Fremdes Japan - Thomas Bauer - E-Book

Fremdes Japan E-Book

Thomas Bauer

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Beschreibung

"Alle Japaner sind höflich. Niemand hat dort eine eigene Meinung, und zum Frühstück gibt es rohen Fisch." Um seine Vorurteile in Lebensgefahr zu bringen, folgt Thomas Bauer dem ältesten Pilgerweg der Welt rund um die japanische Insel Shikoku. In "Fremdes Japan" erzählt Thomas Bauer, wie er bewaffnet mit Hut und Pilgerbüchlein zu 88 Tempeln gehen will – und dabei tief hinein in die japanische Kultur und Mentalität gerät. Unterwegs trifft er entrückte Mönche und überschminkte Pilgerinnen, schweigsame Herbergsmütter und schwatzende Reisegruppen. Er verzweifelt beinahe an Essstäbchen, erfährt die ursprüngliche Bedeutung von Kamikaze und lernt, auf wie viele Arten man ein Lächeln falsch verstehen kann. Zwischen kaum nachvollziehbaren Regeln und echter Pilgerfreundschaft, jahrtausendealten Traditionen und hypermoderner Technik, zwischen buddhistischem Gleichmut und gnadenloser Geschäftstüchtigkeit lernt Thomas Bauer ein Japan kennen, in dem man sich rasch verliert.

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Thomas Bauer

FREMDES JAPAN

WIE ICH VERSUCHTE, 88 TEMPEL ZU EROBERN,

UND MICH DABEI IN JAPAN VERLOR

Inhalt

発心– ERWACHEN

Wie ich eine Pilgerin namens »Weihnachtskuchen« kennenlernte, Irrwege für Abkürzungen hielt und bei alldem meine Vorurteile in Lebensgefahr brachte

Geheimnisse eines japanischen Frühstücks

Von den Rändern ins Zentrum

Das Fremdsein aushalten

Die Profis des Weges

Vogelgezwitscher und tüchtige Falken

Durch die Automatiktür zur Transparenz

Die Götter der kleinen Dinge

Der Tollpatsch und die Morgenfee

A-jaa-haa-laa-shoo-saai-sige-sige-doo-haa-lee-sige-sige-nuu-duu-muu

Das Haus der Grasmücken

Der Atem des Meeres

Normierte Attraktivität und Love Hotels

Das Zauberwort des Pilgerwegs

Der Maulwurf und die Lerche

Diskussionen mit »Weihnachtskuchen«

Geschäftstüchtige Mönche und die Folklore des Pilgerwegs

Die Abkürzung zum Nirwana

Trendsüchtig und veränderungsresistent

Angekommen in Japan

仕付け– DISZIPLIN

Wie ich die hohe Kunst des zustimmenden Brummens lernte, warum ich zweieinhalb Stunden wortlos neben zwei Pilgerinnen herlief, und was die Kröten von Kyoto und Osaka damit zu tun haben

Morgens Christ und abends Buddhist

Verblendete Kröten und eine überdimensionierte Brücke

Aufgefangen von zwei Sekundenzeigern

Der habgierige Alte und sein Fächer

Die erhellenden Antworten von Hayato

Phone calls have never been easier

Ein Tiger tritt aus der Deckung …

… bekommt die Krallen gestutzt …

… und entwirft sich neu: Er ist jetzt ein Löwe!

Im Wattebausch des Riesen

Das verkappte Pärchen

Die Wünsche des Steinhauers

Freiheit durch Disziplin

悟入– ERLEUCHTUNG

Wie sich die größte Stadt Shikokus an mich heranschlich, ich einem reichlich unjapanischen Japaner gegenübersaß, und wie schicksalhaft die Zahlenfolge 8-9-3 sein kann

Kulturschocks und die Hand eines Aliens

Schwanzlängen und vierfingrige Ganoven

Der kluge Hase

»Copy and Paste«

Wie ich den Besuch von Japans berühmtestem Bad knapp verpasste

Plötzlich Frühling

Tanabata

Der Tunnel von Sakaimte

寂滅– NIRWANA

Wie ich eine gut gemeinte Warnung missdeutete, warum ein neunzigjähriger Buddha den Pilgerweg kehrt, und wieso Japan ganz zu Beginn von Frauen beherrscht wurde

Ein folgenreiches Missverständnis und 500 erleuchtete Männer

Rai-jin und die alten Bauern

Ein besonderes Gelage und 100.000 Nationalisten

Vom Land der Wa zum kaiserlichen Hofstaat

Die verschwiegene Minderheit der burakumin

Man adelt mich zum »Pilgerbotschafter«

Buddha ist neunzig und kehrt den Weg

Horaisan und die Kraft der Orangen

Das heimliche und unbewusste Ziel …

Bitte passen Sie auf Ihr ki auf

四国八十八箇所– DER PILGERWEG ZU DEN 88 TEMPELN VON SHIKOKU

1.000 Jahre Tradition: Pilgern auf Shikoku

Kōbō Daishi: Gelehrter des Shingon-Buddhismus

Planung und Organisation

Warum der Shikoku-Pilgerweg?

Glossar nützlicher japanischer Begriffe

発心

ERWACHEN

Wie ich eine Pilgerin namens »Weihnachtskuchen« kennenlernte, Irrwege für Abkürzungen hielt und bei alldem meine Vorurteile in Lebensgefahr brachte

Provinz Tokushima, Tempel 1-23

The more I see, the less I know, the more I like to let it go …

Red Hot Chili Peppers, »Snow«

Geheimnisse eines japanischen Frühstücks

»O-furo«, sagte Herr Matsugami und lächelte unergründlich. Erfolglos suchte ich im Gesicht meines Gastgebers nach einem Hinweis, wie ich mich verhalten sollte. Hatte er gerade einen Witz gemacht? Sollte ich lachen oder wäre das unangebracht? Ich probierte es mit einem freundlichen Augenaufschlag und senkte gleich darauf den Blick auf das vor mir stehende Tablett. Herr Matsugami hatte Köstlichkeiten der japanischen Küche zu einem Gesamtkunstwerk komponiert. Schälchen mit rohem und gebratenem Fisch grenzten an andere mit Reis und Algen. In der Mitte stand eine dampfende Schüssel Miso-Suppe, auf der zwei hölzerne Essstäbchen lagen.

Was bedeutete das nun wieder? War das ein Test? Wollte man herausfinden, ob der ausländische Gast dumm genug war, zu versuchen, eine Suppe mit Stäbchen zu essen? Beobachtete mich der Rest der Familie feixend durchs Schlüsselloch? Herr Matsugami bot mir wenige Anhaltspunkte, wie ich Suppe und Besteck kombinieren könnte, da er in einer Sprache, die er für Englisch hielt, auf mich einsprach, während er mit seinen Stäbchen beiläufig einen Fisch entgrätete.

Da kam der Sohn des Hauses in den Frühstücksraum der Pension. Lässig schöpfte er sich zwei Löffel Suppe, fläzte sich auf seinen Platz und schlürfte dort die Schüssel genüsslich aus. Jetzt lachte ich doch. So machte man das also.

Auch das »O-furo« sollte sich bald als angenehme Überraschung entpuppen – und Japan einige seiner besten Trümpfe ausspielen.

Dabei hatte am Anfang wenig darauf hingedeutet, dass diese Geschichte ein gutes Ende nehmen könnte. Japan hatte mich lange Zeit nicht bei sich haben wollen. Immer, wenn mich eine größere Reise nach Asien hätte führen sollen, hatte ich kurz zuvor eines meiner Organe verloren. Als ich vor einigen Jahren nach Vietnam geflogen war, um per Rikscha von Laos durch Thailand und Malaysia bis nach Singapur zu radeln, war ich wenige Tage vor dem Abflug meinen Blinddarm losgeworden. Meine Reise nach Japan hatte ich zweimal verschieben müssen. Zuerst hatte mich eine Grippe ans Bett gefesselt, dann hatte man mir die Gallenblase aus dem Bauch geholt. Vielleicht sollte ich seltener nach Asien aufbrechen. Eine Niere könnte ich zur Not noch hergeben, danach wird es wirklich eng.

Von den Rändern ins Zentrum

Osaka ist eine Stadt, die man gerne verlässt. Ähnlich wie in Afrika – abgesehen vom Orient – und in Südamerika gibt es auch in Asien kaum eine schöne Großstadt. Hanoi und Kuala Lumpur, Shanghai und New Delhi sind zweckmäßige Auffangbecken für Millionen. Sie sind faszinierend, unberechenbar und quicklebendig. Kommt man nach ein paar Jahren zurück, erkennt man ganze Stadtviertel nicht wieder. Aber schön? Dazu fehlt ihnen ein echtes Zentrum, eine Fußgängerzone mit Straßencafés, ein liebevoll gepflegter Stadtpark. Kleinode und gewachsene Strukturen, überhaupt so etwas wie eine erkennbare Stadtplanung sind rar angesichts eines Zustroms, der europäische Dimensionen sprengt. Lebenswerte Städte findet man am ehesten in Europa: dort, wo ihre Dynamik kontrolliert werden kann und Neues Altes ergänzt, statt es für immer beiseite zu schieben.

Andererseits: Indem ich von München nach Osaka geflogen war, hatte ich mich von der Peripherie ins Zentrum der weltweiten Entwicklung begeben. Ich war ins Innere des Kreises gereist. Der umfasst auf der Weltkarte Japan, Indien, den Osten Chinas und den Norden Indonesiens. Lächerlich klein ist er und nimmt ein knappes Fünfzehntel der Erdoberfläche ein. Innerhalb dieses Kreises aber leben mehr Menschen als außerhalb. Aktuell sind es etwa viereinhalb Milliarden. Das ist enorm, wenn man sich vor Augen führt, dass die größte Fläche des Kreises aus Wasser besteht.

Auf asiatischen Landkarten steht Japan weit stärker im Zentrum als auf europäischen. In der Nähe befinden sich China, Russland und Korea. Im Osten liegt ein riesiger Ozean, weit dahinter beginnt der amerikanische Kontinent. Europa, am westlichen Rand der Karte, ist ein Anhängsel Russlands.

Und das war mein Problem in Osaka: Ich war die deutsche Landpomeranze, die sich in der Großstadt zurechtfinden musste und den Wald vor lauter Bäumen nicht sah. Wohin ich mich auch wandte, traf ich auf Menschen – Dutzende, Hunderte, Tausende. Sie flossen aus den Läden und Restaurants wie ein Wasserfall. Sie bildeten Knäuel vor den Eingängen der Pachinko-Spielhöllen. Sie klackten mit blitzsauberen Schuhen auf den Asphalt und klickten mit Fotohandys. Sie kicherten, wenn sie mich sahen, und kullerten mit den Augen, wenn ich mich bewegte. An stark befahrenen Querstraßen blieben sie wie auf Knopfdruck stehen. Niemand aß oder trank etwas, keiner sprach ein Wort. In vier Minuten konnten Hunderte, manchmal Tausende Menschen zusammenkommen. Wenn die Fußgängerampel auf grün sprang, setzten sie sich so synchron in Bewegung, als seien sie Teile einer unsichtbaren Maschine, an der jemand einen Hebel umgelegt hat. Ich war ein Ferment in einem Teig, ein Staubkorn auf einem Teppich. Niemand beachtete mich, keiner sah mich wirklich an. Ich verstand überhaupt nichts, und es war schlichtweg egal, ob ich hier war oder nicht.

War das nun besonders höflich oder unhöflich? Empfand ich es als angenehm oder unangenehm? Beides traf zu. Ich genoss es durchaus, nicht angerempelt oder zum Kauf irgendeines Schnickschnacks aufgefordert zu werden, wie es an so vielen anderen Orten der Welt der Fall ist. Als Mensch aber, der sich im Austausch mit anderen definiert, hätte ich mich gefreut über ein gelegentliches Zeichen, dass man mich wahrnahm.

Japans 125 Millionen Einwohner ballen sich an den Küstengebieten. Der überwiegende Teil des Landes ist von Bergwäldern bedeckt. Über dem Archipel verläuft eine Gebirgskette, die über zwei Drittel der Landmasse beherrscht. Gerade mal 20 Prozent der Inselkette sind besiedelt. Wo das Meer jedoch auf Land trifft, wird es eng – vor allem in den Ebenen von Kantō, wo sich Tokio und Yokohama befinden, von Osaka (mit Osaka, Kyoto und Kobe) und von Tsukushi mit den Großstädten Fukuoka und Kitakyūshū.

Stopft man Ratten in einen Raum, beginnen diese irgendwann, einander zu töten. Aggressiv zu werden ist eine naheliegende Reaktion angesichts der Platzangst in »Megacities« wie Tokio oder Osaka. Darum müssen deren Einwohner anscheinend von klein auf erzogen und lebenslang kontrolliert werden. Täglich werden sie hunderte Male von Schildern und Durchsagen zu Wohlverhalten ermahnt.

Dessen ungeachtet war es um mich herum alles andere als eintönig. Natürlich gab es die adretten Anzugträger, »salarymen« genannt, mit den gegelten Haaren und den tadellosen Krawatten. Ihre weiße Haut gilt hier allerorten als Statussymbol. Sie tippten mit bedeutungsschwerer Geste auf Mobiltelefone ein, hasteten geschäftig durch die Einkaufsmeilen und stellten auf wenig subtile und einander erstaunlich ähnliche Weise jungen Japanerinnen auf der Shinsaibashi-Straße nach. Direkt neben ihnen aber tänzelten aufwändig kostümierte Comicmädchen in hautengen Kleidchen aus Kosmetikläden. Andere unterstrichen ihre von Solarien karamellisierte Haut mit weißen Haaren und hellgrauem Lippenstift. Selbst die sporadisch auftretenden Punks mit ihren blond gefärbten Haaren und den auffälligen Karohosen wirkten ungewöhnlich gepflegt. Wahrscheinlich nahmen sie täglich ein Bad. In Europa hätte man sie wohl für Grafikdesign-Studenten oder für Inhaber einer Werbefirma gehalten.

Feen und Punks, Karamellhäutige und »salarymen« lagen neben und unter und über mir, als ich in einem Kapselhotel unterschlüpfte. Hier, im Zentrum des Wahnsinns, der sich »Osaka« nennt, hatte man Röhren wabenförmig aufeinandergestapelt. Man kletterte eine Leiter empor, legte sich in eine sterile Box und zog eine Jalousie herab. Innen war natürlich ein Fernseher in den Raum integriert worden. Er war so hypermodern, dass ich ihn nicht einmal anbekam. Auch die Sauna ein Stockwerk höher konnte ich nicht nutzen. Der Anblick meiner Tätowierungen sei anderen Gästen nicht zumutbar, hatte man mir bereits bei der Buchung erklärt. Drastische Schilder in der Lobby wiesen noch einmal darauf hin, dass mir der Zutritt zu den Baderäumen verwehrt bleiben würde. Vielleicht wollte man sich auf diese Weise die Yakuza, eine Art japanischer Mafia, vom Hals halten. Deren Mitglieder sind in der Regel großflächig tätowiert.

Am folgenden Morgen mäanderte ein fast lautloser Expressbus durch Osakas Außenbezirke. Ich blickte aus seinem Fenster und sah aufeinander gestapelte Autobahnen, Knäuel aus Kreuzungen und Abzweigungen, betonschwere graubraune Häuser dicht neben anderen betonschweren graubraunen Häusern. Überall waren Telefon- und Stromleitungen, die man in Japan aufgrund der Erdbebengefahr grundsätzlich oberirdisch verlegt. Einmal fuhren wir auf einer vierspurigen Autobahn mitten durch ein Hochhaus hindurch. Spannend war das, effizient und herrlich undurchschaubar für den Gast aus Europa. Schön war es nicht. Osaka ist eine Stadt, die man gerne verlässt.

Das Fremdsein aushalten

Ich war auf dem Weg in die Provinz Tokushima auf der Insel Shikoku, und ich war hier, weil ich Japaner nicht mochte. Ein Vorurteil, natürlich: Ich ging davon aus, dass die Menschen hier täglich zwölf Stunden arbeiteten, so gut wie keinen Urlaub nahmen und immer im Beschäftigungsmodus waren – ein Volk aus Duracell-Hasen, angetrieben von einem Gefühl der Scham. In Deutschland wären sie alle Mitglied der Jungen Union; die Klassenbesten, die niemand mag. Sie erinnerten mich an den Ackergaul in George Orwells »Farm der Tiere«, der auf Anforderungen und Demütigungen immer nur antwortet: »Ich will und werde noch härter arbeiten«. Unter der Maske der Höflichkeit und des Arbeitseifers aber scheint es zu brodeln. Für begangene Gräueltaten in China und in Russland, in Korea und auf den Philippinen hat sich Japan nie entschuldigt. Bis heute sind die Geschichtsbücher frisiert, um japanischen Schülern die Wahrheit zu ersparen: Die Ahnen dürfen nicht entehrt werden.

Aber stimmte das alles? War es zulässig, Gegebenheiten derart zu verkürzen? Und warf man uns Deutschen mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg nicht ganz ähnliche Dinge vor? Schauten wir auf Japan wie in einen 10.000 Kilometer entfernten Spiegel, und erschraken wir so sehr über das, was wir dort sahen, dass wir uns mit aller Macht davon abzugrenzen versuchten? Und zeigten wir nicht gerade dadurch, wie ähnlich wir uns waren?

Ich fuhr hin, um es herauszufinden. In den Spiegel schauen wollte ich und meine Überzeugungen in Lebensgefahr bringen – auch wenn ich dabei in Kauf nahm, mich beim Frühstück schon angesichts einer Schüssel Suppe zu blamieren.

Als der Expressbus über eine 1.629 Meter lange Hängebrücke fuhr und mich von der kleinen Insel Awaji-shima hinüber nach Shikoku brachte, sah ich von meinem privilegierten Aussichtspunkt durch das Busfenster herab auf die Gezeitenstrudel des Naruto-Kanals. Gewaltige Löcher, umgeben von Gischt, hatten sich unter der Brücke aufgetan. Zweimal täglich bilden sich in der Meerenge zwischen den beiden Inseln die größten Wasserverwirbelungen der Welt.

Vom Strudel der japanischen Gepflogenheiten wollte ich mich hineinziehen lassen in das Fremde, Unverständliche. Diese Aufgabe sollte ein gut 1.000 Kilometer langer Pilgerweg übernehmen, der zu den ältesten und angesehensten der Welt gehört. Pilgerzeugnisse sind dort seit dem 12. Jahrhundert bekannt. Jährlich machen sich 500.000 Fernwanderer daran, die Insel Shikoku zu umrunden. 98 Prozent von ihnen sind Japaner. Ihren Alltag wollte ich teilen. Statt touristische Höhepunkte aufzusuchen und gleich darauf wieder wegzufahren, wollte ich einen Monat lang ein Pilger sein. Ich wollte schöne und hässliche Orte aufsuchen, das Tempelleben kennenlernen und ins Gespräch kommen mit Pilgern, Passanten und Pensionsbesitzern.

Bei alldem, das war mir von Anfang an klar, würde ich immer der Fremde bleiben, der Alien mit den runden Augen, der langen Nase und den seltsamen Manieren. Gaijin sollten sie tuscheln, »Ausländer«; die Kinder würden es mir hinterherrufen, die Blicke der Erwachsenen würden es jeden Tag sagen. Ein gaijin kommt nie ganz an in Japan. In den vor mir liegenden Wochen würden Wörter zu Chiffren werden, Gesten müssten neu interpretiert werden, und all die vermeintlich so klaren und eindeutigen Zeichen, mit denen wir uns im Alltag verständigen – die Füllwörter, die hauchzarten Bewegungen der Augen, der Nase, der Mundwinkel, überhaupt die gesamte Körpersprache –, sollten die Bedeutung wechseln. Statt »Multikulti« zu feiern und in den Gewohnheiten meiner Gastgeber aufzugehen, wie ich es in den Mittelmeerländern und in Südamerika immer wieder auf Anhieb schaffte, stellte Japan mich vor eine Herausforderung: Es galt, das Fremdsein auszuhalten.

Um diesen Effekt abzuschwächen und einen Schritt auf die hiesigen Gepflogenheiten zuzugehen, bekam ich am ersten von insgesamt 88 Tempeln ein japanisches Outfit verpasst. In zehn Minuten verwandelte mich eine rührige Angestellte, die wie ein Derwisch durch den Laden fegte, überall zugleich war und nie aufhörte zu reden, in einen o-henro, einen Pilger, wie sie allerorten auf Shikoku anzutreffen sind. Als ich den Laden verließ, trug ich einen mit Plastik überzogenen Strohhut und ein kimonoähnliches Baumwollhemd. Ich hatte einen verzierten Stab in der rechten Hand; in der linken hielt ich ein Stempelbuch und zweihundert osame-fuda, Wunschzettel, die ich in den Tempeln deponieren konnte. »Ehre die Pilgerschaft zu den 88 heiligen Orten«, stand darauf. All das war weiß, die Farbe des Todes, verstanden als Auflösung der Begierden, als Überwindung der Anhaftungen und Übertritt zum Nirwana.

Soweit die Theorie. Ich aber kam mir zunächst verkleidet vor. Unsicher setzte ich Schritt vor Schritt und erwartete bei jedem davon, dass mich irgendjemand anhielt und mich fragte, was der ganze Mummenschanz sollte. Ich verhielt mich wie ein Schauspieler, der sich in eine neue Rolle einfinden muss. Erst nach und nach würde mir der weitere Weg seine Geheimnisse offenbaren. Er würde seine Weisheiten dosiert an mich abgeben, und meine Wandlung zum Pilger sollte nachdrücklicher werden, als ich es mir bis dahin hatte vorstellen können.

Die Profis des Weges

»Gesutohausu«, sagte der junge Mann, als ich von Tempel eins aufbrach, und blickte mich fragend an. Zum Glück zeigte er dabei auf die kleine Straße, aus der ich kam. Ja doch, nickte ich, dort gebe es ein »guesthouse«.

Wie das Land ist auch die Sprache: geordnet und strukturiert. Jedes Wort kann man in Silben zerlegen, und die bestehen aus einem Konsonanten, dem ein Vokal folgt. A-ri-ga-to bedeutet »danke«. In dieser Hinsicht ist Japanisch keine schwere Sprache. Es gibt zudem kein Geschlecht, keine Artikel, keine Mehrzahl und keine Deklinationen. Und ich kannte mehr japanische Wörter, als ich gedacht hatte. Sushi und Wasabi, Taifun und Tsunami. Geisha und Samurai, Karaoke und Kamikaze. Ich wusste, was los war, wenn sich Godzilla im neuesten Manga dazu entschloss, Harakiri zu begehen.

Schwierig wird es erst, wenn sich in anderen Sprachen Konsonanten aneinanderreihen. Wo ein »s« auf ein »t« trifft oder sich ein »r« an ein »p« hängt, streichen Japaner die Segel. Das »Restaurant« wird zu resutolan, das Geschenk (»present«) zu palesentu. Russisch oder Polnisch zu lernen dürfte vielen Japanern schwerfallen. Ihre eigene Sprache hat lediglich ein paar Begriffe vom Polynesischen übernommen, auch einige aus dem Chinesischen und Englischen, bei Randthemen wie dem Bergsteigen und dem Skifahren sogar aus dem Deutschen. Anzailen sagt man hier, »anseilen«, außerdem aizen für »Steigeisen«, die »Berghütte« heißt hyutte. Besonders schön finde ich den kontorabasu, den »Kontrabass« also, und natürlich den orugasumusu – Sie wissen schon …

Die meisten Japaner sprechen, wenn man höflichst insistiert, durchaus Englisch, und wenn man sich erst an ihren Singsang gewöhnt hat, kommt man im Allgemeinen gut zurecht.

Das wusste ich an meinem ersten Pilgertag natürlich noch nicht. »Well all iu falom?«: Die Silben schwirrten um mich herum wie Insekten. Sie waren genauso schwer zu greifen. Glaubte ich, einem Wort auf die Schliche gekommen zu sein, war es auch schon wieder weg. In den ersten Tagen konnte ich in Japan nichts anderes tun als mitzuschwingen mit diesen Klängen, mich einzulassen auf den Sound der fremden Sprache. Ich versuchte, Strukturen auszumachen, mir Dinge, die sich wiederholten, zu merken und auf den Tonfall derer einzugehen, denen ich begegnete.

Sanft und schmeichelnd, manchmal auch vogelhaft piepsig, klangen die Wörter der Frauen, gleichmäßig flossen sie aus dem Mund der Männer – ein Strom, der sich seines Ziels bewusst war. Ich imitierte in jenen ersten Tagen mehr, als ich sprach. Und ich kam erstaunlich weit damit. Wo alles nichts half, verlegte ich mich darauf, Dinge aufzuschreiben und meinem Gegenüber den Zettel vor die Nase zu halten. Auf diese Weise umgingen wir die Fallstricke der Aussprache und fanden meistens ohne Umweg zu einer Verständigung.

Als ich dem jungen Mann den Weg zum »guesthouse« gezeigt und den ersten der 88 Tempel hinter mir gelassen hatte, war die Sonne gerade aufgegangen. Zumindest vermutete ich das. Wissen konnte ich es nicht, denn es regnete, wie ich es niemals zuvor erlebt hatte.

Natürlich kannte ich Wolkenbrüche von daheim. Ich hatte erlebt, wie die Welt um mich herum urplötzlich dunkel wurde und sich die Gewalt des Himmels in furchtbarem Getöse und Hagelschauern entlud. Aber das hier war anders. Der Regen fiel mit dem Druck eines aufgedrehten Feuerwehrschlauchs vom Himmel. Wer ihm ausgesetzt war, dem war klar, dass das, was er gerade erlebte, nicht in einer Stunde vorbei sein würde, und auch nicht in zweien oder dreien. Das Licht des Tages hatte keine Chance, sich gegenüber dieser Naturgewalt durchzusetzen. Es war dunkel, als sei die Nacht verlängert worden.

Der Wind schlug mir den hastig übergestülpten Regenponcho vom Körper. Nutzlos wehte der gelbe Stoff neben mir her, eine toll gewordene Flagge. Ich versuchte ihn mir wieder überzustreifen. Nach dem 20. oder 30. Mal aber ließ ich den Sturm gewähren. Ich wickelte meinen Laptop in mehrere Plastiktüten, ehe ich ihn zurück in meinen Rucksack stopfte. Jetzt prallte der Regen direkt auf meine Kleider. In den Falten meines Pullovers bildete er Pfützen, von denen aus er sich in Fäden zum Boden abseilte. Ich konnte hören, wie Wasser bei jedem Schritt in meinen Schuhen hin und her schwappte.

Natürlich stellte man mich damit auf die Probe. Bei den meisten meiner Abenteuerreisen hatte es am Anfang geknirscht. Auf dem Jakobsweg hatte ich mir in der ersten Woche Dutzende Blasen und einen hartnäckigen Muskelkater zugezogen. Auf dem Franziskusweg hatte ich mich zu Beginn so gründlich verirrt, dass ich am Ende des ersten Tages ganz in der Nähe meines Ausgangspunkts herausgekommen war. Während der ersten Kilometer meiner Donautour hatte ich alle Mühe, mein Kajak auf Kurs zu halten – ich hatte davor ganze zwei Mal in einem solchen Boot gesessen. Und auf meiner ersten großen Tour durch Asien hatte mich das vietnamesische Hanoi dermaßen erschreckt, dass ich den Beginn meiner Rikscha-Reise kurzum in die laotische Hauptstadt Vientiane verlegt hatte. Am Ende waren gerade diese Reisen besonders schön geworden. Mit jedem Kilometer hatten sie mehr von ihren Reizen gezeigt. Am Anfang aber hatten alle Touren etwas von mir gefordert: eine Purifikation, eine umfassende Wandlung, eine Hinwendung ohne Wenn und Aber. Sie verlangten, dass ich alle Gedanken an Termine und kleinliche Geschäfte ablegte und ganz und gar ankam.

Ankommen im Unterwegssein: Dazu brauchte ich meist ein paar Tage, in denen ich mir Fragen stellen und Antworten finden musste. Meinte ich es ernst genug? War mir klar, worauf ich mich einließ? War ich bereit, zu einem Pilger zu werden, und wusste ich, was das in letzter Konsequenz bedeutete?

Meine Mitpilger wussten es, das war offensichtlich. Zielstrebig wie Billardkugeln glitten sie voran, angestoßen vom Wunsch, ihr Etappenziel zu erreichen. Ja, mehr noch, viel mehr: sich zu lösen von allem Irdischen, der Erde zu entfliehen und einem Zustand näher zu kommen, den ein Europäer wie ich vielleicht niemals wirklich begreifen kann. Ich sah nur, dass schmale unscheinbare Frauen und Männer, allesamt weiß gekleidet und einen Kopf kleiner als ich, mühelos einige Zentimeter über der Erde zu schweben schienen. Sie kümmerten sich nicht darum, ob es regnete und der Wind pfiff, ob ein Lastwagen durch eine Pfütze rauschte und sie mit einem Schwall dreckigen Wassers bedachte, ob sich ihnen Berge in den Weg stellten und ob sie auf Asphalt liefen oder auf Waldboden. Niemals pausierten sie zwischen zwei Tempeln, auch wenn diese zwanzig Kilometer auseinanderlagen. Nie aßen oder tranken sie etwas, solange sie unterwegs waren. Sie befanden sich in einer Art Trance; das Gehen war ihre Meditation. Viele hatten sich blecherne Glöckchen um den Schaft ihres Stocks gebunden: Das Klingeln hielt ihre Gedanken, wenn sie abschweifen wollten, auf dem Weg. Nirgendwo sonst hatte ich ernsthaftere Pilger gesehen.

Verglichen mit diesen Profis des Weges tapste ich vorwärts wie ein unsicherer Hundewelpe. Jeder Ablenkung ging ich auf den Leim, in jede Falle stolperte ich munter hinein. Warum musste es regnen, fragte ich immer wieder, erst leise, dann lauter, als ob das etwas ändern könnte. Warum schien nicht die Sonne? Warum führte der Weg so nah an der Straße entlang und nicht abseits über Feld und Wiesen? War ich überhaupt auf dem richtigen Weg? Und wo sollte ich heute Abend übernachten?

Oh, ich war an meinem ersten Wandertag alles andere als ein Pilger! Ein Nervenbündel war ich, meinen Gewohnheiten verhaftet, festgeklebt an meinen lächerlichen Bedürfnissen und unfähig, meinen Ängsten Paroli zu bieten. Etwas musste sich ändern. So gewann man keine Schlachten.

Vogelgezwitscher und tüchtige Falken

Es sollte einem Jungen vorbehalten sein, mir den Impuls zu geben, den ich so dringend brauchte. Ich traf ihn in einem der unzähligen Nudelschnellrestaurants, in denen man gutes Essen für wenig Geld bekommt. Verstohlen blickte er zu meinem Tisch, als er das Lokal betrat. Mir gefiel die Art, wie er sorgfältig seinen Stock an die Wand lehnte, den Rucksack abnahm und ihn so gekonnt hinter einem Stuhl verstaute, dass er augenblicklich aus dem Blickfeld aller anderen Gäste verschwand. Der Junge – er mochte 16 Jahre alt sein, vielleicht auch älter, ich konnte das in diesem Teil der Erde nie richtig einschätzen – legte seine Regenjacke ab. Er zog den Pilgerhut vom Kopf und ging dann hinüber zum Buffet, um sich dort ein Menü zusammenzustellen. Bei alldem strahlte er die Reife eines Vierzigjährigen aus. Was er tat, machte er mit Bedacht. Er ließ sich Zeit. Einen Lidschlag lang lächelten wir einander zu, von Pilger zu Pilger, ehe er zu essen begann und ich vorgab, mich in meine Karte zu vertiefen.

Er verließ das Lokal vor mir, was hauptsächlich daran lag, dass ich noch immer der irrigen Hoffnung nachhing, der Regen könnte am heutigen Tag eine Pause einlegen. Eine halbe Stunde nach meinem Aufbruch holte ich den Jungen ein. Obwohl er einen unförmigen Regenponcho trug, wusste ich gleich, dass er es war.

Der Junge hatte eine markante Art, sich zu bewegen: Er schlich den Weg entlang. Seine kleinen und leisen Schritte passten zu seiner schlanken Gestalt. Er führte die Beine in unscheinbaren Bögen nach vorne und setzte die Füße leicht nach innen gedreht auf – ein Zeichen der Bescheidenheit, das ich noch oft in Japan beobachten sollte. In Europa und Nordamerika dreht man die Füße dagegen bei jedem Schritt gerne Raum einnehmend nach außen. »Hoppla, hier komm ich!«, rufen solche Schritte Passanten entgegen. Was tatsächlich dahintersteckt, kann man nur ahnen. Manchmal vielleicht nicht viel. Bei dem Jungen verhielt es sich dagegen gerade andersherum. Ich konnte lediglich vermuten, was er mit seiner bescheidenen Art ausdrücken wollte. Seine kaum wahrnehmbaren Schritte könnten etwas flüstern wie »Ich lasse dir deinen Platz, lass du mir meinen«. Vielleicht baten sie auch »Bitte tu mir nichts« oder sagten höflich »Eigentlich bist du mir ziemlich egal«. Was aber dahintersteckte, was der Junge wirklich zu leisten vermochte, das führte er mir im Verlauf der kommenden Minuten immer deutlicher vor Augen.

Natürlich lief die gegenseitige Vorstellung erst einmal gründlich schief. Daran hatte ich mich bereits gewöhnt. Als der Junge bei der vierten Silbe seines Namens ankam, hatte ich die ersten beiden bereits wieder vergessen. Ich meinte etwas zu verstehen, das wie »Vogelgezwitscher« klang. In Gedanken nannte ich ihn von nun an so. Wahrscheinlich machte er es mit mir nicht anders; jedenfalls sprach er mich nie mit meinem Namen an. Ohnehin flüsterte er seine von entschuldigendem Lächeln umrahmten Redebeiträge oftmals so leise, dass ich sie neben den Geräuschen des Regens und des Windes zuweilen kaum verstand. Was er sagte, hätte ich mir aber ohnehin wiederholen lassen müssen: Ich brachte seine Aussagen nur schwer mit seiner bescheidenen Art und seiner unauffälligen Statur zusammen.

Ich sei Deutscher, vertraute ich ihm an und zeigte bei dem Wort »Ich« unwillkürlich auf meine Brust. Und er?

»Von Hokkaido komme ich, ganz im Norden Japans.«

Dabei deutete er, ganz japanisch, nicht auf seine Brust, sondern auf seine Nase.

»Hast du vor, den ganzen Pilgerweg zu gehen?«, wollte ich wissen.

»Ja, er ist der Höhepunkt meiner Wanderung.«

»Der Höhepunkt?«

»Klar, es ist eine wunderschöne, 1.000 Jahre alte Strecke, die viele Japaner einmal in ihrem Leben absolvieren möchten.«

»Schon, aber wohin führt dich deine Wanderung?«

»Wie gesagt, ich komme aus Hokkaido.«

»Zu Fuß?«

»Ja, ich bin einmal längs durch Japan gezogen. Der Shikoku-Pilgerweg markiert sozusagen die Halbzeit. Danach geht es wieder zurück.«

»Dann ist dein Rucksack bestimmt schwer.«

»Der wiegt 30 Kilogramm. Ich zelte gerne draußen und versorge mich weitgehend selbst.«

»Du gehst also 6.000 Kilometer zu Fuß, zeltest bei Wind und Wetter draußen und kochst dir dein Abendessen selbst?«

»So könnte man das zusammenfassen.«

Ein Deutscher wäre mit dieser Information vermutlich wie mit der Tür ins Haus gefallen. Ein Grieche oder Spanier hätte sein Vorhaben, als flotter Spruch zusammengefasst, auf einem T-Shirt herumgetragen. Dem Jungen hingegen, der da so still und leise neben mir herging, musste ich diese Neuigkeit erst aus der Nase ziehen.

»Tüchtige Falken verstecken ihre Krallen«, behauptet der Bushido, der Ehrenkodex der Samurai, die in Japan 700 Jahre lang das Ideal männlicher Tatmenschen dargestellt haben. Die Samurai waren ursprünglich eine vom Kaiser eingesetzte Miliz, ihrem Herren bis in den Tod hinein ergeben. Versagte ein Samurai und kam dadurch sein Schutzbefohlener ums Leben, wurde erwartet, dass der in Ungnade Gefallene seppuku beging: In einer rituellen Zeremonie stieß er sich vor Zeugen ein Kurzschwert in den Bauch und führte es dann im Zickzack nach oben – je höher, desto ehrenvoller.

Da ausschließlich Verwandte eines Samurais ihrerseits Samurai werden durften, entstanden aus den einstigen Soldatenverbänden mächtige Familienclans, die im 12. Jahrhundert de facto die Macht in Japan übernahmen und jahrhundertelang behielten. Nach der traumatischen Niederlage im Zweiten Weltkrieg führte unter anderem die Rückbesinnung auf Samurai-Tugenden – Fleiß und Höflichkeit, Stärke und Kultiviertheit, Geduld und Reinlichkeit – zum japanischen Wirtschaftswunder. Ein Erbteil der Samurai steckte auch in dem Jungen, der neben mir herlief, Regen und Wind nicht zu bemerken schien und mir nebenbei erzählte, dass er zweieinhalbtausend Kilometer nordöstlich unseres Treffpunkts aufgebrochen war.

Der Shingon-Buddhismus, auf Shikoku allerorten sicht- und spürbar, verlangte – ganz ähnlich wie der Bushido – von seinen Anhängern, nicht mit Worten oder Taten zu prahlen. Stattdessen setzte man Vorhaben ohne viel Aufhebens effizient in die Tat um. Und das im Kleinen wie im Großen. Mit wie viel Getöse hatte man den Transrapid in Deutschland angekündigt, ehe das Projekt kläglich versandet war! In Japan hatte man hingegen einen Zug entwickelt, der nicht nur die 300 Stundenkilometer des Transrapids erreichte, sondern über 600 Stundenkilometer schnell fuhr. 600 Stundenkilometer – das entsprach der Geschwindigkeit von Mittelstreckenfliegern. Für die 350 Kilometer zwischen Tokio und Nagoya benötigte der Zug 40 Minuten. Bald sollte er bis nach Osaka fahren.

So lief das hier. Man machte sich klein – nicht zufällig verdeckte man beim ständigen Verbeugen seine Sexualorgane –, und wenn ich einem Japaner bestätigte, dass er gut Englisch sprach, antwortete er unter Garantie in folgender Art: »Aber nicht doch. Mein Englisch ist hundsmiserabel, ich muss noch viel lernen.« Beschäftigt man sich aber näher mit ihnen, wird man regelmäßig überrascht, was in vielen Japanern steckt.

»Sugegassa«, riss mich der Junge aus meinen Gedanken und zeigte auf meinen Pilgerhut.

»Bitte was?«

»Na, der Hut.« Ob ich wisse, was die Wörter darauf bedeuteten?

»Ha, na klar weiß ich das! Das Sanskrit-Zeichen, das nach vorne zeigt, steht für Kūkai, den Gründer des Shingon-Buddhismus, dem dieser Weg gewidmet ist, nicht wahr? Und auf den vier Seiten steht auf Japanisch, wie man zur Erleuchtung gelangt.«

»Sehr gut. Ich bin beeindruckt.«

»Danke. Aber wie komme ich jetzt zur Erleuchtung?«

»Geradeaus und dann scharf links. Nein, das war ein Witz. Schau, auf deinem Hut steht zunächst einmal mayou ga yue ni sangai no shiro.«

»Das sage ich ja auch immer.«

»Das heißt so viel wie: Wir haben uns verirrt aufgrund der drei großen Welten des Begehrens. Außerdem trägst du folgende Aussage mit dir herum: Honrai tozai nashi. Izukunika nanboku aran? In Wahrheit gibt es kein Osten und kein Westen. Warum gibt es Norden und Süden? Und dann eben dies: Satoru ga yue ni juppou ku nari. Mit der Erleuchtung werden zehntausend Himmel erscheinen. Zusammengefasst bedeutet das, dass unser Leben leidvoll ist, weil wir an weltlichen Bedürfnissen hängen. Indem wir pilgern, reinigen wir unser Herz, und unsere Feinde verschwinden. Am Ende sind wir aufgehoben in Geborgenheit. Habe ich dir das einigermaßen verständlich erklärt?«

»Natürlich. Und wie komme ich jetzt zur Erleuchtung?«

Durch die Automatiktür zur Transparenz

Kurz hinter dem neunten Tempel trennten sich unsere Wege. Es ging auf acht Uhr abends zu, trotzdem wollte der Junge noch weitergehen. Zehn bis fünfzehn Kilometer hätte er sich für heute noch vorgenommen, vertraute er mir an. Ich hingegen, durchnässt bis auf die Knochen, hatte mir seit einigen Stunden immer plastischer die Annehmlichkeiten eines Hotelzimmers ausgemalt.

Unser Abschied geriet seltsam. Danke für das dogyo ninin, sagte ich – ein Verweis auf die allgegenwärtige Formel, das Credo des Shikoku-Pilgerwegs, das, wie mir eine quirlige Verkäuferin kurz vor dem ersten Tempel versichert hatte, soviel bedeutete wie »Zwei gehen zusammen«.

Der Junge blickte mich verständnislos an. Sollte er tatsächlich die beiden wichtigsten Wörter des Pilgerwegs nicht kennen? Oder hatte ich diese nur falsch ausgesprochen? Ich wünschte dem Jungen viel Erfolg bei der Suche nach einem Zeltplatz und verbeugte mich linkisch. Daraufhin neigte er sich formvollendet zur Erde, weitaus tiefer, als ich es getan hatte. Das brachte mich dazu, mich nochmals zu verbeugen – so tief, dass der Rucksack beinahe meinen Rücken hinauf zum Hals gerutscht wäre. Das nutzte mir indessen gar nichts, da sich mein Gegenüber sofort noch tiefer verbeugte. Seine Pose erinnerte inzwischen an komplizierte Haltungen aus dem Ashtanga-Yoga. Ich gab auf. Unter Beteuerungen meines unendlichen Dankes blieb ich einfach stehen. Ich fühlte mich unwohl dabei; er offensichtlich auch. Er drehte sich zu mir um, ging fünf Meter rückwärts, auf denen er sich ständig verneigte, drohte sogar kurz zu stolpern, fing sich aber gleich darauf wieder und zog endlich winkend von dannen.

War ich unhöflich gewesen? Hatte ich unseren Abschied zu abrupt eingeleitet? Hätte ich zumindest anbieten müssen, mit dem Jungen zu zelten? Wäre es meine Pflicht gewesen, ihn, und sei es nur zum Schein gewesen, ins Hotel einzuladen? Ich wusste es nicht. Unterwegs hatten wir uns gut verstanden, unser Treffen schien harmonisch zu verlaufen. Am Ende aber hatten wir uns doch wieder im japanischen Regelgeflecht verheddert.

Kaum war mein ehemaliger Reisekumpan hinter der nächsten Biegung verschwunden, kam ich das erste und einzige Mal auf meiner Reise vom Weg ab. Ich grübelte noch immer, was bei unserem Abschied schiefgelaufen war, und bemerkte im Dunkel der hereinbrechenden Nacht nicht, dass die Abzweigung, die mich über ein Feld brachte, nicht markiert war. Unvermittelt stand ich vor einer Weggabelung und wusste nicht weiter. Nach links und nach rechts führten vom Regen aufgeweichte Fußpfade, Aneinanderreihungen von Pfützen. Am Ende der rechten Abzweigung sah ich die Lichter eines Hauses. Dorthin ging ich.

Es war ein kleiner Laden, der allerhand Haushaltsgegenstände verkaufte: Schrauben und Nägel, Holzscheite und Müllsäcke, Schaufeln und Besen standen akkurat geordnet in niedrigen Regalen. Als ich eintrat, wehte der Wind ein Kiefernblatt in den Raum. Ich bückte mich dienstfertig, um es aufzuheben, und steckte es sorgfältig in meine Hosentasche. Das überzeugte das ältere Ehepaar, dem das Geschäft offensichtlich gehörte, davon, dass ich in friedlicher Absicht zu ihnen gekommen war. Der Mann, er mochte um die 60 sein, bot mir an, mich an dem kleinen Ofen zu wärmen. Seine Frau zählte mir indessen fünf Karamellbonbons in die Hand. Das war ein guter Anfang. Wenn es den beiden Sorgen bereitete, dass sich um mich herum eine mit jeder Minute wachsende Pfütze bildete, ließen sie es sich nicht anmerken. Dann aber fragte mich die Frau etwas auf Japanisch. »Hotel«, sagte ich hilflos, und dass ich mich verlaufen hätte. Die beiden beratschlagten, was zu tun sei. Dann ging der Mann aus dem Laden, kam aber sofort darauf mit einer Jacke und einem Autoschlüssel in der Hand zurück. »Komm mit«, bedeutete er mir, »ich fahre dich hin«. Fünf Minuten später hielten wir vor einem Business Hotel, das ich ansonsten heute nicht gefunden hätte.

Nicht der Rede wert, winkte mein Retter ab, als ich mich überschwänglich bei ihm bedanken wollte. Schon fuhr er zurück zu seinem Laden. Wir würden uns nie wieder sehen. Was hatte er davon, mir zu helfen? Einen Pluspunkt fürs Karma? Bekam er einen Bonus vom Tourismusverein? Oder wollte er einfach vor seiner Frau gut dastehen? Es war mir herzlich egal. Wichtig war gewesen, dass er meine Lage präzise erfasst und mir die Lösung meines Problems vorgeschlagen hatte, noch ehe ich konkret danach hatte fragen können – und das, ohne dass er ein Wort Englisch oder ich ein Wort Japanisch gesprochen hatte.

Japanische Business Hotels bieten kleine Zimmer zu unschlagbar günstigen Preisen an. Und immer umfasst das Angebot eine geräumige Badewanne – eine Wohltat nach dem hartnäckigen Regen des heutigen Tages.

Ich leerte den Rucksack und legte meine Kleider zum Trocknen aus. Dann schlüpfte ich in das bereitliegende jimbei, ein Schlafhemd nebst kurzer Hose aus Hanf, und begab mich noch einmal hinaus in den Hotelflur, wo ich einen Automaten ausgemacht hatte, der Wasser und Süßigkeiten anbot. Ich hatte keine zwei Schritte aus meinem Zimmer gemacht, als mir ein Hotelangestellter entgegensprang und mir emsig die Funktionsweise des Geräts erklärte. Vermutlich wollte er lediglich seinen Englisch-Wortschatz anwenden. Jedenfalls wäre ich auch ohne die Hilfe eines Einheimischen an das begehrte Futter gekommen. Es lief darauf hinaus, dass man oben Geld hineinwarf, auf einen Knopf drückte und das Gewünschte unten herauszog. Ich deckte mich großzügig ein.

Als ich mich wieder auf mein Zimmer begeben wollte, drückte mir der Angestellte einen Zettel in die Hand. Das habe er vorhin vergessen, meinte er, als sei dies irgendeine Erklärung. Ich blickte auf das Papier und las die dort aufgedruckten Hausregeln. Sie ließen an Klarheit nichts zu wünschen übrig. Vermutlich hatte man die Übersetzung vom Japanischen ins Englische einem Computerprogramm überlassen. Herausgekommen war pure Lyrik. Vor allem die vierte Regel hatte es mir angetan: »Because this is not it, the card may be used for the other use«. War das eine Einladung zur Meditation, ein Mantra, das seinen tieferen Sinn entblätterte, wenn man es wiederholte? »Weil es das nicht ist«: Das war ganz klar eine Aufforderung, die Welt als tattva zu entlarven, als Lug und Trug. Wir nehmen sie so wahr, wie wir sie gerne hätten und nicht so, wie sie tatsächlich ist. Der zweite Teil verweist auf ein ungeahntes Potenzial: »Die Karte kann für den anderen Gebrauch eingesetzt werden«. Den anderen Gebrauch! Was für Möglichkeiten taten sich da auf! Öffnete die Karte eine Schatzkammer? War sie ein Schlüssel, konnte man mit ihr geheimes Wissen anzapfen, das immer schon in uns geschlummert hatte? Der englische Dichter William Blake hatte einst die Musikgruppe »The Doors« zu deren Namen inspiriert: »Wenn die Pforten der Wahrnehmung geöffnet wären, würden wir alles so sehen, wie es wirklich ist: unendlich.« Und ich hielt die Karte dazu in den Händen!

Allerdings kam man nicht einfach so zur Erleuchtung. Das war nur logisch: Zu etwas so Großem konnte man nicht spazieren wie zu einem der 88 Tempel. Der Zugang zum höchsten Bewusstseinszustand war naturgemäß Einschränkungen unterworfen. »The automatic door to transparence works from 11.00 pm to 7:00 am«. Die Automatiktür zur Transparenz, quasi der direkte Durchgang zum Nirwana, funktionierte nur zwischen 11 Uhr abends und 7 Uhr morgens. Das war gut zu wissen.

Wohin war ich nur geraten? »Die Automatiktür zur Transparenz funktioniert von 11 Uhr abends bis 7 Uhr morgens«. »Mit der Erleuchtung werden zehntausend Himmel erscheinen.« Und ein unscheinbarer Junge, der seit einem halben Jahr durch das Land streifte, schlug vermutlich gerade auf irgendeiner Wiese sein Zelt auf. Japan versorgte mich mit Rätseln über Rätseln.

Ein seltsamer erster Pilgertag ging zu Ende. Er hatte mich kalt erwischt und mir klargemacht, dass ich besser rasch auf dem Weg ankommen sollte. Andererseits: Morgen war ein neuer Tag, da konnte zumindest das Wetter ganz anders aussehen. Der Hotelangestellte stimmte mir lebhaft zu, ehe er mir eine gute Nacht wünschte und mich in mein Zimmer entließ: Morgen, meinte er, würde es schneien.

Die Götter der kleinen Dinge

1998 interviewte das japanische Fernsehen die Astronautin Mukai Chiaki an Bord des Raumschiffs »Discovery«. Dabei stellte Mukai den Anfang eines waka, eines japanischen Kurzgedichts, vor und forderte ihre Landsleute auf, es zu komplettieren: »Salti, / Endlos möglich - / Schwerelosigkeit«.

Als die Astronautin im Januar 1999 auf die Erde zurückkehrte, hatten 144.781 Japaner Fortsetzungen vorgeschlagen. Das kleine Gedicht wurde zum medialen Ereignis. Ein Querschnittsgelähmter hatte geschrieben: »Wie gern probierte ich das aus / Mit meinen toten Beinen«. Den Preis heimste ein 68-Jähriger ein, der die Salti der Astronautin auf besonders liebenswerte Weise zu erden vermochte: »Purzelbäume in der Wanne / Weltall für mein Kind«. So unverkrampft versöhnt man in Nippon eine jahrhundertealte Kunstform mit modernster Technik.

Weitere Widersprüche lösen sich auf, wenn man in Japan unterwegs ist. So passt der jahrtausendealte Buddhismus erstaunlich gut zur radikalen Schnelllebigkeit, der die meisten japanischen Erzeugnisse unterworfen sind. Proklamiert er doch das Nichtanhaften an den Dingen, ja mehr noch: an sich selbst. Er behauptet, dass es kein unveränderliches »Ich« gebe, keine ewige Seele, und dass alles, was existiere, nur temporäre Ausformungen einer Art Weltgeist seien, Aggregatszustände, die bald verwischten und ineinander übergingen.

Dass sich alles permanent verändert, erfahren Japaner oft am eigenen Leib: Städte greifen um sich, Felder versinken in Schlammfluten. Häuser stürzen ein, ehe man sie den Kindern vererben kann. Eben darum kann alles praktisch zu jeder Zeit neu, schöner und besser wiederhergestellt werden. Man kann die Glitzerkonsumwelt genießen, weil sie einem in ihrer Extravaganz vor Augen führt, dass sie Illusionen gebiert, die vielleicht schon morgen von anderen Illusionen abgelöst werden.

Offiziell befindet sich der Buddhismus in Japan auf dem Rückzug. Er prägt aber den Alltag weitaus nachhaltiger, als den meisten bewusst ist – ähnlich dem Christentum in Europa, auf dem, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, vieles beruht, was wir denken und sagen. Die Tee-Zeremonie und die Gartenkunst zum Beispiel haben ihren Ursprung im Zen-Buddhismus. Ein Weg zur angestrebten Erleuchtung kann regelmäßige Bewegung sein: Buddhistisch beeinflusst sind insbesondere Kampfortarten wie Judo, Karate, Aikido, Jiu Jitsu und Kendo.

Überall auf dem Pilgerpfad begegnete ich einer Passion für Kleinigkeiten. Briefmarkengroße Aufkleber markierten Kreuzungen und Abzweigungen. Seit ich das Business Hotel verlassen hatte, ließ ich mich von ihnen durch regennasse Reisfelder, über Hängebrücken hinweg und um Hügel herum führen. Hin und wieder standen kleine Aufmunterungen auf Strommasten oder Mauerecken: Ganbatte!, »Gib dein Bestes!« und immer wieder dogyo ninin. Ein Mitpilger, der aus einem Tante-Emma-Laden trat, rief mir diese beiden Worte zu und deutete auf meinen Pilgerstab. Dort waren sie eingeprägt. Sie verwiesen darauf, dass moderne Pilger wie ich in den Spuren des berühmten Kōbō Daishi wanderten, des Gründers des Shingon-Buddhismus. Da bei jedem Aufsetzen ein winziges Stück Holz zurückbleibt, verteilt sich auf diese Weise die Aura des berühmten Mönchs auf dem ganzen Weg. Ich würde diesem Mantra auf dem Weg immer wieder begegnen, meinte der Mann, es bedeute soviel wie »Nichts kann uns trennen«. Jetzt verstand ich auch, warum sich der Junge gestern bei unserem Abschied so seltsam verhalten hatte.

Einstweilen hatte ich Mühe, den Stab mit den berühmten Worten in der Hand zu behalten. Der Sturm hetzte Schneeflocken waagrecht über den Weg. Sie klebten an der Ostseite der Brücken, drängelten zwischen Häusern und Bäumen hindurch und verpassten Verkehrsschildern lustige Nikolausbärte. Die Pfützen begannen zu gefrieren. Schon zehn Schritte hinter dem Hotel hatte ich einen zweiten Pullover aus meinem Rucksack gekramt, meinen Regenponcho übergestülpt und mich tapfer dem Wind entgegengestellt. Kurz darauf hatte ich zwei weitere T-Shirts an- und einen dritten Pullover über den Poncho gezogen. Der Wind hatte derart am Plastik gezerrt, dass sich die Plane die meiste Zeit neben mir befand statt um mich herum. Mein Rucksack war jetzt beinahe leer.

Wie ein Automat setzte ich Schritt vor Schritt. Eine neue Ernsthaftigkeit hatte sich meiner bemächtigt. In diesem Land, das wurde mir mit jedem zurückgelegten Kilometer klarer, huldigte man der Sorgfalt wie nirgendwo sonst. Man war bereit, sich einer Sache mit Haut und Haaren zu verschreiben.

Und das bis in die Details hinein: Der Gastgeber einer Teezeremonie wählt beispielsweise mit Bedacht die Blumen aus, die den Weg zu seinem Haus flankieren. Er würde dafür sorgen, dass sie in Form und Farbe zu den Servietten passten, die ihrerseits das Motto der Zeremonie widerspiegelten. Was in einem für Europäer schwer vorstellbaren Ausmaß durchgeplant und organisiert erscheint, ist in Wahrheit Ausdruck eines Gestaltungswillens, der den Augenblick hervorhebt – eben jenen Moment, den man im »Westen« mit Zukunftsvisionen und mit Rückblicken auf vermeintlich bessere Zeiten so gern verstellt. Indem man sie hingegen harmonisch zusammenführt, drückt man seine Wertschätzung für die Dinge aus, die gerade geschehen. Man feiert das Jetzt.

»Der Gott der kleinen Dinge«: So hat die Schriftstellerin Arundhati Roy ihren Überraschungsbestseller genannt. Der spielt zwar in Indien; für mich aber waren die Japaner, denen ich bislang begegnet war, die »Götter der kleinen Dinge«.

Schönheit gab es unzweifelhaft auf dem Pilgerweg – aber nur in überschaubarem Rahmen. Sie spiegelte sich in einem Fensterschmuck, strömte aus einem liebevoll gepflegten Vorgarten und nistete im Lächeln der Passanten. Das große Ganze hingegen war zweckmäßig und nicht selten unansehnlich: matschige Ackerfurchen in Reisfeldern, Knäuel aus Stromleitungen vor Fabrikanlagen. Die Japaner schienen die Natur am liebsten portioniert zu mögen, gestutzt und zurechtgemacht. Sie hatte sich dem Menschen zu fügen. Die Natur war unterwegs immer anwesend – aber niemals war sie wirklich nah. In der Ferne standen Hügel, von weitem winkten Bäume herüber, aber all das erschien mir zunehmend als Kulisse, die den Weg nur umgab. In den Dörfern und Städten standen keine Brücke und kein Baum, ja: kein Grashalm!, zufällig irgendwo herum. Alles war in seiner vom Menschen vorgegebenen Form, an seinem definierten Platz – die Natur als Schoßhund.

Woher stammte dieser Kontrollfetisch? Ich meinte die Antwort zu kennen; sie stand auf den Schildern am Wegrand: »Evacuation area in case of tsunami« prangte dort unter drastischen Zeichnungen von Wellen und Überflutungen. Alle paar Kilometer kam ich an Höhenmarkierungen vorbei – »3,8 m« oder »4,2 m« war darauf in roter Schrift geschrieben. Bis hierher konnten sie kommen, die Wellen, die ganze Landstriche nach einem Seebeben verschluckten. Wo man täglich vor Augen geführt bekam, dass die Natur nicht zu zähmen war, dass es jederzeit Erdbeben geben konnte, Vulkanausbrüche und Monsterwellen, musste man sich einfach der Illusion hingeben, man hätte irgendetwas unter Kontrolle – und sei es nur der hauseigene zwei Quadratmeter kleine Garten.

Die Japaner haben ein besonders schönes Wort: Wabi-sabi bezeichnet die Schönheit des Flüchtigen, das schon im nächsten Augenblick die Form verändern oder sich auflösen kann. Ein Garten, vielleicht auch nur ein Blatt, kann wabi-sabi sein, eine Wolke und die Liebe zu einem Menschen. Wabi-sabi erinnert uns daran, dass sich alles ständig verändert – und dass die Vergänglichkeit der menschlichen Existenz mit der Pflicht einhergeht, etwas aus seinem Leben zu machen. Wer wabi-sabi versteht, hat bereits einen großen Schritt Richtung Erleuchtung unternommen.

Leider war ich bislang noch nicht allzu weit über diesen Schritt hinausgekommen. Immerhin aber wusste ich, was die Unvollkommenheit so schön machte: Alles konnte ständig verbessert werden und lieferte uns damit einen Ansporn, verlieh uns immer wieder für Momente einen Lebenssinn.

Von der Leidenschaft der Japaner für das Überschaubare, das Gestaltbare und das Flüchtige wollte ich mich anstecken lassen. Sie kam mir weiser vor, als einer übergroßen Utopie den Hof zu machen, die mit dem Wissen einherging, dass man nie in die Verlegenheit kommen würde, seine Theorien zu konkretisieren. Statt sich im Kampf um eine bessere Welt aufzureiben, legte man vielleicht besser erst einmal einen Garten an oder überlegte, wie man seinem Nachbarn eine Freude bereiten konnte. Das war weniger spektakulär, dafür hatte es mehr Aussicht auf Erfolg.

Ja, ein otaku des Weges wollte ich werden, ein Experte, ein Freak. Ich wollte mir das Recht verdienen, ein Pilger zu sein – ein Shikokuotaku, der dem Pfad mit seinen Füßen huldigte, der ihn roch und schmeckte, und der nachts bereits von der Etappe des kommenden Tages träumte. Und der bei alldem immer wusste, wo sich seine Grenzen befanden. Genau das nämlich erhebt die japanische Art der Leidenschaft von einem diffusen Lebensgefühl – »Verschwende deine Jugend!«, »Liberté toujours!«, »Punks not dead!« – zu einer echten Kunstform.

Der Tollpatsch und die Morgenfee

Also lief und lief ich an meinem zweiten Pilgertag, regelmäßig wie ein schweizer Uhrwerk, unermüdlich wie ein Roboter. So kam es mir zumindest vor. Ich ignorierte den Schnee in meinem Gesicht, die matschigen Feldwege und den brettharten Asphalt. Fünfeinhalb Stunden ging ich vorwärts, ohne eine Pause einzulegen, dann erst suchte ich einen der vierzigtausend japanischen konbini auf. Was wie eine Verballhornung des amerikanischen »convenience store« klingt, ist in Wahrheit ein höchst angenehmer Ort. Vor allem, wenn man sich zuvor einen halben Tag lang durch Eis und Schnee gekämpft hat.

Sumimasen, begrüßte mich der Angestellte nach dem obligatorischen Zuruf sensei, »Meister«. »Entschuldigen Sie, dass Sie hier Zeit verbringen müssen«. Dabei war der Laden das reine Schlaraffenland! Hier gab es meterlange Regale mit eisgekühlten Getränken, Sushi in allen Variationen und ganze Menüs, die man sich an der Theke aufwärmen lassen konnte. Hier wurden Bedürfnisse bedient, von denen man bislang nicht gewusst hatte, dass sie in einem schlummerten.

Ein japanisches Lebensprinzip wurde hier auf die Spitze getrieben: Jeder, dem ich bislang auf dem Weg begegnet war, verhielt sich, als sei er Dienstleister eines anderen. Als ich beispielsweise in Tokushima mit nur einem weiteren Passagier die geräumige Gondel einer Bergbahn geteilt hatte, war die Zugbegleiterin deren gesamte Länge entlanggegangen, hatte sich am Bug und am Heck verbeugt und uns auf diese Weise verdeutlicht, wie sehr sie sich freute, am heutigen Tag unsere Schaffnerin sein zu dürfen.

Warum tat sie das? Warum grummelte sie nicht in sich hinein wie ein Münchner Busfahrer oder fuhr uns herrisch an wie ein Berliner S-Bahn-Führer? Weil sie uns signalisieren wollte, dass sie uns wahrnahm. Sie gestand uns Raum ein.

»Ich sehe dich«, die Begrüßung im Film »Avatar«, bedeutet eben mehr als das, was sie sagt. Sie beinhaltet, dass man sich in sein Gegenüber hineinversetzen kann und gewillt ist, ihn zu unterstützen, wenn er sich entfalten möchte. Jemandem dieses Gefühl zu geben erfordert Übung. Wer, wie vielerorts in Deutschland, hingegen von klein auf darauf getrimmt wird, seine Ellenbogen auszufahren und auf Kosten anderer auf der Karriereleiter aufzusteigen, wird sich damit schwertun. »Gelobt sei, was hart macht«, proklamierte Nietzsche einst. »Gelobt sei, was weich macht« wäre für Japaner passender. Hier war man an allem interessiert, was das Leben angenehmer und leichter machte – für sich und für die anderen.

Dass solche Annehmlichkeiten auf klaren Regeln basierten, sollte ich noch am selben Abend erfahren, als ich mich innerhalb von nur einer Minute gleich drei der schlimmsten Verfehlungen schuldig machte. Ich beschloss, ein minshuku