Fremdes Land - Thomas Sautner - E-Book

Fremdes Land E-Book

Thomas Sautner

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Beschreibung

Wer macht die Macht?

Jack Blind, ein politischer Idealist und Parteimitarbeiter, glaubt die Welt verändern zu können. Als sein Chef zum Präsidenten gewählt wird, ernennt man ihn zum Stabschef. Doch bald muss er erkennen, dass die wahre Macht in den Händen anderer liegt, in jenen von Gräfin Juno etwa, einer klugen und überaus eleganten Spitzenbeamtin. Sie ist es auch, die einem ausgefuchsten Lobbyisten, der nur »der Vertreter« genannt wird, Zugang zum Präsidenten verschafft. Jack glaubt an das System – bis er gezwungen ist auszurasten.

Thomas Sautner, österreichischer Bestseller-Autor, beschreibt in seinem hochaktuellen Roman die erschreckend reale Vision einer Scheindemokratie in Zeiten des Sicherheitswahns. Seine Stilmittel: schwarzer Humor, böser Witz und bissige Satire.

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Thomas Sautner

Fremdes Land

Roman

Impressum

ISBN 978-3-8412-0084-6

Aufbau Digital,veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, August 2010© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2010

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Umschlaggestaltung hißmann, heilmann, hamburgunter Verwendung eines Motivs von Jupiterimages /getty images

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Inhaltsübersicht

1.

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Julie und meinen Eltern.

»Niemand ist mehr Sklave,

als der sich für frei hält,

ohne es zu sein.«

Johann Wolfgang von Goethe

1.

Aus Jacks Mundwinkel rann Speichel, ein wenig nur. Sein Gesicht hatte den glücklich-selbstvergessenen Ausdruck eines Debilen. Leises Röcheln drang aus seinem Rachen.

Jack war nicht mehr von dieser Welt. Er war auf einer Reise in weit entfernte Sphären. Besonders mochte er den Beginn, die Phase des Hinübergleitens, das Hineingezogenwerden in den Schlummer, in den Traum.

Zehn Minuten später surrte der Wecker. Jack stellte ihn ab, um sich abermals dem Schlaf hinzugeben. Und wieder. Und noch einmal. So trieb er es oft die ganze Nacht. Er war süchtig danach.

Noch niemandem hatte Jack von seiner Angewohnheit erzählt, keiner wusste davon, nicht einer ahnte auch nur etwas von seinem Tick, seiner Gier nach den ersten Minuten des Schlafs, diesem Dämmerzustand, in dem unkontrollierte Gedanken materialisieren, die Raum-Zeit-Orientierung schwindet und in dem die Träume plastisch sind, direkt und voll ungezügelter Emotion: berauschend, vulgär, hemmungslos.

Es ist ja nichts Böses, sagte sich Jack, niemandem tue ich etwas zuleide damit. Lediglich Träume sind es. Und dennoch: Irgendwie war ihm seine Angewohnheit peinlich. Er behielt sie für sich.

Damals gab es viele wie Jack. Traumjunkies. Es war ein Trend, beinahe ein Massenphänomen. Doch niemand sprach offen davon, und so blieb es unerkannt. In den Medien kamen keine Beiträge darüber, Mediziner wie Psychologen schienen sich nicht dafür zu interessieren, in I-Blogs blieb es unerwähnt, und auch anderswo war es kein Thema. Selbst die Betroffenen machten sich keine großen Gedanken.

In dieser Nacht tat es Jack an die zwanzig Mal. Danach war die Müdigkeit zu drückend. Danach sagte er zum Stimmdecoder nicht mehr »Weiter«, sondern »Aus«. Und so gab das u-Phone irgendwann Ruhe. Hörte auf, immer und immer wieder Alarm zu schlagen, stets 600 Sekunden nachdem die Sensoren anhand seiner veränderten Atem- und Pulsfrequenz Jacks Schlaf festgestellt hatten.

»Schönen, guten Morgen«, begrüßte ihn eine weiche, herzliche Stimme zur endgültigen Aufwachzeit um 7 Uhr 30. »Schönen, guten Morgen, Jack!«

Jack streckte sich im Bett, gähnte. »Guten Morgen.«

»Musik oder Nachrichten?«, fragte die Frauenstimme.

»Nachrichten.«

»Nach persönlichem Interessensprofil?«

Jack rieb sich die Augen. »Allgemein und persönlich.«

»Vorab die allgemeinen Nachrichten«, sagte eine sachliche Männerstimme, »Schönen, guten Morgen, Jack! Es ist 7 Uhr und 31 Minuten. Montag, 23. März unserer Zeit.«

2.

Jack klatschte sich einen Schwung Wasser ins Gesicht. Beim Ausatmen bespritzte er den Spiegel mit Wassertropfen. Das ärgerte ihn ein wenig. Gleich darauf fand er es lächerlich, sich geärgert zu haben, was neuerlichen Ärger hervorrief. Er strich sich die Haare nach hinten, besah die Ränder unter seinen Augen und warf die Zahnputzbrausetablette ein. Während sie ihre Wirkung tat, rasierte er den Wochenendbart, stellte sich unter die Dusche.

Später glitt er in eines seiner blauen Hemden, wählte den hellgrauen, nicht den dunkelgrauen Biofaseranzug, klippte eine seiner schwarzen Instant-Krawatten an und öffnete den Kühlschrank. Ordnung herrschte hier – eine durch und durch praktische Ordnung. Eine Ordnung, die Unwägbarkeiten ebenso ausschloss wie Überraschungen. Eine Ordnung, die Sicherheit gab; auch in der Wohnung, die dem Kühlschrank in ihrer sachlichen Konzeption ähnlich war. Mut zur Nüchternheit, bewerteten Designer wohlwollend den von ihnen geschaffenen Stil. An einem entsprechend getexteten Plakat, gleich ums Eck, hatten Spaßvögel das Wort Nüchternheit überschmiert. Nun wurde nicht mehr für Mut zur Nüchternheit geworben, sondern für Mut zur Volltrunkenheit. Jack hatte im Vorbeigehen nur Kopfschütteln übrig für derartige Vandalenakte und auch dafür, dass die Kontrollen in seinem Distrikt offensichtlich zu lax waren.

In der Türlade seines Kühlschranks stand ein Frühstückssaft neben dem anderen. Sieben Saftflaschen aneinandergereiht, die Etiketten ordentlich nach vorne ausgerichtet. Schön sah das aus und irgendwie beruhigend. Ein kleines Lager voll. Sieben Saftflaschen. Exakt so viele hatten Platz in der Lade, und wie praktisch, genau so viele Sorten gab es von Jacks Lieblingsmarke. Für jeden Wochentag eine. Sieben Gemüse-Obst-Getreide-Mischungen. Damals war beinahe die Zeit überwunden, in der vorwiegend richtige Früchte, richtiges Obst und richtiges Getreide verwendet wurden. Viele Menschen hatten erkannt, dass das aufgrund der Umwelteinflüsse ganz einfach nicht gesund sein konnte. Zudem unmoralisch, wegen des hohen Energie- und Wasserverbrauchs. Verrückt ferner wegen der weiten Verkehrswege. Und letztendlich auch zu teuer. Hersteller mit dem neuen Gütesiegel verkauften nur noch Produkte, die mittels Nanotechnologie aus einem Vitamin-, Mineralstoff- und Enzymgemisch fabriziert worden waren. Rein natürlichen Vitaminen, Mineralstoffen, Enzymen freilich, das war auch auf den Packungen vermerkt. Lebensmittel jedenfalls waren sicherer und gesünder als früher. Auch kalorienärmer, billiger, moralischer, länger haltbar, intensiver, besser, wertvoller.

Über der Getränkelade mit den Frühstückssäften befand sich ein Fach, dessen Höhe – Zufall oder nicht – die perfekte Dimensionierung zum Einstellen der Dosen für die Feelgood-Pillen hatte. Vierzehn Dosen gab es im Internethandel. Für jede Stimmungsdissonanz eine. Und siehe da: In der Lade hatten vierzehn Dosen Platz, exakt vierzehn. Das hatte Jack nach langer Resistenz veranlasst, sämtliche Sorten zu kaufen und gewissenhaft einzuordnen. Vor kurzem noch hatte er lediglich zwei Varianten verwendet. Doch nun, da er alle besaß, galt es, sie der Reihe nach zu testen. Im schlimmsten Fall würden die Pillen nichts bewirken, aber auch nicht schaden. Allesamt waren sie behördlich zugelassen, eine Überdosierung war medizinisch ausgeschlossen, und weder Abhängigkeitsgefahr noch Nebenwirkungen standen zu befürchten. Also, was war schon dabei?

Jack griff nach dem ersten Saft in der Reihe, wählte wie üblich die Feelgood-Pillen Easy und Tolerance und entschloss sich der Einfachheit halber, die nächststehende Sorte als Erstes zu probieren: Friendliness. Er legte alle drei Pillen auf die flache Hand, katapultierte sie in den Mund und stürzte den Frühstückssaft hinterher. Angenehm harmonisch und sinnlich aromatisch schwappte die verdickte Flüssigkeit seine Kehle hinab.

Vier Minuten später versicherte sich Jack vor dem großen Spiegel noch einmal seines tadellosen Aussehens. Er tat es nicht aus Eitelkeit. Er tat es aus Bedachtsamkeit. Jack wollte nicht unnötig Aufsehen erwecken bei den Securities, wollte nicht behelligt werden von ihnen. Anzug, Hemd und Krawatte saßen perfekt, die Schuhe glänzten, das struppig schwarze Haar war gebändigt, mit Haarfluid nach hinten gekämmt.

»Passt«, sagte Jack. Dann ging er. Hinter ihm schloss die Automatik die Wohnungstür. Das metallene Surren des Verriegelungsmechanismus vermittelte ihm ein angenehmes Gefühl.

Jack wohnte in einer geräumigen Dachterrassenwohnung eines Hauses aus dem vorvorigen Jahrhundert. Die Wohnungen unterhalb waren dunkel, waren klein, teils auch feucht. Bewohnt ausschließlich von Menschen aus der untersten sozialen Schicht: Arbeitslose, Job-Hopper, Patchworker, Leiharbeitskräfte, Mindestrentner, Studenten, Sozialarbeiter, Selbständige, alleinerziehende Mütter und anderweitig Bedürftige. Es war keine schlechte Gegend, in der Jack wohnte. Es gab schlechtere, viel schlechtere – freilich auch bessere. Mit der U-Bahn konnte er in einer halben Stunde in der City sein, an seinem Arbeitsplatz, der Parteizentrale des Volksbündnisses.

Als Jack im Erdgeschoss aus dem Aufzug trat, kam Tom geradewegs auf ihn zu. Beide erschraken. Tom war der einzige Nachbar, den Jack persönlich kannte. Vor Jahren war er ihm beim Transport eines neuen Fitnessgeräts behilflich gewesen. So waren sie ins Gespräch gekommen. Tom war in Jacks Alter, um die Fünfunddreißig, hager, arbeitslos, geschieden, frustriert, oft ungepflegt, und manchmal roch er auch aus dem Mund. Nach Alkohol roch er dann. Hin und wieder, wenn sich die beiden über den Weg liefen und Jack nicht recht wusste, was er reden sollte, schenkte er Tom eine kleine Dose Feelgood-Pillen. Tom lehnte stets ab, aus Höflichkeit und aus Scham. Doch Jack tat freundschaftlich, drängte, und so nahm Tom die Dose doch jedes Mal. Aus Höflichkeit. Und aus Scham. Die Pillen halfen ihm ein wenig; doch, doch, ein wenig halfen sie.

Jack fand Gefallen an Toms zurückhaltender, beinahe devoter Art. Und dennoch, in letzter Zeit ärgerte er sich, wenn er ihm begegnete. Es erinnerte ihn daran, dass sein Bündnis die anstehende Wahl verlieren würde, und zwar wegen Tom und seinesgleichen. Sein Nachbar nämlich war das Paradebeispiel eines Grundlers. So wurde in konservativen Kreisen, nicht ohne Zynismus, jene Bevölkerungsgruppe genannt, die von der Grundsicherung profitieren würde: einer wöchentlichen Basisabfindung für all jene, die weniger verdienten als das ehemals offizielle Existenzminimum. Die Einführung der Grundsicherung (im Prinzip eine uralte, doch bisher unrealisierte Idee) wurde vom Wahlgegner, dem regierenden Sozialbündnis, versprochen. Die Ankündigung war ein gelungener Coup gewesen, und der alles entscheidende Grund, warum das Sozialbündnis die Wahl gewinnen würde und nicht das Volksbündnis. Alle Umfragen sagten das voraus. Kein Wunder, die Grundler stellten gut ein Drittel der Bevölkerung.

»Guten Morgen, Jack«, sagte Tom, etwas verlegen, wie meist.

»Hallo!« Jack zuckte mehr mit der Hand, als dass er sie hob.

Tom lächelte.

Und Jack lächelte. »Tja, verrücktes Wetter heute.«

»Ja, verrückt.« Tom nickte.

Und auch Jack nickte. Nickte nochmals. Befühlte seine Sakkotasche. »Hm.«

Er hatte seine Feelgood-Pillen für unterwegs liegenlassen, sein Gesprächsthema für Tom hatte er vergessen.

»Entschuldige, ich hab’s ziemlich eilig. Du weißt ja«, seufzte er, »die Arbeit.« Dem arbeitslosen Tom seufzte er das zu, merkte es, sagte in Gedanken Idiot zu sich.

Tom nickte.

Fünf Minuten später war Jack bei der U-Bahn. Er lief, weil sein u-Phone Signal gab, dass gerade ein Zug in die Station einfuhr. Als er ins Abteil sprang, blickte er aus Gewohnheit auf das Insert im Wageninneren. Es zeigte an, dass sich eine Person ohne Fahrberechtigung im Waggon aufhielt. Das kam selten vor. Meist wagte es niemand, die U-Bahn zu benutzen, ohne zuvor ein Ticket auf die P-Card geladen zu haben. Lange konnte es nicht dauern, dann würden Securities kommen, um Kontrollen durchzuführen. Jack sah sich im dicht besetzten Waggon um, er wollte den Schwarzfahrer ausfindig machen. Darin war er gut, fand er. Jack besah die Gesichter der Fahrgäste, schweifte über die meisten nur kurz hinweg, ließ seinen Blick auf manchen länger haften und fixierte einige wenige regelrecht. So konnte er feststellen, ob sie nervös wurden. Es war ein harmloser Sport, viele machten es so. Argwöhnische Blicke rundum.

Jack hatte drei Verdächtige ausgemacht: einen jungen Burschen mit ausgewaschenem Sweatshirt, einen Mann mittleren Alters ohne ordentlichen Anzug, und ein nachlässig gekleidetes, pubertierendes Mädchen. Diese drei waren in der engeren Auswahl. Sie muss es sein, dachte er schließlich. Ja, sie, wiederholte er für sich, nachdem er das Mädchen quälende Sekunden lang gemustert hatte. Ihre Ohren waren dabei glühend rot geworden, und sie starrte verdächtig auf den Boden. Sehr gut, sie steigt aus, dachte Jack, gleich ist klar, ob sie es ist. Würde das Schwarzfahrer-Insert von 1 auf 0 springen, sobald sie die Sensorschranken durchschreitet, hätte er recht gehabt, wieder einmal. Das Mädchen stieg aus, die Anzeige sprang auf 0.

»Yes!«, triumphierte Jack, nicht nur in Gedanken. Das Wort war ihm tatsächlich über die Lippen gerutscht. Und nicht nur ihm. Den meisten, die richtig getippt hatten, war ihre Freude anzumerken. Ein Gefühl des Triumphs war im Waggon zu spüren. Ein Triumph, der die Menschen verband, ja beinahe einte, der Wildfremde zu Verbündeten machte, der gemeinsam erlebte Freude bereitete. Die Stimmung glich dem Jubel nach einem Treffer der Heimmannschaft. Verhaltener freilich.

Schön ist diese gemeinsame Freude, dachte Jack und schmunzelte einem Gleichgesinnten zu. Ja schön, gerade in dieser doch leider gefühlskalten Zeit.

Eben drohte die wunderbar erhöhte Stimmung abzuebben, da blinkte das Insert auf, und rhythmisches Warnsummen setzte ein. Jack zuckte zusammen. Erst einmal hatte er Terrorvorwarnung in der U-Bahn miterlebt und war dabei gewesen, als jemand ohne P-Card den Waggon betreten hatte. Das war kein Delikt wie Schwarzfahren, das war eine schwerwiegende Gesetzeswidrigkeit. Ein nervöses Kribbeln erfasste Jack, ein Kitzeln im Zwerchfell, irgendwie spannend, irgendwie interessant, doch da war auch ein mulmiges Gefühl, ehrlich gesagt war da sogar Angst. Freilich musste es nicht gleich ein Terrorist sein, der den Alarm ausgelöst hatte. Beim letzten Mal war es ein verwirrter Pensionist gewesen, der seine P-Card schlichtweg vergessen hatte. Doch das konnte wirklich nur Altersdebilen passieren. Schließlich diente die P-Card nicht nur als Pass und Ausweis, sondern auch als CashKarte, KreditKarte, ClubmitgliedsKarte, VorteilsKarte bei allerlei Handelshäusern, Internetforen, Firmen und Institutionen, zudem als ZugangsKarte, Versicherungs-Karte, KrankenkassenKarte, TelefonKarte, ParkKarte, Fahr-Karte. Bei vielen Unternehmen und Privaten war die P-Card auch schon als Schlüssel in Gebrauch. Einfach jeder musste sie bei sich tragen, alleine aus praktischen Gründen. Ein simples Vergessen der Karte konnte de facto ausgeschlossen werden, zumindest bei halbwegs normal tickenden Mitbürgern. Ja, und eben bei allen, die redlich waren. Wenn jemand ohne Karte aufgegriffen wurde, hatte er sie, das stand wohl außer Zweifel, ausschließlich deshalb nicht bei sich, weil er keine besaß, also ein Illegaler war, oder weil er seine Identität nicht preisgeben wollte. Bürger jedenfalls, die nichts zu verbergen hatten und integer waren, trugen die P-Card stets bei sich. Ohne Ausnahme. Überall.

Dank P-Card musste kein Dutzend Karten in ausgebeulten Geldbörsen mitgeschleppt werden, schwere Schlüsselbunde durchwetzten weder Hosensäcke noch Sakkotaschen, und kein steinzeitlich kompliziertes Bargeld nervte. Die Karte war ganz einfach praktisch und viel sicherer als Cash, die alten Karten und die Schlüssel von früher. Bei allen relevanten Verwendungszwecken nämlich, vom Einkaufen über das Aufsperren der Wohnungstür bis zum Eintritt in sensible Zonen, wurden sowohl Karte als auch dazu passender Fingerprint abgefragt. Bei besonders heiklen Abwicklungen wurde zudem die DNA-Kompatibilität geprüft. Somit war die P-Card hundertprozentig diebstahls- und verlustgesichert. Eine geniale Sache. Selbstredend war sie auch fälschungssicher, dank der auf ihr erfassten biometrischen Daten. Und was im Krieg mindestens ebenso wichtig war: Die Karte war ein enorm wichtiges präventives Mittel gegen den Terrorismus. Da war es wohl nicht zu viel verlangt, dass sich jeder Bürger, sobald er in der Öffentlichkeit unterwegs war, aber freilich auch zu Hause, mit seiner P-Card ausweisen können musste. Jeder redliche und vernünftige Mensch hatte auch rasch Sinn und Nutzen der Karte sowie Sinn und Nutzen der Pflicht erkannt, sie stets bei sich zu führen.

Jack spürte sein Herz hämmern. Noch immer blinkte das Insert, und das dezente, doch bedrohliche Warnsummen dauerte an. Wo blieben die Securities so lange? Möglichst unauffällig wischte er sich Schweiß von der Stirn. Die Türen verriegelten. Die nächste war seine Station. Gott sei Dank, er holte tief Luft. Gleich würde er da sein. Als die U-Bahn in die Station einfuhr, bremste, quälend langsam zum Stehen kam, endlich die Türen aufsprangen, machte Jack keine Bewegung; er atmete flach, stieg nicht aus, blieb sitzen. Die Neugier war zu groß – und der Kitzel, live dabei zu sein, wenn der Illegale verhaftet werden würde. Etliche Fahrgäste hielten ihre u-Phones bereit, um die bevorstehende Festnahme zu filmen und den Mitschnitt an eine TV- oder Internetstation zu verkaufen. Da kamen sie: Drei breitschultrige Securities, martialisch anzusehen in ihren schwarz gepanzerten Karbonfaseranzügen. Jeder schritt durch eine andere Waggontür. Mit gegrätschten Beinen, die Waffen im Anschlag, nahmen sie Stellung. Da verstummte mit einem Mal der Signalton, und das Warnblinken erlosch. Stille. Sekundenlang. Und dann: aufatmen, aber auch enttäuschtes Raunen im Waggon. Im Tumult des Ein- und Aussteigens musste es dem Illegalen gelungen sein, die U-Bahn zu verlassen. Jack spürte noch immer sein Herz pochen. Langsam, langsam nur beruhigte es sich.

Zwei Stopps danach trat er aus dem Waggon und nahm eine U-Bahn zurück. Als er bei seiner Station ausstieg, hatte er sich wieder gefasst, dachte schon an andere Dinge und marschierte auf die wenige hundert Meter entfernte Parteizentrale zu, den Sitz des Volksbündnisses, den Sitz der Opposition, Jacks Arbeitsplatz, von dem aus sein Chef und er an die Regierung gelangen wollten.

3.

Jack bog um die Ecke und sah bereits das gläserne Hochhaus mit dem Logo des Volksbündnisses an dessen Fassade, da fiel ihm eine Menschentraube bei der Estate-Bank auf. Er ging näher. Medienleute von TV, Radio und Internet standen herum. Jack grüßte einen Videojournalisten, er kannte ihn vom Job.

»Worum geht’s denn?«

»Nichts Besonderes. Der letzte Geldautomat wird abmontiert. Kleine, nette Story.«

Jack schüttelte den Kopf. »Ich hab gar nicht gewusst, dass noch welche in Betrieb sind.«

»Ja, stimmt.« Der Reporter zuckte mit den Schultern. »Völlig unnötige Dinger.«

Tatsächlich gab es beinahe niemanden mehr, der mit Bargeld zahlte. Und es gab beinahe niemanden mehr, der Bargeld annahm. Zu gefährlich, wegen der Fälschungen und der Taschendiebe. Und furchtbar unpraktisch.

Das Abbauen der Geldautomaten war eine der Maßnahmen zur endgültigen Etablierung des bargeldlosen Systems. Nun mussten sich die letzten Nostalgiker ihr Cash beim Bankschalter besorgen, was mit dem Ausfüllen eines schier endlosen E-Formulars verbunden war. Bald aber würde völlig Schluss sein mit der antiquierten Albernheit Bargeld, bald würde auch in den Geldinstituten die Ausgabe von Geld eingestellt werden. War ja auch wirklich nicht mehr nötig. Bezahlt wurde mit der P-Card und kassiert mit dem E-Casher. Für Private gab es den Casher längst integriert im u-Phone, alles keine Zauberei mehr.

Jack beobachtete im Langsam-Weitergehen die Techniker, wie sie am Geldautomaten hantierten. Plötzlich ließ ihn eine energische Stimme hochfahren: »Sicherheitskontrolle!«

Ein untersetzter, annähernd glatzköpfiger, sehr korrekt und dennoch geschmacklos gekleideter Mann streckte Jack seinen Ausweis entgegen. »Bürger-Security Nr. 22763«, wies er sich aus, forderte mit misstrauischem Blick »Ihre P-Card bitte.«

Jack atmete durch, den Schrecken abzuschütteln. Er hasste diese Kontrollen. Die offiziellen Securities, in Ordnung, das musste sein, aber die lizenzierten privaten Wichtigmacher gingen ihm gehörig auf die Nerven.

»Gerne«, sagte Jack, hielt dem Mann die P-Card entgegen und wunderte sich über seinen überaus freundlichen Ton. An die vor einer halben Stunde eingeworfene Feelgood-Pille Friendliness dachte er nicht. Ohne dass der Bürger-Security ihn hätte auffordern müssen, presste Jack den rechten Daumen gegen das Touch-Feld. Zwei, drei, vier Sekunden vergingen. So lange brauchte der Apparat, um Jacks Fingerabdruck mit seinen P-Card-Daten zu vergleichen. Ein Piepston, der Mann sagte: »Identisch.« Dann nickte er nachdenklich und besah noch einmal Jacks Gesicht, noch einmal das Anzeigefeld des ID-Checkers. Schließlich nickte er abermals. »Identisch, Herr Dr. Blind.« Und als hätte das Gerät ein gegenteiliges Ergebnis ausgespuckt, kniff er die Augen zusammen und musterte Jacks Gesicht. Musterte es. Besah Jack ohne jede Scham. Als wäre er ein Affe im Zoo. Als befände sich Jack hinter einem falschen Spiegel, was es dem Beobachter auf der anderen Seite erlaubte, ihn unbemerkt und auf das Unanständigste anzustarren. Und weil der Mann also keine Anstalten machte, ihm seine P-Card zu retournieren, entschied sich Jack für eine Frage.

»Was ist eigentlich so furchtbar verdächtig an mir?«

»Nichts, wieso, mein Herr?«

Jack ärgerte sich bereits, eine Frage gestellt zu haben. Und stellte noch eine: »Seien Sie doch bitte so freundlich, und sagen sie mir, warum sie mich angehalten haben.«

Der Mann lächelte, zufrieden lächelte er. »Wenn Sie es unbedingt wissen möchten, Herr Blind. Nun, ich dachte, Sie sind Moslem. Haben Sie arabische Wurzeln, Herr Blind?«

»Nein, habe ich nicht!«, reagierte Jack energisch. Die Frage war ihm schon häufiger gestellt worden. »Aber wenn ich welche hätte, ginge Sie das auch nichts an.«

»Natürlich, natürlich«, beschwichtigte der Mann, sah zu Boden und schielte Jack kurz darauf verschwörerisch an. »Aber Sie wissen doch, Herr Dr. Blind, die Zeiten des Appeasements sind, Gott sei Dank, vorbei. Hätten wir schon früher nicht gekuschelt und gutgemenschelt mit den Moslems, sondern gehandelt, wäre der Krieg längst vorbei. Zu unseren Gunsten vorbei.«

Jack verbat sich jede Reaktion. Er wollte sich nicht zu weiteren Aussagen oder Fragen verleiten lassen, wollte sich nicht auf eine Diskussion mit diesem Bürger-Security einlassen, der ihn mit erwartungsvollem Gesicht von unten her ansah. Und ansah. Und ansah. Um plötzlich, etwas enttäuscht, wieder aufrechte Haltung anzunehmen und zu sagen: »Nun, Herr Blind, ich belasse es diesmal mit einer Abmahnung. Ansammlung vor einem öffentlichen Gebäude, Sie wissen schon.« Mit abfälliger Geste streckte er ihm die P-Card entgegen.

Jack griff danach, sagte: »Danke, auf Wiedersehen«, und hörte im Davongehen die klar artikulierten Worte »Viel Glück bei der Wahl, Sie werden es brauchen«.

Als Jack über die Schulter sah, hatte sich der Mann bereits abgewandt und ging davon.

Das Erste, was er und sein Chef tun würden, sollten sie an die Regierung gelangen, wäre die Auflösung der Bürger-Security. Die willkürlichen Kontrollen dieser Wichtigtuer waren ja nicht zum Aushalten. Offiziell aber war der Plan nicht, denn die Mehrheit der Bevölkerung befürwortete die Bürger-Security, fühlte sich sicherer dank ihr. Und die Leute waren wie verrückt danach, als private Securities anerkannt und registriert zu werden. Obwohl sie nichts dafür bezahlt bekamen – nichts. Wahrscheinlich reichte der Ausweis, mit dem sie prahlen konnten, die kleine Macht, die sie damit in Händen hielten. Gut, manche handelten wohl tatsächlich aus Verantwortungsgefühl, aus Dienst am Gemeinwohl.

Die Befugnisse der Bürger-Securities waren in den letzten Jahren stetig erweitert worden, wegen der guten Erfahrungen. Die Privaten durften mittlerweile nicht nur Personenkontrollen durchführen und im Notfall von der Betäubungspistole Gebrauch machen. Sie waren bereits für den Großteil der Eintragungen in die Verfehlungsregister der Bürger verantwortlich. Erwischten sie jemanden etwa bei einer Verkehrsübertretung, setzte es vier bis sechs Maluspunkte (je nach Schwere); bei Verunreinigung durch Wegwerfen von Müll oder durch Spucken: drei Punkte; bei grober Unhöflichkeit oder unangebrachter Aufregung: zwei bis fünf Punkte; Verweigern der Hilfe für Schwächere: ein Punkt; Lärmen: drei Punkte; sonstiges unbotmäßiges Verhalten: einen bis sieben Punkte; Belästigung durch Entweichenlassen von Körpergasen: drei Punkte. Und so weiter und so fort. Es gab Handlungen sonder Zahl, die Strafpunkte im persönlichen E-File zur Folge hatten. Und es gab beinahe ebenso viele Nicht-Handlungen, also unterlassene Handlungen, die Bürgern angelastet werden konnten.

Ja, es bestand eine schier unermessliche Anzahl von Vergehen, die begangen werden konnten, eine unübersichtliche Zahl von Regeln, die es zu beachten galt. Und so tat man gut daran, sich nicht gehen zu lassen, tat gut daran, konzentriert zu sein und nicht auf irgendwelche ausgefallenen Ideen zu kommen. Am wenigsten Probleme kriegen konnte man in den eigenen vier Wänden; ja, die Öffentlichkeit möglichst zu meiden, war am ratsamsten. Gut, zwei, drei Maluspunkte im Vergehensregister hatten noch keinerlei Konsequenzen, aber zehn Punkte waren, gab man nicht Acht, rasch angesammelt, und die entsprechende Finanzstrafe war beträchtlich. Abgesehen davon wurden die Vorfälle im zentralen Register gespeichert, Punkt für Punkt. Gutes Gefühl hatte man da keines. Noch dazu, da sich doch alle, die es interessierte – Nachbarn, Bekannte, Kollegen –, ins System einloggen konnten, um nachzusehen, welcher Verfehlungen man sich schuldig gemacht hatte.

Einsprüche gegen leichtfertig verhängte Strafpunkte wiederum waren den Nervenaufwand nicht wert, führten bloß zu noch mehr bürokratischem Getue, rückten einen nur noch weiter in schlechtes Licht, lenkten nur weitere Aufmerksamkeit auf einen.

Eines allerdings musste doch zugegeben werden: Seit dem dichtmaschigen und großflächigen Einsatz der Bürger-Security war die Stadt – und auch das ganze Land – tatsächlich sicherer geworden. Die Menschen verhielten sich freundlicher, schimpften nicht mehr, benahmen sich gesitteter, waren irgendwie ruhiger geworden, bedächtiger. Ja, ruhiger war es schon geworden im Land. Bei aller gebotenen Skepsis war das dem Einsatz der Bürger-Security zu verdanken, freilich auch jenem der Überwachungskameras.

Jack zog seine P-Card durch den Schlitz der Zugangskontrolle, presste den rechten Daumen gegen das Touch-Feld. Das Drehkreuz entriegelte, und er betrat die Bündniszentrale. In der obersten Etage trat er aus dem Lift.

»Guten Morgen, Jack!« In den Augen seiner Assistentin war ein herzlicher Schimmer.

»Hallo, Ronja.« Er lächelte höflich, warf sein Sakko über den Sessel, ging durch die offene Tür ins Büro des Chefs.

»Verrückt, dieses Wetter«, begrüßte ihn Mike Forell. »Dreißig Grad im Schatten. Und das im März!«

»Stimmt. Und erinnere dich, vor einer Woche hatten wir noch Minusgrade.«

»Schau dir das an.« Forell ließ seinen mächtigen Körper im Lederfauteuil nach vorne kippen, wies mit dem Finger auf eine Zahlenkolonne seines e-Laptops. »Die Stromrechnung von gestern – der pure Wahnsinn! Die Klimaanlage von diesem Glaspalast frisst mehr als im Winter die Heizung. Verdammter Jahrtausendwendebau! Absolute Strohköpfe damals, die Architekten. Und nur eine Frage der Zeit, bis die Medienmeute mir unterstellt, dass ich nichts von Wirtschaft verstehe, wenn ich die Parteizentrale in so einem Bau belasse.« Forell biss die Zähne aufeinander. »Aber weißt du was, Jack?« Er grinste. »Ich glaube, die sind ohnehin zu blöd, drauf zu kommen.«

»Und wenn wir ehrlich sind, ist die Stromrechnung nicht gerade unser größtes Problem. Nur noch zwei Monate bis zur Wahl, und wir liegen elf Prozentpunkte hinten. Elf!«

»Weißt du, woran das liegt? Es liegt daran, dass die Masse so primitiv ist. Das ist unser Problem.« Wieder grinste Forell. »Aber es ist auch unser Glück. So, wie sie jetzt in die Hände des Sozialbündnisses torkeln, werden sie, sobald der Wind dreht, zu uns umschwenken. Was wir brauchen, ist eine Windmaschine, Jack.« Er ballte die Fäuste. »Irgendeine große, sehr große Windmaschine.«

»Ja, etwas Großes, das sie sofort begreifen.«

»Richtig. Etwas, das zu ihnen passt.« Forell strich über sein kantiges Kinn. »Etwas Primitives.«

Sein Bürochef nickte nachdenklich. »Wir müssen aufhören, an Dutzenden kleinen Schrauben zu drehen. Das bringt uns nicht weiter. Gegen die Grundsicherung geht alles unter.«

Forell hatte die Ellenbogen auf den Tisch gestützt und sein Gesicht in beide Hände gelegt. Behutsam massierte er seine breite Stirn. »Und was ist«, er blickte zwischen seinen Fingern hindurch, als sei ihm die Idee selbst nicht geheuer, »was ist, wenn wir auch die Grundsicherung versprechen?« Ohne Jacks Antwort abzuwarten, schlug er mit den Handflächen auf den Tisch. »Nein, natürlich nicht. Dafür sind wir uns zu schade.«

»Sogar wenn wir es machen, können wir damit nicht gleichziehen. Die Leute verbinden die Grundsicherung mit dem Sozialbündnis. Wir brauchen was anderes. Und Mike«, Jack konnte seine Vorfreude, obgleich er es sich vorgenommen hatte, nicht verbergen, »Mike, ich glaube, ich habe was anderes.«

»Und?«

»Was ist derzeit im Trend?«, begann Jack Blind und genoss die Neugier im Gesicht des Chefs. »Was wollen alle, alle haben, aber nur wenige können es sich leisten?«

»Hm. Den neuen Nano-BMW?«

»Nein.« Er bewegte den Zeigefinger hin und her.

»Ein völlig energieautonomes Haus?«

»Nein.« Wieder bewegte Jack den Zeigefinger. »Viel zu langweilig.«

»Okay, jetzt hab ich’s. Dieses Klon-Dings, diese Ganzkörper-Frischzellenkur, du weißt schon, bei der du als klappriger Greis in die Röhre geschoben wirst und als Athlet wieder rauskommst.«

»Schon besser, aber: Nein.«

»Ha!«, schrie Forell: »Die Atomverseuchungsprophylaxe!«

»Nein!« Jack schüttelte sich.

»Jetzt sag schon!«

»Okay. Was ist allen Umfragen zufolge der wichtigste Wert in unserer Gesellschaft?«

»Sicherheit.«

»Richtig. Und was liegt uns Menschen seit jeher am nächsten?«

»Wir selbst.«

»Mike!«

»Hm. Unsere Kinder?«

»Bingo!« Mit großer Geste breitete Jack Blind die Arme aus. »Die Sicherheit unserer Kinder. Das ist das Wichtigste. Und deshalb«, er zelebrierte seine Worte, »deshalb versprechen wir, verspricht das großartige, das wunderbare, das geliebte, das phantastische Volksbündnis den Fit&Secure-Chip für jedes Kind! Tamtamtamtaaam!«

Der Fit&Secure-Chip war der Traum aller verantwortungsbewussten Eltern – der zumeist unerfüllbare Traum. Denn die Anschaffung des Chips verschlang das halbe Jahreseinkommen eines durchschnittlich verdienenden Bürgers. Nur wenige zehntausend Kinder begüterter Familien hatten ihn bisher implantiert bekommen. Familienväter, die nicht gut verdienten, es aber durch selbstloses Sparen und Schuften geschafft hatten, ihrem Kind zu einem Fit&Secure-Chip zu verhelfen, fühlten sich als Helden, waren stolz bis über beide Ohren. Der Chip – oder korrekt: die Chips, denn es handelte sich um ein Sicherheitspaket von sechs Chips – dienten ursächlich der Früherkennung von Krankheiten. Implantiert wurden sie in einem knappen, völlig schmerzlosen und ungefährlichen Verfahren ins Herz, in die Niere, die Lunge, die Leber, den Kopf und in den Magen. Schon im Alter von drei Monaten, versicherten die medizinischen Fachleute, konnte das Fit&Secure-System implantiert werden. Der über Funksignal verbundene Computer kontrollierte Dutzende Gesundheitsparameter, etwa Herzfrequenz, Blutqualität und Virenauftreten. Sobald ein Risiko oder eine beginnende Krankheit festgestellt wurde, warnte das System per SMS oder E-Mail und empfahl die adäquate Behandlung. Das Fit&Secure-System alarmierte mittlerweile aber auch bei Alkoholgehalt im Blut oder bei Drogenkonsum, hatte somit auch erzieherischen Wert. Und dank der integrierten Ortungsfunktion konnten sogar Lawinenverschüttete rasch gefunden werden oder Entführungsopfer. Entführungen nämlich gehörten mittlerweile zu den häufigsten Delikten. Die Entführer hatten dazugelernt. Sie verlangten keine Millionenbeträge mehr, sondern begnügten sich mit etwas Schmuck oder anderen Wertgegenständen. Sie wollten raschen Profit machen. Kinder waren ihre häufigsten Opfer. Wurden die aber vom Fit&Secure-System geschützt, konnten Sonderkommandos sie orten und bei einem Zugriff unbeschadet befreien – meistens. Da die Chips in lebenswichtigen Organen implantiert waren, war es den Entführern zudem unmöglich, sie mittels operativer Eingriffe zu entfernen. Ein ausgeklügeltes System.

Mike Forell ließ sich in seinen Bürosessel zurückfallen, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und wippte bedächtig vor und zurück. Er schien nachzudenken. Jack fand, der Wahlkampfclou mit den Fit&Secure-Chips rief bei seinem Chef nicht die ihm gebührende euphorische Reaktion hervor.

»Gute Idee«, sagte Forell endlich, »aber wie sollen wir das finanzieren?«

Jacks Gesicht erhellte sich wieder.

»Vorige Woche hatte ich einen Termin mit dem Chef von Fit&Secure Enterprises. Komischer Kauz! Anfangs war er unkonzentriert, wie abwesend, ich habe wie ins Leere geredet. Dann rief ihn seine Sekretärin. Er entschuldigte sich wegen einer wichtigen Angelegenheit und ließ mich alleine in seinem Büro zurück. Nachdem er zurückgekehrt war, wirkte er wie ausgewechselt, plötzlich voller Interesse. Er sagte, ich solle ihm meine Idee doch bitte in jeder Einzelheit noch einmal erzählen. Als ich fertig war, konnte er sich kaum halten vor Begeisterung, war auf einmal wie verrückt danach. Was soll ich dir sagen: Er hat zugesichert, uns achtzig Prozent Rabatt zu geben. Allerdings unter der Auflage strengster Verschwiegenheit. Als er merkte, dass ich ihm seine Großzügigkeit nicht abnahm, rückte er mit der Wahrheit heraus. Herr Blind, hat er gesagt, wenn wir diese enorme Menge an Chips implantieren, werden die Herstellung und das operative Procedere nicht nur wesentlich günstiger. Wenn Sie an die Regierung kommen und als erstes Land Fit&Secure-Pakete an alle verteilen, als staatliche Maßnahme, werden andere Länder Ihrem Beispiel folgen. Das Geschäft, das sich daraus ergebe, könne ich mir wohl vorstellen. Und dass er deshalb gerne bereit sei, uns bei dieser revolutionären Idee, das waren seine Worte, bei dieser revolutionären Idee, zu unterstützen. Klingt gut, habe ich geantwortet, und da hat er mich irgendwie keck angesehen und gemeint, dass da noch eine Kleinigkeit sei. Und zwar, habe ich gefragt. Da hat er zu lachen begonnen und gemeint, ach nichts, gar nichts, er habe nur sehen wollen, wie ich reagiere. Wie gesagt, komischer Kauz.«

Jack war bei seiner Schilderung von der Sache abgekommen. Als er es merkte, klatschte er in die Hände und rief: »Jedenfalls, Mike! Bei achtzig Prozent Rabatt ist die Sache aus dem Budget zu finanzieren. Und ich sage dir was: Damit gewinnen wir die Wahl. Damit schlagen wir sie!«

Forell wackelte nachdenklich mit dem Kopf. »Was du über diesen Typen erzählst, gefällt mir nicht. Wer weiß, ob er Wort hält.«

»Er muss ja nicht unser Freund werden. Und er ist ausdrücklich bereit, einen Geheimvertrag aufzusetzen. Stell dir doch vor, Mike, wie das einschlagen wird. Ich sehe schon die Wahlwerbung.« Jack hob den Kopf und beschrieb mit den Händen einen wuchtigen Schriftzug: »Fit&Secure-Chips für alle. Damit unsere Kinder gesund und sicher aufwachsen. Volksbündnis.«

Das helle Eilt-News-Signal erklang – dreifach: aus Mike Forells e-Laptop, aus seinem u-Phone und aus Jacks u-Phone. Forell drückte eine Taste am e-Laptop: »Terroranschlag in der U-Bahn«, meldete eine sachliche Frauenstimme. »In der Station Rathaus explodierte vor drei Minuten eine Bombe. Der Zeitzünder riss mindestens acht Menschen in den Tod. Dutzende wurden verletzt. Es handelte sich nicht um eine atomare Mini-Nuke, sondern um herkömmlichen Sprengstoff.«

Über Forells Gesicht ging ein Zucken. Zwei Sekunden betrug seine Reaktionszeit, dann rief er: »Das müssen wir nutzen, Jack! Mach eine Mediameldung, so à la Sozialbündnis kann Sicherheit des Landes nicht gewährleisten. Volksbündnis fordert mehr Securities, härtere Strafen, bietet Opfern Hilfe an, du weißt schon, die ganze Palette, auch das Menschliche. Beileidsbekundungen, Betroffenheit und so weiter. Was ist mit dir, Jack? Was stehst du so rum? Der Anschlag kommt doch wie gerufen!«

»Heute Morgen«, er starrte an seinem Chef vorbei, »bin ich zu weit gefahren. Vor einer halben Stunde war ich selbst noch in der Station Rathaus.«

»Um Himmels willen!« Forell machte einen Satz aus seinem Lederfauteuil und tätschelte Jack die Schulter. »Aber so was passiert nun einmal«, setzte er nach. »Das wirft meinen Jungen doch nicht um. Na komm, Jack, die Meldung muss raus.«

4.

»Wir weisen Sie darauf hin, dass dieses Telefonat aus Sicherheitsgründen und zur Verbesserung der Servicequalität aufgezeichnet und gespeichert werden kann.«

»Heb schon ab«, sagte Blind, nervös, weil er meinte, es eilig zu haben. Da meldete sich Tina – Tina Fux, Chefin der Werbe- und PR-Agentur, die das Volksbündnis betreute. »Hallo, Jack, entschuldige, dass du kurz warten musstest.«

»Überhaupt kein Problem. Ich werde immer ganz sentimental, wenn ich eure Ansage höre. Außer euch bringt niemand mehr den Mitschneidehinweis.«

»Ich weiß, Jack, du hast es das ein oder andere Mal bereits erwähnt.«