von ihnen sehen ziemlich krass aus, übel zugerichtet.«

Daniel strich sich mit beiden Händen die Haare aus der Stirn. »Kennst du den Obdachlosen vom Warmen Damm?«, fragte er aus einem Impuls heraus.

Lebhaft nickte sie. »Der von der Bank am Weiher. Er hat ganz furchtbare Verletzungen im Gesicht.«

»Und er ist tot«, sagte er ungerührt.

Sie schaute ihn skeptisch an. Wahrscheinlich vermutete sie immer noch einen bösen Scherz. Doch dann seufzte sie und sank in sich zusammen. Ein schwaches Nicken folgte. »Ich weiß, hab’s in den News gelesen.«

Daniel stand auf und ging vor ihr in die Knie. Die Assistenz musterte ihn hinter dem Tresen, aber es war besser, sie zu ignorieren. Bevor er Samira wieder ansprach, versuchte er ihren Blick einzufangen. Sie wich ihm nicht aus, was durchaus gut war. »Hast du Angst, wenn du ihn siehst?«, fragte er.

Ohne zu zögern, schüttelte sie den Kopf. Trotzdem umklammerte sie den Boden ihrer Tasche. »Er ist nur ziemlich eklig.«

Daniel legte den Kopf schief. »Er hat auf der Straße gelebt.«

»Ist schon klar.« Sie hob die Schultern. »Was ich sagen wollte: Der Obdachlose ist nicht unheimlich, aber wenn mein Onkel auf Besuch ist … dann ist da etwas absolut Übles, das ihn begleitet …«

»Und was?«, unterbrach Chris sie neugierig, zog aber sofort den Kopf ein, als die Frau hinter dem Tresen ärgerlich zischte.

Samira wisperte: »Sei doch leiser. Ich hab’ keinen Bock auch noch von einem Seelenklempner untersucht zu werden.«

»Erzähl weiter«, forderte Daniel sie auf. »Was ist mit deinem Onkel?«