Grenzgänger - Meurer Tanja - E-Book

Grenzgänger E-Book

Meurer Tanja

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Beschreibung

Oliver lässt sich auf das riskante Unterfangen ein, Beweise für Amman Aboutreikas Schuld im Mordfall an seiner Familie zu finden. Gemeinsam mit seinen Brüdern Michael und Christian zieht er in die Aboutreika-Villa. Doch die Grenzen zur Geisterwelt sind in dem Anwesen ungewöhnlich dünn und verschwommen, sodass er schon bald orientierungslos zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten wandelt. Auch Ammans Pläne sind nicht durchschaubar, so zeigt dieser von der ersten Minute ihres Eintreffens an seine dunkle Seite. Schon bald schweben nicht nur Oliver und seine Brüder in Gefahr, sondern auch für Kommissar Daniel Kuhn und dessen Kollegen spitzt sich die Lage zu ...

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Seitenzahl: 548

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Ähnliche


Tanja Meurer

Inhaltsverzeichnis

Grenzgänger

Grenzgänger

Impressum

Über die Autorin

Grenzgänger

Tag 1: Schwarze Nebel

Der falsche Weg

Franz

Grenzen

Verlassen

Grenzgänger

Eiskalt

Archiv

Ruth

Erna

Diebstahl

Tag 2: Die Drohung

Flimmern

Gratwanderung

Hinter den Spiegeln

Zerrissen

Dialog

Getrieben

Die Neue

Väter

Söhne

Programm

Der Rebell

Freigeist

Wiener Klänge

Transberlin

Friedenszeit

Friedensboten

Friedensfreunde

More Gay Movie Moments

Tanja Meurer

Schattengrenzen 3

Mystery Thriller

1. Auflage

Herbst 2023

© Tanja Meurer, Grenzgänger

© HOMO Littera

Am Rinnergrund 14/5, A-8101 Gratkorn,

www.HOMOLittera.com

E-Mail: [email protected]

Covergestaltung: Rofl Schek

Bildnachweis:

Bloody background © holwichaikawee – Stock.adobe.com

Scream of horror © DRasa – Stock.adobe.com

Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages gestattet.

ISBN Print: 978-3-99144-028-4

ISBN PDF: 978-3-99144-029-1

ISBN EPUB: 978-3-99144-030-7

ISBN PRC: 978-3-99144-031-4

Über die Autorin

Tanja Meurer wurde in Deutschland geboren, absolvierte die Ausbildung zur Bauzeichnerin mit Schwerpunkt Hochbau und lebt heute mit ihrer Frau und mehreren Vierbeinern in Wiesbaden. 1997 veröffentlichte sie ihren ersten Roman. Vorwiegend schreibt sie im schwul-lesbischen Bereich und ist als freie Illustratorin für verschiedene Magazine, Internetseiten und Verlage tätig.

Veröffentlichungen bei HOMO Littera:

Der Rebell, Schattengrenzen 2, Mystery Thriller 2018

Weitere Informationen auf www.tanja-meurer.de, www.facebook.com/Schattengrenzen sowie HOMO Littera.

TAG 1: SCHWARZE NEBEL

Daniel stützte sich mit einer Hand an der Fensterlaibung ab, hielt mit der anderen die staubige Gardine fest und starrte in die gekieste Auffahrt. Aboutreikas eleganter Wagen stand vor der Villa. Von irgendwo unterhalb des überdachten Eingangsbereiches drang Christians Stimme herauf. Was er sagte, verstand er nicht. Kurz sah er den Arm des Jungen, der die Reisetaschen am Fuß der Stufen abstellte. Olli nahm sie entgegen und verstaute sie im Kofferraum. Aboutreika beobachtete sie, beide Arme vor der Brust verschränkt. Er spielte mit seinem Autoschlüssel, tat aber nichts, um den Jungen zu helfen.

Mit Opa auf dem Arm trat nun auch Michael in sein Blickfeld. Er hielt sich abseits. Die Häsin hatte sich auf seinem Arm zu einer Fellkugel zusammengeschoben, den Kopf hochgereckt und die Ohren angelegt. Daniel meinte, sogar das Zucken ihres Näschens zu sehen und spürte ihren bittenden Blick auf sich. Er war viel zu weit entfernt und sicher bildete er sich die allzu menschliche Reaktion ein, dennoch rann ihm ein Schauder über den Rücken. Unvermittelt schoss ihre Vorderpfote vor und legte sich auf Michas Schulter. Erschrocken versteifte Daniel sich.

»Bleib doch mal ruhig«, schimpfte Micha und griff unbeholfen nach. Opa fügte sich. Ihr Blick glitt von ihm ab. Sanft schmiegte Micha seine Wange gegen die großen, weichen Ohren und flüsterte ihr etwas zu. Was immer er ihr gesagt hatte, zeigte eine weitere sehr menschliche Reaktion. Opa schien zu schnauben. So kraftlos, wie sie in sich zusammensank, wirkte sie besiegt.

Daniel wurde nervös. Ihr Verhalten steigerte das ängstliche Brennen in seiner Brust. Über ihm knackte gleichzeitig die Gardinenstange in der Verankerung. Staub rieselte auf ihn nieder. Erst jetzt bemerkte er, dass er an der Troddel des Brokatvorhangs zupfte. Leider konnte er sich nicht einfach auf Wunsch beruhigen. Seine Nerven waren angespannt, und ihm war übel von dem Verlustgefühl. Er wollte Olli nicht loslassen, selbst für wenige Tage nicht.

Chris reichte seinem großen Bruder die letzten Taschen, bevor sie zu zweit die Bücherkiste in den Jaguar hoben. Als der Kofferraumdeckel zuschlug, schob Olli seinen kleinen Bruder zur Eingangstür.

Daniel hörte die vielen Personen durcheinanderreden. Die beiden hellen, kindlichen Stimmen der Zwillinge durchbrachen immer wieder die sanfte, leise von Lukas und die jugendlich maskuline Ollis. Chris rief etwas.

Daniel hatte in den vergangenen Tagen gelernt, die Zwillinge voneinander zu unterscheiden. Schon Tonfall, Intensität und Leidenschaft charakterisierten die beiden Jungen. Der liebenswerte, etwas zu passive Micha würde ihm fehlen, und zugleich riss auch die überspannte Art von Chris, seine Hektik und gedankenlose Wildheit, ein Loch in seine Gefühle. Sosehr ihm die Kinder manchmal den Nerv nahmen, er wollte sie beide festhalten und nicht loslassen.

Keuchend atmete er aus und konnte gegen den Druck in seiner Brust nur mühsam Luft holen. Er musste doch etwas unternehmen …

Wieder gellten die beiden Kinderstimmen durch das Haus. In gewohnter Weise rief Olli sie zur Ordnung.

Daniel glaubte, zerrissen zu werden. Das, was die drei Brüder taten, war Wahnsinn. Alles in ihm schrie danach, seinem Gefühl nachzugeben und die Jungen hierzubehalten. Es würde andere Wege geben, den Ägypter zu überführen. Impulse zuckten durch seine Finger. Er krallte sich fest. Durfte er eingreifen?

Ja, er musste einfach!

Mühsam zwang er den Wunsch zurück.

Als Olli wieder in sein Sichtfeld trat, hielt dieser den Blick gesenkt. Micha reichte ihm Opa. Sie stieß mit ihrem Kopf unter Ollis Jacke, als wollte sie sich verbergen. Sacht befreite er sie und streichelte ihren Rücken in langen Zügen. Opa wehrte sich, wenn auch nicht mit allzu großer Kraft. Ohne Aboutreika anzusehen, ließ Oliver sich mit ihr im Arm auf den Beifahrersitz fallen. Was mochte er fühlen, die gleiche Einsamkeit und das Gefühl verloren zu sein?

Gequält stöhnte Daniel auf. »Sieh mich an …«, wisperte er, biss sich aber sofort auf die Unterlippe. Den Fehler durfte Olli unter keinen Umständen begehen, denn es bestand ein kleiner Rest Gefahr, dass Aboutreika ihn bemerkte und als einen der Kommissare identifizierte.

Daniel ballte die Fäuste. Ollis eigenmächtige Entscheidung, Aboutreika auszuspionieren, war schlicht Dummheit und brachte sie in Gefahr.

Wieder durchzuckte ihn der Wunsch loszustürzen, setzte seine Glieder unter Feuer … Ihm blieb noch die Möglichkeit, Olli aufzuhalten, auch wenn er damit alles gefährdete, was sie bisher erreicht hatten. Es wäre so einfach, er müsste nur nach unten gehen, die Autotür aufreißen und dem Ägypter verdeutlichen, dass er keinen der Hoffmann-Brüder bekäme.

Die Schlichtheit des Gedankens versetzte ihn in Euphorie. Nichts hielt ihn mehr! Er stieß sich vom Fensterbrett ab und eilte zur Tür. Als er sie aufdrückte und über die Brüstung sah, begegnete er Lukas’ alarmiertem Blick, der unmerklich den Kopf schüttelte.

Etwas in ihm brach auf und flutete sein Herz mit dumpf pochender Schwermut, die sich in seine Seele fraß. Er glaubte, den Boden auf sich zurasen zu sehen. Natürlich war das Unsinn, dennoch wankte er leicht, als er zurückwich – im buchstäblich letzten Moment, wie er bemerkte, denn Aboutreika betrat die Halle und reichte Lukas die Hand.

»Auf Wiedersehen, Herr George, und vielen Dank, dass Sie so gut auf die drei Jungen aufgepasst haben.«

Lukas schwieg.

Aus seiner Deckung heraus erkannte Daniel, dass sein Vorgesetzter sich Aboutreikas Berührung entzog und mit einer Hand zum Ausgang wies. Der Ägypter zögerte, musterte Lukas kurz, bevor er sich zum Gehen wandte. Er verließ sein Sichtfeld. Aboutreikas Schatten huschte über den Boden, wurde unnatürlich lang und zerfaserte …

Daniel schnappte unwillkürlich nach Luft. Eiskalter Schrecken ergoss sich in seine aufgewühlten Gefühle. Hoffentlich hatte er sich das nur eingebildet. Er zwang sich, ruhig stehen zu bleiben, lauschte auf die Stimmen und Schritte.

»Ich werde mich immer wieder mal nach den Jungen erkundigen«, hörte Daniel Matthis sagen. Es klang gepresst.

»Das können Sie, Habicht. Aber glauben Sie mir, das ist nicht nötig.« Aboutreikas dunkle, volltönende Stimme klang selbstsicher und herablassend. »Wissen Sie, Herr Kommissar, in einer richtigen Familie wie der meinen sind Oliver, Michael und Christian bestens aufgehoben, selbst wenn ein nicht zu leugnendes Verwandtschaftsverhältnis zwischen Ihnen und den Kindern besteht, Herr Kommissar.«

Daniel zuckte vor Schreck zusammen. Hatte das Dreckschwein Matthis bloßgestellt? Er beobachtete Lukas’ Reaktion, doch der blieb ruhig, ließ sich nichts anmerken. Ob Matthis sich irgendwann, in einem unbedachten Augenblick, Aboutreika anvertraut hatte?

Unsicher trat Daniel näher an die Brüstung und neigte sich nach unten. Tatsächlich regte sich Lukas in keiner Weise. Die bekannten Anzeichen von Ärger fehlten. Daniel presste die Lippen aufeinander und huschte zur Treppe. Alles in ihm drängte danach, den Abstand zu Oliver zu verringern.

Bevor er den Podest des ersten Stocks erreichte, hörte er den sonoren, leisen Motor des schweren Fahrzeugs. In seiner Brust krampfte sich alles zusammen. Er beschleunigte seinen Schritt. Als er die Halle erreichte, wollte Lukas ihm den Weg versperren, aber er wich ihm aus, sprang die Stufen im Windfang hinab und rannte auf den Vorplatz.

Zu spät. Das schwere Tor schloss sich bereits. Lediglich der Geruch nach Abgas und nassem Herbstlaub lag in der Luft.

Leere überschwemmte seine Gefühle, ließ den Moment gefrieren, nur um den erwarteten Schmerz mit aller Kraft wieder zurückzuholen. Daniel stöhnte und krümmte sich zusammen.

»Nein«, flüsterte er. »Olli …«

***

Weiche, feuchte Lippen berührten Olivers Wange.

»Willkommen zu Hause, Tom«, raunte Amman dicht an ihm. Sein Mund streifte sein Ohr.

Der Kerl kam ihm deutlich zu nah! Ein Finger strich an seinem Hals zur Schulter herab, und Ammans Hand legte sich besitzergreifend in seinen Nacken. Mit der anderen umfasste er seinen Oberarm, rieb ihn und schob sich unter den Ärmel. Es fehlte nicht viel, und das Schwein würde ihn küssen.

Olivers Faust schloss sich, zuckte, er wollte sie Amman ins Gesicht rammen, aber er konnte sich nicht rühren. Der Widerwille schnürte ihm die Kehle zusammen.

Etwas rann aus seinem Augenwinkel. Erst jetzt realisierte er die Tränen in seinen Wimpern, die ihn wie durch einen Schleier sehen ließen. Mühsam wehrte er sich dagegen – Schwäche zu zeigen, wäre sein Untergang. Er presste die Kiefer aufeinander, bis die Muskeln zu brennen begannen. Die Stelle, an der Amman seine Wange geküsst hatte, wurde kalt. Aus seinem Magen stieg ein flaues Gefühl auf, und ihm wurde schlecht. Ammans Nähe glich einer obszönen Berührung.

Als hätte Amman seinen Ekel gespürt, packte er zu. Mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften stemmte Oliver sich gegen den eisernen Griff. Er hörte, wie die Nähte seines Shirts knackten, doch Amman krallte sich in den Stoff und schlug die Finger in seinen Nacken. Instinktiv duckte Oliver sich unter Ammans Armen hindurch, egal ob sein Shirt zerriss oder er ein paar Haare verlor, Hauptsache, es gelang ihm Abstand zu gewinnen.

Es gelang ihm nicht. Mit einer harten Bewegung zerrte Amman ihn an den Locken zurück. Es war wie in der Blutnacht, als Tom in gejagt hatte …

Etwas in Olivers Verstand verfinsterte sich, überflutete ihn. Mit einem Schrei wirbelte er herum, schlug mit dem Ellbogen nach oben aus und zuckte zusammen. Scharfer Schmerz fuhr über seinen Musikantenknochen in seinen Arm. Was immer er getroffen hatte, es war nicht Ammans Gesicht gewesen.

Als er mit der Ferse gegen ein Hindernis prallte und strauchelte, verlor er den Gedanken. In der Sekunde rutschte sein Rucksack von der Schulter. Intuitiv umklammerte er den Träger und versuchte sich zugleich abzufangen. Unter seinen Fingern spürte er kaltes Metall und Holz.

Der Handlauf!, schoss es ihm durch den Kopf. Da bohrte sich bereits die Geländerschnecke mit der Endkugel in seinen Rücken – der Aufprall raubte ihm die Luft, doch der Schmerz blieb aus. Vor seinen Augen tanzten Lichtblitze.

Er vernahm einen Schritt – Amman! Der Ägypter stand ihm unerwartet auf Armreichweite gegenüber.

Ohne ihn aus den Augen zu lassen und eng gegen den Handlauf gedrängt, schob Oliver sich die ersten Stufen hinauf. Welche Fluchtmöglichkeiten hatte er?

Amman verfolgte jede Bewegung, lauerte, wartete auf den richtigen Augenblick.

Oliver kniff die Augen zu Schlitzen und versuchte sich zu konzentrieren, doch seine Herzschläge erschütterten ihn. Trotz des Rauschens seines Blutes hörte er das hechelnde Keuchen Aboutreikas. Dessen Nasenflügel blähten sich wie die eines Tieres. Fast schien es, als würde er wittern. Um den Mund zuckte ein Muskel. Er zog die Lippen zurück und fletschte die Zähne. Zugleich entrang sich ein Grollen aus seiner Brust.

Oliver schluckte trocken. Ammans Gesicht war eine schweißglänzende Grimasse. Die Augen glommen auf, schwarzer Nebel verdichtete sich um ihn. Er ging in die Knie, zum Sprung bereit. Oliver wagte kaum, den Blick abzuwenden, trotzdem musste er einen Ausweg finden … eine Waffe. Er packte seinen Rucksack, bereit, ihn Amman ins Gesicht zu schleudern, um wenigstens etwas Zeit zu gewinnen. Blind suchte er festen Halt auf der Treppe und tastete mit dem Fuß nach der nächsthöheren Stufe – um zum passenden Zeitpunkt herumzufahren und loszurennen.

Ammans Hände schlossen sich zu Fäusten, er duckte sich, die Spannung in seinem ganzen Körper nahm zu.

Ein nervöser Impuls jagte ein unkontrolliertes Beben durch Olivers Muskeln. Im gleichen Moment schrie oben jemand. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, dass etwas durch die Luft schoss und Amman zwischen Kopf und Schulter traf. Aboutreika gab einen eigenartig hohen Laut von sich. Er taumelte.

Das war die erhoffte Chance! Oliver holte mit dem Rucksack aus und schlug zu. Damit hatte Amman wohl nicht gerechnet. Keuchend strauchelte er und verlor den Halt. Der Nebel verwehte, und er stolperte und fiel.

Oliver bemerkte abermals eine Bewegung aus dem Augenwinkel. Neben ihm stand eine der Vitrinen. Eine Reflexion auf Glas?

In der Spiegelung – Spiegelung? – regte sich etwas Riesiges, Unförmiges, das sich schlangenartig wand. Doch er hatte keine Zeit, sich darauf zu konzentrieren. In seinem Kopf fraß die Angst jeden klaren Gedanken auf. Er wirbelte herum, sprintete die breite Treppe hinauf und rannte über die Galerie.

Kreidebleich, aber entschlossen erwartete Christian ihn an einer Zimmertür. Seine Brust hob und senkte sich hektisch. Hinter ihm huschte Michael zur Brüstung und starrte hinunter.

»Er ist wieder auf den Beinen!«, rief er. Nervös leckte er sich über die Lippen und umklammerte das Geländer.

Kurz wagte Oliver einen Blick und prallte sofort zurück. Amman hatte sich wieder auf Arme und Füße gestemmt. Er hielt den Kopf gesenkt, schüttelte sich unkontrolliert und stöhnte leicht. Die Nebel verflogen, sickerten in den Stoff des Jacketts. War der Spuk vorbei?

Obwohl alles in Oliver zur Flucht drängte, blieb er an der Balustrade stehen. Unsicher befeuchtete er seine ausgetrockneten Lippen und strich sich die zerzausten Locken aus dem Gesicht. Amman blieb auf wackligen Beinen und mit gesenktem Kopf stehen. Es schüttelte ihn nach wie vor, als liefen Stromstöße durch seinen Körper. Was passierte mit ihm?

Langsam hob Amman das Kinn. Soweit Oliver es erkennen konnte, blinzelte er, als hätte er etwas im Auge. Sein Verhalten hatte sich verändert, er wirkte nicht mehr gefährlich, sondern angreifbar: Der Ausdruck der zerstörerischen Aggression fehlte. Unsicher wagte Amman einen kleinen Schritt nach vorne und tastete desorientiert nach Halt, aber seine Finger glitten am Geländer ab. Er knickte ein.

Oliver hatte das Gefühl, dass Amman nicht einmal wusste, wie er hierhergekommen war. Beeinflusste der schwarze Nebel sein Bewusstsein so stark? Aber inwieweit konnte er der Situation trauen?

Achtsam ließ er seinen Rucksack sinken, legte eine Hand auf die Brüstung und beobachtete Aboutreika, jederzeit bereit, mit Chris und Michael zu fliehen.

Erschöpft wandte Amman den Kopf. Sein distinguiertes Erscheinungsbild hatte stark gelitten. Der Jackettärmel war an der Naht eingerissen, und der Krawattenknoten hatte sich gelockert. Mit einer Hand strich er über seine Wange und zuckte zusammen. Die Stirn in Falten gelegt betrachtete er die leicht blutigen Fingerspitzen. Sein Blick glitt nach unten. Neben ihm lag Christians aufgerissener Rucksack. Schulbücher, Ringbuch und Ordner hatten sich über den Marmorboden ergossen.

Amman straffte sich mühsam, zog die Kleidung leidlich gut zurecht, richtete die Krawatte und fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar. Trotzdem entkam er seiner eigenen Verwirrung nicht. Oliver fragte sich, ob er sich an das, was er getan und gesagt hatte, erinnern konnte. Er bezweifelte es fast. Unschlüssig schaute er zu seinen Brüdern. Aus angstweiten Augen starrte Chris ihn an und machte eine Kopfbewegung über die Schulter und in den Raum hinein. Seine Lippen bebten. Oliver wandte sich Michael zu, der auf der Galerie stand und sich langsam vorwagte. Er zog skeptisch die Brauen zusammen. In seiner ganzen Haltung lag noch immer Anspannung. Nervös nagte er an der Unterlippe, achtete nur auf Amman. Dann wich er von der Brüstung zurück. Sein Gesicht hatte alle Farbe verloren.

Oliver spürte ein wohlbekanntes Kribbeln im Nacken. Er fuhr herum. In die Gestalt des Ägypters war unerwartet Leben gekommen, er sprintete die Stufen herauf.

Als hätte jemand Eiswürfel über ihn ergossen, zuckte Oliver zusammen. Er packte Michaels Arm und stieß ihn an Chris vorbei in das Zimmer. »Rein da!«, rief er und erschrak über seine panisch hohe Stimme. Ihn drohte die alte Angst erneut zu übermannen.

Chris huschte wie ein Schatten vor ihm in den Raum und zog ihn mit sich. Seine Hand war schweißfeucht. Oliver befreite sich und warf die Tür ins Schloss. Instinktiv tastete er nach dem Schlüssel – aber es gab keinen. Ihm wurde heiß. Schweiß perlte über seine Stirn. Es war alles wie in der Blutnacht. Die Teppiche dämpften Ammans Schritte, sodass er nicht sagen konnte, wie nah der Ägypter ihnen bereits war. Gehetzt sah er sich um. Das Zimmer war schlicht, aber teuer eingerichtet. Da sich die Angeln im Raum befanden, gab es rein gar nichts, mit dem er die Klinke verkeilen oder die Tür effektiv zustellen konnte. Gequält stöhnte er auf und stemmte sich mit dem Rücken gegen das lackierte Holzblatt. Vielleicht konnte er Amman eine Weile aufhalten.

Michael hatte Opa hochgenommen und eilte um ein breites, unbezogenes Futonbett zum Fenster. Mit einer Hand nestelte er an dem antiken Metallgriff, bis er den linken Flügel öffnen konnte. Angespannt starrte er hinaus und beugte sich weit vor, seufzte dann aber frustriert. »So eine Scheiße!«

Oliver beobachtete ihn besorgt. Wahrscheinlich kamen sie gar nicht in den Garten hinunter. Ganz in der Nähe musste sich aber die offene Terrasse an das eiserne Jugendstiltragwerk des Wintergartens anschließen.

»Was ist denn?«, fragte Chris atemlos in Olivers Überlegungen.

Kopfschüttelnd zog Michael sich zurück. »Unter uns ist das Dach vom Wintergarten. Ich glaube nicht, dass uns das alte Glas aushält.« Als er sich umdrehte, sprang sein Adamsapfel über dem Kragen.

Oliver stöhnte auf. Das konnte nicht das Ende sein. »Vielleicht seid ihr beide leicht genug, um auf den Streben…«

»Oliver!« Amman pochte mit der Faust gegen die Tür.

Jede Erschütterung ging ihm durch Mark und Bein. Er biss die Zähne aufeinander und kniff die Augen zu Schlitzen. Mit seinem ganzen Gewicht presste er den Rücken gegen die Kassetten und suchte nach festem Halt auf dem glatten Parkett. Im Gegensatz zu Tom damals unternahm Amman aber nicht den Versuch, die Tür zu öffnen. Dennoch hatte Oliver das Gefühl, der Einzige zu sein, der zwischen seinen Brüdern und einer unabwägbaren Gefahr stand. Allein deswegen verließ er seinen Posten nicht.

Chris kletterte auf das Fensterbrett und schaute hinaus. »Micha hat recht, das kannst du knicken. Wir sind ganz sicher zu schwer dafür.«

Abermals traf ein Faustschlag das Türblatt. »Lasst den Unsinn!«

»Versucht es!«, befahl Oliver leise, aber scharf.

Micha fuhr zusammen und suchte nach dem Blick seines Zwillings. Mit zusammengepressten Lippen nickte Chris und schwang die Beine nach draußen, dann zögerte er. »Und du?«, fragte er über die Schulter.

Verzweifelt flüsterte Oliver: »Ich komme schon klar, macht euch keine Sorgen.«

»Was macht ihr da drin?!«, schnappte Amman ärgerlich. Erneut hämmerte er gegen die Tür. »Aufmachen! So benehmt ihr euch bei mir nicht!«

Chris zögerte, befeuchtete sich die Lippen und kletterte zurück in den Raum.

Nervöse Panik überschwemmte Oliver. »Verschwindet!«, schrie er ihn an.

Als Christian wieder festen Boden unter den Füßen hatte, verschränkte er die Arme. »Wir alle, oder keiner.«

»Sehe ich nicht anders«, pflichtete Michael ihm bei und umarmte Opa noch fester. »Wir haben dich schon einmal verloren. Das halten wir nicht noch einmal durch.«

Die Intensität der Worte traf Oliver. Etwas in ihm wurde weich, schmolz. Er schloss die Augen und legte den Kopf zurück. Vielleicht war alles verloren, aber er hatte seine Brüder. »Nur zusammen«, murmelte er, als er die Lider hob und in die beiden ernsten Gesichter sah, in denen sich nackte Angst widerspiegelte. Er stieß sich ab, trat in den Raum und breitete die Arme für Chris und Micha aus, erwartend, dass Amman sofort in das Zimmer platzen würde.

Aber nichts geschah. Irritiert sah Oliver über die Schulter.

Draußen raschelte Stoff. »Oliver, ich erwarte dich in fünf Minuten in meinem Büro!«, sagte Amman scharf.

Kaum waren die Schritte verklungen, löste Michael sich und huschte mit Opa zur Tür. Die Hinterläufe der Häsin strampelten hilflos, er griff nach.

Oliver merkte, wie ihm die Knie weich wurden. Er klammerte sich an Chris, und der dünne Körper in seinem Arm bebte. Sein kleiner Bruder zitterte vor Angst. Jetzt hielten sie sich aneinander fest, aber würde der Kleine sich zurückziehen, gab es wenig, das ihn noch auf den Beinen hielt. Gezwungen ruhig atmete Oliver ein und aus. Kalter Schweiß hatte sich in seine Brauen gesetzt und tropfte ihm in die Augen. Kurz musste er Chris loslassen, um die Nässe wegzustreichen. Er taumelte einen Schritt zurück, aber Chris griff nach seinem Ärmel. Sprechen konnte sein kleiner Bruder nicht, aber aus geröteten Augen schaute er auf. Auch seine Lippen zitterten leicht.

Oliver ballte die Fäuste und versteifte sich, bis der Boden unter seinen Füßen aufhörte zu wanken. Sacht streichelte er Christians Haar und zwang sich ein Lächeln auf. Wahrscheinlich misslang es. Chris’ Mundwinkel zuckten nach oben, unsicher, wie er fand. Dennoch half es. Er zog Chris wieder an sich und küsste sein Haar. Fest umklammerte sein Bruder ihn und vergrub seinen Kopf an ihm.

Mit einem Blick über die Schulter erkannte Oliver, dass auch Micha das Ende seines Fassungsvermögens erreicht hatte. Er lehnte mit geschlossenen Augen an der Tür, hektisch rote Flecken im Gesicht. Opa hatte sich aus dem Staub gemacht. Im selben Moment stieß Micha sich von der Tür ab und lehnte sich ebenfalls an ihn.

Oliver versuchte sich zu sammeln. Wie konnte das nur passieren? Warum war nun auch Amman von den schwarzen Nebeln, dem blanken Hass besessen?

Am Rande seines Bewusstseins zupfte ein leiser Gedanke. Kam der Hass nicht durch die Empuse? Sie infizierte doch jeden, der sich zu lang in Walters Haus aufhielt … Oder steckte dahinter vielleicht viel mehr, als er bisher wusste? Würde er je Antworten darauf finden?

Das alles war zu viel. Ihm wurde schwindelig. Im Grunde wusste er nicht, wie es zu dem Persönlichkeitswechsel gekommen war. Ihm war nur klar, dass ohne das mutige Eingreifen seiner Brüder sicher Schlimmeres passiert wäre. Wenn sich Amman immer wieder in dieses Monster verwandelte …

Es war lebensgefährlich, sie befanden sich auf fremdem Terrain, in einer gefühlskalten Umgebung. Wie konnte er Michael und Christian vor Amman schützen? Er hatte rein gar keine Chancen gegen den Mann, wenn er in einer ungeschützten Situation auf sie losging; wenn sie schliefen … Was passierte, wenn der schwarze Nebel Ammans letzten Rest Menschlichkeit verschlang und er vollendete, was Tom angefangen hatte?

Oliver presste die Lippen aufeinander und versuchte gegen den erstickenden Kloß in seinem Hals anzukämpfen. Sie mussten verschwinden. Irgendwie würde er seine Brüder aus dem Haus bringen, denn Amman musste auch arbeiten gehen, war nicht rund um die Uhr wach – eine Chance. Er musste sich allerdings eingestehen, dass er als Detektiv vom ersten Moment an jämmerlich versagt hatte. So entsetzlich hatte er sich noch nie überschätzt. Seitdem sie das Haus betreten hatten, war sein Vorhaben, Daniel Informationen zu besorgen, in eine gefährliche Schieflage gekommen. Ammans Pläne ließen sich nicht durchschauen und hier, in seinem Sanctum, zeigte er seine dunkle Seite. Sein Verhalten unterschied sich kaum von Toms. Wie sollte er jetzt mit Amman umgehen?

Bitter schob Oliver den Gedanken von sich und löste sich vorsichtig von seinen Brüdern. Micha zog sich zurück, Chris krallte seine Hand allerdings in seinen Pulli. Mit gesenktem Kopf stand er da.

Oliver befreite behutsam die Finger. »Ich will nur Opa suchen …«

»Wir bleiben doch nicht ernsthaft hier?!«, krächzte Michael atemlos. »Das ist doch nicht drin!«

Chris’ Kopf zuckte hoch. Sein Kinn bebte, als er rief: »Dieser Irre bringt uns um! Das ist doch genau, was du bei Papa gesehen hast, Olli! Danach hat er Mama, Elli und Marc abgestochen!«

Eisiger Schrecken fuhr Oliver durch die Glieder. Bei der Lautstärke stand Amman gleich wieder vor der Tür. Das musste er unter allen Umständen verhindern. »Ruhig«, zischte er und wedelte mit beiden Händen. »Ich habe nicht vor, hier alt zu werden.«

Mit zurückgezogenen Lippen flüsterte Micha: »Das lässt Amman gar nicht zu. Der killt uns vorher.«

Oliver ging darauf nicht ein. Er kniete nieder und schaute in den Ecken nach Opa. In Michas Rucksack bewegte sich etwas. Tatsächlich hatte sich das große Tier zwischen Heften, Büchern und einem Schal vergraben, sodass sie keinen Ausweg mehr fand. Geduldig begann er das Chaos auszuräumen. Durch Opas Strampeln verstrickte sie sich immer tiefer in die rot-weiße Wolle und bohrte mit ihren stumpfen Krallen Löcher in die Buchstaben von 1. FSV MAINZ 05.

»Hey, ruhig!«, herrschte er sie an.

Opa erstarrte. Vielleicht lag es an seinem Tonfall oder der Lautstärke. Es gelang ihm endlich, sie zu befreien. Sie plumpste unbeholfen in den Rucksack zurück, dann sprang sie mit einem Satz heraus und klopfte fast ohne Unterlass mit ihren Hinterläufen. Ihr gesträubtes Fell und die hervorquellenden Augen waren ein Indikator dafür, dass sie entweder völlig panisch war oder immer noch Gefahr bestand.

Sofort schaute Oliver über die Schulter zur Tür. Unter dem Spalt erkannte er einen dunstigen Lichtstreifen, schattige Bewegungen … Er hielt die Luft an. Amman konnte es nicht sein, denn die Schritte waren viel zu kurz und die Füßchen zu winzig.

Jamals Katze, schoss es ihm durch den Kopf. Daphne schlich durch das Haus.

Trocken schluckte er und wandte sich Opa zu. Sie suchte unter dem viel zu flachen Futon panisch nach Schutz. Oliver musste an den Moment denken, als Matthias mit ihr auf dem Arm in Walters Wohnung kam. Damals war sie genauso angsterfüllt gewesen.

Als er nach ihr greifen wollte, wich sie aus und suchte in der Ecke zwischen Bett und Nachttisch Zuflucht. Lediglich die Blenden verhinderten, dass sie sich gänzlich verkriechen konnte. Erneut streckte er ihr beide Hände hin, aber sie drängte sich in die Kehle zwischen den Möbeln. Natürlich zogen ihre Krallen Striemen in die Politur des Parketts.

Oliver gab auf. Sicher war es besser, sie in Ruhe zu lassen. Wenn er ehrlich war, tat es weh, zu sehen, dass sie sogar ihn scheute. Dabei war er davon ausgegangen, dass es zwischen ihnen eine ganz besondere Verbindung gab. Er stemmte sich hoch und wandte sich seinen Brüdern zu.

»Seit wann ist sie so …«, begann Chris. »Normalerweise hat sie nie Schiss.«

Innerlich stimmte Oliver ihm zu, sagte aber nichts, denn seine Gedanken und Gefühle vermischten sich zu greifbarer Sorge. Ihm fiel wieder ein, wie sie sich in Walters Treppenhaus benommen hatte. Er konnte ein Schaudern nicht unterdrücken. In einem Gebäude voller Geister konnte eigentlich niemand leben, und dennoch taten es die Leute, unbehelligt von all den unheimlichen Dingen.

Er befreite sich von dem Gedanken. Die Probleme mit der Empuse hatten Vorrang. Besorgt betrachtete er seine Brüder.

Sie hatten gerade dasselbe gesehen wie er. Ihnen war bewusst, dass sie sich in einer mehr oder minder realen Gefahr befanden. Hier konnten sie auf keinen Fall bleiben. Aber wohin sollten sie? Es gab keinen Platz für sie, kein Zuhause. Außerdem brauchten sie Beweise, um Amman hinter Gitter zu bringen.

Oliver strich sich das Haar zurück und fächelte sich Luft zu. Mit dem Finger fuhr er sich danach unter dem Kragen seines Shirts entlang.

Chris versuchte ihn am Arm zu sich herumzuziehen. Die Nähte knackten, doch er regte sich nicht. »Das war eine Warnung«, sagte Chris scharf. Seine Mundwinkel zuckten, als er wesentlich unsicherer hinzufügte: »Olli, der bringt uns wirklich noch um!«

»Kann er nicht so einfach«, entgegnete er. Während er die Worte aussprach, sickerte die Sicherheit in seinen Kopf, dass es sich tatsächlich so verhielt. Er spürte der Eingebung nach und folgte ihr. Leise meinte er: »Amman steht im Fokus der Polizei, schon wegen seiner Hehlerei. Er wird überwacht und ahnt das vermutlich. Außerdem vermutet George, dass er auch der Auftraggeber für einige Morde an seinen Angestellten war. Wenn uns etwas geschehen sollte, kommt er in diesem Leben nicht mehr aus dem Gefängnis heraus.«

Chris machte große Augen und warf Micha einen entsetzten Blick zu. Der Kleine nickte nur betreten. Sicher erinnerte er sich noch an das, was er auf Georges Monitor gesehen hatte.

Tief atmete Chris ein und spannte sich an. »Dann ist dem doch scheißegal, ob wir über die Klinge hüpfen.«

Oliver schüttelte den Kopf. »Amman darf sich keinen Fehler erlauben, das wäre unter den gegebenen Umständen sein Untergang.«

»Was denkst du, haben wir von ihm zu erwarten?«, fragte Micha.

»Ich bin nicht sicher, ob er seinen Hass, die Empuse in sich, steuern kann, aber ich denke, momentan will er nur eins: uns einschüchtern und verunsichern.«

»Warum bist du so sicher?«, fragte Chris herausfordernd. »Du kannst doch gar nicht wissen, ob er noch bei sich ist. Ich glaube, der kriegt gar nichts mehr mit.«

»Wie bei unserem Vater«, bestätigte Michael. »Amman war vom Nebel umgeben und hatte glühende Augen.«

»Umgeben von schwarzen Rauchschwaden mit glühenden Augen und dem Messer in der Hand. So habe ich Papa immer unter einem Türrahmen stehen sehen … Die ersten Wochen sogar, wenn ich wach war, aus dem Augenwinkel.« Chris stöhnte, verzog das Gesicht und massierte sich den Nacken. »Davon habe ich monatelang jede Nacht geträumt, und jetzt leben wir in einem Haus mit solch einer tickenden Zeitbombe.«

Oliver wurde bei der Vorstellung, dass dieses Bild Chris verfolgt hatte, kalt. Erschöpft sank er in sich zusammen. Hatte diese Erscheinung solch große Macht, um sich nachhaltig in den Verstand und das Unterbewusstsein Christians festzusetzen, obwohl er Tom in diesem Zustand gar nicht gesehen hatte?

Er nahm ihn an der Schulter und zwang ihn aufzuschauen. »Er wird uns nichts tun. Das kann Amman einfach nicht machen«, sagte er, als er sich Christians Aufmerksamkeit sicher war.

»Papa hat das auch nicht geschert, als er von diesem Empusen-Dings besessen war.«

Oliver merkte, dass er nur sich selbst überzeugen konnte, an Chris’ Skepsis allerdings scheiterte. »Wir drehen uns im Kreis, Kleiner.« In den Zügen seines Bruders zuckte ein Muskel, dennoch hielt er seinem Blick stand. Nach einem Moment straffte Oliver sich.

»Was nun?«, fragte Michael und unterbrach das Schweigen. Er ließ sich auf die Bettkante sinken und stützte beide Ellbogen auf die Knie.

»Abhauen!«, entschied Chris.

Oliver ignorierte ihn. »Ich gehe gleich zu Amman runter. Aber vorher melde ich mich bei Daniel.« Er zog das alte Handy aus der Beintasche und legte den Zeigefinger auf die Lippen. Mit einer Kopfbewegung deutete er zur Tür. »Egal welche Technik er hat, sie scheitert sicher an dem alten Gerät.«

»Hoffen wir es.« Michael stand auf, schob die Hände in die Gesäßtaschen und sah nach oben. Langsam drehte er sich einmal um seine Achse, konzentriert auf die Stuckornamente an der Decke.

Oliver durchfuhr ein schrecklicher Gedanke. Aus Sicherheitsgründen baute Amman auf Kameras, die er in der Nähe seiner Antiquitäten hatte installieren lassen. Er biss sich auf die Unterlippe und suchte instinktiv nach einer verräterischen Leuchtdiode. Aber der Raum war zu einfach und klar gestaltet, als dass er eine Linse hätte übersehen können. Er bemerkte, dass er die Luft angehalten hatte, und stieß sie nun geräuschvoll aus. »Da ist nichts, Micha«, sagte er.

Sein Bruder warf ihm einen unsicheren Blick zu. »Wirklich?«

Aufmunternd lächelte Oliver ihm zu; wenigstens hoffte er, dass es überzeugend wirkte. »Ich bin sicher.«

DER FALSCHE WEG

Daniel wusste um die Blicke seiner Kollegen und glaubte ihr Unverständnis zu spüren. Hinter ihm knirschte der Kies, aber er fand nicht die Kraft, über die Schulter zu schauen. In den Augen der anderen musste er vollständig überdreht reagieren.

»Beruhige dich«, flüsterte Matthis rau. In seiner Stimme lagen weder Drängen noch Ärger, sondern echtes Gefühl.

Daniel biss sich auf die Unterlippe, um wenigstens einen körperlich greifbaren Gegenschmerz zu produzieren, der das Zerren in seiner Brust milderte. Ihm war bewusst, dass er sich lächerlich machte. Fahrig leckte er sich das Blut ab und drehte sich allen inneren Widerständen zum Trotz zu Matthis um. Dessen Gesicht wirkte unscharf, als hätte er vergessen, seine Kontaktlinsen einzusetzen – Tränen. Mit den Knöcheln fuhr er sich unter den Augen entlang und blinzelte die Feuchtigkeit weg. Jede Blöße gegenüber Matthis bedeutete, sich ihm gegenüber aktiv »schwul« zu verhalten. Das wollte er nicht. Er versuchte sich zu straffen, um wenigstens Haltung zu bewahren. In dem Moment berührte Matthis seinen Arm und drückte ihn vorsichtig, zog aber gleich die Finger zurück.

»Schwuchteln wie ich sind nicht ansteckend«, murmelte Daniel. Er wusste, wie boshaft der Kommentar klang, aber er konnte sich nicht zurückhalten. Die Worte dämpften Schmerz und Wut wenigstens ein bisschen. Er zog die Nase hoch und spie neben sich auf den Boden.

Natürlich ignorierte Matthis die Worte. Mit gesenktem Kopf suchte er in seinen Hosentaschen und zog ein flach gesessenes Päckchen Taschentücher heraus. Wortlos hielt er es ihm hin.

Überrascht griff Daniel danach. »Danke.«

Kurz und freudlos lächelte Matthis, bevor er über die Schulter zur Villa deutete. »Lass uns reingehen und überlegen, wie wir den angerichteten Schaden begrenzen können.«

Lukas saß in sich zusammengesunken am Küchentisch. Die Stirn in Falten gelegt, starrte er ins Leere, drehte abwesend die Kaffeetasse in den Fingern und zupfte mit den Zähnen Hautschüppchen von seinen Lippen.

Daniel schob sich an Matthias vorbei, ließ sich Lukas gegenüber nieder und massierte einen seiner durchgekühlten Füße. Als Matthias, der unter dem Türrahmen stehen geblieben war, kurz mit den Knöcheln gegen den Glaseinsatz der Küchentür klopfte, um auf sich aufmerksam zu machen, dehnte Lukas den Rücken und richtete sich auf. Er sah zu ihnen, über seine Lippen kam jedoch kein Wort.

Daniel senkte den Kopf, behielt Lukas aber im Blick. Ihm war es unangenehm, von ihm genauer gemustert zu werden. Es war zu offensichtlich, dass er geweint hatte, und das war eine Peinlichkeit, der er sich gegenüber seinem Vorgesetzten nicht aussetzen wollte. Vielleicht war es eine Art Fluchtreaktion vor den Reflexionen, dass er sich ausgerechnet in einen Teenager verliebt hatte. Lukas, als mehrfacher Vater, sah die Situation sicher kritisch. Früher oder später würde er etwas sagen. Aber hatte überhaupt jemand das Recht, sich in diese Sache einzumischen? Letzten Endes waren ihre Gefühle füreinander allein eine Sache zwischen Oliver und ihm. Daniel atmete bemüht ruhig ein und aus.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Matthis in die Stille.

Lukas hob die Schultern und räusperte sich. »Ich weiß nicht, wie ich mit der Situation umgehen soll.« Etwas zu heftig stellte er seine Tasse ab, erhob sich und baute sich vor Matthis auf.

Daniel schluckte trocken. Dem Einsatzleiter ging es gar nicht um ihn, sondern um Matthis. Natürlich hatte Lukas Aboutreikas Spitze mitbekommen. Kein Beamter sollte einen Fall bearbeiten, bei dem persönliche und verwandtschaftliche Bindungen existierten.

Daniel legte die Stirn in Falten. Einerseits war es gut, dass Lukas’ Aufmerksamkeit nicht auf ihm lag, andererseits brach gerade all das in sich zusammen, was sie bisher erreicht hatten. Nervös nagte er an seiner Unterlippe. Lukas mochte vielleicht nicht der überkorrekte Beamte sein, dafür drückte er viel zu oft ein Auge zu, aber Matthis zählte wahrscheinlich nicht zu seinen favorisierten Kollegen, und eine solche Verfehlung führte ihn früher oder später zu der vollen Wahrheit: dass Matthis einen unverzeihlichen Verrat an Irene, Gregor, Bernd und ihm begangen hatte.

Instinktiv wartete Daniel auf ein Donnerwetter und hielt die Luft an. Doch es blieb aus. In der Stille lag aber eine Drohung, die sich nicht einfach wegschieben ließ.

Mehr als Lukas’ Rücken konnte Daniel nicht sehen. Der Einsatzleiter rammte nicht einmal die Arme in die Hüften, dennoch straffte er sich, um seine geringe Größe zu kompensieren.

Matthis gefiel das Eindringen in seinen persönlichen Sicherheitsbereich sichtlich nicht. Wenig sanft drängte er sich an Lukas vorbei weiter in den Raum. Vor dem Hängeschrank blieb er stehen und stützte sich auf der Platte des Sideboards ab. Als Lukas ihm folgte, fuhr er herum. »Was?!«

Daniel fühlte ein heißes Brennen im Magen. Den verschlossenen, beinah verbiesterten Ausdruck in Lukas’ Zügen kannte er. Er enthielt ihnen vor, was er dachte und fühlte, aber Daniel wusste: Er kochte innerlich vor Wut. Damit konnte Matthis nicht umgehen. Daniel fiel auf, dass sich dessen Anspannung im Schließen und Öffnen seiner Fäuste äußerte. Mit hochrotem Gesicht und starrer Miene erwiderte er Lukas’ Blick.

Langsam stand Daniel auf. Der kalte Boden unter seinen nackten Füßen sorgte für unangenehme Taubheit. Er ignorierte es. Wichtiger war, dass er die Wogen glättete. »Wenn wir drei uns zerstreiten, haben Olli, Micha und Chris keinen Rückhalt mehr«, sagte er leise. »Aboutreika wird nicht lang den Gütigen mimen und irgendwann mit seinem eigentlichen Plan herausrücken – wie immer der aussehen mag. Und es steht außer Frage, dass er dann über Leichen gehen wird.«

»Ich weiß.« Lukas verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber ich muss endlich loswerden, was ich von diesem Affenzirkus hier halte!« Sein Tonfall hatte sich verschärft, ohne lauter zu werden.

Daniel glaubte zu wissen, worauf er hinauswollte. »Ich liebe Olli …«, begann er, aber Lukas ließ ihm nicht die Möglichkeit, mehr zu sagen.

»Das ist gar nicht mein Problem!« Lukas’ Gesicht hatte sich rot verfärbt, an seinem Hals pochte eine Ader. Es schien ihm schwerzufallen, sich wieder zu fangen. Mühsam straffte er sich und fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar. Seine Lippen zitterten.

Verzagt beobachtete Daniel ihn. Durch Lukas’ Schweigen spitzte sich die unheilvolle Spannung zu. Warum sprach er nicht aus, was ihn so wütend machte? Normalerweise war er nie um Worte verlegen. Unsicher befeuchtete Daniel die Lippen und warf Matthis einen Blick zu. Auch ihn hatte der unvermittelte Ausbruch verunsichert. Seine Hände ballten sich endgültig zu Fäusten, sodass die Knöchel weiß hervortraten. Er presste die Lippen aufeinander – eine Geste der Angriffslust –, dennoch zuckte sein Augenlid unablässig. In Daniel erwachte ein ungutes Gefühl.

Unerwartet schlug Lukas mit der flachen Hand gegen die Schranktür, direkt neben Matthis’ Gesicht. Daniel zuckte wie Matthias zusammen und spürte feine Eisnadeln unter der Haut. Das Blut wich aus seinen Wangen.

»Mich kotzt es an, dass jeder hier«, Lukas bleckte die Zähne, rammte Matthis den Finger gegen die Brust und nickte zu Daniel, »seinen eigenen Scheißplan verfolgt und ich, als Einsatzleiter, keine Kontrolle über euch beide habe!« Speichel spritzte von seinem Mund.

Matthis wich zurück und schlug mit dem Hinterkopf gegen den Hängeschrank. Er schluckte. »Und was…«

»Weiß Bernd, dass du mit den Hoffmann-Brüdern verwandt bist?«, fragte Lukas lauernd.

Instinktiv suchte Matthis Abstand. Ihm blieb nur noch die Möglichkeit, zur Seite auszuweichen. Matthis, dieser riesige, muskulöse Kerl, kuschte vor Lukas, der einen guten Kopf kleiner war …

Alles an dieser Situation war falsch und zugleich richtig. Daniel verschränkte die Arme und trat von einem Fuß auf den anderen. Die Kälte des Bodens kroch ihm in Schienbeine und Knie.

»Was würde das noch ändern?«, fragte Matthis. Seine Stimme bebte.

»Vertrauen! Das, was ihr beide bei mir richtig verschissen habt!«, fuhr Lukas ihn an. Sein Blick brannte, er hatte die letzten Worte gebrüllt.

Innerlich zuckte Daniel vor seinem Freund und Kollegen zurück. »Wenn das Verwandtschaftsverhältnis bekannt wird, wird Matthis abgezogen«, sagte er. »Das darf einfach nicht passieren, weil er ein für uns wichtiges Wissen über Aboutreika und die Zusammenhänge zu Markgraf hat. Diesen Vorteil dürfen wir nicht aufs Spiel setzen.« Er sah kurz zu Matthis, der hilflos mit herabgesunkenen Armen dastand. Für einen Moment spürte Daniel einen scharfen Stich in der Brust. Etwas schien in Matthis zu zerbrechen, und das musste er verhindern. Diese Art von Hoffnungslosigkeit hatte er schon viel zu oft gesehen. Er trat auf Lukas zu, leckte sich über die Lippen und hob beide Hände. »Ohne Matthias sind wir aufgeschmissen. Allein für das Zusammenstellen von Beweisen gegen Aboutreika brauchen wir ihn. Er ist näher an ihn herangekommen als Gregor im Verlauf des ganzen Hoffmann-Falls.« Er wusste, dass er sich im Kreis drehte.

Lukas reagierte nicht. Wollte er nicht, oder konnte er sein Gewissen nicht überzeugen?

Daniel straffte sich und setzte erneut an: »Willst du, dass wir wieder bei null anfangen, mit einem neuen Team und dabei das Leben der Br…«

»Natürlich nicht!«, unterbrach Lukas ihn ärgerlich, wandte sich dann aber an Matthias. »Erzähl Bernd von deinen Verbindungen zu den Hoffmanns und zu Aboutreika, spiel ihm gegenüber mit offenen Karten. Er hält dir die ganze Zeit den Rücken frei und weiß nicht einmal, wovor er dich beschützt. Irgendwann erfährt er auf anderem Weg die Wahrheit, und dann ist fraglich, ob er dich nicht einfach fallen lässt.«

In Matthis flackerte der altbekannte Trotz auf. Er schob den Kiefer vor.

Bevor er ein Wort sagen konnte, hob Lukas die Hand. »Ich weiß von der Verwandtschaftsgeschichte schon seit Tagen, denn ich bin weder taub noch blind. Und Bernd beschwert sich bei mir, dass er mit dir nicht mehr vernünftig arbeiten kann und er das Gefühl hat, dass irgendetwas nicht stimmt.«

Dazu muss man kein Hellseher sein, dachte Daniel, behielt die Spitze aber für sich.

»Bernd einweihen …«, murmelte Matthis heiser.

Daniel gewann den Eindruck, als überlegte er tatsächlich, doch dann schüttelte er den Kopf. Innerlich stöhnte Daniel und schlug sich die flache Hand gegen die Stirn.

»Bernd gibt es weiter«, argumentierte Matthis. Es war eine Verteidigungshaltung, die aus innerer Angst geboren wurde.

Daniel schüttelte den Kopf. »Sicher nicht. Er ist so verdammt loyal dir gegenüber …«

»Vergiss es«, unterbrach ihn Matthis.

Frustriert stöhnte Daniel laut auf. Warum ließ ihn heute keiner ausreden? Er verdrängte die aufkeimende Wut.

Matthis bemerkte offenbar nichts davon. »Seit der Geschichte in Berlin«, fuhr er fort, »dem Fall des Sandmanns und all den mörderischen und mysteriösen Ereignissen unter der Stadt, macht er den sprichwörtlichen Dienst nach Vorschrift. Letztlich sind wir beide deshalb versetzt worden.« Er rang nach Luft, bevor er etwas gemäßigter fortfuhr: »Die Versetzung nach Wiesbaden kam mir entgegen, denn in Berlin habe ich Kollegen, die uns überwacht haben und jeden Verstoß melden …«

»Und denen ist nicht aufgefallen, was du unter ihren Augen verzockt hast?« Daniel erschrak über seine eigenen Worte. Er wollte nicht verletzend klingen.

Matthis schien es ihm aber nicht übel zu nehmen. Gequält lächelte er, bevor er in sich zusammensank und seine Schuhspitzen anstarrte. »Die Kollegen, von denen ich gesprochen habe, sind nicht rund um die Uhr bei mir und bespitzeln mich. So viel Vertrauen genieße ich schon noch zu Hause. Aber in Berlin kann ich wenig selbst entscheiden und bin dazu gezwungen, noch genauer zu dokumentieren als zuvor.« Er fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar, bevor er mit belegter Stimme sagte: »Wenn mein Verwandtschaftsverhältnis zu Silke Hoffmann bekannt wird, werde ich wegen Befangenheit abgezogen, und das kann ich mir nach all dem, was passiert ist, nicht leisten.« Er klang schwach, doch zugleich richtete er sich auf und zog die Brauen zusammen. »Ihre drei Söhne brauchen mich, Lukas. Ihnen zu helfen, das lasse ich mir nicht nehmen, schon gar nicht von dir als einfachem Oberkommissar.«

Lukas nahm die Worte unbewegt hin. Mattias war ohnehin zu sehr in Fahrt, um noch einschätzen zu können, wie brüsk er klang.

»Ich habe es im letzten Winter versaut, und ich regele es auch wieder, notfalls allein mit Daniels Hilfe, verstanden?!« Mit jedem Wort hatte er sich aus seinem emotionalen Tief etwas weiter befreit.

Daniel merkte deutlich, dass Matthias auf dem besten Weg war, sich zu seiner bekannten Überheblichkeit zurückzuarbeiten, auch wenn er ihm in seinem Ansinnen den Brüdern zu helfen, vorbehaltlos zustimmte. Keiner von ihnen würde sich davon abhalten lassen, geradezurücken, was in all ihren Ermittlungen schiefgelaufen war. Aber Lukas sah das ganz sicher anders.

Trocken schluckte Daniel, als sich der Einsatzleiter zu ihm umsah. Wie erwartet stand zwischen seinen Brauen eine steile Falte, und das sonst so blasse, sommersprossige Gesicht glühte noch immer. »Daniel, ich bin mit diesem Kerl überfordert. Bitte kümmere du dich darum und sprich mit Bernd!«

Überrascht blinzelte Daniel, aber die Verwirrung wandelte sich rasch in Ärger. Warum sollte ausgerechnet er sich instrumentalisieren lassen? Damit würde sich die Situation zwischen Matthis und Bernd nicht verbessern. »Nein«, sagte er strikt. »Das kann ich einfach nicht.«

Lukas atmete scharf ein.

Bevor er lospoltern konnte, hob Daniel eine Hand. »Zu meinem Scheißruf im Präsidium brauche ich nicht auch noch den Makel, einen Kollegen angeschwärzt zu haben, besonders weil ich Matthis’ Meinung teile.«

»Sag mal, wollt ihr mich nicht verstehen, oder sind eure Schädel so vernagelt, dass ihr nur noch rotseht, sobald ich versuche, Transparenz zu schaffen?« Lukas hob hilflos die Hände und schüttelte den Kopf. »Es geht doch gar nicht darum, euch die Hände zu binden. Seid nur endlich ehrlich. Bernd wird nichts tun, was die Ermittlung behindert; das als Allerletztes.« Er leckte sich über die Lippen, bevor er hinzufügte: »Ich weiß nicht, was ich morgen früh bei der Einsatzbesprechung sagen und wie ich eure und besonders Olivers Alleingänge rechtfertigen soll. Denkt vielleicht mal daran, dass ihr euch schon verrannt habt und bis zum Kragen in der Scheiße steckt. Macht es bitte nicht schlimmer!«

Daniel rieb sich die Schläfen. Eine Lagebesprechung war das Letzte, das er überstehen würde. Die Vorstellung, Kollegen anderer Kommissariate, einen Statusbericht über den Ermittlungsstand abzugeben und sich untereinander auszutauschen, gehörte durch die Erlebnisse der letzten Tage nicht mehr in seinen Arbeitsalltag. Er hatte einen emotionalen Abstand dazu gewonnen. Überhaupt hatten sich seine Prioritäten verschoben, und nun holte der Alltag ihn wieder ein.

Er schaute zu Matthis und Lukas, die ihn beide anstarrten, als erwarteten sie, dass er etwas sagte. Sein Mund klappte auf. Eigentlich wollte er nichts antworten, aber die Situation brachte ihn in Zugzwang. Er stützte sich ab. Unsicher wich er den Blicken seiner beiden Kollegen aus. »Wir haben nichts vorzuweisen außer Indizien, Vermutungen ohne Beweise.« Er klang leise, gezwungen.

Lukas nickte, schwieg aber.

Matthis räusperte sich, seine Lippen zuckten, aber auch er konnte nichts Kluges beitragen. Sie hatten sich festgefahren. All ihre gesammelten Fakten schmolzen zu Mutmaßungen zusammen und ergaben keinen Zusammenhang mehr, wenn er anfing, die inoffiziellen – unerklärbaren – Erkenntnisse auszusieben.

Daniel stöhnte auf. Sie hatten rein gar nichts vorzuweisen, sollte Olli keine Beweise gegen Aboutreika liefern können. Er wagte allerdings zu bezweifeln, dass die drei Brüder etwas fanden, dazu wusste sich der Ägypter viel zu gut zu schützen. Überhaupt war es ein Armutszeugnis für die Polizei, dass sie auf die Hilfe eines tollkühnen Teenagers zurückgreifen mussten. »Wir haben es ziemlich verzockt«, murmelte er. Ihm graute vor dem Moment, wenn er oder Lukas sich dazu äußern mussten, Olli in ihre Arbeit involviert zu haben.

Müde nickte Lukas. »Aber das ist nicht allein euer Problem. Ich habe die Entwicklung gesehen und nichts dagegen unternommen, weil ich zu sehr von dem Eifer der Brüder fasziniert war. Oliver kann jeden mit seinem Enthusiasmus mitziehen.« Er zögerte einen Augenblick, bevor er leiser hinzufügte: »Das muss jetzt ein Ende haben, wenn wir drei uns vor den Konsequenzen retten wollen.«

»Wir alle, Irene eingeschlossen«, fuhr Daniel ihm viel zu heftig ins Wort, »haben zugelassen, dass Olli sich auf diesen Irrsinn einlässt und uns aus dem inneren Kreis der Aboutreikas Infos beschafft.«

»Prinzipiell stimmt das«, gestand Lukas. Er legte die Stirn in Falten und sah sich zu Matthis um. »Und du bist neuerdings der große Schweiger? Jetzt hast du wohl keinen rotzigen Spruch mehr für mich, oder?«

Matthis’ Unterkiefer bebte, dennoch brachte er kein Wort über die Lippen. Kochte die Wut wieder so sehr in ihm?

»Ich weiß, in welcher Lage wir sind!«, schnappte er plötzlich. Seine Stimme klang laut, rau und zugleich dumpf.

Er verlor die Bodenhaftung, erkannte Daniel mit einigem Schrecken. Das durfte nicht noch einmal passieren. »Damit sind wir wieder am Ausgangspunkt angelangt«, stellte er fest, bevor Matthis etwas Dummes sagen konnte. »Aber es bleibt dabei, ich stehe hinter Matthis.«

Lukas schlug mit der Faust auf die Anrichte. »Das ist nur Verbohrtheit von euch beiden!« Hilflos schüttelte er den Kopf, dann schwieg er.

Hatte er recht? Sicher war Daniel sich nicht. Ihnen blieben keine legalen Möglichkeiten, um gegen Aboutreika vorzugehen. Sie waren dazu gezwungen, außergewöhnliche Methoden anzuwenden. Schließlich hatten sie es mit einem Fall zu tun, der die Grenzen der Normalität sprengte.

»Ich kann nicht alles verantworten, was in den vergangenen Tagen in diesem Haus passiert ist«, murrte Lukas schließlich. Er fasste Matthis in den Blick. »Und ich kann mir nicht vorstellen, dass Bernd dich im Nachhinein noch schützen kann oder will, Matthias.« Er griff nach seinem Handy. »Du warst die undichte Stelle zu Aboutreika.« Er entsperrte den Bildschirm.

Matthis sank in sich zusammen. »Ich war nicht die undichte Stelle, erpressbar vielleicht, aber ich habe nie etwas weitergegeben …« Er unterbrach sich und schloss die Augen. Mit beiden Händen rieb er sich durch das Gesicht.

Mitleid erwachte in Daniel. Für einen Moment wollte er nichts weiter, als Matthis zu unterstützen.

Lukas betrachtete ihn argwöhnisch, ließ ihm aber die Möglichkeit weiterzureden.

»Ich … der Kontakt zu Aboutreika …« Matthias brach ab und rang nach Luft. Seine Schultern sanken hinab. »Gegenüber Aboutreika habe ich mich erpressbar gemacht, aber diese Möglichkeit hat er bislang nicht zu seinen Gunsten genutzt. In meiner Mail an Camilla habe ich nicht vor ihm gewarnt, sondern vor dem, dass etwas passieren würde. Was genau, konnte ich da noch nicht einschätzen.«

Lukas verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber genau genommen bist du aufgeflogen.«

Erschöpft nickte Matthis.

»Deine Integrität ist eigentlich schon seit Monaten unterwandert, und Bernd lässt dich weiterarbeiten … Ich verstehe euch beide einfach nicht.«

»Ich glaube nicht«, warf Daniel ein, »dass Bernd davon wusste.«

Lukas’ Brauen zuckten hoch. Dennoch schien er mit nichts anderem gerechnet zu haben. »Ja, natürlich.« Er atmete tief durch. Das einsetzende Schweigen enthielt eine Drohung. Lukas konnte nur gegen Matthis entscheiden.

Kurz zögerte Daniel, bevor er sagte: »Matthis will diesen Fehler gutmachen.« Ihm war klar, dass sie sich mit jedem Wort mehr festfuhren, aber es betraf letztlich nicht nur Matthis, sondern auch ihn.

»Wiedergutmachung«, murmelte Lukas und schüttelte den Kopf. »Ihr seid vollkommen verrückt.«

Daniel legte ihm die Hand auf den Arm. »Matthis ist ein sehr guter und gewissenhafter Beamter. Von seiner Verwandtschaft zu Walter Markgraf hat er erst spät erfahren, und es lag sicher nicht in seiner Absicht, Aboutreika Möglichkeiten in die Hand zu geben, mit denen er manipulierbar ist. Dass es so gekommen ist, war nicht seine Schuld. Er darf einfach nicht abgezogen oder suspendiert werden, sonst sind alle Ermittlungsergebnisse wegen Kunstdiebstahl, Schmuggel und Geldwäsche hinfällig und es wird keine Gerechtigkeit für all die Menschen geben, die deshalb gestorben sind.«

Lukas’ Adamsapfel sprang über den Kragen, als er schluckte.

Ein leises, hoffnungsvolles Ziehen machte sich in Daniels Brust bemerkbar. Lukas überlegte, das war wenigstens ein kleiner Erfolg, allerdings würde jedes weitere Wort kontraproduktiv sein. Auch wenn es Daniel schwerfiel, schwieg er.

Eine Weile starrte Lukas nur auf sein Smartphone, als hoffte er auf eine Entscheidung, die er nicht mehr fällen konnte. Schließlich entsperrte er den Bildschirm und berührte den Kontakt-Button.

Das konnte doch nicht wahr sein! Hatte er sich so sehr in Lukas getäuscht? Mit dem Gefühl ins Bodenlose zu stürzen, ließ Daniel sich auf den Stuhl fallen und schloss die Augen. Das war’s; endgültig. Sie würden beide abgezogen und längerfristig beurlaubt werden …

Er hörte, wie das Kratzen von Stuhlbeinen auf dem Terrazzoboden das Freizeichen störte.

Matthias klopfte ihm auf die Schulter. »Danke für deine Hilfe«, sagte er leise.

»Ich hab’s verkackt«, murmelte Daniel.

»Trotzdem …«

»Hallo Frau Meinhard, George hier.«

Daniels Herz raste augenblicklich. Er fuhr hoch, als er durch die Muschel verzerrt die Stimme seiner Tante hörte. Lukas sprach nicht mit Bernd, sondern mit Irene, er suchte Rückhalt bei der einzigen Person, die weisungsbefugt war und noch – gegen jede Regel – auf ihrer Seite stand.

FRANZ

Micha und Chris ließen sich nicht davon abhalten, den spartanischen Raum abzuschreiten. Sie schauten in jeden Winkel, in jede Schublade, sogar unter den Rahmen des Futonbettes. Vermutlich fürchteten sie überwacht zu werden, überlegte Oliver, denn Amman bedeutete für sie alle als Gegner eine nicht einzuschätzende Größenordnung.

Er trat ans Fenster und ließ seinen Brüdern freie Hand. Vielleicht entdeckten sie tatsächlich was, auch wenn er es bezweifelte.

Im Garten zuckten die Blätter der Büsche und Bäume unter dicken Regentropfen. Das dumpfe, gleichförmige Trommeln auf dem Glasdach des Wintergartens drang durch die Scheiben. Jenseits des noch immer saftigen Grüns schimmerte eine weitere Villa durch das Laub. Als der Wind in die Äste fuhr und sie schüttelte, erkannte er eine balkonüberschattete Terrasse. Irrte er sich, oder bewegte sich etwas in den dunklen Ecken? Ihm rann ein Schauder über den Rücken. Zuletzt hatte er etwas Vergleichbares gesehen, als Daniel Micha und ihn in die HSK zu Chris gefahren hatte … Verdichtete Finsternis, ein namenloser Schrecken.

Mit beiden Händen stützte er sich auf dem Fensterbrett ab und neigte sich dichter zur Scheibe, bis er die Kühle des Glases auf seiner Haut spürte. Seine Locken fielen ihm in die Stirn. Er versuchte mehr auszumachen. Immer wieder trieb der Wind Regen durch das Laub und versperrte ihm die Sicht. Eine starke Böe bog die Büsche. Aus dem Dämmerlicht unter dem Balkon gegenüber war eine kleine Frau getreten, die sich bemühte, schnellstens die Kissen einer kleinen Sitzgruppe aus dem Unwetter zu bringen und die Stühle aufzustapeln. Natürlich war es dafür bereits zu spät. Das schlechte Wetter hielt schon zu lang an.

Innerlich atmete Oliver auf. Das, was auf dem Nachbargrundstück vor sich ging, hatte rein gar nichts mit übersinnlichen Erscheinungen zu tun. Im Gegenteil war es ein völlig normaler Vorgang.

Er beobachtete ihre Bemühungen, soweit er konnte. Jedes Mal, wenn der Wind ihm die Sicht versperrte, mehrte sich ein eigenartiges Gefühl, das sich nicht greifen ließ. Er senkte den Blick in das farbschwache, nasse Gras, sah dem Regen zu, der sich auf dem kleinen Bereich des Vordaches vom Wintergarten gesammelt hatte und an den schrägen, übermoosten Scheiben hinablief. Beklemmung sickerte in Hoffnungslosigkeit und die Zwangsvorstellung, etwas bewegen zu müssen. War das seine ganz persönliche, irreale Version eines Rachewunschs?

Er wollte Aboutreika für all das bluten lassen, was er Tom und Silke angetan hatte, sicher, aber ihm fehlte die Kraft dafür. Amman hatte ihm gezeigt, was in ihm lebte. Allein dieser kleine Einblick verdeutlichte ihm seine eigene Hilflosigkeit.

Stockend atmete er ein. Ihm stieg der Geruch von feuchtem Holz, nassem Mörtel und Ozon in die Nase. Er zog sich zurück, um sich nicht zu gestatten, tiefer in seinem persönlichen emotionalen Sumpf zu versinken.

Das Bild des Gartens verschwamm vor seinen Augen und verzerrte sich. Den Effekt kannte er von alten Häusern, in denen die Scheiben nie ausgetauscht worden waren. Dennoch konnte er nicht verhindern, dass es ihm schwindelig wurde. Er krallte sich mit den Fingern in das Fensterbrett. Lacksplitter stachen unter seine Nägel, und morsches Holz löste sich faserig. Scharf atmete er ein. Jetzt fiel ihm auf, wie blasig das Glas war. Die Scheiben schepperten im Rahmen. Aber … Amman hatte moderne, isolierte Fenster!

Eiseskälte durchzuckte ihn. Seine Nackenhärchen stellten sich auf. Konnte es sein, dass er sich hinter den Spiegeln befand?

Er fuhr herum. Hinter ihm durchsuchten seine Brüder jeden Winkel des Zimmers, aber die Laute klangen wie durch einen Vorhang gedämpft, und ein feiner, eisiger Schleier lag in der Luft, bildete eine Art durchlässige Membran zur Wirklichkeit.

Oliver atmete scharf ein. Unwillkürlich brach die Angst aus ihm heraus und vernebelte seine Wahrnehmung auf ein winziges Fenster. Mit rasendem Herzen streckte er eine Hand vor. Was genau geschah, konnte er sich nicht erklären, aber es fühlte sich an, als durchbräche er eine feine Eisschicht, die in tausend Fragmente zersplitterte.

Raus hier!, schoss es ihm durch den Kopf.

Er stolperte voran und kam zwischen Micha und Chris zum Stehen. Opa schaute aus ihrer Ecke hervor, die Augen geweitet, sodass ein heller Ring die dunkle Pupille umgab. Ihre langen Löffel bebten.

Olivers Aufmerksamkeit brach in sich zusammen, als etwas seine Schulter streifte und ein paar seiner Haarsträhnen packte. Sofort wirbelte er herum. Sein Herz pochte so hart, dass er die Erschütterungen im ganzen Körper zu spüren glaubte. Doch nichts … Über das Fensterglas lief jedoch eine Wellenbewegung. Ganz kurz sah er eine schlanke, hochgewachsene Gestalt. Der Moment reichte aber nicht, um sich sicher zu sein, dass der Anblick real gewesen war, geschweige ob es sich um Mann oder Frau gehandelt haben mochte.

»Was war das denn?«, fragte Chris.

Oliver wagte nicht, zu ihm zu schauen, vielmehr versuchte er hinter den silbrigen Regenschleiern in der grauen Dämmerung mehr zu erkennen.

Ein weiteres Mal lief ein Zittern durch die Glasflächen. Die Scheiben verdunkelten sich. Oliver schnappte abermals nach Luft und fuhr zurück, nur um gegen einen der beiden Jungs zu stolpern. Instinktiv griff er nach Chris’ Schulter, obwohl der Kleine sich bereits wieder gefangen hatte.

Auch Micha sah aus zusammengekniffenen Augen zum Fenster. Oliver wandte sich ihm ganz zu. Seine ohnehin blasse Haut hatte alle Farbe verloren. Durch seinen Körper lief ein deutlich sichtbarer Schauder. Seine Lippen klafften auf, und er schlug beide Hände vor die Augen. Oliver zog ihn in seinen Arm und schaute zum Fenster zurück. In der Spiegelung erkannte er Franz. Der alte Mann sah entsetzlich aus, wie zu dem Zeitpunkt, als er gestorben war: das Gesicht vom Aufprall deformiert, Kiefer, Wangenknochen und Nase gebrochen, die Augen blutunterlaufen und die Gliedmaßen verdreht. Ihm gelang es nicht, sein Aussehen zu verändern.

Oliver suchte automatisch nach einer Erklärung, aber seine Fantasie gab nicht genug her, um mehr als Schwäche zu vermuten; Todesschwäche, wenn es so etwas bei Geistern überhaupt gab. Hing Franz’ Auftauchen mit dem zusammen, was er gerade noch gesehen hatte?

Schaudernd registrierte er, dass er sich die Gestalt nicht eingebildet hatte. Er biss sich auf die Unterlippe. Wenn es Franz gelungen sein sollte, die Erscheinung zu vertreiben, konnte er sich seinen Zustand erklären.

Unsanft befreite Chris sich aus seinem Griff. »Sag mal, kannst du nicht aufpassen, du Troll?« Er massierte seine Schulter, wo er ihn gerade noch gehalten hatte. »Wolltest du mir wehtun?«

Abwesend schüttelte Oliver den Kopf. »Entschuldige«, murmelte er und merkte, wie ihm der Gedanke entfloh. »Ich …« Er brach ab. Seine Gefühle und Gedanken waren bei Franz. Nur langsam wich die Kälte und machte tiefer Wärme und Sorge um den alten Mann Platz.

Micha streifte ebenfalls seinen Arm ab und flüchtete sich in sichere Entfernung. Bettfedern knarrten.

Chris stellte sich neben Micha und verschränkte die Arme vor der Brust. Auch er schaute zum Fenster. »Was ist da?«, fragte er. Ihm fehlte glücklicherweise die Gabe, Geister zu sehen, also starrte er nur aus dem Fenster in den Regen.

Oliver reichte es, einen verängstigten Bruder zu haben. »Ein Freund«, entgegnete er, während er langsam auf die Spiegelung von Franz zuging. Gebeugt und am Ende seiner Kräfte stand der alte Mann da und hielt unter schweren Lidern seinen Blick fest. Er wirkte zu Tode erschöpft. Olivers Spiegelung überlagerte die seines Freundes. Mit einer Hand berührte er die Glasfläche und beobachtete, wie sein Spiegelbild dasselbe tat. Im Inneren, dazwischen, stand Franz. Eigenartig, wie real er wirkte und wie irreal geisterhaft er sich selbst sah. Der alte Mann zwang sich, seine gebrochenen Glieder anzuheben und dieselbe Geste zu vollführen.

Als wäre die Glasfläche, die sie voneinander trennte, nicht existent, ertastete Oliver rissig spröde Haut, verhornte Fingerkuppen und den Tau darauf. Sacht, sehr vorsichtig, um ihm nicht wehzutun, umschloss er die knochige, alte Hand.

Soweit es ihm mit den gebrochenen Gliedmaßen möglich war, erwiderte Franz die Geste. Um seine rot unterlaufenen Augen bildeten sich Fältchen. Er versuchte zu lächeln.

Oliver schluckte hart. »Was ist passiert?«, fragte er und machte eine Kopfbewegung zu ihm. Kurz versteifte sein Freund sich, sank dann aber in sich zusammen. Seine Brust hob sich, als atmete er ein. Sehr langsam nahm er den Kopf wieder hoch. Seine Lippen klafften auf, und die Prothesenfragmente fielen in der Mundhöhle von einer Seite auf die andere; lautlos, wie Oliver bemerkte. Dennoch hallte die Stimme in seinem Geist wider: Hier dürft ihr nicht bleiben, ich sehe überall Gefahren für euch, besonders für dich, weil du ein Teil meiner Wirklichkeit bist.

Was er sagte, stimmte sicher. Amman mochte sich seiner eigenen Handlungen und Besessenheit nicht bewusst sein, aber gerade deswegen schwebten sie in der Villa in Gefahr.

Oliver senkte zur Bestätigung die Lider. »Ich weiß, dass die Bitte unangemessen ist, aber kannst du ein Auge auf uns haben, solang wir hier sind?« Rasch sah er über die Schulter zu Micha, der sich immer noch nicht traute, näher zu kommen, aber wenigstens den Blick erwiderte. Oliver winkte ihn zu sich. Verkrampft schüttelte Micha den Kopf. Abscheu lag in seiner Mimik.

Franz verstärkte den Druck, sodass Oliver sich ihm wieder zuwandte. Zwing ihn nicht.

Trocken schluckte Oliver. Ihm war Michas Verhalten peinlich, aber er verstand auch, warum sein kleiner Bruder so reagierte.

Er sieht mich genauso wie du, und er war noch nicht hinter den Spiegeln, sagte Franz.

»Aber an dir ist nichts Böses.«

»Er sieht unheimlich aus«, flüsterte Michael und trat einen Schritt näher.

Dicht hinter sich hörte Oliver Chris fragen: »Wer?« Offenbar war er ihm gefolgt.

»Der Geist«, entgegnete Micha. »Ein alter Mann, ein Selbstmörder.«