Fremde Scherben - Marie C. Becker - E-Book

Fremde Scherben E-Book

Marie C. Becker

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Beschreibung

Stell dir vor, dein Inneres ist zerbrochen. Einige der Scherben gehören zu dir. Andere hat ER dort hinterlassen. 1990: Das System zerbröckelt, Rufe nach Veränderung und Revolution hallen aus besetzten Häusern durch Berlins Straßen. Durch den politischen Umschwung entkommt Richard seiner Haft und wird ausgerechnet von einer ehemaligen Stasiangestellten und ihrem behinderten Sohn aufgenommen. Mit Kaffee und Zigaretten versucht er, dem Grauen der Erinnerungen zu entfliehen, doch eine Postkarte mit vier Wörtern wirft ihn zurück in den Albtraum. Monster kriechen aus den Schatten der Stadt und der unmenschlich wirkende Doktor tritt erneut auf den Plan. Richard gerät in einen Mahlstrom, der jeden zu verschlucken droht, den er je geliebt hat. Er muss seine Scherben zusammensetzen und sich zwischen Vergangenheit und Gegenwart entscheiden, ehe jegliche Hoffnung auf ein neues Leben für immer zerstört wird.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 526

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhaltswarnung

Diese Auflistung kann Spoiler enthalten.

Einige der im Buch behandelten Themen können für Lesende persönliche Trigger sein oder Unwohlsein verursachen. Diese sind unter anderem: Explizite physische und psychische Gewalt, Machtmissbrauch, emotionaler und körperlicher Missbrauch, Freiheitsberaubung, Gefangenschaft, suizidale Gedanken und Handlungen, Blut, Trauer, Tod, Verlust, Verletzungen, Selbstverletzung, Depressionen, Trauma, Albträume, Insomnie, Essstörungen, Konsum von Alkohol und Alkoholabhängigkeit, Konsum von Nikotin und Nikotinabhängigkeit, Konsum von illegalen Drogen, Bodyhorror, Insekten, Ertrinken, explizite sexuelle Handlungen, sexuelle Belästigung, ableistische Sprache.

Wenn du dich mit einem dieser Themen unwohl fühlst, sei bitte vorsichtig beim Lesen dieses Buches. Betroffene und Angehörige finden zum Beispiel Hilfe beim Seelsorge-Telefon unter 08001110111. Du bist nicht allein.

Marie C. Becker

Fremde Scherben

Nach einer Idee von Kilian R. A. Schneider

© 2023 Marie C. Becker

Coverdesign von: Jaqueline Kropmann,

https://jaqueline-kropmanns.de

Illustration von: Beatrix Schulte-Huermann

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg,Deutschland

ISBN

 

Paperback

978-3-384-05177-6

Hardcover

978-3-384-05178-3

E-Book

978-3-384-11760-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Für alle,

die sich im dunkelsten Moment

für das Leben entschieden haben.

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Epilog

Danksagung

Autorinnenvita

Fremde Scherben

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Prolog

Autorinnenvita

Fremde Scherben

Cover

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Prolog

Die Mauern fallen.

Eine teilt das Land, doch der Ruf der Freiheit schwillt an, bis der Stein bröckelt. Andere umgeben ein Gefängnis, dessen Name nur hinter geschlossener Tür geraunt wird. Es erhebt sich unter dem grauen Himmel eines Dezemberabends. Ein Junge tritt hervor, die Hände frei von Fesseln. Er bleibt eingesperrt hinter der Mauer, die er um die Scherben seines Selbst errichtet hat, zu hoch, um sie jetzt noch zu überwinden. Kälte sitzt tief in seinem Körper und frisst sich bis in die Knochen.

Der Junge stolpert ein paar Schritte. Schneematsch spritzt auf, wenn ein Auto zu schnell vorbeifährt, offenbart für Sekundenbruchteile den Blick auf Menschen, das Aufblitzen einer Erinnerung, die wieder verhallt.

Der Junge möchte sich nicht erinnern.

Sein Körper ist angespannt, doch ihm fehlt die Kraft, um vor der Frau in dem fliederfarbenen Kostüm zu fliehen. Sie spricht ihn an, ihre Frage im schrillen Kampf mit seinen Gedanken. Wasser fließt in Rinnsalen von ihrem Schirm. Die Frau wiederholt ihre Worte und er zwingt sich, zu antworten. Die Pausen in seinem Satz sind etwas zu lang.

Der Junge bemerkt kaum, wie sie zum Bus gelangen. Auf der Fahrt verrenkt er den Kopf, um den Himmel zu sehen. Dunkelheit zieht über die Stadt, doch sie ist chancenlos gegen die grellen Lichter.

Der Junge zuckt zusammen, als die Lampen im Bus flackern. Am nächsten Halt steigen sie aus. Regen steht in Pfützen auf dem rissigen Asphalt und Nässe dringt durch die Socken des Jungen. Er hat Angst, zu ertrinken.

Der Schlüssel dreht sich in der Tür, dann schwingt sie auf. Ein kleiner Flur, Trockenblumen auf einer Kommode. Der Junge verharrt, erwartet Fragen, erwartet Befehle, erwartet Schläge. Die Frau gibt ihm einen Stapel Decken. Die Heizung gluckert in unregelmäßigen Abständen, bleibt aber kalt.

Der Junge findet keine Ruhe. Sein Herz rast, kaum dass er sich auf das schmale Bett legt. Obwohl die Tür geöffnet ist und er die Straßenlaterne durch das Fensterglas sieht, weiß er, dass er nicht sicher ist.

Er verlässt die Wohnung.

Die Straßen sind zu voll, laut, grell. Geräusche klingeln in seinen Ohren, Lichter rauben ihm jeglichen Orientierungssinn.

Alles ist fremd.

Er ist fremd.

Schnee fällt und schmilzt in seinem Haar. Ein blaues Leuchten zieht ihn an wie eine Motte. Ein weißer Schriftzug. Samariterstraße. Eine Treppe führt in den Untergrund. Er folgt ihr. Müll ergießt sich über die Stufen, ein Luftzug kündigt eine nahende U-Bahn an.

Pfeifen. Stimmen.

Der Junge presst sich gegen die grün gekachelte Wand. Menschen strömen an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten. Er möchte so gern nach Hilfe schreien, doch er weiß, dass er verloren ist.

Der Doktor wird nicht zulassen, dass er entkommt.

Wozu dieses Spiel?

Der Bahnsteig liegt einsam vor dem Jungen. Seine Schritte sind schwankend, als er sich dem Fahrplanaushang in der Mitte des Gleises nähert. Mit zitternden Fingern fährt er über die neblige Scheibe.

BERLINER VERKEHRSBETRIEBE.

Der Junge kann die Tränen nicht länger zurückhalten.

Am nächsten Morgen öffnet die Frau die Tür zu ihrer Wohnung, die Augen von Müdigkeit verhangen. Der Junge sitzt dort im Treppenhaus, an die Wand gelehnt, die Hände taub vor Kälte.

Es gibt keinen Ort, an den er gehen kann. Seine Erinnerungen verwirren sich zu einem schwarzen Knäuel. Es verschlingt das Licht, bis nur das Gefängnis bleibt.

1

Berlin kocht in seinem eigenen Saft. In den Straßen bilden sich Schatten und trotzen der Hitze eines Sommertages, der gerade erst beginnt. Luft strömt durch das geöffnete Fenster, trägt einen Geruch von Abgasen, Schweiß und Cannabis in die Küche der Altbauwohnung.

Der Stoff des Ledermantels klebt an Richards Körper wie eine zweite Haut.

Sein Blick liegt auf den Bäumen der gegenüberliegenden Straßenseite. Ihre Kronen strecken sich grün der Sonne entgegen, doch er sieht sie kaum. Die Zigarette zwischen seinen Fingern zittert, als er einen Zug nimmt, den Rauch tief in die Lungen inhaliert und durch die Nase ausatmet. Das Brennen vertreibt für einen Moment den Schmerz.

Mit ihrem Rattern durchfährt die Kaffeemaschine die Stille. Richard lauscht dem Tropfen der heißen Brühe, nimmt das Aroma mit all seinen Sinnen auf. Er ist so müde. Das Fensterbrett verschwimmt vor seinen Augen, macht einem Tisch Platz, auf dem ein Telefon steht, das nie klingelt. Ein Licht blendet ihn, doch er kennt das Muster des Vorhangs, der sich nie öffnet. Metall fixiert seine Hände, schneidet in sein Fleisch, wenn er versucht, sich zu wehren.

Richard kann die Gestalt kaum erkennen, die auf der anderen Seite sitzt, aber er weiß, dass er es ist. Es ist immer er. Mit rhythmischem Klingen rührt er den Kaffee in seiner Tasse um. Jedes Mal, wenn der Löffel das Porzellan berührt, unterdrückt Richard ein Zusammenzucken. Er klammert sich am Tisch fest, bis seine Fingerknöchel hervortreten.

„Richard, Richard, Richard“, sagt die vertraute Stimme. Sie wird die immer gleichen Fragen stellen.

Richard antwortet nie.

Ein heißer Schmerz. Der Block gegenüber kehrt in Richards Blickfeld zurück. Er schnappt nach Luft, löst langsam die Hände, die das Fensterbrett umklammert halten. Eine Zigarette fällt auf den Boden, erloschen durch den Kontakt zu seiner Haut.

Richard umfasst seinen verbrannten Finger und stößt beim Weg aus der Küche beinahe mit Frau Waschki zusammen.

„Herrje!“, ruft sie mit durchdringender Stimme. Obwohl sie eine große Frau ist, muss sie zu Richard aufblicken. „Wo willst du denn so schnell hin?“

„Ich hatte Sorge, die Sonne würde nicht mehr aufgehen, also musste ich schauen, wo du bist.“

„Da wirst du gleich vergeblich suchen, ich bin spät dran. Alles in Ordnung mit deinem Finger, Richard?“

„Ich war nur ungeschickt“, sagt er und steckt die Hand in die Manteltasche.

„Lass mich dir wenigstens ein Pflaster holen, Schatz. Dann kannst du mir etwas Kaffee für den Weg eingießen.“

Richard tut wie geheißen und kehrt in die Küche zurück. Der Kaffee dampft, als er ihn in eine Thermoskanne schüttet. Frau Waschki wuselt zu ihm und versorgt seine Wunde.

„Pass bitte besser auf Peter auf als auf dich“, sagt sie beim Glattstreichen des Pflasters.

„Als wäre er mein eigenes Kind.“

„Ich würde mir ernsthafte Sorgen machen, wenn du schon Vater wärst, Richard.“

„Andere Menschen haben Kinder, wenn sie zweiundzwanzig sind.“

„Nun, andere Menschen leben auch nicht bei einer alleinerziehenden Mutter und verschwenden ihre Zeit im Theater. Spielt ihr immer noch dieses schreckliche Stück von Kafka?“

„In der Tat. Hast du nicht gesagt, du wärst spät dran?“

„Ja.“ Frau Waschki geht in den Flur und nimmt einen Brief von der Kommode. Richard glaubt, die Überschrift Rentenbescheid zu erkennen, ehe sie das Papier in ihre Tasche gleiten lässt. „Du hast auch Post bekommen.“

Reflexartig nimmt Richard die Postkarte entgegen, die sie ihm hinstreckt. Mit einem Knall fällt die Tür hinter Frau Waschki ins Schloss.

Mit gerunzelter Stirn betrachtet er die Abbildung auf der Vorderseite. Sie zeigt die gefallene Mauer vor dem Brandenburger Tor, hunderte Menschen stehen auf den Trümmern, die Gesichter in strahlender Fassungslosigkeit der Kamera zugewandt.

Richard dreht die Karte um. Er erkennt die Schrift sofort, hohe, schräge Buchstaben, die ihrem eigenen Rhythmus folgen. Ein Dröhnen legt sich über seine Ohren, gesellt sich zu seinem rasenden Herzschlag.

Willkommen zurück, kleiner Wolf.

2

Dieter hält den Autoschlüssel in der Hand. Hinter ihm schließt die Schranke der Tiefgarage mit einem Scheppern. Das Parkdeck liegt verlassen da, Müll türmt sich in den Ecken und verströmt einen beißenden Geruch.

Dieter betrachtet die Graffiti hinter den leeren Parkplätzen. Die Schrift ist unregelmäßig, als sei sie in Aufregung und unter Zeitdruck gesprüht worden. Er versucht, die Worte zwischen den roten Flecken zu entziffern, doch die flackernden Neonröhren an der Decke verhindern sein Unterfangen.

Dann erlöschen sie.

Die Dunkelheit drückt wie ein Gewicht auf Dieter, ehe ein einzelnes Licht aufflammt. Es leuchtet bleich über die Wand, umgeben von tiefer Schwärze, und betont ein Graffito.

Dieter könnte schwören, dass es zuvor nicht da war.

Das Bild unter der Lampe wirkt wie ein Gemälde. Es zeigt einen weiblichen Engel, weiße Flügel brechen aus seinem Rücken hervor. Sie bluten, wo sie von Ketten durchbohrt waren, die mittlerweile zerrissen sind, die letzten Glieder fliegen aus dem Bild heraus. Der Engel weint, den Blick gesenkt, die Hände gen Himmel gestreckt. Seine Kehle ist überströmt von Blut, rot sickert es über die weiße Robe. Der Schmerz wirkt greifbar, berührt etwas in Dieter, das er nicht loslassen kann.

Der Engel hebt den Kopf. Und starrt Dieter direkt in die Augen. Mit einem Scheppern fallen die Autoschlüssel zu Boden.

Von irgendwoher ertönen Schritte. Die Lampen der Garage flackern synchron wieder auf. Helligkeit. Dieter streckt die Hand empor, um sich vor dem Lichteinfall zu schützen.

„Hey! Mann! Das könnte eines von den Nazischweinen sein! Wir machen dich platt!“

Dieter dreht sich langsam um. Drei Gestalten kommen auf ihn zu, trotz ihrer Kapuzenpullover sind große Teile ihrer Gesichter zu erkennen. Keiner von ihnen wirkt älter als achtzehn.

„Oh verdammt“, sagt einer. Die Stimme klingt eingeschüchtert und vertraut.

„Nun sag schon! Bist du einer von denen? Was macht ihr mit unseren Freunden? Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!“ Der Größte von ihnen tritt vor, seine Finger umklammern das Metall eines Schlagrings.

Dieter wendet sich dem zu, der zuvor geflucht hat. „Faisal?“

Der Junge nimmt die Kapuze ab. Er ist ein Stück kleiner als Dieter und versucht schon länger erfolglos, sich einen Schnurrbart wachsen zu lassen.

„Hey, was machst du?“, fragt der Große. „Jetzt kann der uns doch idin… Du weißt schon!“

„Lass das, Mann“, sagt Faisal. „Das ist Dieter. Der ist ok. Den lassen wir in Ruhe.“

„Ey, Scheiße, Mann. Bist du dir sicher, dass der keiner von den Scheißnazis ist?“

„Ja, Mann.“ Faisal macht einen Schritt auf Dieter zu und streckt ihm seine Hand entgegen. Dieter ergreift sie. Ein kalter Schweißfilm bedeckt die Haut des Jungen.

„Ihr habt mich erschreckt.“ Dieter wirft einen Blick über die Schulter. Der Engel ist verschwunden, die verschlungenen Buchstaben des anderen Graffitos füllen die Wand.

„'tschuldige, Mann.“ Faisal wendet sich den anderen zu. „Das ist Dieter. Aus dem Jugendclub. Der ist ok. Der hilft uns. Hat viel für meinen Bruder getan.“

Dieter betrachtet die Jungs eingehend. „Was macht ihr hier? Das kann euch in Probleme bringen. Ihr solltet es der Polizei nicht so leicht machen, sich mit euch anzulegen.“

„Die machen doch auch nichts, um uns zu helfen. Wir müssen uns selbst verteidigen, Mann. Wir müssen selbst kämpfen.“

Dieter schaut sich in der Garage um. Ein paar Insekten finden ihr Ende in den Neonröhren. „Warum müsst ihr kämpfen?“

„Weil die Scheißnazis hinter uns her sind!“, sagt der Junge mit dem Schlagring. „Die haben Ibrahim geholt.“

„Was ist passiert?“

„Ibrahim ist einfach verschwunden, Mann. Wir wollten uns mit ihm treffen.“ Faisal hält den Blick gesenkt. „Wir haben nur noch den Scheißtransporter wegfahren sehen. Und Hassan. Mein Bruder…“

Dieter erinnert sich an Hassan. Er ist ein lieber Junge aus schwierigen Verhältnissen. Die Verhandlungen mit dem Direktor waren zäh, doch er darf in der Schule bleiben. Die Chance auf eine Zukunft. „Was ist mit ihm? Geht es ihm gut?“

„Ne, Mann. Die haben ihn ins Koma geprügelt. Keine Ahnung, ob er je wieder aufwacht.“

Dieter reibt sich die Augen. Er fühlt, wie sich Kopfschmerzen anmelden. „Das ist kein Grund, Leute zu überfallen. Ihr seid doch clevere Jungs.“

„Ja, Mann. Aber die jagen uns trotzdem. Seit die Mauer weg ist, jagen die uns wie Tiere.“

„Verschwindet von hier, Jungs. Und seid vorsichtig. Kommt lieber in den Club, bevor ihr euch in weitere Schwierigkeiten bringt.“

Die drei Jugendlichen zögern, dann drehen sie ab. Dieter geht zu seinem Auto. Aus der Ferne kann er eines der Graffiti an den schmutzigen Wänden lesen.

THE ANGELS ARE WATCHING BECAUSE THEY HATE US.

Etwas klingt in Dieter an, eine Erinnerung. Sie verschwindet mit dem nächsten Herzschlag.

Dieters Atem beruhigt sich erst, als er hinter dem Steuer sitzt. Das Leder unter seinen Fingern fühlt sich vertraut an, gibt Sicherheit.

Mit einem Rumpeln fährt er über die Bodenwelle der Garage. Er sortiert sich in den frustrierend langsamen Verkehr eines Morgens in Berlin ein. Das Dudeln im Radio weicht einer Nachrichtensendung, die er ausschaltet. Er hatte genug Aufregung für diesen Tag.

Mit einem schrillen Kreischen widersetzt sich das Radio seinem Willen. Dieter zuckt zusammen, dreht an dem Regler, doch es wird lauter, immer lauter. Er wirft einen Blick auf den Beifahrersitz, und da sieht er sie. Eine Trollpuppe, verbranntes Haar und verkohltes Plastik. Ein Lied mischt sich unter das Quietschen des Radios, die Stimme einer Frau, die er längst vergessen hat.

Dieter greift nach der verdammten Puppe. Sie darf nicht hier sein. Er will sie aus dem Fenster werfen. Und sieht, wie er geradewegs auf eine Frau mit Schwalbe zuhält.

3

Der morgendliche Verkehr verläuft stockend. Frau Waschki sitzt auf ihrer Schwalbe und wartet, dass die westberliner Freizeitfahrer endlich verstehen, wie ein Reißverschlussprinzip funktioniert. Motorradfahrer rasen in selbstmörderischer Manier in die Lücken zwischen den Autos. Die meisten tragen nicht einmal einen Helm.

Nach endlos erscheinender Zeit kommt Bewegung in das System. Frau Waschki gibt langsam Gas.

Aus dem Augenwinkel sieht sie ein Auto auf sich zurasen.

Frau Waschki versucht auszuweichen, doch sie verliert das Gleichgewicht. Der Motorroller schlingert und stürzt wie in Zeitlupe. Sie springt ab, stolpert ein paar Schritte. Ihre Schwalbe hat weniger Glück. Mit einem Kreischen schlittert sie über den Boden, der orangefarbene Lack wird vom Asphalt abgerieben.

Die Reifen des kastenförmigen BMWs quietschen und kommen zum Stehen. Einige Autos hupen, fahren aber mit Abstand um sie herum. Frau Waschki hebt die Schwalbe am Lenker auf die Räder. Ein Mann in Lederjacke steigt aus dem Wagen und fährt sich mit den Händen durch die kurzen, dunklen Haare. Er scheint in ihrem Alter zu sein, Anfang vierzig.

„Haben Sie Ihren Führerschein beim Autoscooter gewonnen?“, blafft Frau Waschki. Ihr Herz schlägt zu schnell.

„Entschuldigen Sie! Sind Sie unverletzt?“

„Offenkundig! Ich hoffe, Sie sind nicht zu enttäuscht. Nachdem Sie mich allem Anschein nach von der Straße fegen wollten!“

„Es tut mir schrecklich leid. Mein Radio hatte eine Fehlfunktion…“

„Sie fahren mich um, weil Ihnen ein Lied nicht gefällt? Sind Sie aus der Klinik ausgebrochen?“

Der Mann übergeht den Kommentar. „Haben Sie irgendwas dabei?“, fragt er.

Frau Waschki schnappt hörbar nach Luft. „Wollen Sie mich etwa ausrauben?“

„Was?“ Er hat zumindest den Anstand, die Augen aufzureißen. „Nein! Nein! Nur wegen … der Versicherung. Ich bin Dieter Schmersal. Sie können mich Dieter nennen. Ich werde für den Schaden aufkommen. Selbstverständlich.“

„Nun, Herr Schmersal, das will ich aber auch hoffen. Waschki ist mein Name.“ Sie wirft einen Blick auf die schmale, goldene Uhr an ihrem Handgelenk. Die Haut darunter ist schweißnass. „Und ich komme wegen Ihnen zu spät zur Arbeit.“

„Warten Sie. Ich schreibe Ihnen meine Nummer auf. Und … eine Adresse. Von meinem Kumpel Karl.“

Frau Waschki zieht die Augenbrauen hoch. „Ist das Ihr Mann fürs Grobe?“ Dieser Mann scheint eindeutig wahnsinnig zu sein. Oder ein Drogenkurier.

„Nein. Er ist Mechaniker. Also. Er repariert Autos.“ Herr Schmersal fährt sich abermals mit den Fingern durch die Haare. „Sie sollten die Schwalbe zu ihm bringen. Ich bezahle dafür, selbstverständlich.“ Er drückt ihr einen Zettel in die Hand. Zu ihrer Überraschung ist die Schrift leserlich.

„Nun, ich würde mich ja bedanken, Herr Schmersal, aber Sie haben meinen Tag nicht gerade besser gemacht. Ich hoffe, ich muss Sie nicht wiedersehen.“

Mit diesen Worten steigt Frau Waschki auf ihre Schwalbe. Das Gefährt ist völlig zerkratzt, doch als sie behutsam Gas gibt, setzt es sich in Bewegung. Hinter der nächsten Ecke bleibt sie stehen. Sie möchte nicht riskieren, einen weiteren Unfall zu haben. Sie stellt den Roller ab und nimmt den Bus zur Arbeit.

4

Das Sofa steht hinten im Probenraum, dort, wo das Scheinwerferlicht nicht mehr hingelangt. Durch Risse im Polster quillt die Fütterung grau hervor. Ann nimmt auf der linken Seite Platz und schiebt sich eine Strähne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem ehemals streng gebundenen Zopf gelöst hat. Sie trägt einen Rollkragenpullover.

Richard spürt ihren Blick in seinem Rücken, als er sich einen Kaffee aus der großen Thermoskanne einschenkt. Mit dem heißen Plastikbecher in der Hand setzt er sich neben sie. Anns Feuerzeug zischt beim Entzünden der zwei Zigaretten.

Richard nimmt eine entgegen, zieht den Rauch tief in seine Lungen. „Danke.“

Schweigen herrscht, eine weitere Facette der Dunkelheit, die sie umgibt. Müdigkeit liegt wie ein schwerer Schleier auf Richards Gliedern. Aus einem anderen Flügel des besetzten Hauses ertönt Gelächter, Geschrei, das Anstimmen eines Chores. Richard fühlt sich isoliert von den Lebenszeichen.

„Wie geht es dir?“, fragt Ann mit amerikanischem Akzent und bläst Rauch aus. Ihre Stimme ist entspannt, doch da ist immer ein Unterton, eine Lebendigkeit, die sie nur schwer im Zaum halten kann.

„In deiner Gesellschaft? Gut wie immer“, sagt Richard und prostet ihr mit dem Kaffeebecher zu. Seine Worte klingen hohl, die Phrase eines Schauspielers, der die Emotionen hinter dem Text misst.

Ann betrachtet ihn aufmerksam. Er widersteht dem Impuls, sich mit den Fingern durch die Haare zu fahren. „Du wirktest abgelenkt heute. Ich möchte sichergehen, dass es unserem Hauptdarsteller gut geht.“

„Vielleicht war ich von unserer Regisseurin abgelenkt.“ Richard zwinkert ihr zu.

Ein leises Lachen löst sich aus Anns Kehle, doch es ist keine Antwort auf seine Aussage. „Vielen Dank, ich verzichte.“ Sie lehnt sich in den dunklen Polstern zurück. Die Zigarette zwischen ihren Fingern knistert. „Was ist das Schloss für dich?“

Richard kann ihrem Blick entnehmen, dass sie nicht Kafkas Stück meint. Ihre Frage geht tiefer. Er klopft etwas Asche von der Spitze seiner Zigarette. „Eine Illusion. Egal, wie sehr man sich anstrengt, man wird nie dorthin gelangen.“

Man wird nie frei sein. Der Gedanke ist in seinem Kopf, eine Spirale in dunklere Gefilde. Er folgt ihr nicht.

„Vielleicht kann man es doch erreichen. Stell es dir vor. Eine Rede voller Leidenschaft. Die Massen stürmen das Schloss. Wie findest du dieses Ende?“

„Da würde sich der gute Kafka sicher im Grab umdrehen.“

Ann lacht. Diesmal scheint es von Herzen zu kommen. „Da hast du vermutlich recht. Aber wieso sollen wir den Klamms dieser Welt immer nachgeben? Wieso können wir nicht bestehen gegen diesen einen Widersacher, der uns Steine in den Weg legt? Der versucht, uns zu zerstören?“

Richard zieht an seiner Zigarette und die Glut der Spitze spiegelt sich in Anns Augen. „Wer ist dein Klamm?“ , fragt er.

Ihr Blick flackert, Überraschung oder etwas Dunkleres. „Das ist eine Geschichte, die besser bei einer Flasche Wein besprochen werden sollte. Oder für immer verschwiegen.“

„Ich habe eh nicht vor, heute Nacht zu schlafen.“

Ann lacht. Es klingt müde. „Nun, einige von uns brauchen ihren Schönheitsschlaf.“ Sie wirft die Zigarette auf den kalten Zementboden und tritt sie mit der Schuhspitze aus. „Gute Nacht.“ Sie steht auf und beugt sich zu ihm runter. Ihre Lippen streifen seine Haut nur kurz, als sie ihn auf beide Wangen küsst. Dann verschwindet sie, ohne sich ein weiteres Mal umzudrehen.

Die Straßen liegen verlassen im Neonlicht der Laternen. Richard trinkt den letzten Schluck Kaffee und wirft den leeren Plastikbecher in einen Mülleimer. Das Koffein wirkt, sein beschleunigter Herzschlag verschlimmert die Kopfschmerzen. Trotzdem passiert er den nächsten U-Bahnhof, ohne die Treppen hinabzusteigen.

Um diese Zeit könnte man Berlin beinahe friedlich nennen. Dunkelheit versteckt die Müllberge, verlorene Seelen kapitulieren in der Stille. Richard reibt sich mit den Fingern die Augenlider, ehe er eine weitere Zigarette entzündet. Er achtet nicht darauf, wohin ihn sein Weg führt. Eine Plane ist über ein Baugerüst gespannt und flattert im Wind, verschwimmt vor seinem Auge zu einem Leichentuch. Das Skelett des Fortschritts.

Die Straßen sind eng bebaut, in einigen Häusern brennt noch Licht. Richard stellt sich die Fremden an ihren Küchentischen vor, wie sie über den Wandel sprechen, Veränderung, die Lappalien ihres Alltags. Er lässt sie zurück und läuft an einer Brücke entlang, Büsche strecken ihre verdorrten Zweige aus. In der Ferne versammeln sich ein paar Jugendliche in Kapuzenpullovern, Graffitidosen in den Händen. Richard wechselt die Straßenseite und verzichtet auf eine weitere Zigarette. Er möchte mit der Nacht verschmelzen, ein Teil von ihr sein. Aufmerksam betrachtet er die Sprayer, doch sie wirken beschäftigt. Ein Auto steht an der Straßenecke, ein Transporter mit getönten Scheiben.

Eine Autotür knallt, gefolgt von weiteren. Stimmen erfüllen die Nacht und kündigen Chaos an. „Auf den Boden! Sofort auf den Boden!“ Personen steigen aus dem Auto und rennen in seine Richtung.

Sie haben ihn gefunden.

Richard hastet in eine Seitenstraße. Zwei Männer stehen wie eine Mauer vor ihm. Schwarze Kleidung, Schlagstöcke, die Gesichter bleich im Schein der Straßenlampen.

„Sofort stehenbleiben!“

Richard zögert einen Moment zu lang, zurückgeworfen in Erinnerungen. Die Männer ähneln denen von damals, auch wenn diese hier keine Uniformen tragen. Er sieht aus dem Augenwinkel, wie sich einer von ihnen nähert. Eine Bewegung. Der Schlagstock trifft Richards Oberschenkel. Er strauchelt, Kies gräbt sich in seine Handflächen.

„Auf dem Boden bleiben! Auf dem Boden bleiben!“ Zwei Männer stehen über ihm, die Knüppel bereit, um abermals zuzuschlagen.

Eine Gestalt rennt an ihnen vorbei.

„Die fliehen!“

Beide Männer sprinten dem Flüchtenden hinterher.

Richard nutzt die Ablenkung.

Er rappelt sich hoch, stolpert die Straße entlang. Sein Oberschenkel droht nachzugeben, seine Lunge brennt.

Er bleibt nicht stehen.

Eine weitere Gestalt greift mit brutalen Händen nach ihm, bekommt seinen Mantel zu fassen. Eine Tasche zerreißt, aber Richard ist frei. Er flieht. Diesmal schafft er es, zu fliehen.

Ein Sommergewitter fegt über Berlin. Grelle Blitze erhellen den Himmel und Regen schwemmt durch die Straßen. Richard ist völlig durchnässt. Sein Atem geht stoßweise, die Tür zu der kleinen Wohnung fällt etwas zu laut ins Schloss. Er lehnt sich gegen das Holz, ein falsches Gefühl von Sicherheit im Rücken. Dumpfes Hämmern legt sich über seinen Verstand.

„Richard? Was ist mit dir passiert?“ Frau Waschki hat ihre Pumps abgelegt und trägt einen hellrosa Bademantel. Sie wirkt klein, wie sie da steht, die Arme vor der Brust verschränkt.

Richard zwingt sich zu einem Lächeln. „Das Gewitter hat sich nicht bei mir angemeldet.“

„Ich meine dein Bein!“

„Es ist nichts passiert.“

„Das glaubst du doch selbst nicht! Du humpelst. Und siehst schrecklich aus.“

„Das verletzt jetzt wirklich meine Gefühle.“

„Richard, bitte sag mir, dass du nicht mit der Polizei aneinandergeraten bist.“

„Keine Sorge. Ich bin nur beim Rückwärtslaufen von der Bühne gestürzt.“

Sie weiß, dass er lügt.

Richard ist bereit, weitere Fragen zu beantworten, die Wahrheit zu verstecken, doch Frau Waschki resigniert. „Du musst besser auf dich aufpassen. Wenn dir etwas zustoßen würde … Was, wenn du dir das nächste Mal das Genick brichst? Wer soll sich um Peter kümmern? Wenn du tot bist?“

„Keine Sorge, ich werde nicht sterben.“ Die Worte haben einen bitteren Nachgeschmack.

„Das will ich auch wirklich hoffen! Sonst wäre ich sehr wütend auf dich.“

Richard lächelt. „Du solltest schlafen.“

„Habe ich, ehe du hier hereingepoltert bist!“

„Es tut mir leid.“

Frau Waschki akzeptiert es mit einem Nicken. „Du musst morgen mit mir in eine Autowerkstatt fahren. Ich hatte einen kleinen Unfall.“

„Alles in Ordnung? Bist du verletzt?“

„Nein. Im Gegensatz zu dir bin ich geschickt genug, um nicht humpelnd nach Hause zu kommen.“

„Das ist gut. Ich begleite dich morgen. Keine Sorge.“

„Gut! Versuche zu schlafen, Richard. Du siehst scheußlich aus.“

„Du solltest wirklich ins Bett gehen. Deine Worte sind in Beleidigungen umgeschlagen.“

„Nicht so frech, Herr Wilk. Sonst stelle ich jemand anderen ein.“

Richard zwinkert ihr zu und humpelt in die Küche. Er setzt eine Kanne Kaffee auf, nimmt Platz auf der Fensterbank und entzündet eine Zigarette. Der Zeiger der Uhr schlägt mit einem Klicken auf ein Uhr um. Kühle Luft dringt in den Raum, Blitze erhellen immer wieder die Straße vor dem Wohnblock.

Richard schreckt hoch, sein Kopf eben noch herabgesunken. Zur Sicherheit drückt er die Zigarette aus. Er schenkt sich einen Kaffee ein, setzt sich auf einen gepolsterten Holzstuhl. Er trinkt eine halbe Tasse, doch seine Augen fallen immer wieder zu. Ein Blitz. Richard hört den grollenden Donner nicht mehr. Er ist schon eingeschlafen, zusammengesunken am Küchentisch.

In dieser Nacht hat er keine Träume.

5

Die Pfützen der letzten Nacht verdampfen auf heißem Asphalt. Ein Auto rast hupend vorbei, Menschen in Badekleidung jodeln auf dem Weg zum kühlenden Nass der Badestrände im Spandauer Forst.

Die Werkstatt liegt im Erdgeschoss eines zweistöckigen Reihenhauses aus der Jahrhundertwende. Das breite Kutschentor ist hochgezogen und erlaubt einen Blick ins Innere. Ein Schild hängt schief daneben, die Buchstaben sind hervorgestanzt wie auf einem Autokennzeichen. KARLS AUTOREPARATUREN. Eine muntere Melodie schallt ihnen entgegen.

„Hier also?“, fragt Richard.

„Ja“, sagt Frau Waschki und zieht die Silbe in die Länge. „Hoffen wir mal, dass das keine Briefkastenfirma ist. Und ich als Zeugin beseitigt werden soll.“

„In diesem Fall würde ich erbittert für dein Leben kämpfen.“

„Ach, Richard, du kannst doch nicht mal auf dich selbst aufpassen.“

„Davon war auch nie die Rede.“

Richard geht voran und schiebt den Motorroller durch das geöffnete Tor. Drinnen brummt ein Ventilator und sorgt für eine Zirkulation der heißen Luft. Ein Mann schraubt ein Rad von einem Auto ab und singt wortlos das Lied aus dem Radio mit. Es ist ein fröhlicher Popsong, der von Freiheit handelt. Ein lächerliches Thema. Das Einzige, das Bedeutung hat.

„Hallo?“, ruft Richard.

Der Mann hebt den Kopf und wirft einen Blick über die Schulter. Er ist kräftig gebaut und hat volles, graues Haar. Falten durchziehen sein Gesicht und lassen es freundlicher wirken.

„Hallo hallo!“ Er nimmt ein schmutziges Tuch von der Motorhaube eines blauen Kastenwagens und reibt sich die Hände ab, ehe er den Lautstärkeregler des Radios herunterdreht.

„Ein Freund von Ihnen hat einen Unfall gebaut“, sagt Richard.

„Nun sollen Sie dafür aufkommen und den Motorroller reparieren.“

„Und Sie sind … ?“

„Frau Waschki“, stellt sie sich vor. „Ihr Kumpane Herr Schmersal wollte mich von der Straße fegen.“

Richard zuckt zusammen.

„Das ist aber wirklich eine drastische Umschreibung“, sagt der Mann. „Ich bin Karl.“

„Nun, Herr … ?“

„Karl. Sie dürfen mich Karl nennen.“

„Nun, Herr Karl, es war auch ein drastischer Moment meines Lebens.“

„Das tut mir sehr leid. Normalerweise fährt Dieter sehr vorsichtig.“

„M-Hm“, macht Frau Waschki skeptisch.

Richards Gedanken sind ein Wirbelsturm, dem er nicht Herr wird. Dieter Schmersal. „Ich gehe mal eben rauchen“, murmelt er und lässt die Garage hinter sich.

Vor dem Tor atmet er ein paarmal tief ein und aus. Die Sonne blendet ihn, seine Hände sind kalt. Er vermutet, dass Frau Waschki den Zettel mit der Telefonnummer in ihrer Handtasche aufbewahrt. Richards Gedanken drängen ihn in eine Zeit, in der er all seine Hoffnung an einen Brief klammerte. Und enttäuscht wurde. Er muss Dieter Schmersal anrufen.

„Richard?!“ Frau Waschkis Ruf kommt wie aus weiter Ferne. Sofort eilt er in die Garage.

„Das ist doch absurd!“, sagt sie. Sie steht Karl gegenüber, der sich lässig an ein Auto gelehnt hat.

„Was ist denn los?“, fragt Richard.

„Schauen Sie ihn sich doch an, er ist ein Kind!“

„Hey!“

„Richard, dieser Mann hat gedacht, dass wir eine Liaison haben. Wieso sollte er so etwas Verrücktes denken?“

Karl zuckt mit den Schultern. Es wirkt entschuldigend. „Ich wollte nur mal fragen.“

„Wieso sollte es ihn interessieren?“ Ein Grinsen breitet sich auf Richards Zügen aus.

„Also …“ Frau Waschki wirkt aufgebracht, aber da ist noch etwas anderes in ihrem Gesicht. Sie fühlt sich geschmeichelt. „Richard, wir gehen. Herr Karl, bitte reparieren Sie meine Schwalbe. Ich werde sie abholen.“

„Ich freue mich darauf“, sagt Karl und winkt zum Abschied.

6

Dämmerung bricht über Berlin herein. Richards Shirt klebt unter dem Mantel an seinem Körper. Er verlässt auf halber Strecke zum Theater den U-Bahn-Tunnel und strandet in einem unbekannten Viertel.

Nach einigen Minuten nähert er sich einem Münztelefon, das vom Reklameschild einer Apotheke in rotes Glühen getaucht wird. Ein Zitat von Rosa Luxemburg steht mit Edding auf das Glas geschrieben. Wer sich nicht bewegt, spürt seine Fesseln nicht. Eine cartoonhafte Zeichnung zeigt die Hinrichtung eines Menschen mit Augenbinde. Ihr seht nichts, verkünden rote Buchstaben. Und darunter, kleiner: Blinde sterben.

Richard kramt ein wenig Kleingeld und einen Kassenzettel aus der Manteltasche. Er tippt die Telefonnummer mit zitternden Fingern ein. Sein eigener Atem erscheint ihm zu laut, das Tuten des Telefons erklingt asynchron und schrecklich langsam.

Ein Klicken, dann ertönt eine Stimme „Hallo?“

Richard lehnt sich gegen die Wand der Telefonzelle, legt den Kopf in den Nacken. „Dieter? Dieter Schmersal?“

„Ja. Wer ist da?“ Die Stimme klingt skeptisch, aber entgegenkommend. Vermutlich führt der Mann am anderen Ende der Leitung oft unangenehme Telefonate.

Richard räuspert sich. Schluckt. Dann hängt er den Hörer ein. Er sackt etwas in sich zusammen, aber bleibt auf den Beinen. Seine linke Hand ist zur Faust geballt, und er öffnet sie langsam. Seine ausgestreckten Finger sind bleich.

Er nimmt den Hörer abermals auf und wählt Dieters Nummer, ohne auf den Zettel zu schauen. Diesmal wird schneller abgehoben.

„Hallo?“

Richard setzt zum Sprechen an, als er das Geräusch hört. Ein zweites Klicken in der Leitung. So harmlos und leise. Seine Muskeln spannen sich an. Er legt auf und verlässt die Telefonzelle, eilt die Straße entlang, in irgendeine Richtung, Hauptsache schnell fort. Ein Gedanke setzt sich in seinem Kopf fest und hallt wider wie ein Echo in einem leeren Saal. Wenn die Blinden sterben, was geschieht dann mit denen, die das Grauen schon gesehen haben?

7

Ernst Albert, der Inhaber von Ernste und Alberne Musikinstrumente, trägt ein geblümtes Hemd. Ein Zopf aus braunem Haar liegt zwischen den Schweißflecken auf. Die Glocke über der Tür ertönt, als Richard, Frau Waschki und Peter den Laden betreten.

„Hah! Ich habe euch schon erwartet. Ich habe eine neue Lieferung bekommen!“

Richard schiebt den Rollstuhl zwischen die eng stehenden Ablagen mit Stapeln von Schallplatten. Peter ist nur wenige Jahre jünger als er, doch sein Superman-Shirt und das Batman-Cappy, das seine mausbraunen Haare bedeckt, lassen den Unterschied größer erscheinen. Richard hockt sich neben ihn.

„Hast du das gehört, Peter? Ernst hat neue Platten für dich.“

Der Junge starrt ins Leere. Richard zwingt sich, das Lächeln in seinem Gesicht zu halten. „Ich bin mir sicher, er wird wieder genau das richtige Album für deinen erlesenen Geschmack finden.“ Er zwinkert Peter zu.

„Meinst du dieses Geschrammel, das ihr als Musik bezeichnet?“, fragt Frau Waschki.

„Dieses Geschrammel ist Kunst“, sagt Ernst. „Es muss so sein, wenn ich es sage. Das hier ist mein Laden.“

Richard erhebt sich wieder und sieht sich um. Die Wände sind mit Regalen vollgestellt und durch die vielen Verkaufstische ähnelt der Raum einem Labyrinth. Sein Blick fällt auf ein Klavier, dessen goldene Buchstaben ZIMMERMANN aus dem Chaos des Geschäftes hervorstechen.

„Was für eine Schönheit!“ Richard schiebt sich an Kommoden vorbei und nimmt auf dem Schemel vor dem Instrument Platz. Er klappt es auf und streicht andächtig über die rustikale Eichenoberfläche.

„Kannst du spielen?“, fragt Frau Waschki. Sie ist hinter ihn getreten.

„Früher einmal.“ Er tippt probehalber auf einige der Tasten, bringt Töne zum Tanzen und Verstummen.

„Es war teuer, aber ich konnte ihm nicht widerstehen“, sagt Ernst. „Umso schöner, dass es jetzt einen Anwender findet.“

„Ich habe sicher alles verlernt“, sagt Richard leise.

Frau Waschki schnaubt. „Du weißt, welche Platten ich mit Peter hören muss. Also spiele, Richard. Meine Ohren sind es gewöhnt zu bluten.“

Er beginnt zu spielen. Es ist eine simple Melodie, die erste, die er je gelernt hat. Seine Finger tanzen über die Tasten, zunächst vorsichtig, dann immer kraftvoller. Töne schallen durch den Laden und färben den Nachmittag in Dur. Niemand scheint sich daran zu stören, dass er nicht jede Note trifft. Jahre sind vergangen, seit er das letzte Mal vor einem Klavier saß. Der Gedanke bringt ihn aus dem Gleichgewicht. Er verspielt sich und die Melodie verstummt, die Stille aufgezwungen von einem Spieler, der seinen Takt verloren hat.

Ernst klatscht trotzdem. Frau Waschki legt Richard eine Hand auf die Schulter. Er unterbricht die Berührung, indem er aufsteht. „Keine Sorge, Peter, Ernst gibt dir sicher gleich Musik zu hören, die eher deinem Geschmack entspricht“, sagt er.

„Natürlich! Mir nach!“ Ernst winkt sie zu dem Regal in der anderen Ecke des Raumes. Richard verweilt bei dem Klavier und klappt es zu. Er hört Frau Waschkis Stimme durch den Laden hallen. Er achtet nicht darauf, was sie sagt. Stattdessen schiebt er sich an drei Tischen vorbei zu dem roten Telefon, das an der Wand hängt. Er wartet, bis Ernst die empfohlene Platte aufgelegt hat. Rockmusik schallt durch das Geschäft und übertönt das Gespräch. Richard nimmt den Hörer ab und wählt Dieters Nummer.

„Hallo?“, fragt Dieter auf der anderen Seite der Leitung. Kein zweites Klicken ertönt.

Richard wirft einen Blick über die Schulter. Regale verdecken die Sicht durch die gläserne Front des Ladens. Von der Straße aus kann niemand sehen, dass er telefoniert.

„Hallo Dieter.“ Richards Stimme klingt ungewohnt rau in seinen Ohren. Er räuspert sich. „Hier ist Richard.“

„Richard? Wo bist du?“

„Können wir uns treffen?“

„Natürlich. Soll ich dich abholen?“

Richard räuspert sich schon wieder. Ein unangenehmes Kratzen setzt sich in seiner Kehle fest. „Nein. Sag mir nur einen Ort, wo wir uns treffen können. Am besten heute Abend.“

„Natürlich. So wie du es willst.“ Dieter nennt ihm die Adresse eines Gartenlokals. „Ich kann um neunzehn Uhr da sein.“

Richard nickt unbewusst. „Danke.“ Er legt auf. Mit zittrigen Händen fährt er sich durch das Haar.

Die anderen haben sich um den Plattenspieler versammelt. Richard grinst breit, als er bei ihnen ankommt. „Das klingt fantastisch, Peter! Damit kannst du deine Mutter sicher in den Wahnsinn treiben!“

„Ja, das sehe ich auch schon kommen.“ Frau Waschkis Augen strahlen. Auf Peters meist ausdruckslosem Gesicht liegt ein Lächeln.

„Nun, diese furchtbare Platte muss ich wohl kaufen“, sagt sie über den Lärm der E-Gitarren hinweg.

„Eine hervorragende Idee“, meint Richard.

„Können wir sie dann bitte ausmachen, Ernst? Ich werde mir diesen Lärm in den nächsten Tagen noch oft genug anhören müssen.“

„Du hast dich schon an Schlimmeres gewöhnt“, sagt Richard.

„Ja, an deine Anwesenheit zum Beispiel.“

„Du würdest mich vermissen, wenn ich nicht mehr da wäre.“

„Ach was, Richard. Nimm dich nicht so wichtig.“

„Peter würde mich sicher vermissen.“

„Nun, das mag stimmen. Umso besser, dass du uns erhalten bleibst.“

Ernst nimmt die Platte aus dem Spieler. Stille legt sich über das Geschäft.

8

Das Restaurant Zum Seeblick bleibt eine Aussicht schuldig. Die Fotografien von blauen Meereswogen wirken bleich im Licht der Abendsonne. Eine Frau putzt eine lange Holztheke, die ohnehin schon glänzt.

Richard betritt das Lokal, die schwitzenden Hände in den Manteltaschen versteckt. Sein Blick streift durch den Raum und entdeckt Dieter.

Er sitzt in der hintersten Ecke, die Finger auf einem geblümten Tischtuch verschränkt. Sein dunkles Haar ist voll, doch einige Falten haben sich in seine Augenwinkel und auf die Stirn gestohlen. Er fängt Richards Blick und erhebt sich. Zwei vorsichtige Schritte, dann bleibt er stehen.

„Dieter!“, ruft Richard aus. Lächelnd zieht er den älteren Mann in eine Umarmung. „Bist du ein Vampir? Du scheinst keinen Tag gealtert zu sein.“ Die Lüge stolpert über Richards Zunge und verhallt, während sich Dieters Falten vertiefen. Richard vermeidet den Blick in die Spiegel zwischen den Panoramabildern. Fünf Jahre. Er zieht den Mantel enger um seinen Körper.

„Kann ich hier sitzen?“, fragt Richard und deutet auf den Stuhl, der einen Überblick des Raumes gestattet. „Wer weiß, vielleicht muss ich einer Schönheit zuzwinkern, die sich in dieses Lokal verirrt.“

„Natürlich“, antwortet Dieter und nimmt gegenüber Platz.

Richard setzt sich mit vom Lächeln verkrampften Wangen. Außer ihnen sitzt nur eine zusammengesunkene Gestalt an der Theke. Dieter bestellt ein Bier bei der Wirtin, sein Blick brennend.

„Einen Kaffee, bitte“, sagt Richard.

Dieter nimmt einen Bierdeckel aus der Ablage. Er wendet ihn, bis er eine Seite gefunden hat, die ihm zuzusagen scheint. Dann hebt er den Blick.

„Hier bist du also“, sagt er. „Was hat dich nach Berlin verschlagen?“

Richard hört die Fragen zwischen den Worten, sie prallen auf ihn wie Schläge. Wo warst du? Was ist dir passiert? Warum bist du nicht nach Hause gegangen? „Einige Zufälle. Ich arbeite jetzt im Theater.“

„Im Theater?“ Dieter bemüht sich, interessiert zu klingen.

„Wir spielen Kafka. Eine schöne Abwechslung, weißt du? Die meisten Bücher wollen uns weismachen, dass wir unser Schicksal in der Hand haben. Wir sind die Protagonisten. Kafka hat das anders gesehen. Seine Hauptfiguren sind Menschen, die von einem System herumgeschubst und schließlich zerbrochen werden.“

„Das klingt deprimierend“, sagt Dieter.

Die Wirtin bringt ihre Getränke. Richard bedankt sich mit einem Lächeln.

„Wie geht es dir?“, fragt er. „Bist du noch mit Silke zusammen?“ „Selbstverständlich. So eine Frau lässt man nicht wieder gehen. Wie läuft es mit deiner Freundin?“

„Welche meinst du denn?“, fragt Richard mit einem Grinsen.

Dieter stößt ein kurzes Lachen aus. „Nun, die, über die du am liebsten reden möchtest. Aber vermutlich möchtest du über keine reden. Zum Reden hat man noch Zeit, wenn man erwachsen wird, hm? Die gute, alte Zeit. Ich erinnere mich daran.“

„Klingt nach spannenden Geschichten. Dieters wilde Jahre“, sagt Richard und nimmt einen Schluck Kaffee.

„Nun, damals war ich mit einem Freund …“

In diesem Moment erklingt ein rhythmisches Klirren, hallt klar und hell durch den Raum und übertönt die Erzählung. Dieters lachendes Gesicht verschwimmt vor Richard. Schmale Hände schieben sich in sein Gesichtsfeld, führen den Löffel beim Schlag gegen Porzellan, unvermeidlich wie das Aufflammen und Erlöschen der Lichter. Richards Finger verkrampfen sich um seine Tasse. Er zittert und Kaffee schwappt über seine Haut. Der heiße Schmerz vertreibt die Erinnerung.

„Richard?“ Dieter hat einen Arm nach ihm ausgestreckt und zieht ihn zögernd zurück.

„Wir sollten besser gehen.“

„Geht es dir nicht gut?“

„Ich möchte einfach gehen.“ Richard steht auf, umrundet den Tisch.

Die Wirtin fragt den hageren Mann an der Theke, ob er ein weiteres Getränk wünscht. Er hebt den Kopf, hält in der Drehung des Löffels inne. Die Gläser seiner Brille scheinen kein Licht hindurchzulassen, sein augenloser Blick trifft Richards.

Die Zeit bleibt stehen, ehe Richard es schafft, die Bilder zu verdrängen, die über ihn fluten. Auf dem Weg nach draußen entzündet er eine Zigarette, doch das Zischen der Flamme ist machtlos gegen die Worte des Mannes. Seine sanfte Stimme findet immer einen Weg in Richards Gehör.

„Nein, vielen Dank. Ich habe alles, was ich brauche.“

9

Die Dielen der Bar liegen wie Glatteis unter Frau Waschkis Füßen. Ihre Absätze klacken auf dem Boden und bringen den Journalisten dazu, den Kopf zu heben.

Behrens sieht jünger aus zwischen Schatten und Rauchschwaden. Eine Hornbrille und ein gepflegter Schnurrbart geben seinem Gesicht Kanten. Er hat den Trenchcoat abgelegt, den er heute Morgen trug, als er ihr vor dem Haus auflauerte, mit ihrem Namen auf den Lippen und der Frechheit, Auskunft zu verlangen.

Verdammtes Journalistenpack.

Ein Stift wechselt stetig den Platz zwischen den Fingern des Mannes. Weiche, saubere Hände, die jeden Tag im Dreck wühlen, um Menschen ihren Frieden zu nehmen.

„Herr Behrens“, sagt Frau Waschki und setzt sich ihm gegenüber.

„Frau Waschki“, erwidert Behrens. Holzverkleidungen umgeben die Nische und bilden einen Hörschutz gegen neugierige Ohren.

Frau Waschki entzündet eine Zigarette. Der rote Nagellack ihres Daumens blättert ab. Ein paar Farbblättchen rieseln auf den Tisch, als sie mit dem Finger darüber fährt. Sie wischt sie beiseite.

„Nun, Herr Behrens, ich schätze Ihre Zeitschrift bezahlt Sie nicht fürs Herumsitzen. Welche war das noch mal?“

„Der Spiegel“, sagt er.

„Wie schön für Sie.“ Frau Waschki atmet Rauch aus. Er bleibt zwischen ihnen hängen wie eine Wand.

„Wie ich schon gesagt habe, ich bin interessiert an einem Medikament. Der Name dürfte Ihnen geläufig sein.“ Behrens wartet eine Weile, ob sie ihm von sich aus etwas verrät.

Frau Waschki zieht die Augenbrauen hoch und klopft Asche von ihrer Zigarette.

„Es hat sich sehr lange in der Testphase befunden“, fährt Behrens fort. „Und wurde dann doch nicht zugelassen. Die Nebenwirkungen waren verheerend, nicht wahr? So wie ich es verstanden habe, kämpfen sie tagtäglich damit.“

„Hm, ihr Verstand interessiert mich herzlich wenig, Herr Behrens. Bisher habe ich wahrlich nicht das Gefühl, dass dieses Treffen hier einem tieferen Sinn dient. Eher wie ein Vorwand, mich auf einen Kaffee einzuladen.“

„Nicht im Geringsten.“ Behrens bleckt die Zähne zu einem Lächeln. „Die Wahrheit ist, ich habe Formulare zu diesen Tests, die Sie überwacht haben. Damals hießen Sie noch Krautwurm, soweit ich weiß.“

„Viele heiraten ihre schlimmsten Fehler.“

„Sie haben die Tests genehmigt. Überwacht. Trotz der Nebenwirkungen fortgeführt. Hunderte Kinder, denen nicht erprobte Medikamente verabreicht wurden.“ Behrens schüttelt den Kopf. „Ich werde diese Story veröffentlichen. Aber ich kann Ihren Namen raushalten. Sie werden unbehelligt von der ganzen Sache bleiben. Wenn Sie mir Informationen geben.“

„Die Informationen, die Sie angeblich schon haben?“ Frau Waschki drückt die Zigarette aus. „Eine recht löchrige Argumentation, Herr Behrens. Wenn ich Sie so sehe, wirken Sie mir, als würden Sie sich an Strohhalme klammern, um Ihre Sensationsgier irgendwie zu füttern. Ihr winziger Moment der Relevanz.“

„Verfolgen Ihre Taten Sie manchmal?“

„Wenn mir nicht gerade Journalisten auflauern: eigentlich nicht. Meistens schlafe ich wie ein Baby.“

„Trotz der Babys, deren Leben Sie genommen haben?“ Behrens kneift die ohnehin kleinen Augen zusammen, sein Blick liegt ätzend auf ihr.

Frau Waschki zuckt mit den Achseln und drückt die Zigarette aus.

„Sie sind widerlich“, sagt Behrens langsam, als würde er jedes Wort auf der Zunge kosten. „Ich verachte Leute wie Sie.“

„Danke gleichfalls, Herr Behrens.“

Er lehnt sich zurück, entzündet ebenfalls eine Zigarette. „Es wird mir eine Freude sein, Sie zu Fall zu bringen. Wenn Sie mir nicht Ihre Version der Geschichte erzählen, bleibt mir wohl ausschließlich meine Version. Und da fällt es mir nicht schwer, den Bösewicht zu bestimmen.“

Frau Waschki unterdrückt den Impuls, die Arme zu verschränken. Stattdessen stützt sie sich auf dem Tisch ab. „Drohen Sie mir, Herr Behrens? Sie haben doch sicher bei Ihrer Recherche einiges über mich herausgefunden. Wollen Sie wirklich einer Frau drohen, deren Mann unter mysteriösen Umständen verschwunden ist?“ Es ist ein Bluff. Sie hat keine Ahnung, wo Kurt sich befindet. Aber Behrens zuckt zusammen, und diese Genugtuung zaubert ein Lächeln in ihr Gesicht.

„Entschuldigung“, ertönt eine Stimme hinter ihr.

Frau Waschki fährt herum. Zwei Männer haben sich ihrer Nische genähert und beziehen am Tisch Stellung. Der eine trägt einen messerscharfen Scheitel und einen gebügelten Anzug, unter dem sich seine Armmuskeln abzeichnen. Der Größere hält sich im Schatten auf. Frau Waschki spürt einen Schauer, als sie ihn betrachtet, doch sie kann den Finger nicht darauf legen, warum. Sein Gesicht mit der gebrochenen Nase wirkt vertraut.

Frau Waschki sieht aus dem Augenwinkel, wie Behrens aufspringt. „Ich wollte gerade gehen“, sagt der Journalist.

„So so.“ Die Stimme des Mannes mit dem Scheitel ist tief und glatt wie eine Klinge. „Ich bitte auch darum. Diese Frau hier scheint eindeutig nicht mit Ihnen reden zu wollen.“

Frau Waschki beobachtet mit hochgezogenen Augenbrauen, wie Behrens hastig verschwindet. Der Fremde setzt sich ihr gegenüber.

„Nun, wem darf ich für meine Rettung danken?“, fragt Frau Waschki mit einem Lächeln.

„Sie können mich Schmidtlein nennen.“

„Das ist nicht Ihr richtiger Name? Wenn ich Sie nur so nennen darf?“

Er lächelt und offenbart eine Reihe weißer Zähne. „Das tut wenig zur Sache.“

„Ich schätze, Sie kennen meinen Namen bereits, Herr Schmidtchen.“ Ein Pseudonym ist so gut wie das andere.

Sein Grinsen wird etwas breiter. „Das habe ich wohl verdient.“

Er schiebt ihr eine Visitenkarte über den Tisch. A. Schmidtlein, Elektroinstallateur. Ihre Hände berühren sich kurz, als sie die Karte entgegennimmt.

„Diese Adresse ist nicht in Berlin“, bemerkt sie mit einem Blick auf die Karte.

„Da haben Sie recht. Ich habe hier ein paar Aufträge zu erledigen.“

Der große Mann in ihrem Rücken tippt unregelmäßig mit dem Fuß auf den hölzernen Boden. Es ist ein entnervendes Geräusch.

„Für die Zeit, die ich hier bin, bleibe ich in einem Hotel.“ Schmidtlein nennt ihr den Namen. „Zimmer 308. Für den Fall, dass Sie in der Gegend sein sollten.“ Er fletscht die Zähne zu einem Lächeln, ehe er aufsteht. Der große Mann folgt ihm wie ein lautloser Schatten. Er wirft keinen Blick zurück.

Frau Waschki seufzt. Sie nimmt sich vor, sich nicht an diesem Mann zu verbrennen. Glücklicherweise ist sie eine vorsichtige Frau.

Als sie Zuhause ankommt, durchsucht sie die Kisten im hintersten Winkel ihres Kleiderschranks. Das halbvolle Pillendöschen klackert beim Herausnehmen. Sie zögert kurz. Dann entsorgt sie die Tabletten in der Toilette.

10

Die Artikel im Schaufenster der Drogerie sind mit Staub bedeckt. Richard schleicht durch die Gänge, das laute Ticken einer Wanduhr begleitet seine Schritte. Ein Duft fährt ihm in die Nase und bringt für einen Moment einen furchtlosen Winter zurück, ehe die Hitze der Realität ihn einholt. Er nimmt die Seife in die Hand und riecht daran, doch das Mädchen mit den feuerroten Locken bleibt verloren. Richard kauft die verblassende Erinnerung.

Er trägt die Plastiktüte mit den Drogerieartikeln die Treppen hinauf, die abgetretenen Stufen unter seinen Füßen sind rutschig.

Der Schlüssel klemmt kurz, ehe Richard die Wohnungstür mit einem Ruck öffnet. Sein Blick fällt auf eine Postkarte. Sie liegt direkt hinter der Schwelle, nahe dem Spalt unter der Tür.

Mit stolperndem Herzen geht Richard in die Knie, dreht die Karte, ohne auf das Motiv zu achten. Die schmalen, schrägen Buchstaben auf der Rückseite sind ihm allzu bekannt. Der Name einer Band steht dort. Dahinter nur ein Satz. Finde mich. S.

Richard stützt sich am Türrahmen ab. Wenn Frau Waschki die Karte gesehen hätte, würde sie nicht mehr auf dem Boden liegen. Niemand außer ihm hat sie gelesen.

Mit wenigen Schritten durchquert er den Flur und schließt die Tür seines Zimmers bewusst leise. Ein warmer Wind weht ihm beim Öffnen des Fensters entgegen. Das Feuerzeug klickt ein paarmal, ehe die Flamme zischend auf die Postkarte übergeht. Der Schriftzug zergeht in Asche, doch die Worte hallen wie ein Echo durch Richards Kopf, warten darauf, gelesen zu werden.

Er wird sie finden. Deinetwegen.

Der Gedanke ist unerwünscht, zunächst ein Wispern, dann ein Sturm. Richard spürt ihn als reißenden Schmerz in der Brust, scharfe Kanten schneiden, doch sie schneiden nicht tief genug. Er muss nachhelfen.

Ehe er weiß, was er tut, hält er das aufgeklappte Taschenmesser in der Hand. Die Klinge blitzt im Sonnenlicht. Richard fährt zurück, lässt die Waffe zu Boden gleiten. Er kann nicht mehr atmen.

Die Zimmertür fällt mit einem Knall hinter ihm ins Schloss. Er hetzt in das Badezimmer, kaltes Wasser sprudelt aus dem Wasserhahn. Er benetzt sein Gesicht damit, umklammert das Waschbecken mit bleichen Fingern.

Sein Blick wandert zum Spiegel. Diesmal wendet er sich nicht ab. Stattdessen betrachtet er seine eingefallenen Wangen, die tiefen Augenringe. Nasse Strähnen hängen ihm in die Stirn. Er hasst diesen Anblick. Er fragt sich, was sie sagen würde, wenn sie ihn so sehen könnte. Er stellt sich vor, wie sich Trauer über ihr Gesicht legt, wie sie ihn in die Arme schließt. Er sehnt sich nach ihrer Berührung.

Er ist so allein.

Richards Herz schlägt ihm noch immer bis zum Hals, als er das Bad verlässt. Die Tür zu seinem Zimmer steht weit offen. Frau Waschkis Kostüm leuchtet im Licht der Sonne. Sie hat ihm den Rücken zugedreht, doch er weiß, was sie in den Händen hält.

Mit ein paar Schritten ist er bei ihr, reißt ihr die Überreste der Karte aus der Hand.

„Richard, ist alles in Ordnung?“

Das Papier in seiner Hand verschwimmt vor seinen Augen. Er knüllt es zusammen, Asche rieselt zwischen seinen Fingern hervor. „Was machst du hier?“

„Ich habe deine Tür schlagen hören. Und mir Sorgen gemacht. Du schließt sonst nie deine Tür.“

„Spionierst du mir nach?“

„Natürlich nicht!“

„Natürlich nicht? Das kannst du doch gut, oder? Menschen nachspionieren. Sie verraten.“ Richards Kiefer ist verspannt. Er verdrängt die Bilder, eine andere Wohnung, eine andere Stadt, ein anderer Verrat.

„Richard, ich würde nie …“

Ihre Worte werden zu einem Dröhnen ohne Sinn. Der Raum ist zu eng. Es gibt kein Entkommen.

„Ich brauche frische Luft“, wispert Richard.

„Warte.“ Eine Hand berührt seinen Arm. Er reißt sich los, stürmt aus dem Zimmer. Das Treppenhaus verschwimmt vor seinen Augen. Draußen entzündet er eine Zigarette.

Er wird sie finden. Deinetwegen.

Richard beißt sich auf die Unterlippe, bis er Blut schmeckt. Der Gedanke wird leiser, doch er verstummt nicht. Er wird niemals verstummen. Nicht, solange Richard am Leben ist.

11

An diesem Abend findet keine Theaterprobe statt. Trotzdem führen Richards Schritte ihn zum besetzten Haus. Die Dämmerung taucht die Stadt in Zwielicht und er hat genug davon, er selbst zu sein. Er möchte eine Rolle spielen, in eine andere Haut schlüpfen und etwas für jemanden sein. Vielleicht für Ann, die ihn anschaut und das Wort Weltschmerz auf den Lippen hat. Es klingt erstrebenswert, wenn sie es sagt, als wäre es gewollt.

Als wäre er gewollt.

Richard trägt eine Flasche Wein in der Hand. Es ist ein Glühwein, der einzige, den er sich für die paar Mark in seiner Tasche leisten konnte. Zumindest sicherte der Verkäufer ihm zu, dass es ein Rotwein sei, und somit erfüllt er Anns Anforderungen.

Richard erreicht die Grünfläche vor dem Køpi, eher ein verwildertes Brachland mit einzelnen Bäumen als ein Park. In letzter Zeit verschwinden immer wieder Menschen in diesem Teil der Stadt. Einmal wurde eine Leiche gefunden, erkaltet in der Morgendämmerung. Ein Umweg über beleuchtete Straßen führt zum besetzten Haus. Richard tritt in die Dunkelheit.

Es scheint eine Veränderung in der Luft stattzufinden, ein Gefühl kommt über ihn, das er nicht benennen kann. Die Straßenlaterne neben ihm flackert, als würde sie sich erbittert an das Leben klammern. Er lässt sie hinter sich.

Richards Füße tasten über den Boden. Er läuft langsam, ein Schatten in einem See aus Schwärze. Ein paar Äste knacken unter seinen Schritten und kündigen sein Kommen an.

Ansonsten herrscht Stille.

Der Wein in der Flasche gibt ein sanftes Gluckern von sich, während Richard seinen Weg zwischen Bäumen und Büschen hindurch sucht.

Dann hört er es. Äste, die zerbrechen. Blätter, die durch Berührung rascheln. Er bleibt stehen. Das Geräusch erstirbt. Er läuft ein paar Schritte, und die fremde Bewegung kommt näher. Er hält erneut inne. Diesmal verstummt das Knistern nicht. Stattdessen bewegt es sich auf ihn zu, stetig schneller werdend.

Richard rennt.

Seine Augen haben sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt, suchen den Weg über liegende Baumstämme und zwischen Sträuchern hindurch. Er dreht sich nicht um, versucht nicht, seine Verfolger zu entdecken.

Sie sind hinter ihm. Direkt hinter ihm.

Ihr Atem ist in seinem Nacken, Finger strecken sich nach ihm aus. Er sprintet weiter, obwohl jeder Atemzug eine Qual ist.

Sie dürfen ihn nicht fassen.

Nicht noch einmal.

Er tritt zwischen den Bäumen hinaus auf eine Lichtung. Flammen blenden ihn. Er hält die Hand über die Augen, keucht vor Anstrengung.

„Hey, alles in Ordnung?“ Eine männliche Stimme. Die Geräusche hinter ihm sind verstummt.

Richard braucht einen Moment, um sich zu orientieren. Vor ihm sitzen mehrere Gruppen an Lagerfeuern zusammen, ein Geruch von gegrilltem Fleisch und Zigarettenqualm liegt in der Luft. In der Ferne erhebt sich das Køpi, ein graues Gebilde mit bunten Transparenten.

„Ja, ich hatte nur Angst, zu spät zu kommen“, sagt Richard in Richtung der Gruppe, die am nächsten zu ihm sitzt.

„Keine Sorge, die Würste sind gerade fertig“, antwortet dieselbe Stimme wie eben. Sie gehört zu einem Punk mit grünem Irokesen.

„Nein, danke, ich habe keinen Hunger.“

„Du hast sicher eine Geschichte zu erzählen.“