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Vor 100 Jahren, 1905, erschien das einflussreichste sexualwissenschaftliche Werk des 20. Jahrhunderts: Sigmund Freuds »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie «. Neben der »Traumdeutung« ist es das berühmteste Werk der Psychoanalyse. Freud sah im Sexuellen die zentrale Antriebskraft menschlicher Tätigkeit und gab so dem »sexuellen Zeitalter« eine Theorie. Und er thematisierte zwei zentrale Tabus seiner Zeit: die kindliche Sexualität und das Perverse.
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Seitenzahl: 268
Veröffentlichungsjahr: 2005
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Quindeau, Ilka; Sigusch, Volkmar
Freud und das Sexuelle
Neue psychoanalytische und sexualwissenschaftliche Perspektiven
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E-Book ISBN: 978-3-593-40203-1
Vor 100 Jahren erschien das einflussreichste sexualwissenschaftliche Werk des 20. Jahrhunderts: Sigmund Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Neben der Traumdeutung ist es zugleich das berühmteste Werk der Psychoanalyse. Indem Freud im Sexuellen die zentrale Antriebskraft menschlicher Tätigkeit sah, gab er dem »sexuellen Zeitalter« eine Theorie. Indem er gegen die Tabus andachte, die auf der kindlichen Sexualität und auf dem Perversen liegen, eröffnete er neue Perspektiven.
Eingeladen vom Frankfurter Psychoanalytischen Institut und vom Institut für Sexualwissenschaft der Universität Frankfurt am Main, nehmen renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Bereiche Psychoanalyse, Sexualwissenschaft und Säuglingsforschung aus Deutschland, Österreich und der Schweiz den 100. Jahrestag zum Anlass, mit Freud gegen Freud zu denken oder unter Einbeziehung neuerer Forschungsergebnisse kontroverse Themen zu erörtern: Was heißt heute kindliche, perverse, weibliche und männliche Sexualität? Bemerkenswerterweise sucht die Frankfurter Tagung »100 Jahre Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Psychoanalytische und sexualwissenschaftliche Perspektiven« vom Februar 2005 ihresgleichen: Sie ist die erste gemeinsame institutionelle Aktion seit Bestehen der beiden Disziplinen, jedenfalls in den deutschsprachigen Ländern.
Umrahmt werden die Kontroversen, die Martin Dornes und Friedl Früh zur kindlichen Sexualität, Wolfgang Berner und Reimut Reiche zur sexuellen Perversion sowie Sophinette Becker und Martin Dannecker zur weiblichen und männlichen Sexualität führen, von einer theoretischen Re-Lektüre Peter Passetts, die den |8|Primat des Anderen betont, sowie von einer Fallgeschichte Jörg M. Scharffs, die den Verästelungen sexuellen Begehrens im Verlauf einer psychoanalytischen Behandlung folgt. Abschließend erörtert Ilka Quindeau die Frage, wozu die Psychoanalyse nach wie vor eine Triebtheorie braucht, und skizziert Perspektiven für ihre Neuformulierung.
Eröffnend stellt Volkmar Sigusch dar, in welcher kulturellen und sexualwissenschaftlichen Situation Freud seine Sexualtheorie entwarf. Als Sexualforscher ergriff Freud erst das Wort, nachdem die erste »sexuelle Revolution« des 20. Jahrhunderts bereits zu einschneidenden Veränderungen geführt hatte. Und er ergriff erst das Wort, nachdem von einer bereits ein halbes Jahrhundert alten Sexualwissenschaft alle »Zutaten« seiner Theorie – Libido, erogene Zonen, kindliche Sexualität, Perversion als allgemeinmenschliches Vermögen usw. – dem Sexualdiskurs hinzugefügt worden waren. Wie Freud jedoch mit diesen »Zutaten«, mit diesen experimentellen Befunden, empirischen Beobachtungen und theoretischen Annahmen verfuhr – das sei, so Volkmar Sigusch, einzigartig und genial. Da er außerdem Widersprüche und Paradoxien, die in der Sache, in den Veränderungen selbst liegen, nicht mit theoretischer Gewalt zu beseitigen suchte und vor eigenen gegensätzlichen Aussagen nicht zurückschreckte, biete sein Werk bis heute zahllose Anregungen, die Dinge kontrovers und neu zu diskutieren.
Peter Passett liest die Drei Abhandlungen aus der Perspektive der französischen Psychoanalyse. Die menschliche Sexualität folgt keinem endogenen, biologischen Programm, sondern stellt eine Antwort auf den Anspruch des Anderen dar. Die von Freud verwendete biologische Terminologie lasse sich daher eher im Sinne einer »Als-ob-Biologie« verstehen. In dieser Anlehnung, im Als-ob-Charakter, sieht Passett ein wesentliches Merkmal des Psychischen, das sich besser durch ein Denken in Differenzen erfassen lasse als durch präzise Identifizierung. Der Bedeutung der Differenz trage Freud in seiner Sexualtheorie durch dualistische Konzeptionen Rechnung wie Lust–Unlust, Natur–Kultur oder Trieb– Instinkt. Seine Kategorien zur Beschreibung der menschlichen |9|Sexualität gewönnen Kontur durch näherungsweise, oszillierende Denkbewegungen und nicht durch exakte naturwissenschaftliche Beobachtung. Mit dieser Schrift öffne Freud das ansonsten hermetisch abgeschlossene Subjekt hin zum Anderen.
Wenngleich der »dunkle Kontinent« in den letzten Jahrzehnten aus vielfältigen Perspektiven beleuchtet und teilweise auch erhellt wurde, gilt die weibliche Sexualität den medizinisch-biologischen Wissenschaften immer noch weitgehend als »sträflich untererforscht«. In ihrem Beitrag zur weiblichen/männlichen Sexualität weist Sophinette Becker darauf hin, dass die grundlegenden Zusammenhänge von Geschlechtsidentität und sexueller Orientierung nach wie vor nicht aufgeklärt sind. In den Drei Abhandlungen entwickele Freud das konstruktive, weiterführende Konzept der Bisexualität und ringe um ein Verständnis von »männlich« und »weiblich«, erliege schließlich jedoch einem sexuellen Monismus, der ausschließlich die männliche Sexualität im Sinne eines Prototyps fokussiert. Dieses Manko ist inzwischen außerordentlich theorieproduktiv geworden und führte zu einer Vielzahl neuerer Erklärungsansätze, die allerdings noch ihrer Integration in den psychoanalytischen Theoriekorpus harren, um auch in der klinischen Arbeit ihre Wirksamkeit entfalten zu können.
Nach Martin Dannecker weist Freuds »große Erzählung« von der Sexualität gravierende Schwächen nicht nur bei der Beschreibung weiblicher, sondern auch männlicher sowie homosexueller, »invertierter« Sexualität auf. Freuds Versuch, Lust und Erregung des Mannes zu erklären, erschöpfe sich in einem höchst mechanistischen Versuch, der vor allem auf die Ebene der Physiologie rekurriere statt an Wünschen und Phantasien anzusetzen. Diese Reduktion mündet im Konzept eines »Primats der Genitalzone«, dem sich die Partialtriebe – ihres Lustcharakters weitgehend entkleidet – unterordnen und der schließlich dazu führe, dass der männliche Körper entsexualisiert werde. So besitze der (heterosexuelle) Mann vor allem ein Sexualorgan, aber keinen sexuellen Körper. Homosexuelle Männer repräsentierten hingegen eine andere Art der Männlichkeit, in der Weibliches und Männliches |10|vermischt ist, und könnten daher als »positiv bisexuell« bezeichnet werden.
Obgleich das Freudsche Konzept der infantilen Sexualität seit langem in der Psychoanalyse und in der neueren empirischen Säuglingsforschung kontrovers betrachtet wird, gibt es selten Kontroversen zwischen VertreterInnen der unterschiedlichen Disziplinen, bei denen die verschiedenen Argumente für die jeweilige Position ausgetauscht werden. In den Beiträgen von Friedl Früh und Martin Dornes zeigen sich die grundlegenden Unterschiede einer empirisch-experimentellen und einer psychoanalytischen Betrachtungsweise. So fordert Dornes von einem wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand, dass er voraussetzungsfrei beobachtbar sein müsse, und bestreitet dies im Hinblick auf die kindliche Sexualität. Im Unterschied etwa zum angeborenen Bindungsverhalten sei der sexuelle Charakter des kindlichen Verhaltens nicht direkt beobachtbar, sondern beruhe auf – möglicherweise fälschlichen – Interpretationen. Aus der Sicht der empirischen Säuglingsforschung seien die stärksten Motive des Säuglings daher nicht sexueller, sondern narzisstischer Natur. Dieser Sichtweise hält Friedl Früh entgegen, dass die infantile Sexualität – einem Kuckucksei vergleichbar – nicht auf die Kindheit beschränkt bleibt, sondern sich in verschiedenen Formen bis ins Erwachsenenleben hinein erhält. Träume, Fehlleistungen und neurotische Symptome bezeugten die Verwandtschaft von infantiler und erwachsener Sexualität. Unterschieden seien sie durch den polymorph-perversen Charakter und den Autoerotismus als den beiden zentralen Kennzeichen infantiler Sexualität sowie die eingeschränkte Fähigkeit zur Befriedigung.
Reimut Reiche stellt seinen Beitrag unter die Frage, ob man heute noch mit einem strukturellen Einheitsbegriff der Perversion arbeiten kann. Als solch ein gemeinsames Vielfaches aller disparaten und fragmentierten psychoanalytischen Konzepte betrachtet er die Sexualisierung, die paradoxerweise zugleich das ungelöste Rätsel der Perversion darstelle. Um diesem Rätsel näher zu kommen, werden aus empirisch-klinischer Perspektive fünf konstitutive Kriterien für die Perversion rekonstruiert: der Fetisch als sexualisiertes |11|Übergangsobjekt; die Gestaltung einer Szene, in welche die Objekte und Handlungen eingebaut werden, die zur sexuellen Erregung notwendig sind; die süchtige Unaufschiebbarkeit im Sinne des »Craving«; die spezifische, teleskopartige »Puppe-inder-Puppe«-Struktur sowie der Orgasmus, der allerdings nicht für alle Formen der Perversion zwingend sei.
Wolfgang Berner untersucht die Perversion mit Hilfe neuerer Konzepte der Hirnforschung. Mit der Entdeckung des mesolimbischen Dopaminsystems lasse sich die Freudsche Triebtheorie, insbesondere das Lustprinzip, weit exakter fassen. Während der psychoanalytische Perversionsbegriff nicht phänomenologisch, sondern funktional gedacht und im Wesentlichen durch unbewusste Feindseligkeit gekennzeichnet sei, falle diese Beziehungsfeindlichkeit bei der gegenwärtigen psychiatrischen Diagnose »Paraphilie« mit der Selbst- bzw. Fremdgefährdung zusammen. Während neurophysiologische Studien den Suchtcharakter der Paraphilie hervorheben, lasse sich unter Rekurs auf die Attachment-Forschung auch ein spezifisches Bindungsverhalten Paraphiler nachweisen, bei dem der Bindungswunsch in umgekehrter Ausprägung zum Bedürfnis nach sexueller Stimulierung stehe.
In einer kunstvoll komponierten Fallgeschichte folgt Jörg M. Scharff den Verästelungen sexuellen Begehrens im Geflecht der Übertragung und Gegenübertragung in einer Analyse. Er zeigt auf, wie unbewusste Erinnerungen aus der eigenen Kindheit als Abkömmlinge verdrängter, infantiler Sexualität in die Übertragung eingehen. Die psychoanalytische Situation evoziert die infantilen polymorph-perversen Szenarien der Patientinnen und Patienten und über Resonanzphänomene auch die des Analytikers oder der Analytikerin. Der leiblich-körperliche Umgang mit der Patientin oder dem Patienten wird inszeniert in der Sprache der Analytikerin oder des Analytikers und in ihren paraverbalen Ausdrucksformen; unbewusst triebhafte, infantil-sexuelle Prozesse schlagen sich in der Wortwahl ebenso nieder wie in der Art zu intonieren. Auf diese Weise stellt der Trieb eine Arbeitsanforderung nicht nur – nach Freud – an den psychischen Apparat dar, sondern auch an die Analytikerin oder den Analytiker.
|12|Abschließend diskutiert Ilka Quindeau drei Gründe für eine Modifizierung der Triebtheorie unter dem Primat des Sexuellen. Als Wissenschaft vom Unbewussten brauche die Psychoanalyse eine solche Theorie, um das Konzept eines dynamischen Unbewussten im Unterschied zum lediglich deskriptiven Unbewussten und damit die Dezentrierung des Subjekts zu begründen. Als Beitrag zu einer Anthropologie liefere die Triebtheorie einen erweiterten Begriff menschlicher Sexualität und konzipiere das sexuelle Begehren als zentrale Antriebskraft menschlichen Verhaltens und Erlebens. Im Sinne einer Sozialisationstheorie ließen sich mit dem Triebkonzept der Leib-Seele-Dualismus überwinden und die Dimensionen des Somatischen, des Psychischen und des Sozialen unter dem Primat des Anderen verbinden.
Bei der Konzeption der Tagung, die diesem Band zugrunde liegt, haben uns einige der Kolleginnen und Kollegen beraten, die mit einem Beitrag in dem Band vertreten sind. Außerdem stand uns von Anfang an Helga Kraus zur Seite. Organisiert wurde die Tagung von Bärbel Kischlat-Schwalm und Gabriele Wilke. Die Drucklegung lag in den Händen von Agnes Katzenbach. Im Campus Verlag betreute Judith Wilke-Primavesi das Projekt. Alle Genannten trugen auf jeweils unverzichtbare Weise zum Gelingen sowohl der Tagung als auch des vorliegenden Buches bei. Wir danken ihnen herzlich.
Frankfurt am Main, im Mai 2005
Ilka Quindeau und Volkmar Sigusch
|15|VOLKMAR SIGUSCH
Seitdem ich zur Geschichte der Sexualwissenschaft arbeite, irritiert mich die erste Fußnote der ersten Abhandlung der Erstausgabe der Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie von Sigmund Freud. Sie lautet: »Die in der ersten Abhandlung enthaltenen Angaben sind aus den bekannten Publikationen von v. Krafft-Ebing, Moll, Moebius, Havelock Ellis, Näcke, v. Schrenk-Notzing [richtig: Schrenck-Notzing], Löwenfeld, Eulenburg, J. Bloch [richtig: I. Bloch] und aus den Arbeiten in dem von M. Hirschfeld herausgegebenen ›Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen‹ geschöpft. Da an diesen Stellen auch die übrige Literatur des Themas in erschöpfender Weise aufgeführt ist, habe ich mir detaillierte Nachweise ersparen können« (Freud 1905: 80).
Welch ein Federstrich! Welch eine »schöpferische« Unverfrorenheit. Der Autor, der bis zu diesem Zeitpunkt kaum als Sexualforscher hervorgetreten war, fertigt auf einen Schlag die Sexualwissenschaft seiner Zeit ab, indem er sie nur gebündelt und pro forma erwähnt und dabei noch zwei Eigennamen falsch schreibt. Kein einziges Werk seiner Vorgänger wird wenigstens durch das Nennen des Titels im Leser wachgerufen.
Es hätte ja nicht unbedingt die Venus Urania (1798) von Friedrich Wilhelm Basilius von Ramdohr mit ihrer Ahnung des Ödipus-Komplexes oder die Psychopathia sexualis (1844) von Heinrich Kaan |16|mit ihrer theoretischen Anbindung eines funktionell-hydraulisch gedachten Geschlechtstriebes namens Nisus an die Phantasie, speziell an furiose Phantasia morbosa sein müssen; und auch nicht Richard von Krafft-Ebings erster sexualpathologischer Aufsatz Über gewisse Anomalien des Geschlechtstriebs oder Charles Lasègues Artikel über Les exhibitionnistes oder Paolo Mantegazzas Buch über die Liebe in deutscher Sprache, die alle 1877 erschienen sind, als Freud (1877a, 1877b) seine ersten wissenschaftlichen Arbeiten veröffentlichte, und zwar über die hinteren Rückenmarksnervenwurzeln von Ammocoetes sowie den Bau der Lappenorgane des Aals.
Aber vielleicht hätte er doch Des aberrations du sens génésique (1880) von Paul Moreau de Tours und Die krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinnes (1886) von Benjamin Tarnowsky, eine Monographie, aus der Krafft-Ebing »geschöpft« hat, sowie das weltweite Novum Archivio delle Psicopatie Sessuali (1896), herausgegeben von Pasquale Penta, nennen sollen. Und wenn auch diese Arbeiten nicht wertgeschätzt worden wären, dann aber doch wenigstens Abhandlungen wie Mantegazzas Gli amori degli uomini. Saggio di una etnologia dell’amore (1886) und Max Dessoirs Zur Psychologie der Vita sexualis (1894) oder Auto-erotism (1898) und The sexual impulse in women (1902) von Havelock Ellis.
Auf jeden Fall hätte der informierte Leser erwarten können, dass die Untersuchungen über die Libido sexualis (1897) von Albert Moll und die Beiträge zur Aetiologie der Psychopathia sexualis (1902, 1903) von Iwan Bloch erwähnt werden – um nur zwei bedeutende Werke von Pionieren der Sexualwissenschaft zu nennen, die Freuds Zeitgenossen waren.
Iwan Bloch wendet sich in seinen Beiträgen von 1902 und 1903 grundsätzlich von Krafft-Ebings (1886) Verständnis der Perversionen ab: Die sexuellen Anomalien seien »als allgemein menschliche, ubiquitäre Erscheinungen« anzusehen und damit als »physiologische«. Diese »Theorie«, welche er »als die anthropologisch-ethnologische der medizinischen und historischen« gegenüberstellt, schränke »das Gebiet der ›Degeneration‹ bedeutend ein« (1902: XIV).
|17|Zuvor war schon Albert Moll theoretisch und geistig weit über das hinausgegangen, was sich Krafft-Ebing und die anderen, von der Morelschen Degeneratioshypothese beeinflussten Sexualpsychopathologen gedacht hatten. Außerdem nahm er sexualtheoretisch etliches von dem vorweg, was sich später Freud und die Psychoanalyse zugute halten werden (vgl. dazu im Einzelnen Sulloway 1982; ferner Sigusch 1995).
Moll erörtert (wie etwas später vor allem auch Havelock Ellis) erklärtermaßen den »normalen Geschlechtstrieb«, über den bisher »fast gar keine eingehenden Untersuchungen veröffentlicht worden sind« (Moll 1897: V). Er hält die »Vererbung« der Heterosexualität und angeborene »inhalterfüllte Triebe« (1897: 100) nicht für eine Selbstverständlichkeit, nimmt eine latente Homosexualität der Normalen und eine latente Heterosexualität der Homosexuellen an (ebd.: 326ff.), plädiert für die Abschaffung des Homosexuellen-Paragrafen (ebd.: 841). Der Geschlechtstrieb, und zwar der »normale« ebenso wie der »perverse« (ebd.: 521f.), setzt sich nach seiner Vorstellung aus zwei entwicklungsdynamischen Teiltrieben zusammen: einem »Detumescenztrieb«, der »als ein organischer Drang zur Entleerung eines Sekrets aufzufassen« sei (ebd.: 94), und einem »Kontrektationstrieb«, der »zur körperlichen und geistigen Annäherung« dränge (ebd.). Moll meint, ein Fortpflanzungstrieb sei beim Menschen »kaum noch anzunehmen« (ebd.: 4). Insgesamt ließen sich die Triebe des Menschen »am ehesten durch die Stammesgeschichte verständlich« machen (ebd.: 522). Ausführlich geht er zum Beispiel auf die Verkümmerung des Geruchssinnes beim Menschen ein (ebd.: 133f., 376ff., 513), eine Frage, die auch Freud (Stichworte: organische Verdrängung und aufgelassene erogene Zonen) sehr beschäftigt hat. Übrigens spricht Moll mit Ernest Chambard (1881: 65) und anderen Franzosen wie Féré und Binet auch schon von erogenen Zentren respektive Zonen (»zones érogènes«, Moll 1897: 93). Und er kennt und würdigt ausführlich sexuelle Reaktionen, Wollustempfindungen und Liebesgefühle von Kindern klinisch-empirisch (z. B. ebd.: 13ff., 45ff.; vgl. auch Moll 1891 und 1909), beschreibt andeutungsweise, was später Ödipuskomplex genannt werden wird (1897: 43ff.).
|18|Ich zitiere: »Neigung zum anderen Geschlecht mit allen Zeichen einer Liebesleidenschaft [kommt] bereits lange Zeit vor der Pubertät [vor]. Es sind mir Fälle bekannt, wo im 5. oder 6. Jahre unzweifelhaft vom Geschlechtstrieb herrührende Neigungen zum anderen Geschlecht auftraten«. Wie »der sexuelle Kontrektationstrieb schon vor der Reife der Genitalien vorkommen kann«, so auch der Detumeszenztrieb, den es schließlich auch beim weiblichen Geschlecht ohne eine dem Samen vergleichbare Absonderung gebe. Empfunden werde »eine Art Wollustgefühl, eine Art Kitzel« an den Genitalien; Erektionen träten »lange Zeit vor der Pubertät« auf, Masturbation werde bereits bei 1 bis 2 Jahre alten Kindern beobachtet (ebd.: 44ff.). Das Besondere ist, dass Moll, eindrucksvoll belesen, nicht nur theoretische Behauptungen aufstellt, sondern alle Behauptungen anhand von Fallvignetten zu belegen sucht.
Kein Wunder also, dass Molls Einfluss auf Freuds sexualtheoretische Vorstellungen und Begrifflichkeiten groß war, wie Sulloway (1982) nicht zuletzt an Freuds heftigen Unterstreichungen in seinem Handexemplar der Mollschen Studie plausibel gemacht hat – von der stammes- und individualgeschichtlichen Dynamisierung der vordem statisch gedachten Libido sexualis, der Verschränkung von Vererbtem und Erworbenem, der Untrennbarkeit von Heterosexuellem und Homosexuellem, dem keineswegs monolithischen, unteilbaren Geschlechtstrieb bis hin zur präpuberalen kindlichen Sexualität von Jungen wie Mädchen.
Doch Freud versagt Moll die Reverenz. Spätestens seit 1905 streiten die beiden mit bösen Worten um ihnen nachweislich nicht zustehende Prioritätsrechte (vgl. insbesondere Sulloway 1982), obgleich sie natürlich beide unter dem Diktat derselben Episteme und eines alles ausrichtenden neuen Diskurses zu agieren hatten. Nach dem Tod Krafft-Ebings 1902 war der Geheimrat Moll, der am Kurfürstendamm in Berlin Praxis und Institut betrieb, die europäische Autorität in sexuellen und klinisch-psychologischen Fragen, zu der die Fürsten pilgerten wie einst zu dem Freiherrn von Krafft-Ebing, den Moll auch insofern beerbte, als er dessen berühmte Psychopathia sexualis vollständig überarbeitet herausgab. |19|Havelock Ellis, informiert und belesen wie nur noch Moll, Bloch und Hirschfeld zu dieser Zeit, ein offensichtlich angenehmer Charakter, der sich nicht wie Moll und Freud in Eitelkeiten und Rivalitäten verwickelte, berief sich in seinem voluminösen Werk auf Moll häufiger als auf alle anderen Experten, Krafft-Ebing, Bloch, Freud und Hirschfeld eingeschlossen (vgl. Sulloway 1982: 416).
Heute ist Moll in den Wissenschaften ein Unbekannter. Angesichts seiner Werke und seiner Verdienste ist das merkwürdig. Schließlich hatte er bereits 1889 das deutschsprachige Standardwerk über den Hypnotismus vorgelegt, das ihn weltberühmt machte, 1891 eine umfangreiche Monografie über die noch Conträre Sexualempfindung genannte Homosexualität, 1897 die erwähnten Untersuchungen über die Libido sexualis, 1902 eine bis heute überaus lesenswerte Ärztliche Ethik veröffentlicht und bereits 1912 ein Handbuch der Sexualwissenschaften herausgegeben. Sehr früh, wenn auch nicht konsequent, ist Moll gegen die herrschende Degenerationslehre zu Felde gezogen, selbst in Sachen Homosexualität. Zusammen mit dem Philosophen Max Dessoir bekämpfte er die Geheimwissenschaften, Mediumismus, Telepathie, Okkultismus, Spiritismus, Hellseherei usw., auch als gefürchteter Sachverständiger in vielen Gerichtsprozessen. Als einer der ersten wollte er Psychologie und Schulmedizin miteinander verbinden, widersprach er immer wieder dem somatischen und kausalen Denken in Medizin und Sexualwissenschaft, anders als Hirschfeld, ganz konkret, beispielsweise, wie ich gezeigt habe (Sigusch 1995), in Fragen der Eugenik oder hinsichtlich der Überpflanzung von »heterosexuellen« Hoden auf homosexuelle Männer.
Nach meiner Kenntnis ist es nicht übertrieben, Moll, den Wegbereiter der von Liébeault und Bernheim ausgehenden »Schule von Nancy« (vgl. Winkelmann 1965; Schröder 1989), als einen der ersten Psychotherapeuten in Deutschland und als den Begründer der Medizinpsychologie in Deutschland zu bezeichnen, der zum Beispiel von 1909 bis 1924 bei Enke eine entsprechende Zeitschrift herausgab, die die Psychoanalyse einschließen sollte. Schließlich hat Moll als erster bewirkt, dass Psychotherapie von Krankenkassen bezahlt wurde, und zwar im Jahr 1919.
So viel zum Verhältnis Freud–Moll. Die Sexualwissenschaft der Zeit wurde aber keineswegs nur von Moll repräsentiert. Andere Sexuologen standen der Freudschen Lehre sehr viel freundlicher und anerkennender gegenüber. So wurden die Drei Abhandlungen positiv von Sexualforschern rezensiert, beispielsweise von Albert Eulenburg (1906), dem akademisch arriviertesten Sexualwissenschaftler, auch wenn psychoanalytische Geschichtsschreiber das Gegenteil behauptet haben.
Besonders wissbegierig war Havelock Ellis, der wesentlich zur Verbreitung analytischen Denkens in den angelsächsischen Ländern beigetragen hat und von Freud insgesamt von allen Sexuologen am häufigsten zitiert wurde. Kritisch aufnehmend reagierten neben Eulenburg mit mehreren Arbeiten vor allem Arthur Kronfeld, der theoretische Kopf des Hirschfeld-Instituts für Sexualwissenschaft, und Iwan Bloch. In einem Brief an Julius Schuster vom 7. Januar 1923, der sich, bisher unpubliziert, im Nachlass Blochs befindet, schrieb aber Freud nach Blochs Tod: »Ich weiß, daß die Wissenschaft an I. Bloch viel verloren hat. Seinen Standpunkt in Sachen der sexuellen Perversionen hatte ich voll angenommen und seine anderen Arbeiten sehr geschätzt. Ich weiß nicht, wie er zur Psychoanalyse stand.«
Persönlich und anhaltend zugeneigt war Max Marcuse, in dessen Werk sich das jedoch kaum niederschlug (vgl. Sigusch, in Vorb.). Doch auch dieses Verhältnis blieb keineswegs ungetrübt, nicht zuletzt, weil Freud selbst auf milde Kritik recht empfindlich reagierte. So wurde er bei Marcuse vorstellig, weil ihm die Rezensionen des mit Marcuse eng verbundenen Berliner Psychiaters Karl Birnbaum in den Sexual-Problemen, für die er, Freud, im Gründungsjahr 1908 zwei wichtige Aufsätze verfasst hatte (Freud 1908a, 1908b), nicht ehrerbietig genug waren (vgl. den Brief Freuds an Marcuse in Nitzschke et al. 1995). Und er sagte, von Marcuse herausgehoben eingeladen, seine Teilnahme an einem der Internationalen Kongresse für Sexualforschung ab, weil sich der mitverantwortliche Moll abfällig über die Psychoanalyse geäußert |21|hätte (vgl. Freud 1926). Zuvor aber schrieb Freud für Marcuses Handbuch der Sexualwissenschaften zwei Beiträge, betitelt »Libidotheorie« und »Psychoanalyse« (Freud 1923a, 1923b). Und als die Zeitschrift für Sexualwissenschaft und Sexualpolitik unter der Regie von Marcuse 1928 den alten »Herausgeberkreis« zu ständigen Mitarbeitern des Herausgebers herabstufte, trat Freud dem neuen Beraterkreis bei. (In einem Brief vom 26. Februar 1996 an mich berichtete Marcuses Sohn Yohanan, die beiden Sexualforscher seien auch in der Emigration verbunden gewesen: Sein Vater habe »den Briefwechsel mit Freud bis zu dessen Tod von Tel Aviv aus fortgesetzt – zwar nur sporadisch und nicht sehr ›intim‹, doch zugleich von gegenseitiger Achtung geprägt«.
Besonders zugewandt war anfänglich auch Magnus Hirschfeld: Er gründete 1910 zusammen mit anderen Sexualforschern und den Analytikern Karl Abraham und Heinrich Koerber die Berliner Psychoanalytische Vereinigung, verließ sie aber (angeblich nach einer Attacke C. G. Jungs, der auf Homosexuelles idiosynkratisch reagierte) bereits 1911 wieder. Vorher wollte er – eine skurrile Geschichte – mit den Wiener Analytikern (vgl. Nunberg und Federn 1976–81, Bd. I: 350ff.), die auch brav diskutierten, einen »Psychoanalytischen Fragebogen« entwickeln. Indem er seine beinahe unveränderte Fassung unter diesem Titel publizierte, gab er erneut zu Protokoll, wie fremd ihm die neue Lehre geblieben war (Hirschfeld 1908). Mit den untauglichen Vereinigungsversuchen Hirschfelds können seitens der Psychoanalytiker, die die Sexuologen – anders als die der Psychoanalyse gegenüber aufgeschlossenen Sexuologen – aus ihren Publikationen heraushielten, allenfalls die Versuche Wilhelm Stekels verglichen werden: Er gab nicht nur Fortschritte der Sexualwissenschaft und Psychoanalyse heraus (vgl. die Ankündigung in der Zeitschrift für Sexualwissenschaft, Jg. 11, S. 128f., 1924), vertrat eine »sexualwissenschaftliche Psychoanalyse« gegen theoretische Spekulation, ohne Libidotheorie, mit Intuition, Geringschätzung des Unbewussten, Hochschätzung des Naturwissenschaftlichen, kurzum mit einem gerüttelt Maß an »gesundem Menschenverstand«, und gründete auch in Wien ein »Wissenschaftlich-humanitäres Komitee«, also dem Namen nach |22|eine Organisation zur Emanzipation der Homosexuellen im Sinne Hirschfelds, beschimpfte Hirschfeld jedoch und ließ nichts mehr in Sachen Homosexuellenemanzipation von sich hören (Herzer 1992).
Freud und Hirschfeld, die beide davon besessen waren, eine »Bewegung« zustande zu bringen oder anzuführen, entschieden immer wieder machtpolitisch und nicht wissenschaftlich. Im Grunde waren ihre entscheidenden Auffassungen unvereinbar: Hirschfeld bestand darauf, dass die Homosexualität konstitutioneller, Freud, dass sie nicht unwesentlich individualhistorischer Natur sei. Trotzdem kooperierten sie, bis die Unvereinbarkeit unüberbrückbar wurde, bis sich die theoretischen, politischen oder persönlichen Differenzen von beiden Seiten nicht mehr übertünchen ließen. Nach Hirschfelds erstem Besuch bei Freud in Wien äußerte sich Freud über ihn sehr positiv, nach dessen Rückzug aus der Berliner Vereinigung sehr negativ. Zum 60. Geburtstag aber schrieb er artig: »Ich habe immer die Ansicht vertreten, daß der Lebenskampf des Dr. Magnus Hirschfeld gegen die grausame und ungerechtfertigte Einmischung der Gesetzgebung in das menschliche Sexualleben allgemeine Anerkennung und Unterstützung verdient« (Freud in Linsert und Hiller 1928: 7).
So arbeiteten also Psychoanalyse und Sexualwissenschaft immer wieder miteinander aneinander vorbei, theoriegeschichtlich spätestens seit Freuds Aufgabe der so genannten Verführungstheorie in den 1890er Jahren, weil er seither für die tonangebende Sexualwissenschaft verloren war (vgl. dazu Clement 1993). Historisch hat sich die Psychoanalyse entlang der Differenz von Unbewusstem und Bewusstem, innerer Phantasie und äußerer Realität, Struktur und Symptom, Erleben und Verhalten, Latenz und Manifestation von der Sexuologie geschieden. Überspitzt gesagt: Die |23|Differenz von Psychoanalytikern und Sexualwissenschaftlern ist der von Normalen, soi disant, und Perversen ganz ähnlich. Die einen halten in der Phantasie, was die anderen tun. Und so sind denn die meisten Psychoanalytiker heilfroh, wenn die wundersame polymorph-perverse Anlage in der Abstraktion bleibt, viele Sexuologen aber sind fasziniert, wenn sich Perverses vielfältig manifestiert.
Hinzu kommt die immanente Distanz der Psychoanalyse gegenüber den Sexualreform- und Emanzipationsbewegungen, überhaupt gegenüber Sozial- und Sexualpolitik. Davon aber war das Erscheinungsjahr der Drei Abhandlungen, jedenfalls in Berlin und Wien, gezeichnet. Insofern ist es sehr interessant, dass der seit der Mitte der 1890er Jahre mit dem Sexuellen theoretisch befasste Freud erst das Wort ergreift, als der kulturelle Furor sexualis, als die erste »sexuelle Revolution« bereits einen Höhepunkt erreicht hatte.
In einer Geschichte des Verhältnisses von Psychoanalyse und Sexualwissenschaft werden die Jahre um 1905 höchstwahrscheinlich als Jahre der Weichenstellung in Erscheinung treten. Einige Ereignisse seien genannt: 1905 wird der Erreger der Syphilis entdeckt, ein Jahr später wird Salvarsan, das erste wirksame Heilmittel, entwickelt. Helene Stöcker initiiert im selben Jahr den »Bund für Mutterschutz«, gründet eine Zeitschrift zur Reform der sexuellen Ethik und schreibt über Die Liebe und die Frauen (1906). Auguste Forel veröffentlicht 1905 seinen Bestseller Die sexuelle Frage, und Alfred Ploetz gründet die »Gesellschaft für Rassenhygiene«. Havelock Ellis publiziert 1905 und 1906 die Bände 4 und 5 seiner Studies in the psychology of sex, erörtert unter anderem Erotic symbolism. Magnus Hirschfeld ist 1905 und 1906 vor allem mit dem Kampf gegen den Alkohol, mit Geschlechts-»Übergängen«, dem »Wesen« der Liebe und der »Lösung« der Frage der Bisexualität befasst.
Zu dieser Zeit, um 1904/05, kommt der Ausdruck »Sexualwissenschaft« auf, den Bloch für sich reklamieren wird. Freud hat übrigens – vielleicht sogar als erster überhaupt – bereits in einem Aufsatz von 1898 beiläufig, aber gezielt von »Sexualwissenschaft« (1898: 498) gesprochen, die leider noch als »unehrlich« gelte. Iwan |24|Bloch veröffentlicht 1907 Das Sexualleben unserer Zeit in seinen Beziehungen zur modernen Kultur, ein Werk, das der fortan »Sexualwissenschaft« genannten Wissenschaftsrichtung ein anthropologischethisches Programm gab. Ein Jahr später gründet Hirschfeld die erste Zeitschrift für Sexualwissenschaft (vgl. dort Freud 1908c) und Max Marcuse die Zeitschrift Sexual-Probleme.
Zuvor aber, im Revolutionsjahr, tritt der vor dem Ligurinusschock stehende Sexualforscher Sigmund Freud auf die Bühne. Das bereits voll installierte Wissenschaftsobjektiv hat einen ungeheuerlichen Strom von Literatur produziert – zwischen 1898 und 1908, schreibt Hirschfeld irgendwo, erschienen mehr als eintausend Arbeiten über Homosexualität –, in dem die Zeichen und Probleme durcheinander schwimmen: Aphrodisie und Anaphrodisie, Instinctus und Piacere, Psychopathia sexualis, Dégénérescence, Fisiologia della Donna, Sens génésique, Neurasthenia sexualis usw., dazu die Venerie, der Malthusianismus, die ledige Mutter, der Mutterschutz, die Prostitution, die Frigidität, die freie Liebe usw. Der geniale Freud aber macht einen Strich unter das epistemologische und sonstige kulturelle Durcheinander und fasst in einem auch grafisch neuartigen, unaufgeregten, leicht lesbaren Stil den bisherigen sexualwissenschaftlichen Forschungsstand auf nur 83 Seiten zusammen. (Manfrau beachte beim historischen Argumentieren jedoch die inhaltlichen Differenzen zu den nachfolgenden erweiterten Ausgaben bis zur Mitte der 1920er Jahre). Moll (1897) hatte für seine »Libido«-Studie das Zehnfache, 872 Seiten und zahllose Fußnoten, benötigt.
Freuds Federstrich, die erste Fußnote der Drei Abhandlungen (vgl. auch Sigusch 2005), erscheint jetzt als ein äußerst geschickter Schachzug, durch den ausufernde Pro- und Kontra-Debatten sowie Richtungsbekenntnisse und -streitigkeiten vermieden werden. Sein Kunstgriff gestattet es ihm, Theoreme, Ausdrücke und Ergebnisse der Sexuologen je nach Belieben zu benutzen. Taugen die Experten einmal nicht als Pappkameraden, ruft er die Laien auf die Bühne: »Es ist ein Stück der populären Meinung über den Geschlechtstrieb, daß er der Kindheit fehle« (Freud 1905: 31) – so beginnt die zweite der Drei Abhandlungen. Durch diese Schachzüge |25|kann Freud immer wieder so tun – »die Wissenschaft gebraucht als solche ›Libido‹« (ebd.: 1); »soll hier als erogene Zone bezeichnet werden« (ebd.: 26) –, als sei er der Entdecker, ein Gefühl, das er offenbar benötigt.
Es kommt aber noch toller. Am Beginn der dritten Abhandlung über die Umgestaltungen der Pubertät heißt es: »Der Sexualtrieb war bisher autoerotisch, er findet nun das Sexualobjekt. Er betätigte sich bisher von einzelnen Trieben und erogenen Zonen aus« (ebd.: 53). Es sprechen also nicht indirekt die Experten oder die Laien und offenbar auch nicht direkt der Autor: Es spricht der Sexualtrieb, der sich betätigt, der findet, der sich verweigert; er ist das Subjekt. Indem Freud unwillkürlich immer wieder das Sexuelle selbst sprechen lässt, bringt er den Furor sexualis der Zeit gewissermaßen auf den Begriff, das heißt auf die Unmittelbarkeit des Sexualobjektivs und die Materialität des Sexualdiskurses.
Ich denke, so betrachtet verwundert es nicht mehr, dass dieses schmale und scheinbar schlichte Werk Freuds im Laufe seiner mehrfachen Fortschreibung bei uns zum einflussreichsten sexualtheoretischen Werk des 20. Jahrhunderts geworden ist. Den enormen Erfolg haben gewiss weitere Abirrungen vom Üblichen bewirkt, die dieses Werk, vor allem in seinen späteren Fassungen und unter Hinzunahme anderer, insbesondere kulturtheoretischer Schriften des Verfassers, auszeichnen: ein Stück philosophische Metaphysik, ein Schuss antidiskursives Denken, gepaart mit einem Schwimmen im Strom des Wissenschaftsobjektivs, das produktive Zusammendenken bisher gegensätzlicher Hypothesen, die Doppelbödigkeit oder Unschärfe vieler Begriffe, die Ambivalenz des Autors in den tabuisierten, schambesetzten Feldern und schließlich die Tatsache, dass eine Gemeinde überzeugter Anhänger die Rezeption vorantrieb.
|26|Beginnen wir mit dem Stück Metaphysik: Selbstvernichtungstrieb, Todestrieb, überhaupt Trieb, Eros und Thanatos, Lustprinzip, das Unbewusste, der Traum – das sind in einer durchrationalisierten Welt die Ingredienzien einer geheimnisvollen, vielleicht sogar transzendentalistischen Lehre, die die »Enge des Kausalbedürfnisses der Menschen«, von der Freud irgendwo spricht, zu sprengen vermag. Solche Theoreme sind geeignet, eine Lehre groß zu machen, weil sie perennierenden Widerspruch erzeugen, nicht mit so genannten objektiven Verfahren widerlegt werden können, weil sie daran erinnern, dass es mehr gibt als die Facta bruta der herrschenden Objektive, dass die Menschen mit ihren Antrieben und Vermögen vielleicht nicht ganz und gar im schlechten Allgemeinen aufgegangen sind, dass etwas quer liegt im Geraden. Affirmative Sexualforscher können doch zählen, messen, skalieren und faktorieren, so lange sie wollen; dem Eros werden sie nie auf die Schliche kommen. Kurzum: Die Theoreme des späteren Freud rufen einen Denkschmerz hervor, den die Theoreme der Krafft-Ebings und Blochs nicht zu produzieren vermochten (Sigusch 2002). Ich denke, das war ihre größte Schwäche. Am Schlaf der Welt haben sie nicht gerührt. Wie sollten sie auch: mit Traitement moral und Stierhodenextrakt?
Freud aber hat am Schlaf der Welt gerührt. Bereits mehr als ein Jahrzehnt vor dem Erscheinen der Drei Abhandlungen hatte er erkannt, dass die autonomen, kritischen und souveränen Subjekte der Bourgeoisie ihr oberstes Ziel, ihre eigene Vernunft, nicht beherrschen konnten. Er sah die »gehemmten Vorsätze« in einer Art von Schattenreich aufbewahrt, in dem sie »eine ungeahnte Existenz« fristeten – »bis sie als Spuk hervortreten« (Freud 1892/93: 15). Solche »dunkelen« Vorstellungen, von denen schon bei Kant (1798: 417f.) die Rede war, als er von den »Vorstellungen« handelte, die wir »haben«, ohne uns ihrer »bewußt zu sein«, solchen Spuk, von dem schon bei Marx (1867) die Rede war, als er seinen Begriff des Fetischcharakters verständlich machen wollte, setzte Freud den erhabenen Idealen, dem freien Willen, der selbstgewissen Vernunft entgegen, von denen die nur fortschrittlichen, aber nicht kritischen Sexualforscher der Zeit durchdrungen waren. Das |27|siegreiche Handeln der Bürger gründete Freud zufolge nicht nur auf Triebverzicht, den die Sexuologen seiner Zeit auch einklagten, sondern ebenso auf Wunschverdrängung und Gedankenhemmung. Bekanntlich behauptete er später, »daß das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus« (Freud 1917: 11). Er nannte das »die dritte Kränkung der Eigenliebe«, die als psychologische der kosmologischen des Kopernikus und der biologischen des Darwin gefolgt sei. Ahnen konnte Freud ebenso wenig wie die alten Sexuologen, dass Adorno (1966) eine vierte Kränkung hinzufügen würde, indem er das Transzendentalsubjekt als bewusstlos erkannte, und dass Foucault (1966: 462) zur selben Zeit darauf wetten würde, »daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand«.
Sodann war die Rede von einem Schuss antidiskursiven Denkens, gepaart mit einem Schwimmen im Strom des Wissenschaftsobjektivs. Vergessen wir nicht: Freud war 20 Jahre lang einer von ihnen, einer, auf den man hört, auch wenn er »wissenschaftliche Märchen« (Krafft-Ebing) erzählt. Er ist höchst erfolgreich im Strom des somatoform-naturwissenschaftlichen Objektivs geschwommen, hingegeben an die Brückners und Meynerts und vor allem an einen wie Fließ, den Mathematiker und Osphresiologen. Als Freud einer von ihnen geworden war, hätte er den Ton in diesen Wissenschaften mit angeben können. Doch er löst sich von diesem Diskurs in einer geradezu übermenschlichen, gigantischen Willensanstrengung, übermenschlich, weil Diskurse – das haben wir von den Neostrukturalisten gelernt – eine alles Abweichende niederwalzende Materialität besitzen.
Während also die Vertreter des Hauptstroms der Sexualwissenschaft, um es altphilosophisch zu sagen, nomothetisch bleiben, das heißt auf der Suche nach einer »objektiv-exakten« Wissenschaft, die sie in der Biologie und ausgerechnet in der Nichtwissenschaft Klinische Medizin finden, bewahren sich die Psychoanalytiker bis heute eine idiografische Haltung, das heißt etwas Intuitiv-Spekulatives wie in den Kulturwissenschaften und der Philosophie – wenn sie nicht von der gegenwärtigen Neuro-Renaissance, |28|die an Freuds Zeiten im 19. Jahrhundert erinnert, überrollt werden oder sich überrollen lassen.
Dann war die Rede vom Zusammendenken bisher gegensätzlicher Hypothesen. Tatsächlich ist es eine der größten und folgenreichsten Denkleistungen Freuds, bereits 1905 bis dahin weitgehend unüberbrückbar erscheinende Gegensätze wie Heredität vs. Umwelt, Biologisches vs. Psychisches, seelische Funktion vs. seelische Störung, Neurose vs. Perversion, Perversion vs. Normalität (nicht aber männliches vs. weibliches Geschlecht und Männlichkeit vs. Weiblichkeit) in ein produktives Verhältnis gesetzt zu haben. Aus heutiger theoretischer Sicht war er ein eingefleischter Essenzialist und zugleich ein überzeugender Konstruktivist – wie ich in dem »Freuds Abschied von der Sexualität« betitelten Abschnitt eines Aufsatzes (Sigusch 1998) zu zeigen versucht habe.