Das Ende ist beruhigend - Carla Kaspari - E-Book

Das Ende ist beruhigend E-Book

Carla Kaspari

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Beschreibung

Es ist der Sommer 2130, irgendwo im Norden Italiens. Die Malerin Esther und die Ingenieurin Théa leben zwei der besten Leben, die in jenen Jahren noch möglich sind. »Spes I« ist ein besonderer Ort für besondere Menschen; dass hinter den Dörfern ein fragwürdiges Konzept steckt, ist nur der Betreiberorganisation bekannt – noch. Mit Gelassenheit und stillem Glück gehen die Bewohner:innen von Spes I ihren Leidenschaften nach, treffen an lauen Abenden andere Residents und genießen leichte Getränke. Die Atmosphäre im Dorf wird von einer Kuppel und einem Belüftungssystem einerseits, von Coachings und Achtsamkeit andererseits reguliert. Esther ist froh, hier, abgeschottet vom Schrecken der Außenwelt, leben und arbeiten zu dürfen. Ihre Gemälde, die stets zwei Sonnen zeigen, zählen zu den begehrtesten Kunstwerken der Gegenwart.  Nach der Ankunft von Cleo und Thomas, einem Kreativenpaar aus Berlin, kommt es zu Zwischenfällen und die Atmosphäre verändert sich. Bald erwacht Esther auf der Rückbank eines Wagens, der die Grenzen des Dorfes längst hinter sich gelassen hat. Sie ist in der Außenwelt, auf einer Mission mit ungewissem Ausgang. Oder gibt es doch eine Gewissheit?  Das Ende ist beruhigend ist ein Roman über Freundschaft, über Kreativität und darüber, wie hoffnungsvoll man in die Zukunft blicken kann und muss. Mit spielerischer Freude entwirft Carla Kaspari eine zugleich groteske und dramatische, spannende und unterhaltsame Utopie in der Dystopie.

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Seitenzahl: 279

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Carla Kaspari

Das Ende ist beruhigend

Roman

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Titelseite

Über Carla Kaspari

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

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Über Carla Kaspari

Carla Kaspari, geboren 1991, hat in Bonn und Paris Literatur- und Musikwissenschaft studiert. Sie lebt in Köln und arbeitet als freie Autorin. Ihre Texte erscheinen in unterschiedlichen Publikationen und Formaten.

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Über dieses Buch

Es ist der Sommer 2130, irgendwo im Norden Italiens. Die Malerin Esther und die Ingenieurin Théa leben zwei der besten Leben, die in jenen Jahren noch möglich sind. »Spes I« ist ein besonderer Ort für besondere Menschen; dass hinter den Dörfern ein fragwürdiges Konzept steckt, ist nur der Betreiberorganisation bekannt – noch.

Mit Gelassenheit und stillem Glück gehen die Bewohner:innen von Spes I ihren Leidenschaften nach, treffen an lauen Abenden andere Residents und genießen leichte Getränke. Die Atmosphäre im Dorf wird einerseits von einer Kuppel und einem Belüftungssystem, andererseits von Coachings und Achtsamkeit reguliert. Esther ist froh, hier, abgeschottet vom Schrecken der Außenwelt, leben und arbeiten zu dürfen. Ihre Gemälde, die stets zwei Sonnen zeigen, zählen zu den begehrtesten Kunstwerken der Gegenwart.

Nach der Ankunft von Cleo und Thomas, einem Kreativenpaar aus Berlin, kommt es zu Zwischenfällen und die Atmosphäre verändert sich. Bald erwacht Esther auf der Rückbank eines Wagens, der die Grenzen des Dorfes längst hinter sich gelassen hat. Sie ist in der Außenwelt, auf einer Mission mit ungewissem Ausgang. Oder gibt es doch eine Gewissheit?

Inhaltsverzeichnis

Motto

2125

2130

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

2131

sky is a sea of darkness, when there is no sun

to light the way

there is no day

there is no day

there’s only darkness

eternal sea of darkness

Sun Ra – When There Is No Sun

2125

Im Normalfall lässt Dean sich direkt hinunter auf die Ebene fahren, wenn er Termine in der Stadt hat, aber heute stoppt er den Aufzug ohne bestimmten Grund etwas früher, auf Plateau 1. Der Aufzug regiert auf seine Stimme, die Glastüren öffnen sich blitzschnell, er tritt zielstrebig hinaus. Auf Plateau 1 läuft leise Choralmusik, so wie fast überall in seinem Areal. Die Akustik ist ihm wichtig, Dean hasst absolute Stille mindestens so sehr wie Lärm.

Er kommt häufig her, beinahe täglich, meistens, um zu spazieren. Auf Plateau 1 dominiert das Thema »Nature«. Hier ist der Indoorgarten angelegt, aus dem die Köchinnen und Köche das Gemüse beziehen, es gibt die Sportanlagen, den See, den kleinen Wald.

»Herr Schneider, hallo! Wie geht es Ihnen«, ruft eine seiner Gärtnerinnen freundlich, aber nicht zu laut, sie ist in einiger Entfernung damit beschäftigt, einen Strauch zu stutzen. Die Gärtnerin erwartet nicht, dass Dean etwas erwidert, denn er behandelt seine Angestellten zwar mit dem nötigen Respekt und einem festgelegten Maß an Freundlichkeit, aber sie wissen, dass er häufig in zu komplexen Gedanken versunken ist, als dass er es riskieren könnte, durch einen freundlichen Gruß seinerseits aus ihnen herausgerissen zu werden.

Heute hat Dean keinerlei komplexe Gedanken, er belässt es trotzdem bei einem angedeuteten Nicken in Richtung der Gärtnerin. Dann lässt er den Blick durch die Glasfront schweifen, hinüber in den Outdoorbereich. Er macht etwa die Hälfte von Plateau 1 aus. Für gewöhnlich nutzt Dean ihn gar nicht mehr, dafür ist die Luftqualität in Berlin viel zu schlecht. Der Anblick des gepflegten, aber unbenutzten Gartens lässt ihn unwillkürlich aufseufzen, ganz leise.

Die meisten Sponsor:innen haben ihre Areale längst außerhalb von Deutschland, weiter nördlich, an sicheren Orten mit atemberaubenden Panoramen, sie kommen nur noch für die Konferenzen in die Stadt. Als er sich hier, mitten in Berlin, niederließ, redete Dean sich ein, die Prognosen seien nur Prognosen und insgesamt zu vage, die Entwicklung noch nicht so offensichtlich. Damals hatte er sich in den Kopf gesetzt, die Großstadt und die Nähe zu den Menschen, das urbane Grundrauschen, zu brauchen, um sich wohlzufühlen. Mittlerweile sieht er ein, wie lächerlich dieser Gedanke war, denn das Konzept einer Großstadt und vor allem die Vorstellung eines urbanen Grundrauschens war auch damals schon lange gescheitert und überwunden. Und auch die Prognosen bewahrheiteten sich bislang, Deutschland wurde aktuell noch für die nächsten fünfzehn Jahre als sicherer Lebensraum eingestuft.

Dean hat sich trotzdem dazu entschieden, vorerst in Berlin zu bleiben. Allein der Gedanke an einen Umzug würde ihn unnötig aus der Ruhe bringen. Außerdem ist es nie so schlimm, wie alle sagen. Nach wie vor gibt es schöne Tage, so wie heute. Es ist Anfang November und außergewöhnlich mildes Wetter, die Luft so gut wie lange nicht, keine erhöhte Warnstufe – zugegeben, das erste Mal seit Monaten, aber dennoch. Dean streicht sich ein paar Strähnen blonder Haare hinter die Ohren und wendet sich von der Glasfront ab.

Wenn der Fall eintritt, dass er sein Areal verlässt, dann für geschäftliche Termine oder wegen einer Verabredung mit Angelica. Sie besucht ihn selten zu Hause, meistens schlägt sie vor, etwas unten in der Stadt zu unternehmen, oft handelt es sich um den Besuch irgendeines kulturellen Events, einer Oper, einer Vernissage oder eines Theaterstücks. Angelica mag es, unter Leute zu gehen. Sie scheint sich durch die schlechte Stimmung und die negativen Eindrücke, die die Stadt hinterlässt, nicht so beeinflussen zu lassen wie er. Dean war schon immer anfällig für Stimmungen und Atmosphären, deswegen setzt ihm der Fatalismus, der da draußen herrscht, zu, oder zumindest bereitet es ihm schlechte Laune, all diese schwachen Menschen zu sehen, die augenscheinlich aufgegeben haben. Auf Angelicas Vorschläge geht er eigentlich nur ein, um Zeit mit ihr zu verbringen. Oft freut Dean sich tagelang auf die Treffen. Im Gegensatz zu seinen restlichen sozialen Kontakten, die zum Großteil in irgendeiner Weise dienstlicher Natur sind, pflegt Dean zu Angelica eine persönliche und dabei rein platonische Beziehung. Er würde sie ohne zu zögern als gute Freundin bezeichnen und darüber hinaus als seine einzige. Dean weiß, wie kostbar so eine Freundschaft ist, gerade, wenn man zu den reichsten Menschen des Landes gehört. Er ist ein wenig stolz, dass er es dieses Mal war, der Angelica vorgeschlagen hat, ihn auf die Ausstellungseröffnung zu begleiten. Hoffentlich wird es nicht zu enttäuschend.

 

Dean will gerade zurück in den Fahrstuhl, da bleibt sein Blick an einer unscheinbaren Tür hängen, gleich neben dem Aufzug, sie ist ihm vorher nie aufgefallen. Er nähert sich ihr mit entschiedenen Schritten, denn Dean nähert sich allem und jedem möglichst entschieden. Es ist lange her, dass er so etwas gespürt hat, ein Kribbeln, eine Art Aufregung, vollkommen ungeplant. Sein Körper produziert echtes Adrenalin.

Die Tür schwingt etwas schwerfällig auf. Dean strafft seine Schultern und tritt in den Raum dahinter. Die Spannung verlässt seine Schultern sofort wieder, als er feststellen muss, dass er sich in einem gewöhnlichen Treppenhaus befindet. Einige Sekunden schaut er stumm in den grell ausgeleuchteten Flur. Zu seiner eigenen Überraschung lässt er als Nächstes die Tür ins Schloss fallen und setzt einen Fuß auf die erste Stufe treppabwärts. Sie kommt ihm unbenutzt vor, so glatt und scharfkantig. Dean ist sich nicht sicher, ob diese Treppe überhaupt eine Funktion hat. Soweit er weiß, nutzen seine Angestellten ausschließlich die Fahrstühle. Dean selbst hat jedenfalls nicht entschieden, dass es dieses Treppenhaus geben soll. Vermutlich hat es mit irgendwelchen Sicherheitsbestimmungen zu tun, Brandschutz oder Ähnliches, an die sich seine Architekt:innen bei der Planung des Areals gehalten haben, obwohl jeder weiß, wie unnötig diese Bestimmungen sind. Eine spontane, aber sehr kräftige Wut sammelt sich in Deans Magen, als er an den führenden Architekten denkt, der offensichtlich zu ängstlich war, um diese jahrhundertealten Vorschriften zu ignorieren. Ängstliche Menschen machen Dean Schneider aggressiv, das war schon immer so. Zum Glück gelingt es ihm heute, die Wut schnell unter Kontrolle zu bringen. Immerhin könnte er ohne den ängstlichen Architekten jetzt nicht diese Treppe nehmen, um die Ebene zu erreichen. Die ehrlichen Bewegungen der Kniegelenke tun gut. Als er unten ankommt, fühlt er sich vital und jung. Obwohl sein biologisches Alter bei 72 Jahren liegt, ist Deans Körper erst 44, das hat ihm Kaio, sein Bodycoach mit den kleinen Schneidezähnen, erst letzte Woche bescheinigt.

 

Dean zieht die unscheinbare Schatulle aus der Seitentasche seines Sakkos und betrachtet den dünnen Stab, der seit zwei Tagen in seinem Besitz ist, kaum größer als eine Zigarette. Pure Hope, steht darauf, länglich eingraviert. Vielleicht ein wenig plastisch, es so zu nennen, aber gut, denkt er, führt das Mundstück an die Lippen, es ist abgerundet und angenehm warm, Dean schließt die Augen und nimmt einen tiefen Zug.

 

Es füllt erst seinen Kopf, die Stirn und die Schläfen, von dort breitet sich der Stoff in einem angenehmen Tempo im Rest seines Körpers aus. Die Wirkung ist nicht zu stark oder überwältigend, er bleibt ganz klar. Mit nach wie vor geschlossenen Augen verziehen sich seine Lippen fast wie von selbst zu einem entspannten Lächeln. Ein kleines Wunder. Es handelt sich um einen Prototyp, den Sponsor:innen vorbehalten. Die Suche nach Wegen, um es in größeren Mengen herzustellen, läuft mit Hochdruck. Wenn das gelingt, dann könnte es vielleicht die Lösung sein. Dean lässt die Schatulle zurück in sein Sakko gleiten, legt den Kopf schief, sodass es knackt, beidseitig. Dann tritt er ins Freie.

Auf der Ebene vor dem Areal staubt es wie angekündigt nicht allzu stark, deswegen zieht Dean sein Shield nicht gleich über. Vielleicht ist es das PH, die außergewöhnlich gute Wetterprognose oder die Vorfreude darauf, Angelica wiederzusehen, jedenfalls entscheidet er sich dazu, den Wagen stehen zu lassen und stattdessen einen Spaziergang zu machen. Er gibt Claudio ein Zeichen und macht sich zu Fuß auf den verhältnismäßig langen Weg zum Eingangstor, um sein Areal zu verlassen.

 

Dean kann sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal einen Spaziergang im Freien gemacht hat. Früher, mit Noah, da hat er öfter Spaziergänge gemacht, aber damals war die Situation auch noch eine andere. Dean versucht, die Gedanken an seinen Sohn schnell wieder abzuschütteln. Sie machen ihn sentimental. Vorsichtig atmet er ein. Die Luft riecht ein wenig schweflig, ganz leicht nach faulen Eiern, aber bis zur Galerie wird es auszuhalten sein, es dauert zu Fuß nicht länger als eine halbe Stunde. Die Torflügel öffnen sich zu den Seiten hin und Dean tritt hinaus.

Sein Weg führt ihn durch eine öffentliche Parkanlage in Kreuzberg, die er vor zwei Jahren hat anlegen lassen, sie grenzt an die Ostseite des Areals. Der Park ist außerordentlich gut besucht. Mit dem November hat die Outdoorsaison offiziell begonnen, die Menschen verlassen ihre Wohnungen nun häufiger, hin und wieder wird es sogar mehrmals in der Woche möglich sein. Die Temperaturen sind jetzt immer öfter ungefährlich.

Kinder in geringelten Ganzkörperanzügen werfen sich abgerundete Gegenstände zu. Ihre Bewegungen sind etwas unsicher, man erkennt, dass sie es nicht gewohnt sind, draußen zu spielen. Elternteile sitzen unter UV-Pavillons im Schneidersitz auf Decken, die sie auf dem sattgrünen Kunstrasen ausgebreitet haben, manche picknicken sogar und führen Gespräche in zurückgelehnten Körperhaltungen. In einiger Entfernung erkennt Dean zwei Hunde, obwohl man Hunde im Freien noch seltener sieht als Kinder. Insgesamt ergibt die Szenerie des Stadtparks ein positives Bild. Deans Laune hebt sich abermals. Wenn die Leute einen fröhlichen Eindruck machen, dann hat das Komitee gute Arbeit geleistet.

Er ist noch in Gedanken versunken, die die Herausforderungen dieser Zeit und die Verantwortung des Komitees betreffen, als das Licht durch die Wolkenschicht bricht. Eigentlich war in der Prognose für heute nicht von einer direkten Sonneneinstrahlung die Rede gewesen. Einige Parkbesucher spannen hektisch ihre UV-Pavillons auf und rufen ihre Kinder oder Hunde zu sich. Dean öffnet seinen UV-Schirm, setzt die Sonnenbrille auf und schirmt seine Augenpartie zusätzlich mit dem Unterarm ab. Dann dreht er sich einmal um die halbe Achse, gen Sonne. Das Areal ragt hinter den künstlichen Pappeln, die die Parkanlage begrenzen, in den Himmel. Ein paar junge Leute suchen Schutz in seinem Schatten.

Als er den Galeriekomplex erreicht, wartet Angelica schon vor dem Eingang. Auch sie trägt keinen Helm. Es ist wirklich ein außergewöhnlich schöner Tag. Als sie Dean erkennt, lächelt sie wissend. Es gibt gar nichts Bestimmtes, das Angelica in diesem Moment wissen könnte, aber sie lächelt immer auf diese Art.

»Zu Fuß?«, fragt sie einigermaßen überrascht, während sie sich mit zwei Küsschen auf die Wangen begrüßen. Angelicas Parfüm riecht streng, aber gut. Sie trägt einen leichten, fast bodenlangen Mantel mit hochstehendem Kragen. Es sieht sehr lässig und gleichzeitig elegant aus, diese Kombination ist typisch für Angelica.

»Ja«, sagt Dean ein wenig außer Atem, aber beflügelt durch die Bewegung.

»Ich habe einen Spaziergang durch die Stadt gemacht. Mir war danach.«

»Einen Spaziergang«, wiederholt Angelica. »Durch die Stadt.«

Ihr Persönlichkeitsprofil ist geprägt von einem gemäßigten Sarkasmus. Glücklicherweise ist Angelica intelligent genug, um das zu wissen und einzuschätzen, wann es unangenehm wird.

»Vielleicht ziehst du doch deinen Helm über, Dean«, sagt sie mit einem Blick in die Luft, »es scheint dir nicht besonders gut zu gehen.«

Dean schaut sie regungslos an und entscheidet sich dazu mitzuspielen.

»Nein, im Ernst. Ich habe dem Komitee kürzlich vorgeschlagen, dass wir die Leute noch gezielter zu körperlichen Aktivitäten im Freien animieren sollten, also auch außerhalb der Saison. Durch Prämien oder so, keine Ahnung. Klar, es ist nicht ganz ungefährlich, aber das Risiko ist es wert. Es tut so gut, Angelica.«

Ihre Augenbrauen ziehen sich zu einer Linie zusammen, nur ganz leicht, Angelica ist keine Person mit einer besonders ausgeprägten Mimik. Sie ist es gewohnt, dass Dean ihr von Ideen berichtet, die sich unrealistisch und manchmal vielleicht ein wenig wahnsinnig anhören und für einen Moment scheint sie ihm seine Worte abzunehmen, obwohl sie natürlich weiß, wie lächerlich es ist, was er sagt. Bis auf Ausnahmen wird dringlich davor gewarnt, sich außerhalb der Outdoorsaison von November bis März für längere Zeit unter freiem Himmel aufzuhalten. Schließlich schaut Dean entsprechend und Angelicas Lippen formen ein Lächeln.

»Lass uns reingehen«, sagt er gut gelaunt.

 

Eine freundliche Servicemitarbeiterin am Empfang nimmt ihm gerade Helm und Schirm ab, als Dean seinen Namen hört. Er dreht sich möglichst entschieden um.

»Mary«, sagt er.

Es überrascht ihn nicht, sie hier zu sehen. Zu den jährlichen Absolventenschauen werden in der Regel alle Mitglieder des Komitees eingeladen.

»Du gehst schon?«

»Ja.« Nachdem sie ihre leichte Jacke übergestreift hat, kommt Mary näher und spricht etwas leiser. Ihre Haut sieht prall aus und elastisch, sie ist beinahe faltenfrei. Ihr biologisches Alter dürfte in etwa bei Mitte 60 liegen, aber das ist nur eine Vermutung.

»Es ist deprimierend, Dean.«

»So schlimm?«

»Einfallslos, trivial, einfach nur langweilig. Es wird immer schlimmer. Aber mach dir besser selbst ein Bild.«

Mary legt ihm kurz eine Hand auf die Schulter und verabschiedet sich mit einem Seufzer.

»Wir müssen uns wirklich etwas überlegen«, sagt sie noch im Gehen und greift etwas ungestüm nach ihrer runden, bunt gemusterten Handtasche. Es handelt sich um eine EARTH, eine der drei großen Marken, Mary ist ihr CEO. Dean schätzt den Wert der Tasche auf knapp 3 Millionen Euro, sie gehört wahrscheinlich zu den Mittelklassemodellen. Mary öffnet den Verschluss und zieht einen dünnen, unscheinbaren Stab heraus.

»Mit der Kreativität.«

 

Die Ausstellung zeigt etwa 20 Arbeiten der diesjährigen Absolventinnen und Absolventen. Sie kommen von den drei verbliebenen Kunsthochschulen des Landes, die auf Malerei spezialisierte Klassen anbieten. Eine davon liegt in Berlin, eine in Düsseldorf und eine, warum auch immer, in Mannheim. Alle Schulen werden vom Komitee gesponsert.

Die Galerie ist gut besucht, aber bis auf ein paar wenige Leute, die einen verstohlenen Blick zu ihm herüberwerfen, nimmt kaum jemand Notiz von Dean. Es scheinen vor allem geladene Gäste anwesend zu sein, die es gewohnt sind, eine höfliche Distanz zu den Sponsor:innen wahren.

Dean hält Ausschau nach Angelica, schließlich entdeckt er sie am anderen Ende des Raumes. Sie betrachtet ein Gemälde, das aus schwarzen und grünen Farbverläufen besteht. Als Dean neben sie tritt, unterdrückt sie gerade ein Gähnen. Er lässt seinen Blick über die geschwungenen Linien fahren, tritt einen Schritt vor und dann zwei zurück, legt den Kopf schräg, versucht Muster auszumachen. So lässt er das Ganze mehrere Minuten auf sich wirken. Es handelt sich offensichtlich um ein Werk, das dem Neoneoimpressionismus zuzuordnen ist, eine Strömung, die seit etwa drei Jahren existiert. Die Motive sind abstrakter als die Naturbeobachtungen aus dem 19. Jahrhundert und statt leuchtenden Farben wird vorrangig mit Erdtönen gearbeitet. Die Bilder hinterlassen in der Regel einen Eindruck von Moos.

»Es ist furchtbar«, sagt Dean schließlich. Neoneo-impressionistische Gemälde waren noch nichtssagender als die verwischte Freilichtmalerei von damals und das war wirklich eine Leistung. Das nächste Bild stammt von einer non-binären Person aus Hannover, es zeigt Penisse verschiedenster Form und Länge mit Nasen und Ohren im kubistischen Stil.

Sie gehen weiter. Nach fünf Gemälden ist Deans gute Laune verflogen, er fühlt sich matt und ausgelaugt, beinahe traurig. Angelica hat seit mehreren Minuten keinen Ton von sich gegeben.

»Tut mir leid, dass du dir das hier antun musst«, sagt Dean, als sie vor einem Gemälde stehen, das eine brennende Südseelandschaft zeigt. Es handelt sich offensichtlich um eine stilistische Referenz an Paul Gauguin. Deans Stimme klingt ungewohnt dünn.

»Ich hätte nicht gedacht, dass es dieses Jahr noch mal schlimmer wird. Ich meine, klar, die Qualität hat schon abgenommen über die letzten Jahre, das kann man nicht anders sagen. Aber dass es so einen Tiefpunkt erreicht –«

Er unterbricht sich, weil ihm seine Worte rechtfertigend vorkommen und rechtfertigende Worte immer sehr unangenehm sind, Dean versucht sie eigentlich zu vermeiden.

»Die Kunst ist das eine. Aber in anderen Sektoren sieht es nicht besser aus. Es ist seit Jahren kaum Neues dabei, nichts Innovatives und erst recht nichts Aufregendes. Es ist wirklich so, als hätte niemand mehr Ideen.«

Er würde sich wünschen, dass Angelica darauf eingeht, etwas Aufmunterndes sagt, doch sie schweigt noch immer und starrt auf die eckige Südseelandschaft. Dean schaut sich etwas ratlos in der Galerie um. Den meisten Besuchern scheint es ähnlich zu gehen wie Angelica und ihm, es liegt eine Art Ernüchterung in der Luft, vielleicht sogar Resignation.

 

Spätestens seit den 2100er-Jahren war der Beruf human artist im Grunde totgesagt gewesen. Bis dahin hatte es zwar noch Menschen gegeben, die sich als solche bezeichneten, aber es glich einer kläglichen Geste und ihre Arbeit bestand im Wesentlichen darin, zu prompten, den Großteil der Kunstproduktion hatten die Programme längst übernommen. Die Entwicklung war absehbar gewesen und zunächst gar nicht schlimm, die Qualität der generierten Werke – egal ob Musik, Literatur oder bildende Kunst – war mindestens so gut wie die der menschengemachten, teilweise besser. Eigentlich hatte sich niemand daran gestört.

Das änderte sich erst etwa zehn Jahre später. Damals war die Lage ähnlich verheerend gewesen wie heute. Es gab keine neuen Impulse, keine progressiven Ideen – nicht nur in der Kunst, sondern überall. Der Kunstsektor war immer schon ein entscheidender Indikator für den Stand des menschlichen Fortschritts gewesen, auch für andere Bereiche wie die Wissenschaft oder die Medizin.

Doch dann, ganz plötzlich kam der Wandel, manche bezeichneten es als Trendwende, andere als gesellschaftlichen Umschwung. Die junge Generation rief immer lauter nach einem Ende der »seelenlosen Werke«. Was zunächst nach einer unwichtigen, banalen, ja esoterischen Strömung aussah – die Wortführerinnen einiger Gruppen trugen bunte Fäden in den Haaren –, gewann immer mehr an Zuwachs und Relevanz, erreichte von Europa aus nach und nach auch andere Teile der bewohnbaren Welt. Hier führte das Ganze Anfang des Jahrhunderts schließlich zu einem regelrechten Boom in der Nachfrage nach menschengemachten Kunstwerken. Selbst geschriebene Bücher, Filme mit einem menschlichen Cast und einer menschlichen Crew, die in einem echten Set gedreht wurden, handgefertigte Skulpturen, instrumentale Livemusik und so weiter. Sogar das Theater erlebte eine Art Wiederbelebung, obwohl das Theater schon lange vor der Übernahme maschineller Kunst vorbei gewesen war. Und das zu Recht, fand Dean.

Die wenigen Kunsthistoriker, die es noch gab, bezeichneten die Phase um 2110 euphorisch als »Human Turn«. Gerade der Bereich der bildenden Kunst erlebte einen spektakulären Hype. Menschengemachte Gemälde, Skulpturen und Plastiken wurden gefeiert. Je experimenteller und abstrakter die Werke, desto gefragter waren sie. Alle wollten menschengemachte Artefakte besitzen oder sie zumindest konsumieren.

Noch heute wird Dean ganz warm, wenn er an diese, seine Anfangszeit als Sponsor denkt. Sein Vermögen hatte damals ein Volumen erreicht, das ihn automatisch zu einem Teil des Komitees werden ließ und Dean nahm diese Aufgabe dankend an, er war 57 und langweilte sich ein wenig, Noah war zu diesem Zeitpunkt schon ausgezogen und Gabi sowieso.

Dean und die meisten anderen Sponsor:innen hatten das Potenzial des Human Turn sofort erkannt, die Umfragen waren eindeutig gewesen. Das Wiederaufleben humaner Kunst hatte einen direkten und positiven Effekt auf fast alle Sektoren der Gesellschaft. Die Menschen fühlten sich besser, waren wieder zuversichtlicher, weniger lethargisch, um einiges produktiver. Im ersten Jahr darauf stieg die Zeugungsrate rapide an. Erstmals seit über 20 Jahren lag die Zahl der Kinder pro Frau über 0,5. Dean investierte damals überdurchschnittlich in die Renovierung, Modernisierung und Neugründung von Museen, Galerien, Konzert- und Opernhäusern, um mit anderen Ländern der bewohnbaren Welt konkurrieren zu können. Er ist bis heute stolz darauf, wie es ihm und den anderen deutschen Sponsor:innen gelungen war, den Kultursektor binnen kürzester Zeit zu revitalisieren.

Leider ist diese Entwicklung seit einigen Jahren stark rückläufig. Zunächst wollten alle Kunst machen, der Kunst- und Literaturmarkt wurde von schlechten bis mittelmäßigen Werken überschwemmt, die den wenigen wirklich guten die Aufmerksamkeit raubten. Im Grunde war es eine ähnliche Situation wie im 21. Jahrhundert, kurz bevor die Maschinen übernahmen: Kontemporäre menschengemachte Kunst verlor rapide an Wert und Aufmerksamkeit, abstrakte Werke oder experimentelle Ansätze hatten es zunehmend schwer, wurden zu einer Sache für Liebhaber, bevor sie schließlich gar nicht mehr stattfanden. Der Kunstmarkt löste sich nach und nach im Nichts auf, Gemälde oder Plastiken, die vor zehn Jahren unbezahlbar waren, wurden wertlos. Doch auch Kunst, die auf ein breiteres Publikum ausgerichtet war, schien immer weniger Relevanz zu haben. Selbst Schlager, Unterhaltungsliteratur oder Blockbuster wurden kaum noch neu produziert und wenn, dann waren es Remakes. Die Kulturlandschaft lag brach.

Es ist kaum mehr auszumachen, ob es an der Qualität der Werke lag, an den Präferenzen der Konsumentinnen und Konsumenten oder an einer generellen Verschlechterung der Lage. Heute, jedenfalls, scheint jegliche kreative Energie, Inspiration und subversive Kraft versiegt. Manche sehen den Grund darin, dass es immer weniger junge Menschen gibt. Aber selbst im höheren Norden, wo das Gefälle zwischen Alt und Jung noch einigermaßen klein ist, scheinen die jungen Leute schlicht keinerlei Motivation mehr für eine künstlerische Karriere aufzubringen, was nicht verwunderlich ist, da die wenigsten jungen Menschen überhaupt noch Motivation aufbringen, erst recht nicht für eine irgendwie geartete Karriere.

»Na ja«, sagt Angelica in diesem Moment gedankenverloren, obwohl sie selten etwas Gedankenverlorenes sagt, »was soll man auch erwarten, oder?«

Der Sarkasmus bricht sich in einem kurzen, hellen Lacher Bahn. Dann schaut sie Dean direkt und wieder sehr ernst in die Augen, auch das tut Angelica so gut wie nie.

»Die Leute sind am Ende, Dean.«

Angelica blinzelt nicht, stattdessen werden ihre Augen immer runder und ihre Pupillen weiten sich. Dean ist sich gar nicht mehr sicher, ob er es ist, den sie anschaut, oder ob sie etwas ganz anderes sieht.

»Ich weiß nicht, ob es schon mal so schlimm war. Ein Großteil wartet einfach darauf, dass es vorbei ist. Aber was erzähle ich dir, du kennst die Umfragen besser als ich.«

Dean muss sich abwenden. So gefühlsduselig verhält Angelica sich eigentlich nie. Er ist unsicher, wie er damit umgehen soll, denn natürlich weiß er, dass sie recht hat. Die meisten großen Investitionen der letzten Jahre waren ins Leere gelaufen. Es scheint kaum noch etwas zu geben, das der Bevölkerung aus ihrer Resignation heraushilft. Die Lebensumstände verschlimmern sich nun auch in der bewohnbaren Welt zusehends, die Ergebnisse der Umfragen sind verheerend, die Suizidrate auf ihrem Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen. Ganze Sektoren werden ausschließlich durch die Finanzierung der Sponsor:innen aufrechterhalten, doch auch das Komitee kommt langsam an seine Grenzen. Nicht an seine monetären Grenzen, ganz und gar nicht, aber leider ließ sich mit Geld zwar vieles richten, aber eben nicht alles. Immer öfter kommt es zu Versorgungsausfällen, weil es nicht genügend arbeitsfähige Dienstleister gibt. Und diejenigen, die noch arbeiten können, machen meistens einen schlechten Job. Man muss nicht drum herumreden: Insgesamt ist die Situation so schlimm wie nie.

»Da«, sagt Angelica plötzlich. Die Größe ihrer Pupillen hat sich wieder normalisiert und auch ihre Stimme klingt etwas voller als zuvor. Sie deutet mit dem Kinn auf eine Menschentraube, die sich ein paar Meter weiter vor einem Gemälde sammelt.

Dean und Angelica nähern sich. Die Sicht auf das Gemälde ist versperrt, zu viele Menschen drängeln sich davor, stellen sich auf die Zehenspitzen, ein Mann neben Dean hebt seine Partnerin an den Hüften hoch, damit sie einen Blick darauf werfen kann. Nur mühsam gelangen die beiden nach vorn, die Anwesenden sind in ein seltsames Schweigen verfallen, zu hören sind nur ein paar ächzende Geräusche. Dean spürt mehrere Ellenbogenstöße in Bauch und Rippen, obwohl die Leute ihn mit Sicherheit erkennen, scheint es plötzlich keine Rolle mehr zu spielen, dass er der größte Sponsor Deutschlands ist.

Schließlich erreichen sie die erste Reihe. Mehrere Servicekräfte schirmen das Bild ab, um die Besucher daran zu hindern, noch näher zu kommen. Dann hebt Dean den Blick.

Urplötzlich steigt eine wohlige Wärme in ihm auf und es wird still um ihn herum. Es gibt jetzt nur noch ihn und das Gemälde, sie schauen sich gegenseitig an. Das Bild zeigt zwei Sonnen, nicht sonderlich abstrakt, sehr einfach, beinahe naiv gemalt. Sie strahlen. Je länger er so steht, desto klarer wird Dean, dass er für alles, was ihm jemals fremd war, Verständnis entwickeln kann. Er ist sich in diesem Moment sicher, nie mehr einsam zu sein. Es steht außer Frage, dass alles gut werden wird. Dean spürt, wie Angelica nach seinem Unterarm greift. Es ist ein sehr fester Griff, voller Frieden und Hoffnung.

 

Als sie die Galerie kurz darauf verlassen, verabschiedet Dean sich beinahe wortlos, aber gefühlvoll von Angelica und lässt sich direkt ins Areal fahren. Wie in Trance nimmt er den Fahrstuhl zu Plateau 3. Er stellt sich an seinen Schreibtisch und atmet tief ein. Es würde noch eine Weile dauern und enormen Einsatz erfordern, von allen Sponsor:innen.

»Ich habe eine Idee, vielleicht ist es sogar eine Lösung«, diktiert er.

»Eine Idee, wie wir weiter vorgehen können. Ich würde euch gern schnellstmöglich davon erzählen.«

Er lässt noch ein Ausrufezeichen hinter »Lösung« setzen, dann schickt er die Nachricht an die anderen Sponsor:innen.

2130

»Bist du da?«

»Ja natürlich, Esther, ich bin da.«

»Gut.«

»…«

»Riechst du das auch?«

»Nein, ich rieche nichts.«

»Sommerregen und Honig. Sind wir in einem Spa?«

»…«

»Es ist alles so … Ist das hier ernst gemeint? Warum ist alles so dunkel? Bewegen wir uns?«

»Du kannst dich entspannen, Esther, wie gesagt. Alles ist gut.«

»Okay, ja. Ja.«

»…«

»Es fühlt sich an, als würden wir uns bewegen.«

»…«

»Und ich werde wirklich nicht alles vergessen?«

»Nein, nein, wie gesagt. Im Grunde wirst du gar nichts vergessen. Du wirst dich an alles erinnern. Außer an das, was du gar nicht mehr wissen willst. Was dir nicht guttut. Das nicht. Es wird mit der Zeit keine Rolle mehr spielen.«

»Okay, ja.«

»Du wirst dich ganz frei fühlen. Es wird dir besser gehen, Esther.«

»Und du bist auch da?«

»Ja.«

»Und meine Mutter auch.«

»…«

»Théa?«

»Ja. Deine Mutter auch.«

»…«

»…«

»Was ist das für ein Chor?«

»Ich höre nichts.«

»Doch, doch.«

»Ich höre nichts, Esther.«

»Sie singen.«

»…«

»I am … your? … Es ist ganz leise.«

»Am besten, du entspannst dich.«

»Bird? I am your bird?«

»Vielleicht machst du die Augen zu, Esther. Das hilft.«

»Ein merkwürdiger Satz.«

1

Die sich im Wind bewegenden Blätter werfen ein unregelmäßiges Netz aus Schatten auf den Weg. Außer meinen Schritten auf der ebenen Fläche, dem schüchternen Rascheln der Buchen über meinem Kopf und einem Vogel in der Ferne höre ich kein konkretes Geräusch. Der Nachmittag ist vor etwa zwei Stunden angebrochen und die Ruhe, die ihn bis zum frühen Abend dominieren wird, liegt längst über dem Dorf. Ich lenke meine Konzentration auf den Vogel. Das Zwitschern klingt wirklich perfekt. Der Impuls, zwischen den atmosphärischen Ambients und den natürlichen Geräuschen zu unterscheiden, ist noch nicht ganz verschwunden, aber er wird schwächer, beinahe täglich. Ich freue mich darüber, denn ich weiß, dass mir die Unterscheidung nichts bringt. Es ist einfacher, sie loszulassen. Es verhält sich mit ihr so wie mit den meisten Unterscheidungen.

Mein Weg führt in einem kleinen Bogen um den Ortskern herum, parallel zur Grenzanlage, ohne ihr zu nahe zu kommen. Ich mag diesen Weg, schon allein, weil es sich um meinen Heimweg handelt. Heimwege sind meistens die schönsten Wege, finde ich. Mit Ausnahme von Marten und Caroline, die zu dieser Tageszeit die Anlage kontrollieren, begegne ich hier in der Regel niemandem.

Ich atme ein und dann wieder aus, jeweils drei Schritte lang. Atemübungen lassen sich immer und überall ganz leicht integrieren, das sagt Dr. Laine in fast jeder Sitzung. Wenn ich im Atelier war, dann fällt es mir danach besonders leicht zu atmen.

Die Strecke ist wie dafür gemacht, meine Gedanken zu beobachten und die Entscheidungen der letzten Stunden zu reflektieren. Manchmal erkenne ich erst hier, wenn ich mit zu viel simuliertem Tiefgang gemalt habe oder es mir nicht gelungen ist, im Ausdruck genügend Distanz zu mir selbst einzunehmen. Manchmal sind diese Erkenntnisse hart, aber am Ende sehr hilfreich. Ich atme wieder aus.

Im Anschluss an eine besonders intensive Session im Atelier habe ich oft den Eindruck, die Dinge um mich herum nur als Farben wahrzunehmen. Auch heute ist das so. Ich laufe unter blassem Dunkelgrün und auf glitzerndem Sandbeige. Wenn ich den Kopf in den Nacken lege, sehe ich Nuancen von Azur, teilweise würde ich es als Ultramarin bezeichnen, plan und eben und unendlich, nur manchmal scheinen einzelne weiß gedeckte Schlieren das Farbspiel zu kaschieren. Wie versehentliche Pinselstriche sehen sie aus, die Wolken.

Ich senke meinen Blick ein Stück. Links von mir schmiegt sich die Grenzanlage eng an den dicht bewachsenen Talhang, so als wäre sie gut mit ihm befreundet. Man muss wissen, dass sie da ist, damit man sie überhaupt wahrnimmt. Ich konzentriere mich auf den schmalen Vorsprung der Anlage, der sich kaum abhebt in all dem Grün, und halte Ausschau nach einem hellen Fleck.

Heute ist es Caroline, die auf der Anlage patrouilliert, ich erkenne sie an ihrem Gang. Carolines Körpersprache ist geprägt durch runde, fordernde Bewegungen. Sie flößt einem dadurch Respekt ein, gleichzeitig strahlt sie Sicherheit aus. Wenn ich Caroline sehe, dann fühle ich mich beschützt. Ich bin froh, dass sie eine der Personen ist, die die Grenzanlage kontrollieren. Als sie in meine Richtung schaut, lächle ich und klopfe mir zwei Mal auf die linke Schulter. Caroline bleibt stehen und klopft zurück. Über die Entfernung ist es zwar schwer auszumachen, aber ich bin mir sicher, dass Caroline ebenfalls lächelt. In Spes I grüßt man sich eigentlich immer mit einem Lächeln.

 

Als ich die kleine Lichtung erreiche, von der aus ich den Weg in Richtung Dorfzentrum einschlage, bleibe ich stehen. Der feine Wasserdunst legt sich auf mein Gesicht und meinen Hals. Ich schließe die Augen. Es ist Anfang September, und obwohl der Herbst an manchen Morgen schon zu ahnen ist, ist es um die Mittagszeit nach wie vor recht warm. Der kühle Nebel wird von einem nahe gelegenen Sprinkler herübergetragen. Im Stillen danke ich der Sindaca für diese Erfrischung.

Als ich die Augen wieder öffne, bemerke ich eine junge Frau, die in ein paar Metern Entfernung unter einem Maulbeerbaum Gymnastikübungen ausführt. Ich kenne sie nur vom Sehen, in meiner Anfangszeit in Spes I haben wir dieselbe Yogaklasse besucht, immer dienstags, donnerstags und samstags. Ich glaube, sie ist Musikerin. Sport ist während der Siesta eher unüblich, aber nicht verboten. In Spes I ist eigentlich nichts verboten.

Die Musikerin wirkt sehr konzentriert. Sie trägt den eng anliegenden Sportdress aus der Kollektion, der die Form ihres drahtigen, athletischen Körpers betont. Gerade führe ich die Hand zur Schulter, um sie zu grüßen, doch dann ändert die Musikerin ihre Position abrupt. Ich stocke in meiner Bewegung. Der linke Ärmel des Oberteils ist abgetrennt, die definierte Muskulatur ihres Oberarms glänzt in den frühen Nachmittag. Die Kollektion von Spes I besteht aus verschiedenfarbigen, gerade geschnittenen Ein- oder Zweiteilern, die in ihrer Funktion dem Rhythm angepasst sind. Es ist eher unüblich, die Kleidung zu verändern. Außerdem sieht es in diesem Fall ein wenig gewollt aus.

Ich lege meine erhobene Hand in den Nacken und gebe vor, die junge Frau nicht zu bemerken, glücklicherweise ist sie sehr vertieft in ihre Übungen.

 

Als ich weiterlaufe, beruhige ich meine Gedanken und führe sie an den richtigen Punkt. Es gibt bestimmt eine simple Erklärung für den abgetrennten Ärmel, wahrscheinlich handelt es sich einfach um einen Trend. Anfangs war ich überrascht, dass sich Trends auch hier in Spes I durchsetzen – der Drang, neue ästhetische Vorlieben auszustellen, um die eigene Individualität zu unterstreichen, passt auf den ersten Blick eigentlich nicht zur Philosophie unseres Dorfs. Wegen der beschränkten Möglichkeiten sich zu kleiden, geschieht es hier meist in Form von Frisuren oder Accessoires. Bis vor ein paar Wochen haben sich einige Residents einen Pony geschnitten, den sie steil in die Höhe fixierten. Je nach Haarstruktur ergab es ein mehr oder weniger üppiges Horn.

Irgendwann hat Théa mich darauf hingewiesen, dass Trends selten Ausdruck von Individualität sind, höchstens ganz am Anfang, wenn sie gesetzt werden. Alles, was danach käme, drücke vor allem ein Zugehörigkeitsgefühl aus. Es leuchtete mir sofort ein. Théa sagt oft Dinge, die mir sofort einleuchten.