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Carla Kaspari

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Beschreibung

Hinter Franziska liegen zwei Jahre in Paris und eine auf erwachsene Art beendete Beziehung. In Sachen Selbstverwirklichung steht sie gut da – abgeschlossenes Studium, solides Einkommen, gesundes Sozialleben, untrügliches Stilempfinden – und doch scheint etwas zu fehlen.  Auf der Suche nach der verlorenen Leichtigkeit sitzt sie in Cafés, arbeitet Aufträge ab, treibt Sport und trifft ihre Freund:innen. Um sie herum prallen Lebensentwürfe aufeinander, Stadtflucht und reflektierter Drogenkonsum, authentische Social-Media-Profile und künstlich beschworene Zwischenmenschlichkeit. Franziska beobachtet die Ambivalenzen ihrer Gegenwart ungerührt und schreibt darüber aus sicherer Distanz in einem Romanmanuskript - bis ein unabgeschlossenes Kapitel sie mit großer Wucht einholt. Mit feinem Humor und einer präzisen Sprache beschreibt Carla Kaspari ein Milieu, ohne ihre Protagonist:innen vorzuführen, aber auch ohne auf sie hereinzufallen.

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Seitenzahl: 284

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Carla Kaspari

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Über Carla Kaspari

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Inhaltsverzeichnis

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Über Carla Kaspari

Carla Kaspari, geboren 1991, hat in Bonn und Paris Literatur- und Musikwissenschaft studiert. Sie lebt in Köln und arbeitet als freie Autorin. Ihre Texte erscheinen in unterschiedlichen Publikationen und Formaten.

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Über dieses Buch

Hinter Franziska liegen zwei Jahre in Paris und eine auf erwachsene Art beendete Beziehung. In Sachen Selbstverwirklichung steht sie gut da – abgeschlossenes Studium, solides Einkommen, gesundes Sozialleben, untrügliches Stilempfinden – und doch scheint etwas zu fehlen.

Auf der Suche nach der verlorenen Leichtigkeit sitzt sie in Cafés, arbeitet Aufträge ab, treibt Sport und trifft ihre Freund:innen. Um sie herum prallen Lebensentwürfe aufeinander, Stadtflucht und reflektierter Drogenkonsum, authentische Social-Media-Profile und künstlich beschworene Zwischenmenschlichkeit. Franziska beobachtet die Ambivalenzen ihrer Gegenwart ungerührt und schreibt darüber aus sicherer Distanz in einem Romanmanuskript - bis ein unabgeschlossenes Kapitel sie mit großer Wucht einholt.

Mit feinem Humor und einer präzisen Sprache beschreibt Carla Kaspari ein Milieu, ohne ihre Protagonist:innen vorzuführen, aber auch ohne auf sie hereinzufallen.

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Zweiter Teil

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Dritter Teil

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

to whom it may concern …

Dank

Erster Teil

Eins

Dass es vorbei war, stellte Franziska schließlich auf einer Party fest. Sie beobachtete Cyril vom anderen Ende des gedrungenen Raumes, der mit Luftballons, mittellauter Musik und zwei bunt melierten Sofas auf hellem Laminat billige, aber ehrliche Atmosphäre schuf. Die LED-Glühbirne der Deckenlampe beschien das Geschehen auf eine ungemütliche Art und ließ alles so wirken, als würde es an einem winterlichen Nachmittag in einem Büro passieren.

Cyril hatte gerade niemanden zum Reden und saß allein da. Das hier waren Franziskas Freunde und nicht seine. Er schlug sich gut, auf die anderen wirkte er aufgeschlossen und kommunikativ, freundlich. Später würden sie sagen, dass er nettsei, und es so meinen.

Franziska wusste, dass Cyril sich an diesem Abend stark langweilte. Er hatte von Tag eins an nichts vor ihr verbergen können.

Cyril strengte sich an, nicht klettenhaft an ihr zu hängen, hangelte sich dafür von Small Talk zu Small Talk, Getränk zu Getränk, zwischendurch ein vertrauensvoller, rückversichernder Blick in Franziskas Richtung: Toll, wie ich es mache, oder?

Ja, toll, wie du das machst. Wie viel Mühe du dir gibst. Franziska hatte an einen Hund gedacht und sich dafür geschämt.

In diesem Moment hing Cyrils Blick irgendwo, nur nicht in diesem Raum. Er hatte kurz zuvor unter dem Vorwand, sich ein Getränk zu holen, eine angestrengt wirkende Unterhaltung mit Mehmet beendet. Cyrils Mimik war kurz nach dem Gespräch in eine Ausdruckslosigkeit gefallen, die selbst Franziska überrascht hatte. Sie erinnerte sich im Nachhinein häufig an diese Ausdruckslosigkeit.

Im Hintergrund lief ein glatt produzierter elektronischer Song mit wiederkehrendem Vocal-Sample. Eine weibliche Stimme rief etwas über die Melodie, das wahrscheinlich nach einer afrikanischen Sprache klingen sollte. Franziska schaute irgendwie auf das helle Laminat. An manchen Stellen war es verkratzt. Ihr fiel auf, wie sie die rechte Hand zu einer Faust ballte und etwas ihren Rücken heiß färbte. Sie fixierte einen länglichen Kratzer auf dem Boden und wartete darauf, dass es nachließ. Es ließ nicht nach. Als die Hitze in ihrem Rücken zunahm, hob Franziska den Kopf.

In diesem Moment löste sich Cyrils Blick aus seiner starrenden Apathie, und er begann, im Takt der Musik zu beatboxen. Ganz leise, selbstvergessen, erzeugte er schnalzende Geräusche mit Mundraum und feuchten Lippen, verzog die untere Gesichtspartie entsprechend. Franziska wusste sofort, wie angemessenes Verhalten ihrerseits in diesem Augenblick ausgesehen hätte. Süß hätte sie es gefunden, berührt wäre sie gewesen von Cyrils kindlichem Rückzug in seine ganz eigene Welt, von seiner spielerischen Art zu sein. Ihre Stirn hätte sich entspannt, ein weicher Schleier hätte sich um ihre Augen gelegt und für einen Moment hätte sie ehrlich verliebt zu ihm herübergeschaut, um ein paar Augenblicke Glück nur für sie und ihre Erinnerung zu sichern.

»Weißt du eigentlich noch, ich glaube ehrlich gesagt nicht, es war nur eine Kleinigkeit, damals auf der Silvesterparty von Anna – ja, genau, die mit der lauten Stimme. Wir waren jung, relativ jung, und du hast ganz allein dagesessen und dann plötzlich angefangen zu beatboxen. Haha, ja, damals hast du das doch dauernd gemacht. Ich habe dich einfach nur angesehen, und ja, okay, ich weiß, es klingt jetzt vielleicht kitschig, aber wenn ich ganz ehrlich zu mir bin, dann wusste ich in dem Moment, dass ich den Rest meines Lebens mit dir verbringen will.«

Sie wären alt, mindestens 50, erst dann hätte sie davon erzählt, hätte sich die Geschichte aufgespart für diesen Moment, beide wären gerade dabei, in Würde zu ergrauen, stünden ergriffen ob der Erinnerung an ihre junge Liebe mit bauchigen Rotweingläsern in der Hand auf irgendeiner geschmackvollen, mit viel Grün berankten Veranda. Veranda. Frühabendliches Vogelzwitschern und Veranda.

Franziska drehte sich aus der Situation heraus und stellte sich für einige Minuten auf den kleinen Balkon. Es fiel ihren heißen Fingern in der kalten Luft schwer, eine Zigarette zu drehen, während sie überlegte, wie sie diese Silvesterparty auf dem schnellsten Weg verlassen konnten. In ihrem nur langsam abkühlenden Rücken stimmte die Frauenstimme aus dem Song gerade nochmal zu irgendeiner Art »Mmaaiahnjajaja« an und verstummte dann wieder, weil jemand die Balkontür hinter sich schloss. Mina stellte sich neben Franziska und drehte sich viel geschickter als sie Tabak in ein dünnes, durchsichtiges Blättchen. Mina rauchte nur auf Partys. Während Franziska inhalierte, schaute Mina kurz auf ihr Handy.

»In etwas mehr als zwei Stunden höre ich auf. Ich hab mir schon diese App runtergeladen.«

Franziska nickte.

»Cool. Viel Erfolg.«

Dann sah sie in den Blumenkasten, der am Balkongeländer vor ihnen befestigt war. Die Erde war gefroren und mit einer feinen Pulverschneedecke überzogen.

Minas und Franziskas wortloser Atem verband sich mit dem Qualm zu einer Wolke und verteilte sich dann auf beruhigende Art in der kalten Luft vor ihnen.

Nach zwei schweigenden Zügen sagte Mina: »Cyril ist so nett.«

Franziska sagte: »Ja.« Ihr fiel ansonsten nichts ein.

Nach zwei weiteren Zügen sagte Franziska, dass ihr kalt sei und sie wieder reingehen würde. Sie steckte ihre Zigarette in den Pulverschnee des Blumenkastens und ging zurück in die Wohnung.

Später am Abend sollte ihr auffallen, dass sich ihre etwas zu langen Fingernägel tief in die Handinnenflächen gebohrt hatten. Noch mehrere Stunden danach zeichneten sich kleine rote Sicheln zwischen ihren Lebenslinien ab.

 

Nachdem Cyril und sie zurück in Paris waren, hielt Franziska es noch zwei Wochen aus und beendete dann während zweier längerer Gespräche die Beziehung. Sie argumentierte klassisch, abgedroschen und wahrheitsgemäß, dass nicht er das Problem sei, sondern sie. Während sie redete, presste sie ihren Daumen in das hellbraune Kunstleder des viel zu wuchtigen und eher unbequemen Canapés, auf dem sie im Wohnzimmer nebeneinandersaßen, und beobachtete die kleinen Falten auf der Sitzfläche, die sich nur langsam zurückbildeten. Cyrils Schultern zuckten beim Weinen in die Höhe. Franziska versuchte, ihm eine Hand auf den Rücken zu legen. Sie hielt sich nicht.

Sie wohnten noch etwa einen Monat zusammen in der Wohnung, Cyril schlief von da an auf dem Canapé. Sie achteten darauf, nur im Notfall gleichzeitig zu Hause zu sein, und wenn es vorkam, nur das Nötigste miteinander zu reden.

 

Franziska genoss die ersten Tage nach der Trennung. Sie fühlte sich frei und hatte allein aufgrund der Veränderung mehr Energie.

In der zweiten Woche normalisierte sich ihr Zustand. Auch wenn sie es nach wie vor genoss, viel Zeit für sich zu haben, wichen Erleichterung und Euphorie nachdenklicher Reflexion über ihre Entscheidung.

In der dritten Woche überkam sie die Erkenntnis, nun wirklich wieder ganz auf sich selbst zurückgeworfen zu sein.

Als sie in der vierten Woche in der Metro einen untersetzten Franzosen dabei beobachtete, wie er mit seiner Wasserflasche aus Plastik schimpfte, stellte Franziska fest, dass sie aktuell keinen Anlass hatte, ihrem Leben über kurzweilige Momente hinaus einen größeren Sinn abzutrotzen. Sie war sich zu diesem Zeitpunkt unsicher, ob das gut oder schlecht war.

Der Februar in Paris begann unglaublich trostlos, aber war von einer subtilen Freude darüber geprägt, dass der Januar vorbei war. Franziska war gerade 27 geworden und dachte in dieser Zeit häufiger darüber nach, wie es wohl wäre, sich ein Haustier anzuschaffen.

Zwei

Etwa einen Monat später liegt Franziska also auf dem hellbraunen Canapé im 18. Pariser Arrondissement und betrachtet die Stuckleiste der Zimmerdecke. Das Kunstleder des Sofas gibt nach wie die Schale einer überreifen Zitrone. Draußen ist es schon dunkel und etwas zu warm für Ende Februar. Cyril ist zum Glück nicht da. Er ist in letzter Zeit kaum mehr da gewesen.

»Für die letzten Tage schlafe ich bei Malo«, so hatte er es bei Telegram ausgedrückt. »Gute Reise.«

Franziska hatte sich wie immer über den altväterlichen Ton seiner Nachricht geärgert, bis ihr eingefallen war, dass sie sich jetzt nicht mehr darüber ärgern musste.

Franziska überlegt, ob sie ihren letzten Abend irgendwie erinnerungswürdig gestalten soll. Sie könnte Aylin fragen, ob sie Lust hat, in eine Bar zu gehen. Franziska fröstelt. Sie erscrollt sich den Chatverlauf. Die letzte Nachricht von Aylin ist fünf Tage alt: »Hey, wie gehts dir? :) Lange nichts gehört«.

Franziska hatte nicht geantwortet. Franziska hatte auf die meisten Nachrichten in letzter Zeit nicht geantwortet. Wenn sie an die vergangenen Wochen denkt, denkt Franziska an einen schalltoten Raum und ein drückendes Gefühl in der Stirn. Sie sperrt ihr Handy wieder und verwirft den Gedanken, die Wohnung heute noch zu verlassen. Franziska hätte gerne einen Ball gehabt, um ihn gegen die verzierte Decke zu werfen, immer wieder. Stattdessen legt sie ihren Laptop auf die Rippenbögen unterhalb ihrer Brüste und schaut für einige Sekunden in leuchtendes Weiß. Dann tippt sie:

Ihre warmen Körper auf dem weißen Laken liegen so passgenau ineinander verschränkt, als wären sie dafür fabriziert worden: platzsparend wie aufgestapelte Gartenstühle, kaum ein Zentimeter zwischen den Gelenken. Sie könnten den restlichen Winter über so liegen.

Minas Kopf riecht nach Zitrone und Schlaf, ein metallischer Hauch von Schaumfestiger, der den festen, eng gezwirbelten Locken Form gibt. Benedikt dreht sich in Richtung Fenster. Durch den Schlitz zwischen den bodenlangen Vorhängen dringt ein schmaler Stab Licht. Er gewinnt an der gegenüberliegenden, unverputzten Wand Form, an der sich sonst nur ein paar einzelne, mit Stecknadeln befestigte Postkarten befinden. Die meisten zeigen nichtssagende geometrische Figuren in Pastellfarben, auf einer ist der nackte Rücken eines athletischen Mannes abgebildet, er schaut ausdruckslos über seine linke Schulter. Es ist genau die puristische, geschmackvoll gestaltete Wand in einem Altbauzimmer einer WG kreativer Mittzwanziger, die man dort erwartet. Benedikt gähnt still.

Seit er denken kann, versucht er, sobald die dreisekündige Schlaftrunkenheit zwischen Wachwerden und Aufwachen, sobald das Gefühl für das Hier und Jetzt Konturen in sein noch nebliges Bewusstsein gezeichnet hat, auf Basis des allerersten Eindrucks eine Beschreibung für den bevorstehenden Tag zu formulieren. Langsam und vorsichtig richtet er sich auf, reibt sich die Augen, wirft einen Blick auf die Person neben sich. Er fragt sich nicht zum ersten Mal, wie man so schlafen kann: rücklings, den Kopf in den Nacken überstreckt und in leichtem Winkel nach rechts gedreht, der Mund halb und unvorteilhaft geöffnet. Er muss sich losreißen, weil er den Anblick so unverständlich, interessant und schön findet.

Benedikt nimmt sein Handy vom Nachttisch und verlässt das Zimmer so leise wie möglich. Im Flur sind alle Türen geschlossen. Minas Mitbewohner scheinen noch zu schlafen. In der unordentlichen und dreckigen Küche macht Benedikt sich einen Espresso, scrollt durch sein Handy und bereut es sofort, barfuß zu sein. Während das Wasser im Kännchen heiß wird, liest er ein paar alarmierende Push-Nachrichten und stellt einen Fuß auf den anderen. Er schaut aus dem staubigen Fenster in das klarblaue Stück Himmel, das von hier aus zu erkennen ist. Bald würde es wärmer werden. Obwohl Unordnung und Dreck in Benedikt im Normalfall Fluchtinstinkte auslösen, fühlt er sich hier, mit dem unteren Rücken an die Arbeitsfläche gelehnt, insgesamt sehr wohl. Das hier ist Minas Unordnung und nicht seine, es sind Minas in hektischem Rot gehaltenen Wände in einer WG im Erdgeschoss und nicht seine fleckigen, kalten Fliesen. Schließlich – der Espresso macht erst zischelnd und dann brodelnd darauf aufmerksam, dass er fertig ist – fällt ihm die passende Beschreibung für diesen Tag ein: der noch angewärmte Sitzplatz in der U-Bahn, auf den man sich fallen lässt, ohne zu ahnen, dass er noch warm ist, und man weiß nicht genau, ob die Wärme angenehm oder abstoßend ist.

Franziska liest sich das Kapitel nochmal durch. Sie denkt: Ich muss dringend die Namen ändern. Sonst fühlt sie sich das erste Mal in diesem Jahr ruhig und befriedigt. Franziska geht früh ins Bett und wacht am nächsten Morgen erholt auf.

Drei

»Marlburro, Marlburro.« Das sonore Murmeln, mit dem die Zigaretten-Dealer um die Metrostation Barbès–Rochechouart ihre Ware bewerben, stimmt Franziska wie jeden Morgen auf unbestimmte Weise froh. Bevor sie gegen acht Uhr dreißig das Appartement im 18. Arrondissement das letzte Mal verließ, hatte sie die Schlüssel auf den Esstisch gelegt und kurz überlegt, ob sie noch einen Zettel dazu schreiben sollte. Ein kurzer Satz, irgendetwas Sentimentales, vielleicht sogar etwas Versöhnliches. »Danke für die schöne Zeit.«

Franziska hatte nichts geschrieben.

Seitdem sind acht Minuten vergangen. In diesen acht Minuten hat Franziska drei Mal die Luft angehalten, als sie die Halal-Metzgereien mit roten Markisen in ihrer Straße passiert hat, deren Thekenauslagen in der Morgensonne mit verschiedenen Innereien befüllt wurden. Das beige wabbelige Fleisch war unvorteilhaft in die beschlagenen Vitrinen gequollen. Wenn sie die Luft nicht angehalten hätte, hätte es so gerochen, wie Franziska sich den Geruch einer Leiche vorstellt, die schon etwas länger liegt. Die ersten Male war ihr von diesem Geruch so schlecht geworden, dass sie sich wahrscheinlich übergeben hätte, hätte sie schon etwas im Magen gehabt. Auch wenn sie es von sich selbst lächerlich gefunden hatte, hatte sich Franziska in Paris dem Klischee entsprechend angewöhnt, zum Frühstück nur Kaffee zu sich zu nehmen.

Die Frauen in Trachten aus buntem African Wax hatten gerade begonnen, sich auf den Bürgersteigen des Goutte d’Or einzurichten, um dort bis zum späten Nachmittag derb und kraftvoll »Siss a zäng Öro« zu rufen. Fünf Euro wollten sie für sechs Knollen eines Gemüses, das aussah wie eine missgebildete Kreuzung aus Schwarzwurzel und Aubergine. Franziska wusste bis heute nicht, worum es sich genau handelte. Ihr kamen die Frauen seltsam unbeteiligt und gleichzeitig stark und respekteinflößend vor. Es war Franziska während der zwei Jahre undenkbar erschienen, mit ihnen zu sprechen.

Sie hatte den Verkäufer im Gemüsehandel an der Ecke gegrüßt, bei dem sie nur sehr selten und wenn, dann aus Verlegenheit etwas gekauft hatte, weil er so nett grüßte. Eigentlich war es hier wie überall in Paris zu teuer gewesen für Franziskas Verhältnisse. Ein Mann mit flatternder Krawatte war ihr entgegengekommen, der laut lachend »Projekte, Projekte« in seine weißen Airpods gesagt hatte.

Sie war an den Fischverkäufern der Rue des Poissonniers vorbeigelaufen, die gerade ihre fragil wirkenden Stände aufbauten. Sie hatte nicht umhingekonnt, entzückt zu sein über das Wasser, das in klaren, die Sonne reflektierenden Bächen durch die Rinnsteine des Viertels floss und sich hier an einer Eisscholle staute, auf der kurz zuvor eine Dorade transportiert worden war. Franziska hatte sich die Thekenauslage nie genauer angeschaut und nicht die geringste Ahnung von Fisch, aber sie hatte »Dorade« gegoogelt und fand, dass die Dorade aussah wie der klassische Fisch. Bestimmt verkauften sie hier den klassischen Fisch. Die Eisscholle schmolz nur langsam in der Sonne des klaren Morgens.

An der Ecke hatte sie innegehalten und zum Fenster hochgeschaut, hinter dem Malos Appartement lag. Sie hatte dazu an mehrere dunkelblaue, an den Seiten aufgerissene Nudelverpackungen der Marke Barilla auf dem Fensterbrett der kleinen Küche und genoppte Kondome gedacht.

Schnell war sie links auf den breiten, auch zu dieser Tageszeit trubeligen, aber verhältnismäßig ruhigen Boulevard Barbès eingebogen. Sie war den Gittern, durch die die warme, süßliche Luft der Metroschächte auf den breiten Bürgersteig geblasen wird, ausgewichen. Wie immer hatte sie sich vorgestellt, dass an diesen Stellen die Stadt ausatmet.

Spätestens an einem der vom Ruß geschwärzten, zum Grill umfunktionierten Einkaufswagen, auf dem ein kleiner, verschlafener Mann die ersten Maiskolben des Tages röstete, hatte sich ihr eigener Atem wieder normalisiert. Sie hatte den Popcornduft tief durch die Nase gesogen, der sie für den Rest ihres Lebens an das größte Kino ihrer mittelgroßen Heimatstadt und darüber hinaus einzig an den Pariser Norden erinnern würde.

»Marlburro, Marlburro.« Als sie acht Minuten später an der Kreuzung kurz vor der Metrostation steht, kontrolliert Franziska also aus Reflex ihre Taschen. Normalerweise stehen die Dealer hier sehr dicht und hier klauen sie. Zu dieser Tageszeit sind es nur ein paar einzelne Männer mit tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen, die auch auf einen Bus warten könnten. Ihre morgendlich verquollenen Augen sind höchstens zu erahnen. Franziskas großer Reiserucksack drückt sein Gewicht orthopädisch korrekt auf ihre Hüften. Sie könnte die Metro der Linie 4 zum Nordbahnhof nehmen, entscheidet sich dann aber gegen die Enge und die Dunkelheit und mit dem Elan des neuen Tages dafür, das restliche Stück zu laufen. Hinter der Station wird es etwas leerer, Franziska lässt von ihren Taschen ab und entspannt ihre Schultern. Mit jedem Schritt wird das Murmeln der Dealer in ihrem Rücken leiser. Franziska hat den Eindruck, leichtfüßig über den Boulevard zu laufen. Bevor sie am Kreisverkehr links in die Rue de Dunkerque einbiegt, an der der Bahnhof liegt, kauft sie sich im Monoprix an der Ecke eine Packung carottes râpées und ein Baguette für den Weg. Seit sie nicht mehr frühstückte, hatte sich ihr Magen an ein pünktliches Mittagessen gewöhnt, und im Zug würde sie Hunger bekommen.

Die luftige Bahnhofshalle ist auf angenehme Weise mit Gesprächen gefüllt. In Franziskas Bauch breitet sich das prickelnde, feierliche Gefühl aus, das sie nur von Abreisetagen kennt. Sie denkt, dass sie sich in Bahnhöfen immer schon wohlgefühlt hatte: alternativlose Plätze, die zweckgebunden aufgesucht wurden, geordnete Hektik, wenig Zufall, kaum jemand kommt hier einfach so her.

Der Zug ist pünktlich und angenehm beheizt. Ein ausdrucksloser Mann hilft ihr dabei, ihren Rucksack auf die Gepäckablage zu heben. Erst kurz vor Brüssel, den Kopf in das samtrote harte Kissen des Sitzplatzes 74 in Wagen 22 gelegt, denkt Franziska, dass sie gerade vermutlich das hinter sich gelassen hat, was man einen Lebensabschnitt nennt. Sie wartet darauf, dass ihr Gehirn ihr die prägendsten Bilder der letzten zwei Jahre vor ihr inneres Auge projiziert oder sie zumindest ein nennenswertes Gefühl zu dieser Erkenntnis entwickelt. Als nichts dergleichen passiert, schickt sie ein Foto des Brüsseler Bahnhofs an Mehmet, auf dem das Schild »Bruxelles-Midi« zu erkennen ist. Weniger, weil sie Lust auf den Song hat, sondern eher, weil er so gut zur Situation passt, hört sie über ihre Airpods Bruxelles arrive, ein Lied des belgischen Rappers Roméo Elvis aus dem Jahr 2016, das es leider nur auf YouTube gibt. Franziska denkt an das Jahr 2016. Sie erinnert sich, dass sie am Abend der US-Präsidentschaftswahl mit Mina auf einer Art Wahlparty war, die an einer Kunsthochschule ausgerichtet wurde. Ein paar der anwesenden Studierenden hatten, sogar noch bevor das Ergebnis feststand, »Make America great again« gerufen und auf irgendeiner Metaebene mit Trump-Fähnchen gewunken. Damals war Ironie noch nicht ganz vorbei gewesen. Die Studierenden hatten Oberteile mit Rollkragen getragen und Sekt getrunken. Mina hatte die Augen verdreht und feststellend gesagt: »Wie traurig kann man sein.«

Franziska hatte ihr zugestimmt, obwohl sie das Verhalten der Studierenden zwar peinlich, aber längst nicht so abwegig gefunden hatte wie Mina. Sie schickt Mehmet auch noch den Song. Als ihr angenehm ruhiger Sitznachbar, ein untersetzter deutscher Mann mit Halbglatze, aufsteht, um auf die Toilette zu gehen, rückt auch Franziska seitlich aus der Sitzbank und reckt sich nach ihrem Rucksack in der Gepäckablage, um ihren Laptop zu holen. Sie kommt sich bei diesem Vorgang von den anderen Fahrgästen beobachtet und ungelenk vor. Ihr Nacken wird heiß. Zurück auf dem Fensterplatz stellt sie ihr MacBook auf den kleinen Klapptisch. Draußen zieht grünbraune Landschaft vorbei, von der Franziska sich sicher ist, sie nie zu betreten. Sie tippt:

In Mehmets Kopf zwirbelt es. Es fühlt sich an, als würden seine Schläfen aneinanderrücken und den frontalen Teil seines Hirns schraubstockartig zusammenquetschen. Mehmet denkt: Wieso likst du meine Bilder, aber folgst mir nicht, du Wichser? Eigentlich wäre schon vor zwei Stunden der richtige Moment gewesen, das iPhone wegzulegen. Seitdem hat er alle Instagram-Stories gesehen, vier davon selbst hochgeladen und drei Tweets abgesetzt. Mehmet googelt: »süchtig smartphone ab wieviel stunden«. Er kann sich nicht auf die Suchergebnisse konzentrieren. Mehmet aktualisiert, zieht den Bildschirm nach unten, noch mal, lässt ihn los, wiederholt das Ganze. Noch mal. Keine Notifications. Er sitzt auf dem zugeklappten Klodeckel und tippt auf das Profilbild von @_highleid, einem Account mit 115.768 Followern und blauem Haken. Die Unerträglichkeit der Welt liegt in diesem Blau. Das Bild vergrößert sich. Mehmet schaut abwechselnd in die blass-beigen Fliesen des fensterlosen Badezimmers und die ausdruckslosen Augen von @_highleid. Mehmet verlässt die Großansicht des Profilbilds wieder. Er hat keine Ahnung, wer der Mensch hinter dem Bild ist oder was er von ihm will, trotzdem denkt er manchmal vorm Einschlafen an den Account. Sein Feed besteht hauptsächlich aus nihilistischen Memes, die vor allem junge Leute im Internet lustig finden. Dazwischen ergeben ein paar Screenshots seiner und anderer Tweets ein kartiertes Muster, hin und wieder ein Selfie, auf jedem schaut @_highleid gleich unbeeindruckt. Mehmet denkt beim Scrollen, dass er den Feed von @_highleid nicht hasst, denn dann würde ihn das Ganze nicht so mitnehmen. Im Gegenteil. Bis auf ein paar eher platte Tweets findet er ihn weitgehend lustig und ästhetisch ansprechend. Die Lüftung im Bad brummt tief und penetrant.

Es ist nicht das erste Mal, dass @_highleid ein Beitrag von Mehmet gefällt. Mehmet, 19.376 Follower, ist ihm daraufhin schon drei Mal gefolgt, ohne dass @_highleid ihm zurückgefolgt wäre. Mehmet hatte daraufhin wieder auf »unfollow« gedrückt. Es hatte sich ein enttäuschendes Hin und Her ergeben, die Berührungen bestimmter Benutzeroberflächen auf dem Display fühlen sich real an, fast körperlich. Für Mehmet ist @_highleid jemand, dem man auf der Straße begegnet, den man kennt, der einen im Vorbeigehen zwar identifiziert, aber nicht grüßt und stattdessen mit halb erhobener Hand in der Luft und in die Höhe gezogenen Lippen ignoriert. Eine Person, die die Mimik gefrieren lässt. Ein Arschloch, das es genießt, Hierarchien zu performen, oder zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, um freundlich zu sein. Mehmet steht auf und schaut in den Spiegel über dem Waschbecken. Obwohl er wirklich sehr frustriert ist, findet er die Pose insgesamt etwas zu filmisch. Mehmet denkt, dass er gerade dabei ist, jeden Respekt für sich selbst zu verlieren. Als er bemerkt, wie sich das Zwirbeln in seiner Stirn weiter verstärkt, verlässt er fluchtartig das Bad. Wenn man das Smartphone mit auf die Toilette nimmt, hatte Mina mal gesagt, dann ist es schon lange zu spät. »DAnN iSt eS SchOn laNge zU spÄt«, äfft Mehmet sie nach, ganz leise, nur für sich selbst.

Es ist Samstag, beide Eltern haben frei. Im angrenzenden Wohnesszimmer schaut sein Vater fern oder er hat sich einfach in Richtung Fernseher gedreht und schaut etwas anderes an, das weiß Mehmet nicht genau. Sein Vater sitzt an seinen freien Tagen entweder in gleichbleibender Position vorm Fernseher oder in ähnlicher Haltung auf dem schmalen Balkon. Bei beiden Tätigkeiten raucht er. Von seiner Mutter sieht Mehmet ebenfalls nur den Rücken. Ihr Gesicht ist in Richtung Küchenzeile gewandt. Es ist so wie immer. Sie trägt einen schwarzen Pullover mit Rollkragen, der Duft von glasigen Zwiebeln und leise zischendem Knoblauch hängt in der ganzen Etage und wird akustisch durch den Sound des türkischen Nachrichtensenders unterlegt, der aus euphorischen Moderationen und dramatischen Einspielmelodien besteht. Mehmet betrachtet die ockerfarbene Tapete und überlegt, ob er sie hässlich findet oder ob er sich längst an sie gewöhnt hat.

In seinem ehemaligen Kinderzimmer, in dem er jetzt wieder schläft, schließt Mehmet die Tür lauter als sonst hinter sich. Die aufgeregte Stimme des Nachrichtensprechers dringt trotzdem zu ihm herüber. Er öffnet den Chat mit Benedikt und tippt: »hey«. Er blickt einige Sekunden auf das Display, löscht die Nachricht wieder und wirft das Handy so weit es geht von sich weg aufs Bett, verdeckt es mit einem Kissen. Um sich vom Gefühl der daraufhin einsetzenden Unvollständigkeit abzulenken, steht er auf und schaut aus dem Fenster. Sein Blick kommt nicht dazu, sich in der kümmerlichen, aber vorhandenen Idee eines Gartens, der als rechteckiges Stück Rasen an den Rücken des Mehrfamilienhauses grenzt, zu verlieren. Er bleibt stattdessen an den verblichenen Pokémon hängen, die immer noch an der Scheibe kleben. An manchen Stellen haben die Zeit und das Licht die gummiartige Konsistenz aufgelöst oder porös gemacht, teilweise sind sie farblos und ihre Körper eins mit der Fensterscheibe geworden. Glumanda fehlt der brennende Schwanz, Bisasam trägt nur noch eine halbe Knospe als Panzer, Pikachu hat kein Gesicht mehr. Obwohl er die Window Colors als Bild seiner nie wiederkehrenden Kindheit etwas zu platt findet, spürt Mehmet, wie sein Brustkorb enger wird.

»Kommst du essen?«, hört er seine Mutter rufen. An guten Tagen macht es Mehmet stolz, dass seine Eltern zu Hause türkisch sprechen. Heute nicht. Er schaut kurz das Kissen an, unter dem sein Handy liegt. Mehmet kann sich beherrschen und verlässt den Raum.

Der Fernseher murmelt während des Essens etwas leiser weiter, niemand am überdimensionalen Tisch aus dunklem, glänzendem Holz bemerkt es, weil sich alle daran gewöhnt haben. Auch Mehmet nicht, der in die weißen Bohnen in Tomatensoße und Reis starrt, eine Gabel zum Mund führt und langsam kaut, ohne etwas zu schmecken. Im Augenwinkel registriert er den zuneigungsvollen, aber auffordernden Blick seiner Mutter. Mehmet kann es nicht ignorieren, und sie weiß das. Er schluckt den Nahrungsbrei herunter, es fällt schwer, sein Hals fühlt sich rau an. Er sagt: »Ist lecker.« Unter Anstrengung zieht er die Lippen nach oben.

Das sieht ja furchtbar aus, denkt sein Vater und sagt wie immer nichts.

Auf dem Bildschirm ploppt Mehmets Antwort über die Telegram-Desktop-Funktion auf: »den habe ich seit drei jahren nicht mehr gehört«.

Franziska findet, dass diese Nachricht in ihrer Nüchternheit überhaupt nicht zu der Stimmungsanwandlung passt, die der Song gerade in ihr auslöst. Mehmet könnte sich etwas mehr Mühe geben, sich in sie hineinzuversetzen. Franziska überlegt, ob es ihm vielleicht gerade schlecht geht. Sie löscht den letzten Absatz, weil sie nicht weiß, ob Mehmets Eltern zu Hause türkisch reden oder wie Mehmet dazu steht. Franziska speichert ab, klappt den Laptop zu und lehnt sich wieder ins harte Samtrot hinter ihrem Kopf. Müdigkeit drückt plötzlich von der Stirn aus auf ihre Augen, zieht in ihre Schultern und von da aus in ihren gesamten Körper. Sie hemmt Franziska die restliche Fahrt darin, etwas Besonderes zu beobachten.

Vier

Franziska zuckert nach. Sie rührt so lang in der kleinen Tasse dampfenden Espressos, bis sich alle Kristalle aufgelöst haben und sie mit dem Löffel nur noch den hell klingenden Porzellanboden spürt. Franziska führt die Tasse zum Mund und schaut sich in ihrer Wohnung um. Sie denkt: Das Licht zur Mittagszeit ist das schlimmste. Für Franziska leuchtet es eine Tageszeit aus, die generell nichts Gutes birgt. Die Mut bringende Leichtigkeit des frühen Morgens ist lange vergangen. Bis zur beruhigenden Atmosphäre des Nachmittags dauert es noch. Dazwischen tanzt Staub.

Franziska raucht blinzelnd, ihre Stirn liegt in angestrengten Falten, ohne dass sie es bemerkt. Der Qualm der Zigarette verteilt sich in der Sonne längst nicht so behutsam wie in der Dunkelheit eines Abends. Bläulich und fahl hängt er in der kühlen Luft, wirkt ungesund und störend. Das Schreien eines Babys echot durch den Hinterhof.

Franziska überlegt, wie es ihr geht, zurück in ihrem alten Leben, nach zwei Jahren. Die Zwischenmieterin hat kaum Spuren hinterlassen. Es war eine lächelnde Frau aus Österreich gewesen, die für ihren Masterabschluss hergekommen war. Franziska wusste nicht mehr genau, welcher Master, es hatte sich um einen Marketingstudiengang gehandelt, mit dem sie sich später wahrscheinlich um den Social-Media-Auftritt einer Fair-Fashion-Marke oder die SEO-Optimierung einer Website kümmern konnte, bis sie zu einem angemessenen Zeitpunkt ihres Lebens schwanger werden würde. Sie hatte die Art unbeirrter Ruhe ausgestrahlt, die nur Kinder aus wohlhabenden Elternhäusern ausstrahlen.

Franziska hatte sie nur kurz bei der Schlüsselübergabe getroffen und sich später über ihr Instagram-Profil erschlossen, dass sie verantwortungsvoll und leistungsorientiert war und eine enge Beziehung zu ihrer Mutter zu pflegen schien, welche auf überdurchschnittlich vielen Selfies in ihren Feed lächelte. Die Mutter sah aus wie die ältere Version ihrer Tochter. Franziska hatte bei Betrachtung der Bilder eine angenehme Bedeutungslosigkeit gespürt. Sie hoffte für beide, dass sie glücklich werden würden.

Franziska erinnert sich, dass die Zwischenmieterin 23 gewesen war, als sie hergekommen war, weshalb Franziska sie mit ihren damaligen 25 Jahren zunächst gehasst hatte, schließlich hatten sie zu diesem Zeitpunkt beide ihr Masterstudium begonnen. Spätestens seit sie Mitte 20 war, empfand Franziska ganz automatisch Neid auf jede Person, die jünger war als sie selbst, besonders dann, wenn es eine Frau war.

Franziska inhaliert und drückt die Zigarette aus. Sie ist im selben Moment traurig darüber, weil sie weiß, dass damit die einzige aktive Tätigkeit endet, zu der sie sich in diesem Moment imstande fühlt. Während sie das Fenster schließt, denkt Franziska, wie froh sie darüber ist, heute kein schreiendes Baby beruhigen zu müssen.

 

Die Frist ist heute, der Auftrag für den Fruchtriegel drei Wochen alt, seit zwei Tagen hängt er zwischen ihren Gedanken, sie hat schon vier Mal angesetzt, Angst bekommen, abgesetzt. Normalerweise arbeitet Franziska gern. Obwohl ihr, wie in jedem geisteswissenschaftlichen Studiengang üblich, während ihres Romanistikstudiums beigebracht worden war, dass der Studiengang ein brotloses Arbeitsleben nach sich ziehen würde, hatte sie sich während der letzten Jahre ein engmaschiges Netz an Auftraggeber:innen aufbauen können, das ihr ohne Probleme ihren Lebensunterhalt sicherte.

Neben dem Studium hatte Franziska begonnen, für eine Firma zu arbeiten, die eine Website betrieb, auf der sich Kund:innen Texte verfassen lassen konnten. Franziskas Aufgabe bestand darin, auf der Basis weniger Stichpunkte Blogeinträge, Website-Texte und Produktbeschreibungen zu verfassen. Das Büro lag in einem Hochhaus, dessen verglaste Front sich an einer viel befahrenen Straße in den Himmel schob. Wenn sie einen schlechten Tag hatte und die Sinnlosigkeit ihres Tuns zu sehr in ihr Bewusstsein rückte, gab Franziska sich Mühe, sich von oben zu betrachten, an den Film Lost in Translation zu denken und ihrer Situation eine triste, postglobalisierte und in diesem Sinne ästhetische Seite abzutrotzen.

Franziska sprach im verglasten Hochhaus selten mit jemandem und hörte beim Arbeiten Musik über große Kopfhörer. Deshalb lernte sie erst nach ein paar Monaten Max kennen, als beide auf dem kleinen Stück der Dachterrasse standen, das als Raucherbereich verwendet wurde, und sich nicht ignorieren konnten. Franziska hatte den dünnen, fahlhäutigen Mann mit randloser Brille und strähnigen Haaren bisher nur flüchtig gegrüßt, wenn sie sich auf dem dunkelblauen Teppichboden des Firmenflurs entgegenkamen. Max redete so ungern wie Franziska, deshalb verstanden sie sich gut und gingen von da an öfter zusammen rauchen. Sie hatte ihn unterbewusst als jemanden eingeordnet, der in seiner Freizeit viele Online Games spielte. Es stellte sich heraus, dass Max in seiner Freizeit viele Online Games spielte, aber genauso viele Gedichte schrieb. Max erzählte ihr, dass er neben dieser Arbeit noch als Werbetexter arbeitete.

»Die suchen immer«, hatte er gesagt und an seiner Zigarette gezogen, »ich kann dich empfehlen.«

»Hey, Franziska!«, hatte in der Mail der Werbeagentur gestanden, die ein paar Tage später in ihren Posteingang rutschte, »du machst doch jungen, frischen Content!«

Die Kunden der jungen und frischen Social-Media-Kampagnen, die Franziska daraufhin für die Agentur textete, waren in der Regel Unternehmen, die nachhaltige und größtenteils pflanzliche Produkte im Segment Lebensmittel und Kosmetik auf den Markt brachten. Wenn der Algorithmus eine Werbung zwischen ihre Insta-Stories spülte, die Franziskas Idee gewesen war, freute sie sich anfangs darüber, bald wischte sie die Werbung so energisch weg wie jede andere.

Ein paar Monate darauf veröffentlichte Franziska einen Text in einem Magazin, der im Internet für Aufmerksamkeit sorgte, weil er sich kritisch mit dem Phänomen Online-Aktivismus und der dadurch generierten Aufmerksamkeit auseinandersetzte. Ihre Followerzahl stieg und sie bekam einige Anfragen, von denen sie die meisten ablehnte, weil es sich um Anfragen handelte, die im Bereich Moderation lagen. Allerdings waren auch drei interessante Textaufträge größerer Publikationen dabei, von denen Franziska zwei annahm. An einem Dienstagvormittag rutschte außerdem die Mail eines Musikverlags in ihren Posteingang.

Franziska schreibt seitdem neben Werbeslogans auch Songtexte für Indiebands und verschiedene Deutschrap-Künstlerinnen und -Künstler. Es sind vermehrt Künstler. Durch die Entwicklung ihrer Auftragslage verdiente Franziska bald pro Woche und hin und wieder am Tag so viel, wie sie vorher im Monat zusammenbekommen hatte. Den Job im verglasten Hochhaus kündigte sie dreieinhalb Monate nach der Zigarette mit Max, kurz bevor sie nach Paris ging. Max verlor sie aus den Augen, obwohl sie noch oft an ihn dachte.

Franziska ist froh darüber, ihre Arbeit von überall aus und zu jeder Tages- und Nachtzeit erledigen zu können. Am Anfang ermahnte ihre Mutter sie manchmal, dass sie nicht so viel arbeiten solle. Franziska versicherte ihr daraufhin immer wieder wahrheitsgemäß, dass sie das gern tat und es ihr damit gut ging, bis ihre Mutter ihr glaubte und Franziskas Arbeitsethos nicht mehr infrage stellte.

Franziska denkt, dass etwas zu produzieren und damit Geld zu verdienen die einfachste Möglichkeit ist, die eigenen Ängste kurzfristig stummzuschalten. Sie hat zum jetzigen Zeitpunkt einen Kontostand, der sie ohne Probleme durch die nächsten zwei Jahre bringen würde, auch wenn sie ab morgen keine Jobs mehr annehmen würde.

Franziska stellte schnell fest, dass Schreiben vor allem ein Handwerk war und das Textgenre dabei eine untergeordnete Rolle spielte. Selbst Werbetexte und Songtexte hatten mehr miteinander zu tun, als man zunächst annehmen würde.

Neben ihren lukrativen Jobs schreibt Franziska weiterhin vereinzelte Beiträge für Magazine und Zeitungen, allerdings betrachtet sie die in der Regel unterbezahlten Aufträge als reines Prestige, um ihre Vita auszuschmücken.