Fremd in der eigenen Familie - Leonie Feuerbach - E-Book

Fremd in der eigenen Familie E-Book

Leonie Feuerbach

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Beschreibung

Vielen jungen Erwachsenen erscheinen die eigenen Eltern wie Fremde. Wie aber geht man damit um, wenn nach einem Studium die Wortwahl, aber auch die Werte und der Blick auf die Welt ganz anders sind als bei den Eltern? Wenn sie sich angegriffen fühlen von den Lebensentscheidungen des Kindes? Wie wird man damit fertig, wenn der Vater AfD wählt? Oder damit, wenn man sich selbst als Deutsche, die Mutter sich aber als Türkin fühlt? Die FAZ-Journalistin Leonie Feuerbach spürt einzelnen Geschichten nach, befragt Betroffene, wie es zur familiären Entfremdung gekommen ist und wie sie mit diesem schambesetzten Thema umgehen. Ob es nun die politischen Einstellungen sind, Patchwork-Konstellationen oder Differenzen im Glauben - es ist schmerzhaft, wenn man sich darüber klar wird, dass man anders ist als die Eltern. Denn die Beziehung zu den eigenen Eltern ist eine ganz besondere. Wir entscheiden uns nicht für sie, sondern werden in sie hineingeboren. Diese Beziehung durch Kontaktabbruch zu beenden, kommt für die wenigsten infrage. Denn zum einen mögen viele erwachsene Kinder ihre Eltern vielleicht nicht mehr, aber lieben sie noch. Und zum anderen spüren sie: Die Bindung, die seit der Geburt besteht, werden sie auch mit einem Beziehungsabbruch nicht los. Mithilfe von Fachleuten beleuchtet die Autorin die Hintergründe der familiären Entfremdung und zeigt Wege auf, wie gute Beziehungen auch unter »Fremden« in der Familie möglich sind.

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LEONIE FEUERBACH

FREMD IN DER EIGENEN FAMILIE

Wenn sich Kinder von ihren Eltern entfernen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

© 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe

(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Innengestaltung nach einem Entwurf von Hagen Verleger, Berlin Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin, nach einem Entwurf von Hagen Verleger

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datametics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISSN 2750-6568

ISBN 978-3-647-99413-0

Inhaltsverzeichnis

I EINLEITUNG

Wieso das Thema »Fremd in der eigenen Familie«? Was charakterisiert die Beziehung erwachsener Kinder zu ihren Eltern?

II POLITIK

In Timurs russlanddeutscher Familie sind Rassismus, Verschwörungsmythen und Esoterik verbreitet. Zu vielen Verwandten hat er den Kontakt abgebrochen – nicht aber zu den Eltern.

Marens Eltern wählen die AfD, der Vater macht Schießübungen im Garten. Den Kontakt hält sie vor allem wegen ihrer Kinder aufrecht.

Was sagen Fachleute zum Umgang mit rechtsextremen Eltern? Jannis Panagiotidis vermutet Gemeinsamkeiten zwischen Ost- und Russlanddeutschen, Roland Imhoff rät bestimmte Themen auszusparen und Liane Czeremin, sich der Perspektive der Eltern anzunähern.

Sein Vater hat kein Verständnis für Davids Sorgen wegen des Klimawandels, fährt weiter viel Auto und fliegt um die Welt.Das sorgt zunehmend für grundsätzliche Konflikte.

Deboras Eltern sind Alt-68er und haben sie als Kind vernachlässigt. Weil sie ihre Selbstgerechtigkeit nicht mehr ertragen konnte, hat sie den Kontakt zu ihnen abgebrochen.

Was sagen Fachleute zur Beziehung von Kindern und altlinken Eltern? Meike Baader kritisiert, dass den Kindern von 68ern viel zugemutet wurde und Lea Dohm rät, in Debatten um den Klimawandel erst mal zuzuhören.

III MIGRATION

Amilas Mutter akzeptiert den deutschen Partner ihrer Tochter nicht. Sie fühlt sich bosniakisch, Amila fühlt sich eher deutsch – und liebt ihre Mutter trotzdem.

Mit Cans Coming-out kamen seine Eltern nur schlecht zurecht, sie sind danach in die Türkei zurückgekehrt. Er sieht sie nur noch selten.

Aynurs Eltern wollen ein Enkelkind, das mit muslimischen Traditionen aufwächst. Aynur will kein Kind, kann mit diesen Traditionen nichts anfangen – und distanziert sich immer mehr von den Eltern.

Was wissen Fachleute über Konflikte in Einwandererfamilien? Isabelle Albert ist bewusst, wie schwer es Kinder von Migranten dabei haben, ihren Eltern Grenzen zu setzen und Dicle Özerden hält ein Coming-out im kleinen Familienkreis manchmal für sinnvoll.

IV BILDUNG

Barans Vater, ein Taxifahrer aus dem Iran, wollte immer, dass es sein Sohn einmal besser hat als er – und hat ihn deshalb in der Schulzeit extrem unter Druck gesetzt. Das hat die Beziehung nachhaltig verschlechtert.

Lisa ist die erste Akademikerin der Familie. Ihr fällt es schwer zu ertragen, dass ihre Eltern billiges Fleisch und Plastikspielzeug für die Enkel kaufen. Trotzdem hat sie ein enges Verhältnis zu den beiden.

Was sagen Fachleute zur Beziehung von Bildungsaufsteigern und ihren Eltern? Aladin El-Mafaalani weiß, warum sich studierte Arbeiterkinder oft vom Herkunftsmilieu entfremden.

Peters Eltern sind Ärzte, er ist Sachbearbeiter beim Jobcenter.Sein Bildungsabstieg trägt zur Entfremdung von den Eltern bei.

Was wissen Fachleute über Familiendynamiken bei Bildungsabstiegen? Martin Schmeiser kennt den Vorwurf von Arztkindern, zwar Patienten gut versorgt zu haben, jedoch nicht die eigenen Kinder.

V GLAUBEN

Abeba kann mit dem konservativen Islam ihrer Mutter nichts anfangen. Den Kontakt mit ihr hat sie auf das Nötigste reduziert.

Julias Eltern sind Freikirchler. Seit sie nicht mehr an Gott glaubt, ist der Umgang mit den beiden noch schwieriger als ohnehin.

Ferdinand ist Agnostiker in einer Pfarrersfamilie. Das Verhältnis zu seinen Eltern ist gut, aber distanziert – auch, weil er den Konflikt seit Jahrzehnten umschifft.

Was wissen Fachleute über religiöse Konflikte? Lars Allolio-Näcke ist überzeugt, dass sie immer auch Konflikte mit den Eltern sind und Sarah Pohl hat beobachtet, dass sich Kinder oft emotional erst von den Eltern und dann von deren Religion entfernen.

VI TRENNUNG

Felix hat seit der frühen Trennung seiner Eltern ein distanziertes Verhältnis zum Vater – und hat erst in einer Therapie erkannt, wie sehr er sich mehr Nähe wünscht.

Lauras Stiefvater akzeptierte sie nur so lange als Tochter, bis er eine eigene bekam. Heute hat sie keinen Kontakt mehr zu ihm und ihren Eltern.

Seit Tobias weiß, dass sein vermeintlicher Vater nicht sein Erzeuger ist, fühlt er sich ihm gegenüber nicht mehr ganz so fremd.

Was sagen Fachleute zu Scheidungs-, Stief- und Kuckuckskindern? Sabine Walper weiß, warum sich Kuckuckskinder oft von der Mutter entfremden und Matthias Franz, wie schädlich eine Trennung der Eltern für Kinder sein kann.

VII AUSBLICK

Was bleibt?

Dank

Literatur

I EINLEITUNG

Wieso das Thema »Fremd in der eigenen Familie«? Was charakterisiert die Beziehung erwachsener Kinder zu ihren Eltern?

Ich bin die Tochter zweier Psychologen. Jahrelang habe ich am Küchentisch Gesprächen über die menschliche Psyche gelauscht – und irgendwann auch selbst mitgeredet. Als ich dann studieren wollte, dachte ich natürlich zuerst an Psychologie. Und entschied mich schließlich doch für Soziologie und Politik. Die Gesellschaft interessierte mich mehr als das Individuum. Ich wollte das große Ganze verstehen, soziale Ungleichheit, Krieg und Frieden, und befasste mich mit den französischen Banlieues und dem Drogenkrieg in Rio de Janeiro. Und heute?

In meinem Beruf als Journalistin erstaunt mich immer wieder, wie sehr mein Elternhaus mich offenbar geprägt hat. Denn ich schreibe viel mehr über einzelne Menschen als das große Ganze, von dem ich nach sieben Jahren Studium gar nicht mehr so recht wusste, was das eigentlich sein sollte. Wobei das vielleicht auch gar kein Widerspruch ist. Oft habe ich sogar das Gefühl, mich den großen Themen besser im Kleinen nähern zu können.

Ich habe mit einer jungen Bestatterin und einem alten Kriegsveteranen gesprochen, mit einem Sekten-Aussteiger und einem ehemaligen Salafisten, mit einer genitalverstümmelten Frau und mit einer früheren Verschwörungstheoretikerin, die lange an die Existenz von Chemtrails geglaubt hat. Viele dieser Menschen waren einmal entfremdet – von ihren Lebenspartnern, ihrer Familie, der Gesellschaft. Und fühlten sich zu der Zeit, als ich sie traf, wieder zugehörig. Was faszinierte mich so an ihren Geschichten? Vermutlich das Spannungsfeld zwischen Zugehörigkeit und Entfremdung, das dem großen Ganzen ziemlich nahekommt. Zumindest ist dort, wo es grundsätzlich wird, seit Jahren immer von der Entfremdung bestimmter Gruppen vom Staat, von der Spaltung der Gesellschaft die Rede.

In diesem Buch soll es um Spaltung im Kleinen gehen, in der Familie. Denn während mir die Entfremdung aus den Reden und Leitartikeln häufig schwer greifbar erscheint, begegnet sie mir in Familien ganz unmittelbar. Leute erzählen mir nebenbei, wie ihr Vater nach zwei, drei Sätzen Smalltalk am Telefon immer sagt: »Dann geb’ ich dich jetzt mal an deine Mutter weiter.« Oder sie erzählen mir halb im Scherz, dass ihre freiberufliche Tätigkeit für die Eltern ja keine »echte Arbeit« sei oder dass ihre Eltern bis heute nicht verstünden, was sie im Büro eigentlich machen. Die Leute, die das erzählen, sind meist die ersten in der Familie, die studiert haben.

Von Kindern von Migranten, oft ebenfalls Bildungsaufsteiger, höre ich ähnliche, aber auch andere Geschichten. Ihre Eltern mischen sich in vielen Fällen stark in ihr Leben ein, sind unzufrieden, weil die Tochter in »wilder Ehe« lebt und der potenzielle deutsche Schwiegersohn die Bräuche und Traditionen der Familie nicht kennt. Und seit Beginn der Corona-Pandemie Anfang 2020 höre ich immer öfter von Leuten, deren Eltern ihnen Videos mit Verschwörungserzählungen zum Virus bei WhatsApp schicken und die das Gefühl haben, gar keine gemeinsame Basis mehr mit den Eltern zu haben.

Das ist traurig. Für mich als Journalistin, die versucht, im Kleinen das Große oder Allgemeingültige zu entdecken, die oft hin- und hergerissen ist zwischen gesellschaftspolitischen und psychologischen Themen, ist es aber auch wahnsinnig spannend. Denn das Thema Fremdheit in der eigenen Familie berührt grundsätzliche und psychologische Fragen wie die nach Zugehörigkeit und Verbundenheit, Abnabelung und Abgrenzung, Toleranz und Umgang mit Differenzen und gleichzeitig auch gesellschaftliche Risse entlang von Bildung, Politik, Religion. Es ist ein psychologisches, soziologisches und politisches Thema. Es ist sehr menschlich, aber überhaupt nicht trivial, es ist gesellschaftlich relevant, aber schwebt nicht auf der Makroebene, wie die Soziologen sagen würden, sondern bewegt sich auf der Mikro- und Mesoebene, also der von Individuum und Familie.

Voller Begeisterung stürzte ich mich deshalb auf das Thema und merkte schnell: Die Geschichten aus meinem Bekanntenkreis reichen nicht, um ein Buch zu füllen. Doch wie findet man mehr als ein Dutzend Leute, die sich von ihren Eltern entfremdet haben? Das erschien mir zunächst als große Herausforderung. So schwer war es dann aber gar nicht. Ich habe Aufrufe in sozialen Netzwerken geteilt: bei nebenan.de, Facebook, eBay-Kleinanzeigen. Ein Bekannter war so nett, mein Gesuch an einen Uni-Verteiler zu schicken. Ich war erstaunt, wie viele Menschen sich bei mir gemeldet haben. »Alleine die enorme Zahl der Zugriffe auf Ihre Anzeige zeigt, wie weit verbreitet dieses Thema ist«, hieß es in einer Zuschrift – das eBay-Gesuch »Menschen, die sich fremd in ihrer Familie fühlen« war 1111 Mal angeschaut worden. Viele hatten ein großes Bedürfnis, über ihre Familiengeschichte zu sprechen und haben das so auch formuliert. »Weiß nicht, in wieweit es auch mir guttut, wenn ich es erzähle«, schrieb mir eine Frau, »Ich hab’ sooo viel erlebt, dass jeder meint, dass ich ein Buch schreiben soll«, eine andere. Viele Schicksale, das wurde mir schnell klar, sprengen den Rahmen dieses Buchs. Der »doch nicht« genannte Unterordner im Ordner »Fremd in der eigenen Familie« wuchs immer weiter.

Darin steht die Geschichte eines Pakistani, der mit seiner Mutter erst nach Deutschland und dann nach Kanada zog, wo er beim Stiefvater nicht willkommen war und auf der Straße landete. Die einer Frau Ende fünfzig, deren Mutter, ein Kriegsflüchtling aus Masuren, die Tochter nie in den Arm nahm und nicht verstand, dass Kinder mehr brauchen als Essen und Kleidung. Diese Frau fing als Jugendliche an Drogen zu nehmen, erlebte Missbrauch, verlor ein Kind, kann inzwischen nicht mehr arbeiten und muss von 350 Euro Rente leben. Ein Schicksal, das mir mit dem Label »familiäre Entfremdung« nur unzureichend beschrieben schien.

So manche Geschichte hat mich auch schockiert. Es meldete sich zum Beispiel ein Mann, der adoptiert worden war – ein klassisches Beispiel für Fremdheit in der eigenen Familie, dachte ich zunächst. Im Gespräch stellte sich dann heraus, dass der Mann als Kind erst von seinem Pflegebruder missbraucht worden war und sich dann, als der übergriffige Junge aus der Familie genommen und an seiner Stelle ein jüngeres Kind dazugekommen war, selbst an dem jüngeren Pflegebruder verging.

Mir wurde klar: Wenn man nach Menschen mit schwierigen Familiengeschichten sucht, stößt man binnen Wochen auf Schicksale, denen man sonst wohl ein Leben lang nicht begegnet wäre. Man stößt aber auch auf Ablehnung. Denn das vorherrschende Bild von Eltern, die nur das Beste für ihr Kind wollen, ist stark. Schlecht über die eigenen Eltern zu reden erscheint manchem geradezu als Verrat. So schrieb mir eine Frau auf mein Gesuch: »Deine Eltern haben Dir das Leben geschenkt. Wenn Du Dich gegen Deine Eltern wendest, so wendest Du Dich gegen Dein eigenes Leben.« Offenbar wird es schnell grundsätzlich, sobald es um Eltern und Kinder geht.

Das gilt auch für die Auseinandersetzungen zwischen Eltern und Kindern. In einem kleinen bissigen Wortwechsel mit den Eltern steckt viel mehr, als wenn man mal anderer Meinung ist als die Kollegin. Eine Frau Mitte dreißig erzählte mir etwa, dass ihre Mutter in einer Diskussion über Sinn oder Unsinn von Naturkosmetik plötzlich sagte: »Du bist nicht der erste Mensch, der eine Uni von innen gesehen hat.«

Wie geht man damit um, wenn nach einem Studium die Wortwahl, aber auch die Werte und der Blick auf die Welt ganz anders sind als bei den Eltern? Wenn die Eltern sich, wie im Fall dieser Frau, nicht respektiert oder sogar angegriffen fühlen von den Lebens- und Konsumentscheidungen des Kindes? Wie damit, wenn der Vater AfD wählt – und der eigene Sohn erkennt: »Der Opa ist ein Rassist«, wie es eine Interviewpartnerin erlebt hat? Oder damit, wenn man sich selbst als Deutsche, die Mutter sich aber als Türkin fühlt?

Diese Fragen sind auch deshalb so schwer zu beantworten, weil die Bindung zu den eigenen Eltern keine ist, für die wir uns entscheiden. Wir werden in sie hineingeboren. Wenn wir uns in der Beziehung zu unseren Eltern nicht mehr wohlfühlen, fällt es uns umso schwerer, uns gegen sie zu entscheiden und sie zu beenden, so, wie wir es mit einer Freundschaft oder Liebesbeziehung tun würden. Und die Bindung, die seit der Geburt besteht, werden wir auch mit einem Beziehungsabbruch nicht los. Familie, sagte mir eine Interviewpartnerin, sei ein Stück Identität. Das wolle sie sich selbst und vor allem ihren Kindern nicht durch Kontaktabbruch mit ihren Eltern nehmen – obwohl die AfD wählen und in die sogenannte Querdenker-Szene von Corona-Leugnern abgedriftet sind. Sie war überzeugt, dass ein Kontaktabbruch keine Probleme lösen könne, denn die Eltern seien ja weiter da: als Teil des Familiensystems, aber auch in ihren eigenen Handlungen und in ihren Kindern. Den Kontakt zu ihrem ebenfalls rechtskonservativ bis rechtsextrem denkenden Bruder hatte sie hingegen ziemlich bedenkenlos auf ein Minimum reduziert. Diese Äußerungen illustrieren, wie besonders die Beziehung zu den eigenen Eltern ist.

Sie ist auch die erste Beziehung unseres Lebens. Und zumindest für Einzelkinder oft auch die längste. Gleichzeitig ist die Beziehung zu den eigenen Eltern eine, die sich fortwährend verändert. Neugeborene sind zum Überleben von ihren Eltern abhängig, sie müssen ernährt, umsorgt und gepflegt werden. Mit den Jahren werden sie unabhängiger, lernen laufen, kommen in die Pubertät und stellen das Verhalten der Eltern infrage. Konflikte nehmen in dieser Zeit zu – und später, mit dem Auszug aus dem Elternhaus, wieder ab, weil Reibereien im Alltag wegfallen, Streitthemen leichter gemieden werden können. Es entsteht allerdings auch eine größere innere Distanz. Bei der Geburt eigener Kinder wird vor allem die Beziehung von Müttern und Töchtern oft noch einmal enger, allerdings nicht unbedingt konfliktärmer.

Früher haben Psychologen größtenteils von einer notwendigen Ablösung erwachsener Kinder von ihren Eltern gesprochen. Heute sehen die Fachleute das anders. Statt von Ablösung sprechen sie von Individuation und meinen einen Prozess, in dem die Beziehung als eine zwischen gleichberechtigten Erwachsenen umdefiniert wird, dabei aber durchaus eng bleibt. Einige Menschen, mit denen ich gesprochen habe, hatten schon in der Kindheit eine schwierige Beziehung zu den Eltern. Bei vielen aber scheint es mir so, als seien die Konflikte erst im Erwachsenenalter offenkundig geworden, sei es, weil bestimmte Problemfelder wie die Partnerwahl der Kinder sich erst da auftaten, oder weil sie und ihre Eltern daran gescheitert sind, die Eltern-Kind-Beziehung als eine zwischen Erwachsenen neu zu gestalten.

Einen Interviewpartner etwa behandeln seine Eltern bis heute wie ein unwissendes Kind. Bei politischen Diskussionen sagen sie, er sei noch zu jung, um bestimmte Sachverhalte zu verstehen – dabei ist er Anfang zwanzig und hat ein abgeschlossenes Studium in Politikwissenschaft. Bei ihm führt das dazu, dass aus kindlicher Bewunderung nicht Respekt und Anerkennung für die Eltern geworden ist, wie er es sich wünschen würde, sondern eine gewisse Verachtung. Denn eigentlich seien sie es, sagt er, die gewisse Dinge – seien es die Corona-Maßnahmen oder die Asylgesetzgebung – nicht verstehen.

Dieses Beispiel ist ein extremes. Doch auch wenn Eltern ihre erwachsenen Kinder als gleichberechtigte Gesprächspartner betrachten: Im Gegensatz zu der Beziehung zu Freundinnen oder Geschwistern ist und bleibt die Beziehung zu den Eltern ein Leben lang asymmetrisch. Ein simples, aber illustratives Beispiel dafür ist, dass Eltern ihren Kindern ein Leben lang teurere Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenke machen als umgekehrt. Vielleicht hat es auch mit dieser Asymmetrie zu tun, damit, dass wir zu unseren Eltern aufblicken wollen, dass wir es besonders schwer ertragen können, wenn sie sich in unseren Augen irrational oder moralisch fragwürdig verhalten.

Als ich anfing, mich dem Thema »Fremd in der eigenen Familie« zu widmen, kamen mir dennoch schnell Zweifel. Fühlten sich erwachsene Kinder ihren Eltern gegenüber früher nicht viel fremder? Gehörte die Entfremdung von den »Alten« unter den 68ern nicht noch zum guten Ton, während die Beziehungen zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern heute nicht immer, aber doch in den meisten Fällen weniger konflikthaft und oft auch sehr eng sind?

Genau das habe ich sogar selbst vor ein paar Jahren mal in einem Artikel mit dem Titel »Ein bisschen erwachsen« geschrieben. Der Einstieg in den Text ging so: »Als ich die Zusage für meinen ersten richtigen Job bekam, habe ich erst mal meine Mutter angerufen. Danach meinen Vater und erst dann meinen Freund und meine beste Freundin. In diesem Jahr werde ich dreißig, und noch immer rufe ich, wenn es wichtig wird, zuerst meine Eltern an.«

Immerhin: Heute würde ich wohl eher zuerst meinen Freund anrufen und dann meine Mutter. Offenbar hat sich das Verhältnis zu meinen Eltern zwischen Ende zwanzig und Mitte dreißig noch einmal verändert, ich bin etwas autonomer geworden. Nach wie vor sind meine Eltern aber zwei meiner wichtigsten Ansprechpartner, wenn ich traurig oder gestresst bin, ein Problem bei der Arbeit habe – oder mir etwas Schönes widerfährt.

Wieso dann ein Buch mit dem Titel »Fremd in der eigenen Familie«? Nun, zum einen denke ich, dass die These meines Artikels damals vielleicht nicht ganz richtig war. Sicherlich haben in meinem Umfeld viele eine sehr gute Beziehung zu ihren Eltern. Aber womöglich liegt das auch daran, dass ich in einer dieser viel gescholtenen Blasen lebe. Und es gibt eben viele Leute, bei denen das anders ist.

Zum anderen lässt sich die Frage, ob die Beziehungen zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern heute besser sind als früher, gar nicht so leicht beantworten, wie man vielleicht vermuten würde. Aus dem Bauch heraus lässt sie sich sicherlich bejahen. Wissenschaftlich untermauern lässt sie sich nur schwer. Zwar zeigen Untersuchungen, dass die Beziehungen zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern eng sind. Bei einer Datenerhebung in den Jahren 2016 und 2017 etwa gaben 33 Prozent der befragten 25- bis 45-Jährigen an, täglich Kontakt zur Mutter zu haben, sei es persönlich, per Telefon, WhatsApp oder Mail. Vierzig Prozent hatten mindestens wöchentlich Kontakt. Zum Vater waren es 19 Prozent, die täglich, und dreißig Prozent, die mindestens wöchentlich Kontakt hatten. Es lässt sich aber nur vermuten, dass frühere Generationen in weniger regem Austausch mit den eigenen Eltern standen: Vergleichbare Daten gibt es aus dieser Zeit leider nicht.

Wie sich das Phänomen der Entfremdung von den Eltern im Laufe der Jahrzehnte verändert hat, lässt sich auch nicht quantifizieren. Wohl aber die heutige Entfremdung – zumindest wenn man der Definition zweier Professoren der Universitäten Köln und Halle-Wittenberg folgt, Karsten Hank und Oliver Arránz Becker. Die beiden sprechen von Entfremdung von den eigenen Eltern bei jungen und mittelalten Erwachsenen zwischen 18 und 45 Jahren, wenn Kinder und Eltern sich emotional nicht nahestehen und weniger als einmal im Monat Kontakt haben. In einer im Oktober 2021 erschienen Studie haben sie Angaben von mehr als 10.000 Menschen aus der »pairfam«-Längsschnittstudie ausgewertet, einem 2008 begonnenen Beziehungs- und Familienpanel. Zwanzig Prozent der Befragten waren demnach vom Vater, neun Prozent von der Mutter entfremdet. Zur Entfremdung trugen vor allem einschneidende Familienereignisse bei, etwa der Tod eines Elternteils oder die Trennung der Eltern. Gab es ein Stiefelternteil, mit dem das erwachsene Kind nicht gut zurechtkommt, verstärkte das die Entfremdung. Söhne und Töchter waren gleich häufig entfremdet. Die Soziologen haben nur Angaben von erwachsenen Kindern ausgewertet, die nicht mehr bei den Eltern wohnen.

Trennung der Eltern sowie Probleme mit Stiefelternteilen als Entfremdungsgründe sind auch mir begegnet, in meiner überhaupt nicht repräsentativen, ganz persönlichen Erhebung. Dass Frauen und Männer sich gleich häufig entfremdet fühlen, aber öfter vom Vater, ist auch mein subjektiver Eindruck. Gleichzeitig habe ich aber auch mit Menschen gesprochen, die sich emotional entfremdet fühlen, aber viel Kontakt zu ihren Eltern haben, teils sogar noch bei ihnen wohnen. Mir erscheint das kein Widerspruch zu sein. Denn gerade weil die Beziehung zu den eigenen Eltern eine so besondere ist, ist sie oft selbst dann eng, wenn eine gewisse innerliche Distanz vorhanden ist. Das gilt womöglich vor allem in Familien mit Migrationshintergrund. Eine Interviewpartnerin mit serbisch-bosniakischen Wurzeln etwa wohnt mit Anfang dreißig noch bei ihrer Mutter, obwohl die ihre Beziehung zu einem Deutschen nicht akzeptiert. »Deine Großeltern werden das nicht dulden, das wird nicht funktionieren« – das waren die Worte der Mutter, als sie vom deutschen Freund ihrer Tochter erfuhr. Zwar hat sie inzwischen verstanden, dass sie die beiden nicht auseinanderzwingen kann. Die Entfremdung wächst aber trotzdem. Denn mit jedem Jahr, das die Mutter älter wird, wendet sie sich mehr ihrer Heimat und den dortigen Traditionen zu, während die Tochter sich mit jedem Jahr, das sie mit ihrem Freund, seiner Familie und seinen Freunden verbringt, deutscher fühlt.

Weil sich Menschen und ihre Werte ein Leben lang verändern, tun das auch die Beziehungen zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern. So wird im Fall der Bosniakin die Mutter im Alter konservativer, die Tochter liberaler. Die Mutter hat außerdem ihr Familienbild aus Serbien mitgebracht – Migrationsforscher würden es als kollektivistisch und interdependent beschreiben. Für sie ist es völlig normal, sich in das Leben ihrer Tochter einzumischen, vermutlich würde sie ihr Verhalten nicht mal als »Einmischung« beschreiben. Die Tochter aber hat über Schule, Studium, Freundschaften und ihre Beziehung erlebt, wie Familienbeziehungen in Deutschland aussehen, nämlich eher individualistisch und independent. Das heißt, dass Familienmitglieder sich hier mehr Freiraum geben, weniger verwoben sind. Mutter und Tochter mögen räumlich und auch emotional eng verbunden bleiben – ihre Werte driften immer weiter auseinander.

Und Studien zeigen, wenig überraschend, dass geteilte Werte in der Beziehung zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern eine Rolle spielen. Menschen fühlen sich ihren Eltern verbundener, wenn sie ähnliche Werte haben. Eine internationale Forschergruppe fand 2020 heraus, dass vor allem Töchter häufig mit den Werten ihrer Eltern übereinstimmen. Bei Müttern und Söhnen hängt die Häufigkeit des Kontakts mit der Werteähnlichkeit zusammen, nicht aber bei Müttern und Töchtern – womöglich, weil letztere ohnehin in engem Kontakt stehen, unabhängig von Differenzen, während Ähnlichkeit bei Söhnen eher dazu führt, dass sie den Kontakt suchen.

Tatsächlich habe ich mich in einigen Interviews gewundert, wenn meine Gesprächspartnerin erst die schwierige Beziehung zur Mutter und das Gefühl der Fremdheit geschildert hat, und dann auf meine Frage nach der Kontakthäufigkeit »täglich« oder zumindest »wöchentlich« geantwortet hat. Etwa eine Frau Mitte dreißig, die mir erzählte, ihr Vater halte sie für eine Ökoradikale und ihre Mutter könne nicht verstehen, warum ihr Enkelkind nicht getauft ist – und die ihre Eltern zweimal wöchentlich sieht. »Wir haben ein gutes Verhältnis«, sagt sie. »Aber ich fühle mich ihnen gegenüber einfach fremd.«

Diese Frau wollte, wie alle meine Gesprächspartner, anonym bleiben. Ich habe deshalb die Namen und manchmal auch biografische Details verändert, allerdings immer so, dass ihre Erzählungen dadurch nicht inhaltlich verändert wurden. All denen, die mit mir gesprochen haben, bin ich für ihre Zeit und ihre Offenheit dankbar. Ihre Geschichten erzähle ich in den folgenden Kapiteln. Ich habe sie nach dem Grund der Entfremdung geordnet, etwa Uneinigkeit bei Politik oder Religion, ein Bildungsaufstieg oder eine verschieden enge Bindung an die Kultur des Herkunftslands von Eltern oder Großeltern. Natürlich beeinflusst ein Bildungsaufstieg oft auch die politische Haltung, und in Familien mit Einwanderungsgeschichte sind Religion und Kultur nicht immer klar zu trennen. Manche meiner Gesprächspartnerinnen fühlten sich ihren Eltern gegenüber auch in so gut wie jedem dieser Bereiche fremd. Dann habe ich versucht, die Ursache dafür zu verstehen – zum Beispiel die Bildungsdifferenz. Weil jede Familie, jede Eltern-Kind-Beziehung individuell ist, kann eine solche Kategorisierung natürlich nicht jedem Fall gerecht werden.

Jenseits von Ordnungsversuchen und Kategorisierungen zeigen all diese Geschichten aber vor allem eins: Die Beziehung zu den eigenen Eltern ist belastbar wie kaum eine andere, belastbarer auch als die zu Geschwistern. Vielleicht stehen sich die verschiedenen gesellschaftlichen Lager tatsächlich immer unversöhnlicher gegenüber. In Familien aber sitzen Erzkonservative und Linksliberale, Gläubige und Atheisten, Klima-Aktivisten und vielreisende Hedonisten oft noch zusammen am Küchentisch – so wie ich früher mit meinen Eltern am Küchentisch saß und es auch heute bei meinen Besuchen immer noch gern tue. Statt sich nur übereinander zu empören, sich in der Abgrenzung voneinander zu definieren, üben sich Familien in Akzeptanz, wo es ihnen möglich ist. Und wo Haltungen inakzeptabel erscheinen? Selbst da gibt es noch Wege: »Ich versuche die politischen Ansichten meiner Eltern davon zu trennen, dass sie mich großgezogen haben, ein Teil von mir sind«, sagte eine Gesprächspartnerin, »und ich versuche das anzuerkennen, dafür dankbar zu sein.« Das zeigt: Selbst wenn die Beziehung von erwachsenen Kindern zu ihren Eltern von Fremdheit oder Entfremdung geprägt ist, muss sie deshalb nicht schlecht sein. Und selbst wenn sie eher schlecht ist, sind die meisten erwachsenen Kinder nicht bereit, sie aufzugeben. Und das ist, bei all den traurigen, teils tragisch-komischen und manchmal erschütternden Geschichten, die ich hier wiedergebe, doch ein tröstliches Fazit: für meine Gesprächspartner und für mich – und auch im großen Ganzen.

II POLITIK

Rechtsextreme Eltern

In Timurs russlanddeutscher Familie sind Rassismus, Verschwörungsmythen und Esoterik verbreitet. Zu vielen Verwandten hat er den Kontakt abgebrochen – nicht aber zu den Eltern.

Manchmal träumt Timur davon, dass er fünfzig ist und Professor. In seinen Träumen hat er mehrere Bücher über Politik geschrieben, und seine Eltern erkennen seine Leistungen und sein Wissen an. In Wirklichkeit ist Timur Anfang zwanzig und studiert Politikwissenschaft im Master. Und obwohl er politisch viel gebildeter sei als seine Eltern, erzählt er, nähmen sie ihn nicht ernst und glaubten lieber das, was auf Putins Propagandasender RT läuft.

Als Antwort auf mein Gesuch hat Timur mir in einer Mail geschrieben: »Meine Familie kommt aus Kasachstan, ehemalig allerdings aus der Wolgaregion in Russland. Die Historie entspricht den klassischen ›Russlanddeutschen‹, und hier fußt bereits das Problem. Ich weiß nicht genau, woran es liegt, aber innerhalb dieser Volksgruppe gibt es erschreckend starke Tendenzen in eine Richtung, welche man weit außerhalb der demokratischen Mitte lokalisieren würde. Ich spreche hier von Rassismus, Homophobie, Verschwörungsmythen, Medienfeindlichkeit, Esoterik usw. von der übelsten Sorte. Im Übrigen sind Russlanddeutsche eine der größten Wählergruppen der AfD. Für mich, der sich politisch mittig, eher links davon, positionieren würde und dazu auch als Politikwissenschaftler genau diese Themen zu seinem Bildungsweg gemacht hat, ist das natürlich besonders problematisch. Ich habe mittlerweile zu einem Großteil meiner Familie den Kontakt verloren. In einer Umgebung, in der es heißt ›für uns oder gegen uns‹, sind Menschen wie ich kaum überlebensfähig, außer sie halten dicht und reden nicht darüber. Ich fühle mich dadurch sehr isoliert und glaube daher gut zu Ihrem Anliegen zu passen.«

Den Kontakt verloren, stellt sich im Gespräch heraus, in dem Timur schnell lockerer klingt als in seiner etwas förmlichen Mail, hat er vor allem zu seinen Großeltern. Aber auch mit einigen Tanten, Großonkeln, Cousins und Cousinen spricht Timur nicht mehr. Mit seinen Eltern ist der Kontakt zwar schwierig, aber immer noch eng. Die beiden kamen als Zwanzigjährige Mitte der neunziger Jahre mit Teilen ihrer Familien nach Deutschland. Damit gelten sie als Spätaussiedler. So werden all jene deutschstämmigen Zuwanderer aus Russland und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion bezeichnet, die nach 1993 in die Bundesrepublik kamen. 1997 kam Timur auf die Welt. Weil die kasachischen Studiengänge der Eltern in Deutschland nicht anerkannt wurden, mussten sie hier noch einmal studieren. In dieser Zeit, zwischen seinem siebten und seinem elften Lebensjahr, lebte Timur bei seinen Großeltern. Dort wurde sein Interesse an Politik geweckt. Es lief viel russisches Fernsehen, und der Opa kommentierte das meinungsstark, was in Timur einen gewissen Widerwillen auslöste, wie er erzählt. In der Nachbarschaft, einer Sozialbausiedlung, lebten viele Gastarbeiter und Flüchtlinge, mit deren Kindern Timur gern spielte, über die sein Großvater aber immer verächtlich sprach. Nichts als Verachtung hatten die Großeltern auch für Homosexuelle übrig. Einmal sagte die Großmutter, wenn Timur schwul würde, wäre er kein Teil der Familie mehr. »Das hat mich sehr schockiert, so früh zu merken, dass die Liebe meiner Großeltern an Bedingungen geknüpft ist«, erzählt Timur. »Diese Erinnerungen haben sich sehr in meinen Kopf gefressen.«