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Die Zeit der Ritter neigt sich dem Ende zu, Gewehre ersetzen Bögen und große Schiffe segeln über die endlosen Weltmeere. Zu jener Zeit findet der Nortmar Leif Torwaldson das kleine Menschenkind Frida. Vom Schicksal auserwählt, reisen sie gen Süden, in die Stadt der Könige. Auf ihrem Weg müssen sie sich Monstern, Piraten und anderen Gefahren stellen. Doch sie sind nicht allein. Ohne es zu wissen, geraten sie in den Zwist zweier verfeindeter Götter. Welche Rolle spielt Frida darin? Und was erwartet sie am Ende ihrer Reise?
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Seitenzahl: 592
Veröffentlichungsjahr: 2018
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„Die Menschen kommen durch nichts den Göttern näher, als wenn sie Menschen glücklich machen.“Marcus Tullius Cicero 106–43 v. Chr.
Frida Die Schlacht um Rii
Die Zeit der Ritter neigt sich dem Ende zu, Gewehre ersetzen Bögen und große Schiffe segeln über die endlosen Weltmeere. Zu jener Zeit findet der Nortmar Leif Torwaldson das kleine Menschenkind Frida. Vom Schicksal auserwählt, reisen sie gen Süden, in die Stadt der Könige. Auf ihrem Weg müssen sie sich Monstern, Piraten und anderen Gefahren stellen. Doch sie sind nicht allein. Ohne es zu wissen, geraten sie in den Zwist zweier verfeindeter Götter. Welche Rolle spielt Frida darin? Und was erwartet sie am Ende ihrer Reise?
Der Jäger
Das Dorf der Nortmar
Ein dummer Name
Albtraum
Der Korsar
Monster
Wolfshafen
Verschwunden
Der Mentor
Heikle Geschäfte
Lichterspiel
Der Gelbe
Das Auktionshaus
Eine neue Ära
Der Rat von Wolfshafen
Aufbruch
Inferno
Erwachen
Der Grüne Hai
Zusammentreffen
Vergessene Zauberkunst
Der Schrecken der Sümpfe
Porta Mola
Trauer
Rache
Der Feind
Billige Pfeile
Der Goldwald
Der letzte Bewohner
Das Goldene Herz
Kaz'carundum
Werke der Vergangenheit
Dunkelheit
Der Sturz
Ein Gemetzel
Prototypen
Das Tor
Glück
Freiheit
Uniformierte
Geschichte
Von Bauern und Adeligen
Die Königsstadt
Wahrheit
Zu Gast
Der Kriegsrat
Katharina Klarwasser
Offizier Leif Torwaldson
Prinz Spartacus Magnus Imperialis
Die Schlacht
Die Königliche Marine
Der alte Feind
Feuer und Salz
Die Geschichte Riis
Entern!
Der Zorn der Ahnen
Gabrielle Galvani
Die Schlacht um Wolfshafen
Frida
Cicero Kalimux
Eine neue Zeit
Epilogue
D er Schnee glitzerte im fahlen Schein der Sterne. Das Nordlicht hüllte den Wald im Tal in ein sanftes Grün. Bis auf das dumpfe Geräusch von Schnee, welcher ab und an von den Ästen der Nadelbäume herunterfiel, war es still. Die Tiere des Waldes schliefen, nur die Augen der Eulen blitzten in der Nacht auf, bevor sie lautlos nach Beute jagten. Die Spuren, die der Jäger verfolgte, waren noch frisch. Nur wenige Schneeflocken hatten sich in den Mulden gesammelt. Etwas war seltsam an den Spuren, sie waren zu groß und zu tief. Bei einem Bären wären sie kleiner gewesen, selbst für ein größeres Exemplar.
Sein Blick schweifte durch das dichte Unterholz.
Langsam stapfend bahnte er sich einen Weg durch den Schnee. Mit jedem Schritt schlug der Helm an seinem Gürtel gegen sein Beinkleid aus Leder. Für gewöhnlich war dieses Geräusch kaum hörbar, doch in der Stille der Nacht tönte es wie ein heller Glockenschlag. Trotz der klirrenden Kälte trug er lediglich einen Umhang und unter dem Harnisch ein Hemd aus Hirschleder. Die grünen Augen blickten weiterhin in die schwarz-weiße Leere. Der leichte Schneefall wurde immer stärker, beißender Wind verfing sich in dem wallenden, roten Bart. Die Sicht wurde zunehmend schlechter, doch er durfte das Tier nicht verlieren. Es streifte schon lange durch die dichten Wälder der Weißen Berge, riss Wildtiere und ließ die Kadaver einfach verrotten; Hirsche, Wildschweine und Auerochsen. Die Tiere waren meist wild entstellt, das Fleisch und Fell in Fetzen gerissen, die Knochen zertrümmert – das war nicht normal.
In diesem Teil der Welt herrschte eine unausgesprochene Regel: Jeder nahm sich nur das, was er zum Leben benötigte. Sowohl Nortmar als auch Tiere hielten sich daran.
Was immer es auch war, es war kein normaler Bär. Es war zu groß für einen Höhlenbären. Und selbst wenn es einer wäre, würde ein Höhlenbär niemals so lange in den Wäldern herumstreifen. Die Ältesten hatten ihn ausgewählt, das Tier zu erlegen, bevor es noch mehr Schaden anrichten konnte. Drei Tage verfolgte er es nun ununterbrochen. Seine Beine waren müde und wurden stündlich schwerer. Der Magen knurrte gefährlich, da das getrocknete Hirschfleisch, welches der Jäger mitgenommen hatte, zur Neige ging. Bei dieser Jagd war alles anders. Es war nicht so, als würde man einen Hirsch oder ein Wildschwein jagen. Er konnte diese allgegenwärtige Spannung förmlich fühlen. Es war viel zu ruhig, selbst für eine Nacht wie diese. Mittlerweile waren keine Tiere mehr in der Nähe. Selbst die Eulen waren verschwunden.
Der Jäger hielt sich die Hände vor das Gesicht, da das Wetter zu einem Schneesturm umschlug. Wo eben noch Sterne und das Nordlicht glänzten, waren nun dichte Wolken zu sehen. Selbst für das spontan wechselnde Wetter der Berge war das nicht üblich. Der eisige Wind peitschte ihm ins Gesicht und es wurde noch kälter. Aber das machte dem Nortmar nichts aus. Nortmar waren immun gegen Kälte. Sie waren größer als normale Menschen, im Durchschnitt maßen sie fast drei Meter. Auch ihr Haarwuchs war üppiger, die Männer trugen meist lange, geflochtene Bärte. Der Kraftunterschied war jedoch am größten. Man sagte, einer sei so stark wie zehn erwachsene Männer gewesen und wenn ein Nortmar wütend war, konnte er sogar tief verwurzelte Bäume ausreißen.
Seit Jahrhunderten gab es keinen Kontakt mehr zwischen ihnen und anderen Völkern. In den alten Legenden, welche die Skalden erzählten, hieß es, dass sie früher ein großes Volk waren. Sie behausten gigantische Städte auf den verschneiten Bergen, ihre Festungen suchten ihresgleichen, kein Gegner konnte ihnen das Wasser reichen. Ihre Kunst der Metallverarbeitung wurde nur von den altehrwürdigen Zwergen übertroffen. Der Boden bebte unter den Stahlstiefeln ihrer Krieger. Sie waren wie eine Naturgewalt, unaufhaltsam. Die Feuer in ihren Hallen erloschen nie. Goldener Met floss in Strömen und die Gelage dauerten oft mehrere Monate.
Doch all das war lange her. Von den Bauten und Werken der Ahnen blieben nur noch Erinnerungen. Das antike Wissen war ebenso spurlos verschwunden, wie die Alten selbst. Heute war von dem großartigen Volk aus der Vergangenheit nur noch ein kleines Dorf und eine Handvoll Einsiedler übrig, die über das ganze Gebirge verstreut lebten.
Der Jäger kannte all die alten Legenden.
Der Wind begann stärker zu wehen. Es wurde schlagartig kälter, ein metallischer Duft juckte in der Nase des Nortmar. Die Luft knisterte leise und war erfüllt von einer seltsamen Energie.
„Magie …“, hauchte der Jäger kaum hörbar und wurde etwas langsamer. Das war unmöglich. Die Einzigen, die in diesen Bergen Magie wirken konnten, waren die ältesten Schamanen. Doch diese waren weit entfernt, in seinem Dorf.
Das Schneetreiben wurde immer dichter, der metallische Geruch verflog langsam. Er war verwirrt. Was beim Wolf jagte er? War es überhaupt ein Tier? Oder war es ein Dämon, geschickt von der Düsternis, um Chaos auf die verschneiten Gipfel der Weißen Berge zu bringen? Ein wenig abgelenkt stapfte er weiter durch den tiefen Schnee. Der Jäger fühlte sich beobachtet – als wäre er der Gejagte. Plötzlich erblickte er ein Licht im dichten Schneegestöber, nur wenige Meter von ihm entfernt. Schneller bahnte er sich einen Weg durch die Kälte. Und auf einen Schlag verlor er den Boden unter den Füßen.
Langsam öffnete er die Augen. Der Jäger war in eine große Mulde aus harter, gefrorener Erde gefallen. Kein Schnee bedeckte den Boden, die Bäume rundherum waren kahl und beugten sich von der Mitte weg. Keine Wolke war am Himmel zu sehen und es schien fast so, als würden die beiden Monde direkt über der Mitte schweben. „Was, bei der allwissenden Eule, ist hier passiert?“, flüsterte er.
Der Jäger ließ seinen Blick über die Mulde schweifen. Etwas schien in der Mitte auf dem Boden zu liegen. Etwas sehr Kleines, gerade mal so groß wie ein junger Bär. Was es auch war, es war farblich kaum vom Boden zu unterscheiden.
Er war härter gelandet als erwartet. Mit einem leisen Stöhnen stand der Jäger auf, nahm zögernd die beiden Bronzeäxte von seinem Gürtel und ging vorsichtig auf das Etwas zu. Die Klingen des polierten Metalls glänzten im Schein der beiden Monde. Mit jedem Schritt knirschte der gefrorene Boden unter seinen Stiefeln. In der Luft herrschte eine solche Spannung, dass es sich anfühlte, als könnte der Jäger sie mit der Axt zerschneiden.
Er kam dem Bündel immer näher. Es war weiterhin viel zu ruhig. Der Nortmar verspürte keine Angst, dieses Gefühl gab es in seinem Universum nicht. Endlich war er angekommen. Vorsichtig kniete er sich nieder und beugte sich über das Bündel. Es strahlte eine ungewöhnliche Wärme aus und war mit einem dreckigen Laken bedeckt. Zögernd ließ er seine Hand über dem Laken schweben, dann packte der Jäger das warme Stück Stoff und riss es in die Luft. Große, stahlblaue Augen starrten ihn angsterfüllt an. Vor ihm lag zitternd ein Menschenkind! Wie war es hierhergekommen? Verdutzt blickte er in die Augen des kleinen Kindes. Es lag da und wimmerte, nackt und zitternd, die Augen fixiert auf den hünenhaften Jäger. Dann öffnete es langsam den Mund.
„Wo … wo bin ich?“, brachte es zitternd hervor. Die Stimme war schwach und heiser. „Wer … wer bist du?“
Wortlos starrte der Jäger das Mädchen an. Es war klein und reichte ihm gerade mal bis zu den Knien. Wie alt die Kleine wohl war? Er konnte es nicht sagen. Das Kind starrte ihn noch immer ängstlich an. „Du bist in den Weißen Bergen. Ich bin Leif Torwaldson, Jäger der Nortmar!“, sagte Leif stolz. Seine Stimme war tief und erinnerte an das Brummen eines Bären. Tief, aber herzlich. „Und wie ist dein Name?“ Er war verwirrt. Was hatte sie hier zu suchen?
Statt einer Antwort bekam Leif nur einen Schrei zu hören. Das Menschenkind zeigte auf den Rand des Kraters. „Es … es ist wieder da!“
Blitzschnell drehte sich der Jäger um und erhob sich, die Hände fest um die dicken Eichenstiele seiner Äxte geschlungen. Da sah Leif es. Am Waldrand funkelte ihn ein Paar gelbe Augen an. In ihnen sah er blinden Zorn und Wut. Es waren die Augen von etwas Bösem, sie schrien förmlich nach Zerstörung und Tod. Leif konnte diese Augen keinem ihm bekannten Tier zuordnen. Nie zuvor hatte er so etwas gesehen.
Plötzlich sprang es in das grünliche Licht des Kraters. Es war riesig, mindestens einen Kopf größer als Leif. Das Monster hatte den Kopf eines Wolfes, mit Zähnen so lang wie Dolche. Sein Gesicht war gezeichnet mit wulstigen Narben, der Körper war massig, wie der eines Bären, doch das Fell tiefschwarz. Es glänzte nicht einmal im Licht der Sterne. Es war, als würde es das Licht einfach aufsaugen. Die Pranken ähnelten denen eines Bären und waren so groß wie Leifs Kopf. Die Klauen waren so lang wie seine Hand und so scharf wie frisch geschliffener Stahl. Gefrorenes Blut klebte an der Schnauze des Monsters, dampfender Geifer rann dem Biest aus dem Maul.
Kurz zögerte der Nortmar, doch dann stürmte er mit einem tiefen Kriegsschrei auf das Monster zu. Mit der schweren Axt in seiner rechten Hand holte er aus und zielte auf den Kopf.
Doch Leif traf nicht.
Es hatte ihm einfach mit seinen Pranken die Axt aus der Hand geschlagen. Ein brennender Schmerz durchdrang sein Handgelenk. Das Biest war stark. Langsam umkreiste es ihn.
„Komm nur her, du Mistvieh!“, schrie er aus tiefster Seele. Leif machte eine herausfordernde Geste. Er blickte in die gelben, gierigen Augen.
Das Monster zögerte nicht und tat, wie ihm befohlen. Mit einem Satz sprang es auf Leif zu. Diesmal musste er mit der Axt in seiner Linken ausholen. Doch der Jäger hatte einen Plan, eine Finte. Während das Ungetüm wieder versuchen würde, seine Axt zu treffen oder auszuweichen, würde er ihm mit seiner massigen Faust direkt auf den Schädel hauen. Seine Axt sauste mit einem Zischen auf das Monster zu. Dieses achtete nur auf die Axt und bemerkte nicht die Faust, die auf es zuraste. Sein Plan ging auf.
Wie ein Felsbrocken donnerte die Faust des Nortmar auf den Schädel des seltsamen Tieres und schleuderte es zur Seite. Es war, als hätte er auf massives Gestein geschlagen. Der Jäger versuchte, den Schmerz abzuschütteln. Leif musste sich schnell seine andere Axt zurückholen, ansonsten würde es schlecht für ihn aussehen. Er erspähte das im Licht glänzende Blatt der Waffe. Schnell spurtete er dorthin und packte sie.
Gerade rechtzeitig. Das Monster war aufgestanden und schüttelte verwirrt seinen Kopf. Anscheinend war es nicht gewohnt, Schläge zu kassieren. Der Jäger lachte kurz auf, obwohl er wusste, dass er es nur wütender gemacht hatte.
Wie ein Blitz stürmte es auf Leif zu und gab ein schreckliches Brüllen von sich. Er holte mit der Rechten aus und schleuderte die schwere Bronzeaxt auf das Monstrum. Sie traf ihr Ziel und blieb in der Schulter stecken.
Doch es war kein langer Moment der Freude. Der Angriff hatte den Ansturm der Bestie nicht verlangsamt. Mit voller Wucht prallte es auf Leif und riss ihn von den Beinen. Er ließ die Axt los und landete schmerzhaft auf dem Rücken. Das Gewicht des Tieres, welches nun auf seiner Brust lag, presste ihm die Luft aus der Lunge. Es richtete sich auf, der warme Speichel tropfte Leif ins Gesicht. Sein Atem roch nach Tod und Verwesung. Angewidert drehte er den Kopf zur Seite. Mit der linken Pranke holte es aus und schlug auf Leifs Brust. Der Nortmar versuchte, das Tier nach oben zu stemmen, und nahm dem Angriff dadurch ein wenig seiner Stärke. Die langen Klauen zerschnitten den Harnisch, als wäre er aus Butter und hinterließ auf seiner Brust fünf rote Striemen. Sie waren nicht sonderlich tief, doch brannten wie Feuer. Verzweifelt versuchte er, den Schädel des Monsters zu packen, und griff dabei direkt in sein Maul. Die Zähne des Wesens schnitten tief in seine Hände. Mit aller Kraft versuchte Leif, den Kiefer des Monsters nach unten zu drücken.
„Stirb, du von den Geistern verlassenes Wesen!“ Er riss den Kopf der Bestie mit voller Kraft zur Seite. Ein lautes, scharfes Knacken erklang und das Monstrum fiel mit einem dumpfen Donnern zur Seite. Keuchend lag der Nortmar am Boden und seufzte erschöpft. Seine Hände brannten wie Feuer und bluteten stark. Auch die Wunde auf seiner Brust brannte fürchterlich.
Da fiel ihm wieder das Menschenkind ein. Ungeschützt vor der klirrenden Kälte lag es noch immer dort. Leif griff nach seiner Axt, welche neben ihm lag. Schmerzen schossen durch seine verwundete Hand, dann stand er mit einem klagenden Stöhnen auf. Er zog die andere Axt aus der Schulter des toten Monsters. Der Schmerz, der dabei seine Hand durchströmte, war unerträglich.
Dann eilte der Nortmar wieder in die Mitte. Das Mädchen hatte das Bewusstsein verloren, doch trotz der Kälte war es noch angenehm warm. Leif wusste, dort hatte Magie seine unnatürlichen Finger im Spiel. Der Jäger nahm seinen schweren Umhang aus Wolle ab und wickelte das Kind darin ein. Der Stoff saugte sich mit dem Blut seiner Hände voll. Er musste es zur Ältesten bringen, vielleicht wusste sie, was es mit diesem Menschlein auf sich hatte. Leif ignorierte die brennenden Wunden, nahm das Kind wie ein Bündel Reisig unter den Arm und lief wieder in das Dunkel des Waldes, zurück in sein Dorf.
Nach zwei Tagen war Leif endlich im Dorf der Nortmar angekommen. Das kleine Dorf Norstatt war einer der letzten Sammelpunkte dieser Rasse. Es bestand aus einundzwanzig Hütten und drei Langhäusern, von denen eines dem Jarl und seiner Familie, und eines den Ältesten gehörte. Das dritte wurde als gemeinschaftliches Lagerhaus genutzt. Im umliegenden Gebirge lebten ein paar Einsiedler, doch diese ließen sich nur äußerst selten hier blicken.
Für einen Außenstehenden musste es dort primitiv wirken, doch für Leif war es sein geliebtes Zuhause. Er liebte die Dächer aus den Zweigen der großen Tannen, welche selbst fünf Jahre nachdem man sie abgeschnitten hatte, noch in einem satten Grün strahlten. Das Licht von Lagerfeuern, welches durch die kleinen, mit Leder bespannten Fenster schien und den Geruch nach geräuchertem Fleisch und Fisch, gemischt mit dem satten Honigduft des Mets, der im Dorf herrschte.
Während er durch den nassen Schnee stapfte, grüßte Leif freundlich alle, die ihm begegneten. Sein Freund Ganbi Wolfsauge befiederte gerade ein paar neue Pfeile und winkte lächelnd zurück. Der alte Egil bemerkte ihn nicht, da er mit seinem Weib stritt, und die stämmige Greta Snorridottir bot ihm an, er solle doch später noch vorbeikommen und sich ein Stück Auerochsenfleisch abholen.
Als der Jäger den Waldrand erreichte, setzte er sich auf einen alten Baumstumpf. Hier dachte Leif gern nach. Und in letzter Zeit gab es viel zum Nachdenken. Es war ihm immer noch ein Rätsel, wie er diese Reise überlebt hatte.
Schon als er das kleine Mädchen entdeckt hatte, war er erschöpft gewesen, und der Kampf gegen das Monster kam ihm nun wie ein seltsamer Traum vor. Es war schwer zu erklären, doch irgendwie hatte ihm das Menschenkind Kraft gespendet, Energie, um den anstrengenden Weg zu schaffen. Als Leif schließlich vollkommen erschöpft in Norstatt angekommen war, hatte seine Wunde schon zu eitern begonnen. Nachdenklich betrachtete der Jäger den Verband an seinen Händen und griff sich dann an die verarztete Brust.
„Das wird wunderbare Narben geben, Leif.“ Sif, die Schamanin, stand plötzlich neben ihm. Die Nortmar war fast fünfzehn Winter jünger als er und reichte dem Jäger bis zum Kinn. Ihre bernsteinfarbenen Augen glänzten ihn heiter an.
„Da hast du recht. Dieser Kampf wird mir mehr Ruhm und Respekt verschaffen. Die Narben sind das Zeichen eines schweren Kampfes.“
Sif kicherte. „Ihr Männer und euer Ruhm! Erzähl mir doch noch einmal, was genau passiert ist.“
Leif seufzte leise und fasste sich an den Nasenrücken. „Wie oft denn noch? Ich habe es dir und dem Rat schon fünfmal erzählt. Beim Vielfraß, ich werde es dir nicht noch mal erzählen.“
Beleidigt verschränkte die Frau ihre Arme vor der Brust und schaute ihn vorwurfsvoll an. „Dann lass es sein, Torwaldson. Ach, übrigens, die Ältesten schicken mich. Das Menschenkind, welches du vor einer Woche hierhergebracht hast, ist aufgewacht.“
Leif zog eine Augenbraue hoch. „Danke.“
Er musterte Sif noch einmal. Sie war wahrlich eine Schönheit: Ihr langes, kastanienbraunes Haar hing ihr bis zum Hintern hinab und war zu einem dicken Zopf geflochten. Ihr Körper war schlank und athletisch, trotzdem hatte sie einen üppigen Busen.
Die Nortmar blickte ihn an und grinste. „Anstatt nur so dumm zu gaffen, könntest du mich auch mal auf einen Spaziergang zum See einladen“, sagte sie und verschwand im Wald, ohne noch einmal zu Leif zurückzusehen.
Die jungen Schamanen verbrachten viel Zeit in den Wäldern. Sie lernten, welche Pflanzen welche Wirkung hatten und versuchten, eins mit der Tierwelt zu werden. Keiner der Jäger und Jägerinnen war jemals bei einem ihrer Rituale dabei gewesen, weshalb die buntesten Gerüchte entstanden. Doch Leif wusste, dass die Geschichten von spezieller „Tierliebe“ und Blutopfern alle Humbug waren. Die Antwort war trotzdem geheim.
Die Kunst der Magie wurde den Schamanen allerdings erst im hohen Alter beigebracht. Die Magie der Nortmar war eins mit der Natur, so wie das Volk selbst. Sie besaß keine zerstörerische Kraft wie die der Menschen. Sie vereinte und reinigte. Leifs Vater, Torwald, war Schamane gewesen. Er hatte ihm viel erzählt, denn sein Plan war es, dass auch er ein Schamane wie sein alter Herr würde. Der Jäger grinste, er kam doch mehr nach seiner Mutter.
Langsam verschwand die Abendsonne hinter den verschneiten Bergen und färbte den Schnee an den Hängen in ein warmes Orange. Bald würden die beiden Monde am Nachthimmel stehen. Wie viele Tage es wohl noch dauerte, bis sie sich trafen?
Er freute sich auf diesen Tag. Der Tag der Zwillingsmonde wurde mit einem großen Fest gefeiert. Die Jäger erzählten sich ihre Geschichten und tranken becherweise Met. Zudem wurde an diesem Tag der Jarl gewählt. Der Jarl war das Oberhaupt des Dorfes, er wurde unter den stärksten und erfahrensten Jägern auserwählt. Dieses Mal würde auch Leif antreten. Der Tod des Monsters hatte ihm viel Respekt eingebracht. Das Dorf brauchte einen Anführer, zumal Norstatt momentan keinen hatte. Jarl Oleif Asgeirson war am Anfang des Frühlings bei einer Jagd in eine Gletscherspalte gestürzt – ein unehrenhafter und grausamer Tod, aber so waren die Weißen Berge.
Leif erreichte das Langhaus. Über der Tür hing eine prächtige Schnitzerei eines Hirschkopfes. Das Geweih stammte von einem echten Zwölfender. Der Jäger schob die Laken, die als Tür fungierten, zur Seite und trat in das warme, nach Kräutern riechende Langhaus. In der Mitte knisterte ein Feuer vor sich hin. Der Boden bestand aus dunklen Schieferplatten und die Wände aus massiven Baumstämmen. Nahe dem Feuer saßen vier alte, in Felle gehüllte Nortmar.
„Da bist du ja, Leif! Die Ältesten warten schon!“ Brogar, der massige Schamane, klopfte ihm auf die Schulter. Er war fast einen Kopf größer als Leif.
Langsam ging der Jäger auf die alten Nortmar zu. Zwischen ihnen erkannte er das Menschenkind, eingewickelt in ein Hirschfell. Die langen, blonden, fast weißen Haare schienen im flackernden Licht des Feuers zu leuchten.
„Sie wollte erst reden, wenn du da bist, Leif“, sagte einer der Ältesten.
Leif nickte und kniete sich vor dem Mädchen hin. Sie war gerade mal so groß wie ein Neugeborenes, alles in diesem Raum musste ihr gigantisch vorkommen. „So, Mädchen. Geht es dir gut?“
Sie nickte nur.
„Wie ist denn dein Name?“
Das Kind hob leicht den Kopf und sprach mit zittriger Stimme: „Ich … ich weiß es nicht!“
Leif massierte sich wieder genervt den Nasenrücken. „Weißt du, wie du hergekommen bist?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Na toll, wir haben hier ein Menschenmädchen, das mitten in den Bergen aufgetaucht ist und nicht weiß, wer sie ist und woher sie kommt. Sollen wir sie jetzt etwa aufziehen und so tun, als wären wir ihre Familie?“ Genervt wandte sich der Jäger zu den Ältesten. Seine tiefe Stimme ließ die Kleine erschauern. „Ich spiele sicher nicht den Ziehvater für das Ding!“
Niemand sagte ein Wort. Wieder fiel Leifs Blick auf die Kleine und dann zurück auf die Ältesten. Eine Schamanin erhob sich – es war Skada. Obwohl es keine offizielle Hierarchie innerhalb der Schamanen gab, hörte jeder auf sie. Skada war eine alte Nortmar, das Haar war silbern und die Falten hingen tief in ihrem Gesicht. Niemand im Dorf wusste genau, wie viele Winter sie bereits erlebt hatte, aber jeder wusste, dass Skada die älteste Nortmar im Dorf war.
„Das Kind strahlt starke arkane Energie aus. Ich fühle es tief in meinen Knochen. Als sie hergeschickt wurde, war eine starke, zerstörerische Macht am Werk!“
Die Stimme der Ältesten sorgte jedes Mal dafür, dass Leif ein kalter Schauer über den Rücken lief. Aber dass dieses kleine Lebewesen eine Gefahr für sie darstellen würde? Nein, das konnte der Jäger nicht glauben.
„Ich weiß, was du denkst, Leif. Doch wir müssen sie aus unserem Dorf bringen. Du musst sie aus unserem Dorf bringen! Weit im Süden, in der Stadt, die die Menschen Königsstadt nennen, gibt es viele Menschen, die mehr über diese Energie wissen als wir. Du wirst sie dorthin bringen, Leif Torwaldson!“
Leif knirschte mit den Zähnen. Er durfte der alten Nortmar nicht widersprechen. „Aber warum ich? Kann das nicht einer der Jüngeren machen?“
Skadas milchige Augen blitzten böse unter ihrer Kapuze hevor. „Als du sie gefunden hast, wurden dein und ihr Schicksal unweigerlich miteinander verwoben! Wenn du sie nicht sicher in die Königsstadt bringst, wird dein Geist niemals in die Hallen der Ahnen gelangen.“
Der Jäger war geschockt. War das sein Schicksal? Ein menschliches Gör in den Süden zu bringen? Nichts war daran ruhmreich. Das war kein schwerer Kampf oder eine Aufgabe, für die es sich zu sterben lohnte. Er versuchte, Skadas durchdringendem Blick zu widerstehen. Was, wenn das Kind wirklich eine Gefahr für das Dorf darstellte? Leif wäre schuld. Grübelnd strich er über seinen Bart. „Nun gut! Wenn ihr meint, dass das mein Schicksal ist, dann werde ich die Kleine in den Süden bringen. Zur Stadt der Menschen!“
Alles schwieg, erdrückende Stille war in den Raum gekehrt. Nur das Knistern des Feuers und das Pfeifen des abendlichen Bergwindes waren zu hören. Doch dann zerstörte etwas diese Stille.
„Die Königsstadt … Ich … ich kenne diesen Ort!“
Erstaunt blickten alle auf das Mädchen.
„Ist diese Stadt dein Zuhause?“, fragte eine Älteste zärtlich.
„Ich … ich weiß es nicht. Mein Kopf tut so weh!“ Das Kind stöhnte und hielt sich die Hände an den Kopf.
Die alte Skada stand auf und legte ihre knochigen Hände auf den Schädel des Menschen. Ihre Hände waren so groß, dass sie den ganzen Kopf umschlossen. Ein leises Knistern erfüllte die Luft, dann hörte das Kind auf zu stöhnen und schlief ein.
„Nun, Leif. Du wirst in zwei Tagen aufbrechen, noch bevor die Sonne aufgeht. Bring das Kind sicher nach Süden und komm wohlbehalten zurück. Schütze das Dorf und erfülle deine Aufgabe!“
Leif nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte, doch am liebsten hätte er geschrien! Die Reise in den Süden dauerte viel zu lange, er würde die Jarlwahl verpassen.
Wortlos erhob er sich und verließ wütend das Langhaus.
Skada saß gedankenverloren im Langhaus. Das Feuer war heruntergebrannt, die anderen Schamanen schliefen schon. Etwas verschloss sich ihrem Blick.
Etwas war faul an dieser Geschichte. Woher kam das Mädchen? Warum kam es hierher? Noch einmal versuchte sie, in Leifs Zukunft zu blicken. Sie richtete ihre ganze Konzentration auf die schwelende Glut des Lagerfeuers. Das Leuchten wurde stärker, dann wieder schwächer. Der Wechsel des Lichts erhellte den Raum sanft und ließ die Schatten tanzen. Neue Kohle glühte auf und verschwand wieder. Dann, ganz plötzlich, hörte die Kohle auf zu glühen. Skada atmete erschöpft aus.
Etwas blockierte sie. Es war ihr nicht möglich, alles in Leifs Zukunft zu sehen. Doch seine Reise würde anders verlaufen, als er es sich vorstellte. Etwas Großes war hier am Werk und sie alle waren nur eine kleine Flamme darin. Selbst die Geister konnten ihr nicht helfen. In all ihren Jahren hatte Skada so etwas noch nie erlebt. Was würde nur passieren? Dann schloss sie die Augen und schlief erschöpft ein.
D ie Sonne war bereits aufgegangen und ließ die schneebedeckten Berggipfel glitzern. Leif stieg den schmalen, von kurzem Gras gesäumten Pfad hinab. Gundarr, der Schmied, hatte seine Äxte neu geschliffen und seinen Harnisch repariert. Er hatte sich genug Trockenfleisch und ein paar Seidel Wasser mitgenommen, von den Ältesten hatte er etwas Gold erhalten. Dem Mädchen hatten sie die Kleidung von Kleinkindern gegeben, um sie warm zu halten.
Der Jäger hatte das Menschenkind in seinem Rucksack verstaut, nur der Kopf lugte hervor, eingewickelt in ein Laken aus Wolle. Diese Menschen frieren einfach viel zu leicht, dachte Leif.
Der Abschied war schnell und heimlich verlaufen. Nur seine Freunde Ganbi, Hjörtur und Sif hatten sich von ihm verabschiedet. Die alte Skada hatte ihn mit dem Zeichen des Luchses gesegnet, um ihm eine sichere Reise zu ermöglichen.
Er würde sein Dorf vermissen.
Leif war nun schon mehrere Stunden unterwegs und die Schneefelder um ihn herum wurden kleiner. Der Ausblick von hier aus war wundervoll. Vor ihm lag ein enges Tal, dessen Hänge mit dichtem Wald bewachsen waren. Ein kleiner Fluss bahnte sich seinen Weg durch das dichte Geröll am Talboden und verschwand tosend in einer engen Klamm. Hinter jener Klamm waren schon die grünen Weiten des Flachlandes zu erkennen.
Dort würde auch die erste Stadt der Menschen liegen.
Als Leif ein kleiner Junge war, hatte ihm ein Jäger einmal erzählt, dass er die Stadt von Weitem aus gesehen hatte.
Die Stadt am Fluss sei größer als alles, was er je gesehen habe. Norstatt sei im Vergleich dazu ein Häuflein Nichts.
Er beschrieb unzählige Rauchschwaden, die von den Häusern aus in den Himmel stiegen, und erzählte von Dächern aus Kupfer, welche im Licht der Sonne rot glühten. Der Fluss mündete in einen schier endlosen See und vor der Stadt wuchs ein dichter Wald, bestehend aus kahlen Bäumen.
Es würde noch einige Zeit dauern, bis Leif dort ankam, und so großartig diese Geschichten auch klingen mochten, er freute sich keineswegs darauf. Nie hatten Nortmar mit den Menschen Kontakt. Seit über Hundert Jahren hatte keiner mehr einen Fuß in eine Menschenstadt gesetzt. Sein Kommen würde großen Tumult verursachen. Aber er musste in diese Stadt. Er brauchte eine Karte oder eine Wegbeschreibung, ansonsten würde selbst er sich verirren.
Die Geister konnten es nicht gut mit ihm meinen. Solch eine Aufgabe war doch wohl ein Scherz? Eine Kindesdirne für ein kleines Mädchen spielen und sie nach Hause bringen. Wenn das nur seine Mutter miterleben könnte. Sie würde sich zu Tode lachen.
„Wo sind wir denn gerade?“ Das Mädchen war aufgewacht.
„Auf einem Pfad Richtung Süden“, antwortete Leif genervt.
„Warum stecke ich in einem Rucksack?“ Sie strampelte ein wenig und versuchte, sich etwas Platz zu verschaffen.
„Weil du, wenn du schläfst, nicht gehen kannst. Ganz einfach.“
„Nun bin ich doch wach, hol mich hier raus!“, sagte sie etwas eingeschnappt.
Der Jäger blieb stehen und setzte den Rucksack unsanft auf dem Boden ab. Zum Dank erhielt er einen schmerzhaften Ton des Mädchens. Dann holte er sie heraus und stellte sie auf den Boden. „Zufrieden, kleines Mädchen?“
„Ich bin nicht klein! Und ja, viel besser!“
Leif grunzte nur und schulterte seinen Rucksack wieder.
Mit großen Augen betrachtete die Kleine das Bild, das sich vor ihr erstreckte. „Wunderschön“, hauchte sie. „Ist es noch weit bis zur Königsstadt?“
Leif zuckte nur mit den Schultern und ging weiter.
Das Kind versuchte hinterherzuspurten. „Nicht so schnell! Ich kann nicht so schnell gehen wie du, ich bin kein Riese.“
Aber eine riesige Nervensäge, dachte Leif, seufzte und ging etwas langsamer.
„Weißt du eigentlich, wie mein Name ist?“, fragte ihn die Kleine und blickte sich mit funkelnden Augen um.
„Nein, den kenn ich nicht.“
„Aber ich brauche doch einen Namen.“
„Gut, dann heißt du ab jetzt Kleine“, antwortete Leif.
Eine dicke Ader bildete sich auf seiner Stirn.
Der Mensch blieb stehen und verschränkte seine Arme.
„Der gefällt mir aber nicht!“
Nun blieb auch Leif stehen und drehte sich um. Seine Augen funkelten das Mädchen böse an. „Na gut“, knirschte er, „wie möchtest du denn gern heißen?“
Die Kleine tippte sich mit dem Zeigefinger auf ihre Lippen und grübelte. „Ich möchte … ich möchte … ähm …“ Der Jäger massierte sich die Schläfen.
„Ich hab’s! Ich möchte Frida heißen!“ Sie grinste breit.
„Frida? Wirklich? Etwas Besseres fällt dir nicht ein?
Nun gut … dann nenne ich dich ab jetzt Frida. Können wir weiter?“
Das Mädchen nickte und wiederholte immer wieder ihren Namen. Womit hatte Leif das nur verdient?
Die beiden gingen eine halbe Stunde, da stöhnte Frida schon wieder. Der Jäger versuchte, es zu ignorieren, doch sie stöhnte erneut, dieses Mal lauter und genervter. Leif drehte sich um. „Was ist los mit dir?“
„Ich bin müde, können wir nicht eine Pause machen?“, fragte sie und atmete erschöpft ein und aus.
„Du bist doch gerade erst aus meinem Rucksack raus, wir haben noch nicht einmal den Talboden erreicht!“
„Kann ich mich auf deine Schultern setzen?“
Leif war verdutzt. Was wollte sie von ihm? Fridas Augen funkelten ihn hoffnungsvoll an. „Nein. Warum sollte ich dich auf die Schultern nehmen?“
„Na, weil du doch so groß und stark bist! Das wäre toll, ich könnte viel weiter sehen, wenn ich auf deinen Schultern säße!“
Der Jäger schüttelte den Kopf, drehte sich um und wollte gerade wieder losgehen.
„Gut! Dann bleibe ich eben hier!“ Beleidigt verschränkte sie die Arme vor der Brust.
Leif hätte ihr am liebsten eine Kopfnuss gegeben, doch wahrscheinlich würde selbst ein leichter Schlag Frida verletzen. Beide starrten sich an. Die Wangen der Kleinen waren aufgeplustert und rot. Er knirschte wieder mit den Zähnen. „Na gut, aber nur, bis wir den Fuß des Berges erreicht haben!“ Der Nortmar packte Frida und setzte sie auf seine Schultern. „Halt dich fest!“
Wenigstens konnte er in seinem gewohnten Tempo weitergehen.
Die Kleine lachte und war immer wieder erstaunt, wenn sie ein Tier des Waldes zu Gesicht bekam. Leif wusste, das würde eine lange und anstrengende Reise werden.
Leif und Frida hatten die Baumgrenze erreicht, und wanderten nun durch die borealen Berghänge. Fichten und Tannenbäume dominierten den Wald und nur selten erblickten sie einen Laubbaum. Der Boden war mit braunen Nadeln bedeckt und Leif musste sich oft durch das Unterholz kämpfen. Er war erst einmal so weit im Süden gewesen. Damals war ein harter Winter in die Berge gezogen und das Wild wurde weit bergab getrieben.
Sie folgten einem kleinen Bach, welcher rauschend den Hang hinuntereilte. Das Schmelzwasser war kristallklar und eiskalt. Die Vögel in den Bäumen zwitscherten fröhliche Lieder und genossen die nachmittägliche Sonne. Frida beobachtete noch immer erstaunt die Gegend. Oftmals hörte er ein erstauntes „Ooh“ oder „Aah“. Leif war erleichtert, dass das kleine Mädchen endlich einmal weniger Fragen stellte. Sie hatte ihn schon nach allem gefragt, was er wusste. Was waren Nortmar? Warum war sein Bart geflochten? Was war dieses und jenes? Und etliche weitere Fragen.
Ein plötzliches Rascheln ließ den Jäger aufhorchen.
Das war kein Tier. Waren es Bergräuber? Leif konzentrierte sich und versuchte, die Lebewesen in seiner Umgebung zu spüren. Mäuse, ein Dachs, ein kleiner Fuchs, ein Hirsch nicht unweit von ihnen. Aber nichts so Befremdliches wie ein Mensch. Hatte er es sich eingebildet? Sollte er Frida fragen, ob sie etwas gehört hatte? Nein, Nortmar irrten sich nie!
Leif verlangsamte seine Schritte und beobachtete das Dickicht. Schon wieder! Er hatte es sich also doch nicht eingebildet! Vor ihnen lag eine Lichtung, nur hundert Schritte entfernt. Etwas riss ihn aus seiner Konzentration.
Es war Frida.
„Leif? Können wir eine Pause machen? Ich habe solchen Hunger!“
„Nicht jetzt, Frida!“ Leif winkte genervt ab und versuchte, so schnell wie möglich, die Lichtung zu erreichen.
„Aber ich habe so einen Hunger!“, antwortete sie traurig.
„Wenn wir bei der Lichtung sind, bekommst du schon etwas, aber jetzt sei ruhig!“ Die letzten Worte flüsterte der Jäger beinahe. Er hörte erneut dieses Rascheln. Die Kleine musste er absetzen, ansonsten würde er im Notfall nicht richtig kämpfen können. Wenn es nur Bergräuber waren, würden sie kein Problem darstellen.
Wieder blitzten die Erinnerungen an das Monster in seinem Kopf auf. Aber wenn es so etwas noch einmal war … Er betete zum Wolf, dass das, was er getötet hatte, das Einzige seiner Art war.
Sie durchbrachen den Waldrand und erreichten die Lichtung. Auf dem Boden wuchs saftiges, grünes Gras und ab und zu blitzten bunte Wildblumen heraus.
Schnell ging Leif zum Rand des Baches und setzte Frida auf einem großen Stein ab. Danach richtete er den Blick wieder auf den Waldrand. War es ihnen gefolgt? Wenn es sie jagte, würden sie es jeden Moment sehen.
„Krieg ich jetzt etwas zu essen?“
Genervt setzte der Jäger seinen Rucksack ab, holte das Trockenfleisch hervor und biss ein Stück davon ab.
Dann reichte er es wortlos Frida.
Zögernd nahm sie den runzeligen, braunen Streifen entgegen. „Was ist das?“ Sie roch einmal daran und verzog das Gesicht.
„Hab dich nicht so! Das ist geräuchertes und getrocknetes Hirschfleisch. Brunhild mariniert es immer mit einer Mischung aus Kräutern und Honig. Das schmeckt gut, glaub mir.“
Während sich Leif weiter auf den Waldrand konzentrierte, versuchte Frida, ein Stück vom Fleisch abzubeißen. Es war definitiv zu groß für ihren Mund, daher knabberte sie nur an einer Ecke herum. „Au! Das ist ja steinhart! Außerdem schmeckt es grässlich!
Haben wir nichts anderes?“
„Wenn dir das nicht schmeckt, musst du wohl hungern, Prinzessin. Wir haben sonst nichts dabei und ich gehe jetzt sicherlich nicht für dich jagen!“
Leif spürte, wie jemand sie beobachtete. Verdammt, dachte er. Wo ist es? Da ist etwas faul … „Möchte die werte Dame lieber einen Apfel?“
Eine schrille Stimme ließ Leif sich umdrehen, die Äxte in beiden Händen haltend. Ein Mensch mit buntem Mantel und einer ebenso bunten Harlekin Maske hielt Frida einen saftigen, roten Apfel hin. Wo war er hergekommen? Warum hatte er ihn nicht bemerkt.
Der Fremde drehte sich erschrocken zu Leif. „Buah!
Habt Ihr Cicero erschreckt! Was macht ein ehrenwerter Nortmar hier, so weit von zu Hause entfernt? Bitte legt doch die Äxte weg und lasset Cicero sich vorstellen.“ Die lilafarbenen Augen des Fremden blickten den Jäger freundlich an.
„Wie wäre es, wenn ich meine Äxte da lasse, wo sie sind, und trotzdem sagst du mir, wer du bist!“ Der Jäger bebte vor Wut. Wie hatte sich der Mensch unbemerkt an ihm vorbeischleichen können?
„In Ordnung. Eure Überzeugungskraft ist wahrlich atemberaubend, wenn Cicero das so sagen darf. Man nennt mich Cicero, Cicero Kalimux. Seines Zeichens Königlicher Hofnarr der Höflichen Königin der Königlichen Höfe.“ Cicero verbeugte sich tief vor Frida und Leif.
Die Augen der Kleinen funkelten und ein Lächeln erstreckte sich bis über beide Ohren.
„Was willst du hier, du Witzfigur?“ Der Nortmar war angespannt, da stimmte etwas nicht.
„Ach, der liebe Cicero war auf einer Wanderschaft und da hat er gehört, dass ein kleines Mädchen Hunger hat.
Da dachte sich der gute Cicero, er sollte seine Jause mit ihr teilen.“
Leif spürte, wie er lockerer wurde. Er fühlte, dass von dem Menschen keine Gefahr drohte. Doch zur Vorsicht hielt er noch immer seine beiden Äxte fest im Griff.
„Ich würde den Apfel wirklich gern haben, wenn es dir nichts ausmacht.“ Frida strahlte Cicero an.
„Aber natürlich, werte Wanderin.“ Cicero reichte dem Mädchen den Apfel und drehte sich wieder zu Leif.
„Nun, wohin des Weges, werter Nortmar? Man hat Euer Volk schon seit Jahren nicht mehr in dieser Gegend gesehen.“
Knackend biss Frida in ihren Apfel.
„Warum sollte ich Euch das erzählen?“ Der Nortmar blickte den Menschen noch immer grimmig an.
„Aber, aber! Cicero ist doch kein Feind. Er ist nur auf ein freundliches Gespräch mit ein paar Fremden aus. Seid doch so gut und legt Eure Waffen ab, wie Ihr seht, trägt Cicero auch keine einzige Waffe.“ Cicero streckte die Arme aus und drehte sich einmal um sich selbst.
Grunzend steckte Leif seine Waffen wieder in den Gürtel, diese Witzfigur würde er auch ohne sie fertigmachen können.
„Wir reisen in die nächste Stadt“, schmatzte Frida und biss wieder in ihren Apfel. Als Antwort erhielt sie von Leif einen finsteren Blick.
„Ach sooo! Das heißt, Ihr wollt nach Wolfshafen! Welch Zufall. Das wäre auch Ciceros Ziel gewesen. Lasst ihn Euch begleiten. In Gesellschaft reist es sich doch viel schöner als allein.“
Der Jäger schüttelte den Kopf. „Danke, wir reisen lieber allein weiter.“
„Ach, macht Euch keine Sorgen. Cicero hat sein eigenes Essen und geht selbst. Er ist keine Belastung für Eure Wandergesellschaft.“
Während Cicero und Leif weiter diskutierten, aß Frida ihren Apfel. Er schmeckte saftig und sehr süß. Das war das Beste, was das Mädchen seit Langem gegessen hatte. In ihrem Kopf tauchten Bilder von Apfelbäumen auf. Der Geschmack weckte Erinnerungen: Feste mit Körben voller Äpfel, rote, grüne und gelbe. Kam sie aus einer Familie von Apfelhändlern? Sie biss wieder in den Apfel. Nein. Das war es nicht. Ihr Kopf fühlte sich immer noch leer an. Alles, was vor ihrer Begegnung mit Leif passiert war, war verschwunden, als hätte jemand ein weißes Tuch darübergelegt. Frida wusste nicht einmal, wie ihr Gesicht aussah. Das Mädchen fasste zusammen, was sie wusste: Ich bin Frida. Ich habe hellblonde Haare und bin elf Sommer alt. Ich strahle anscheinend starke Energie aus und ich muss in die Königsstadt. Außerdem sind meine Eltern keine Apfelhändler. War das alles?
Vielleicht würde sie die Erinnerung mit der Zeit wiederfinden.
Sie betrachtete die beiden diskutierenden Männer. Leif war seltsam. Er hatte ihr erklärt, dass er kein Mensch war und ihr ein paar andere Sachen über die Nortmar erzählt. Sie erinnerte sich nicht mehr, wie menschliche Männer aussahen. Waren sie auch so muskulös und hatten einen geflochtenen Bart? Dieser Cicero versteckte sich ja unter einer Maske. Er reichte Leif nur bis zum Bauch und war auch nur halb so breit wie er.
Sie hatte lediglich ein verschwommenes Bild von anderen Menschen im Kopf. Aber Cicero war wenigstens freundlich – etwas, dass sie von Leif nicht behaupten konnte. Jedoch hatte Frida Verständnis für ihn. Niemand würde sich um ein verlorenes Kind kümmern wollen. Das Mädchen spürte ein drückendes Gefühl im Bauch und wurde ein wenig traurig. War das schon immer so? Bin ich ein Waisenkind? Lebe ich auf der Straße? Sie wusste es nicht – sie wusste gar nichts.
„Sagt mal, junge Dame, warum weint Ihr denn auf einmal? Stimmt etwas nicht?“ Cicero hatte sich vor Frida in die Hocke begeben.
„Ich … ich weine nicht!“ Doch dann spürte sie, wie eine warme Träne über ihre Wange kullerte. Schnell zog der Hofnarr ein hellrosa Taschentuch hervor und tupfte dem Mädchen sanft die Träne aus dem Gesicht.
„Was ist denn los?“ Leif stand mit verschränkten Armen hinter Cicero und blickte auf die beiden herab.
„Ich war nur traurig, nichts weiter. Leif, ichmöchte, dass Cicero mit uns geht, bitte!“
Der Mensch sprang erfreut auf und dankte dem Mädchen. „Tja, werter Herr Leif. Dann ist es nun abgemacht! Der großartige Cicero Kalimux wird Euch nach Wolfshafen begleiten!“
Leif blickte genervt zu Boden, seufzte und schüttelte den Kopf. „Na gut, aber wehe, du bereitest uns Probleme!“ Was hatte er verbrochen, dass die Geister ihn so ärgerten?
D ie Wände waren aus kaltem, grauem Stein und so gerade, als hätte man sie mit einem scharfen Messer in den Felsen geschnitten. Der Gang war so eng, dass keine zwei Männer nebeneinander gehen oder stehen konnten. Keine Fackel hing an den Wänden, trotzdem war alles mit einem kalten Licht erfüllt. Ihre Schritte hallten durch den schier endlosen Tunnel. Sie war erschöpft und atmete keuchen ein und aus.
Schweiß rann ihre Stirn hinab und mischte sich mit den Tränen auf ihren Wangen.
Ein Schatten verfolgte sie. Sie spürte die dunkle Präsenz hinter ihr. Er saugte das Licht auf und hinterließ nur kalte, traurige Dunkelheit. Egal, wie schnell Frida rannte, der Schatten war immer hinter ihr. Er trieb sie vor sich her wie ein Hirte sein Vieh – gefühllos, körperlos, aber trotzdem da.
Keine Weggabelung, keine Kurve, ununterbrochen ging es geradeaus. Warum verfolgte er sie? Wenn er sie fressen wollte, hätte er das schon lange getan. Er schien Gefallen daran zu haben, sie zu verfolgen. Wann hörte dieser Wahnsinn auf? Das Chaos hinter ihr verwandelte sich in dunklen Nebel, der zwischen ihren Füßen den kahlen Steinboden entlangkroch. Ein leises Zischen ertönte hinter ihr und die Luft wurde angespannter. Der Boden verformte sich, er wurde weicher – es war, als würde sie auf Schlamm rennen. Das Licht änderte sich in ein grelles Gelb, das Zischen wurde lauter und bedrohlicher. Hände aus Licht packten sie und rissen sie aus dem Gang. Kalter Wind peitschte ihr ins Gesicht. Die Hände strahlten wohlige Wärme aus. Plötzlich ließen die Hände sie los. Sie fiel.
Stille.
Schweißgebadet wachte Frida auf. Ein tonloses Stöhnen entkam ihr. Die zwei Monde hatten sich über die Lichtung gelegt und hüllten das Gras in sanftes Licht.
Leifs donnerndes Schnarchen mischte sich mit dem sanften Knistern der schwelenden Kohle des Lagerfeuers, dem Zirpen der Grillen und dem Rauschen des Baches. Die Reste des Lagerfeuers glommen noch vor sich hin und erfüllten die Lichtung mit dem Geruch von verbranntem Holz. Doch irgendetwas übertrumpfte den Geruch der Kohle. Dieser Geruch kam Frida bekannt vor, doch sie konnte ihn nicht zuordnen.
Plötzlich wusste sie, wonach es roch – nach verwesendem Fleisch! Sie schaute zum Waldrand. Wo war die Quelle des Geruchs? Sie könnte schwören, dass sie am Nachmittag noch nichts gerochen hatte. Dann erblickten sie etwas, was sie noch nie zuvor gesehen hatte: Am Waldrand stand ein furchterregendes Wesen.
Es war fast so groß wie Leif, doch es war dünn wie ein junger Baum und seine Arme reichten bis zum Boden.
Auf dem Kopf hatte es einen blanken Hirschschädel, der im Mondlicht weiß leuchtete, und rote Augen, welche Frida zu durchbohren schienen. Es stand nur da und bewegte sich nicht.
Das Mädchen war wie festgefroren. Ihre Muskeln waren taub vor Angst. Was bei den Göttern war das? Sie versuchte zu schreien, doch kein Ton wollte ihr über die zitternden Lippen kommen. Dann bewegte es langsam klackend den Kopf zur Seite und hob die Arme. An den Enden waren lange, bleiche Klauen, jede so lang wie Fridas Arme. Würde es sie töten? Lautlos im Schlaf? Sie musste die anderen wecken. Das Mädchen schloss die Augen und schaffte es endlich, laut zu schreien.
Der Erste, der aufsprang, war Cicero, Leif setzte sich langsam auf und presste sich die wuchtigen Hände auf die Ohren. „Beim Vielfraß, warum schreist du so, Frida?
Ich habe gerade einen wunderbaren Traum von Si…“ Leif schüttelte den Kopf.
Frida deutete zitternd auf den Waldrand.
„Ist dort etwas?“ Cicero versuchte, etwas zu erspähen, doch der Waldrand war leer.
Frida war verblüfft. Das Wesen war verschwunden! An dem Fleck, an dem es eben noch gewesen war, war … nichts! „Ich … ich habe ein Monster gesehen …“, brachte Frida ängstlich hervor.
„Jaha, kleines Mädchen. Keine Sorge, du wirst wohl schlecht geträumt haben, es gibt hier keine Monster!
Das sind alles Märchen!“ Cicero streichelte den Kopf des Mädchens und legte sich wieder hin.
Nur Leif blieb sitzen und verzog ernst das Gesicht. Seine Augen waren starr auf den Wald gerichtet. Dann rümpfte der Nortmar die Nase und legte sich mit einem Grunzen wieder hin.
Frida tat es ihm gleich. Hatte sie das nur geträumt?
Trotz des Albtraums und der Geschehnisse schlief Frida wieder ein. Doch der faulige Geruch lag immer noch wie ein bedrohlicher Schatten über der Lichtung.
Die Sonne war gerade dabei aufzugehen, und Leif füllte die Lederseidel mit dem frischen Wasser des Baches.
Zwei Spatzen flogen über die schattige Lichtung und dünner Nebel kroch aus dem Wald. Er hatte nicht mehr geschlafen, seitdem Frida ihn geweckt hatte. Die beiden Menschen schliefen noch tief und fest. Heute Nacht war etwas faul gewesen. Und faul traf es ziemlich genau.
Als die Kleine ihn aufgeweckt hatte, konnte er den Geruch von faulendem Fleisch riechen. Es roch so ähnlich wie das Wildschwein, welches er vor vier Jahren gefunden hatte. Eine Gerölllawine hatte es unter sich begraben. Der Geruch verschlug ihm damals den Atem. Aber woher war der Geruch in der Nacht gekommen?
In der morgendlichen Stille hatte der Nortmar Zeit zum Nachdenken. Er griff nach seiner Halskette: Es war der Kopf eines Bergwidders, kunstvoll geschnitzt aus einem Quarzkristall. Er hatte sie als kleines Kind von seiner Mutter bekommen. Das war nun dreiundvierzig Winter her. Der Bergwidder war sein Tiergeist. Er stand für Stärke, Härte und Ehre, doch auch für Sturheit.
„Ein Monster“, wiederholte Leif. Das hatte Frida gesagt.
Er hatte in seinem Leben schon viel gesehen, auch ein Monster. Doch selbst dieses hatte nicht den Geruch von faulem Fleisch verströmt.
„Ihr habt es auch gerochen, nicht wahr?“
Leif erschrak, Cicero stand auf einmal neben ihm im kalten Wasser. Er hatte seine Maske keinen einzigen Moment abgelegt. Wie schaffte der Mensch es nur, immer aufzutauchen, ohne dass Leif es bemerkte? Der Jäger nickte nur knapp. „Ich wollte dem Mädchen keine Angst machen, daher habe ich nichts gesagt.
Stattdessen habe ich die ganze Nacht kein Auge zugemacht. Habt Ihr einen Plan, was das gewesen sein könnte?“ Er zog eine Augenbraue hoch und blickte den Hofnarren an.
Dieser schüttelte den Kopf und schüttete sich Wasser ins Gesicht, als würde er keine Maske tragen. Irgendwas läuft falsch mit dem Typen, dachte Leif. „Warum zur Eule legst du deine Maske nicht ab?“
„Welche Maske?“
Der Nortmar antwortete gar nicht erst auf die Gegenfrage. Die lilafarbenen Augen des Menschen blickten Leif durch die Maske hindurch an. Er hatte noch nie eine solche Augenfarbe gesehen. Vielleicht war sie häufig bei den Menschen. „Jedenfalls, was immer es auch war, wir müssen ab jetzt nachts Wache halten.“
Leif sah ernst ins Wasser. „Wisst Ihr, wie man kämpft?“
Er drehte sich zu der Stelle, an der Cicero gerade noch gewesen war, doch dieser war wieder beim Schlafplatz und ließ seine Füße in die bunten Stiefel gleiten. Leif knurrte. Er freute sich darauf, die Hafenstadt zu erreichen, und diese dubiose Witzfigur wieder loszuwerden. Der Jäger traute dem Menschen nicht ganz, aber Frida tat es, das musste reichen. Doch solange er ihm nicht traute, würden seine Äxte immer locker sitzen.
Als auch Frida aufgestanden war, setzten sie ihre Reise fort. Das Mädchen unterhielt sich mit Cicero über die Welt, über den Traum hatte sie jedoch kein Wort verloren. Sie hörte ihm gern zu, auch wenn viele seiner Geschichten erstunken und erlogen waren. Selbst Leif wusste, dass es keine rosa Tiger und fliegenden Schiffe gab. Doch Frida glaubte ihm alles aufs Wort. Erst am Abend würden sie voraussichtlich den Fuß des Berges erreichen. Cicero kannte den Weg und ging voran. Er hatte einen Gehstock aus dunklem Holz ausgepackt und wenn er nicht mit Frida sprach, summte er ein Lied. Er war keinen Moment ruhig gewesen, seit sie losgegangen waren.
„Als ich in einem fernen Land vor dem Thron des Drachenkönigs auftrat, war er so begeistert, dass sein Lachen den Krieg zwischen den Kappa und den Feen beendete.“
Leif verdrehte die Augen, die Geschichten waren wirklich zweifelhaft.
Das Licht der Sonne blitzte ab und zu durch die Bäume, es war ein herrlicher Tag. Der Wald hier im Süden war belebter als im Norden: Eichhörnchen sprangen auf den Ästen aufgeregt hin und her, manchmal blickte ein Dachs aus seinem Bau hervor und mehrmals hatten sie eine Gruppe Rotwild gekreuzt. Leif würde, wenn er wieder zu Hause war, auf jeden Fall hier jagen gehen. Es war wirklich ein schöner Ort.
„Herr Cicero, was ist hinter den Weißen Bergen?“
Noch bevor Cicero einen Laut von sich geben konnte, beantwortete Leif ihre Frage: „Dort liegt die Eisige Einöde.“ Seine Stimme war kühl und bedrückt. „Die Gegend ist trostlos und tot. In den Nächten wird es so kalt, dass selbst Nortmar frieren. Am Tag reflektieren die weißen Ebenen das Sonnenlicht so stark, dass man erblindet. Die Einöde erstreckt sich unendlich weit, niemand kann sagen, was danach kommt. Einige drangen in diesen Teil der Welt vor, doch keiner von ihnen kam lebend zurück. Die Legenden besagen, dass die Eisige Einöde früher ein blühender Ort war und wir Nortmar unsere Städte dort hatten. Doch wie das plötzliche Verschwinden meiner Rasse, ist auch der Wandel der Einöde unbekannt. Manche aus unserem Dorf wollten dieses Land erkunden und als Helden gefeiert zurückkehren. Das war vor zwanzig Wintern.“
Leifs Blick war starr und bergab gerichtet.
Schweigen kehrte in die Gruppe ein. Was er nicht erzählte, war die Tatsache, dass zu der Gruppe der Abenteurer auch sein Vater und seine Mutter zählten.
Es waren elf Leute gewesen – zwei Schamanen und neun Jäger, die Tapfersten des Dorfes. Sie waren bestens ausgerüstet: Nahrung, Zunder und genug Pelz, um selbst die eisigen Nächte durchzustehen.
Leif erinnerte sich an den Tag, an dem sie abgereist waren, als wäre es gestern gewesen. Er war gerade einmal achtundzwanzig Winter alt. Das halbe Dorf begleitete sie ein Stück, er war bis zum Yak-Leid-Pass mitgegangen. Es war das Tor, welches die Weißen Berge und die Eisige Einöde trennte. Der Pass lag so hoch im Gebirge, dass das Atmen schwerfiel, doch es war der einfachste Weg. Der Wind peitschte ihnen ins Gesicht und feine Eiskristalle schnitten in die ungeschützte Haut. Wortlos hatte er sich von seinen Eltern verabschiedet. In ihren Augen brannten die Abenteuerlust und der Wille zu überleben. Dann verschwanden sie im weißen Schleier des Sturms und kamen nie wieder zurück. Nach vier Jahren hatten alle die Hoffnung auf ihre Rückkehr aufgegeben.
„Ist etwas, Leif?“
Fridas helle Stimme riss den Jäger aus seinen Gedanken. Er nickte nur knapp und richtete seinen Blick auf den Weg. Leise summte Cicero ein Lied. Und aus irgendeinem Grund musste Leif dabei lächeln.
Die Staubflocken tanzten in den matten Lichtstrahlen, welche durch die verschmutzten Fenster drangen. Das Geräusch knarzender Bretter, welches seinen Gang begleitete, wurde vom Lärm der Taverne übertönt. Die Klangwolke bestand aus lachenden Gästen, dem Klappern von Krügen sowie dem gelegentlichen Rülpsen der betrunkenen Gäste.
Zwei Matrosen stritten sich um den Gewinn eines Kartenspiels und eine Gruppe von Hafenarbeitern warf Dartpfeile auf ein Bild eines stattlichen Mannes, der eine Kapitänsuniform trug. Der junge Mann grinste und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war schwül und stickig in der Taverne.
Er erreichte den Tresen und ließ sich seufzend auf den alten, lederbezogenen Hocker sinken. „Alfred, mach mal die Fenster auf, hier drin hält man es kaum aus!“
Der Barmann mit der Glatze und dem schwarzen Schnurrbart grinste, und stellte dem jungen Mann eine Flasche Grog hin. „Spartacus, du Sack stinkender Fischköpfe, was machst du in Wolfshafen, und wo hast du den Haufen Nichtsnutze gelassen, die sich deine Mannschaft schimpfen?“
Spartacus nahm einen Schluck Grog und wischte sich die Reste mit dem Ärmel seines dunkelroten Mantels ab. „Private Geschäfte führen mich hierher. Ich bin allein hier, die anderen warten mit der Roten Korsarin in Porta Mola.“
Der alte Alfred wischte mit einem nicht mehr ganz so sauberen Tuch einen Tonkrug aus und fragte neugierig: „Was für Geschäfte müssen das sein, dass der ach so großartige Freibeuter Spartacus der Korsar allein nach Wolfshafen kommt?“
Der Pirat grinste und holte einen prallen Lederbeutel hervor, den er auf den Tresen fallen ließ. „Der alte Commodore, Bobbins, hat meinem Schiff die Durchfahrt durch die Passage verwehrt. Ich bin hier, um ihn umzustimmen. Du weißt doch, wie sehr er klingelnde Münzen liebt.“
Bei dem Wort Münzen blickte Alfred finster drein und beugte sich zu Spartacus vor. „Du weißt, dass du in meiner Taverne nicht so mit deinem Gold herumspielen sollst. Ich will keine Schlägerei hier!“ Mahnend hob der Barmann einen Finger.
Der Pirat strich sich nachdenklich über den feinen Bart und packte den Beutel wieder weg. „Du hast recht, du alte Schnapsdrossel. Jedenfalls, morgen werde ich den Commodore aufsuchen und so schnell wie möglich wieder zu meiner Mannschaft zurückkehren.“
Kurz schwiegen die beiden.
Ein alter Mann neben Spartacus hob seinen Kopf vom Tresen und fragte: „Was, beim Dreizack von Kor, hast du getan, dass der alte Bobbins dir die Durchfahrt verwehrt?“
„Oh, bist du aufgewacht, Bert? Wurde auch Zeit, ich wollte dich fast schon rauswerfen!“
Die Augen des alten Bert waren blutunterlaufen, sein nach Rum stinkender Atem blies Spartacus keuchend ins Gesicht. Vor langer Zeit war er Kapitän eines großen Handelsschiffes gewesen, bis eine Horde Kelpies jenes zerstörte und seine halbe Mannschaft ausradierte.
Seine dreckigen, schwarzen Haare hingen lasch nach unten und einige graue Strähnen blitzten hervor. Er war unrasiert, roch grässlich und war Stammgast in Alfreds Taverne.
„Nun ja, irgendwie hat der alte Knacker Wind davon bekommen, dass ich es war, der den großen Brand im Freudenhaus an der Hafengasse verursacht hat. Würde ich nicht den Handel in der Stadt so unterstützen, hätte er mich wahrscheinlich komplett vor die Tore gesetzt!“
Die drei lachten, wobei Berts Lachen eher ein Keuchen war.
„Sind wir froh, dass dem alten Halunken egal ist, woher die Ware kommt! Hauptsache, sie ist billig und sie gehört nicht der Königsstadt!“ Alfred wischte sich mit dem dreckigen Tuch eine Träne aus dem Augenwinkel.
Spartacus erhob seine Flasche und rief laut: „Auf Wolfshafen! Auf dass der Rum fließt, die Weiber willig sind und der König sich raushält! Prost!“
Die ganze Taverne tat es ihm gleich und der ganze Raum brach in schallendes Gelächter aus. Spartacus leerte die Flasche und stellte sie unsanft auf dem Tresen ab.
„Was hast du denn vor, wenn du die Stadt wieder durchfahren darfst?“ Alfred hatte aufgehört zu lachen, und verschränkte ernst die Arme vor der Brust.
„Ich werde zur Sirenen-Insel fahren und mich mit Schwarzbart unterhalten. Ich habe da einen Plan. Etwas Großes ist im Anmarsch, spürt ihr es? Der Wind des Wandels weht schon wieder über die raue See!“
Spartacus entließ ein raues „Jahrrr“ und nahm einen großen Schluck seines Getränks.
Zu dieser Zeit war Wolfshafen eine autonome Stadt. Sie gehörte nicht zum Königreich und regierte sich selbst.
Händler hatten das Land vor dreihundert Jahren dem König abgekauft und eine Stadt darauf errichtet. Der König hielt sich seit jeher aus Wolfshafen raus. Und das war nur möglich, weil diese Stadt der Knotenpunkt für den Handel mit aller Herren Länder war.
Für Ordnung sorgte das Wolfsrudel, allesamt gut ausgebildete Soldaten, geübt mit Schwert und Pistole.
Ihr Anführer war der Commodore, Conrad Bobbins.
Diese Tatsache jedoch sorgte dafür, dass die Wache weniger effektiv war, denn Bobbins liebte glänzende Münzen und war sehr bestechlich. Offiziell wurde die Stadt technokratisch geführt. Der Rat bestand aus je einem Vertreter der Bauern, der Handwerker, der Händler, der Kapitäne und dem Commodore. Bis vor der Erfindung des Schwarzpulvers vor ein paar Jahren hatten auch die Magier einen Sitz in diesem Rat. Doch durch die Vorteile, welche das Schwarzpulver mit sich zog, wurde Magie unnütz in dieser Stadt. Der Rat sollte Gesetze erlassen und Recht sprechen, doch die Fäden dahinter zogen die Piraten. Sie waren die geheimen Könige der Stadt. Sie entschieden letztendlich, welche Geschäfte öffneten und welche Schiffe zum Hafen durchkamen. Und das war nicht einmal schlecht für die Stadt.
Wer sich an die offiziellen und die inoffiziellen Regeln hielt, hatte ein schönes Leben. Es gab kaum Arbeitsuchende in der Stadt, selten wurde jemand beraubt. Wer für Ärger sorgte, wurde beseitigt. Jedes Geschäft zahlte Schutzgeld, und versuchte jemand, irgendetwas zu unterschlagen, hatten sich die Piraten stets darum gekümmert.
Von den Dutzenden Piratenkapitänen, die in Wolfshafen schalteten und walteten, hatten drei jedoch die größte Macht: Edward „Schwarzbart“ Thatch: Er war es, der die Sirenen-Insel, die nicht unweit von Wolfshafen lag, übernahm und von da aus jedes Handelsschiff überfallen konnte. Er war der Einflussreichste unter den Kapitänen.
Gorn „Stahlfaust“ Ulricson: Er war einer der Barbaren von den Südlichen Inseln, welche mit ihren Drachenschiffen ganze Städte ausraubten und niederbrannten. Gorn war bekannt dafür, mit seinen Gegnern nicht zimperlich umzugehen, und räumte jedes Problem einfach aus dem Weg.
Shu Lao Fen „Der Gelbe“: Er wurde einst an den Strand der Stadt angespült. Der Mann aus dem östlichen Kaiserreich Gang Shiroku entpuppte sich schnell als genialer Stratege und hinterlistiger Gauner. Er übernahm einen Großteil der Bordelle und Opiumhöhlen in Wolfshafen.
Spartacus stand den dreien in nichts nach. Innerhalb von sechs Jahren hatte er sich mit der Mannschaft der Roten Korsarin immer weiter nach oben gearbeitet, und verschaffte sich Respekt und Einfluss. Er hatte das Talent, die richtigen Leute auf seine Seite zu holen. Und dieses Talent war gefährlicher als jede Kanone und jede Armee.
Das Bild der Stadt war zweigeteilt. Es gab die Oberstadt und die Unterstadt: In der Oberstadt lebten die Leute, die durch Glück und Können genug Münzen verdient hatten, um nicht mehr arbeiten zu müssen. Dort waren das Forum, die Hochkontore und die Banken. Die Häuser waren alle stabil gebaut und ansehnlich. Fast jedes von ihnen hatte Schindeln aus Kupfer, welche die Dächer der Stadt grün, dunkelbraun und rot erstrahlen ließen.
In der Unterstadt waren der Hafen und die Fabriken. Sie war eher schlicht. Wo in der Oberstadt gebrannte Ziegel und Zement verwendet wurden, nutzte man hier simple Steine aus dem Fluss und Holz aus den Wäldern am Fuße der Weißen Berge. Teilweise wurden sogar ganze Schiffe oder Teile von Schiffen verwendet, um die Häuser zu bauen. Tagsüber rauchten die Schlote der Fabriken, die Kleidung und Kanonen herstellten. In der Nacht ging es ebenso geschäftig zu: Lärm drang aus den Dutzenden Tavernen und Freudenhäusern, Männer priesen auf den Straßen Frauen aus aller Herren Länder an und betrunkene Arbeiter torkelten über das Kopfsteinpflaster.
Mitten durch die Stadt zog sich der Fluss, der der Metropole ihren Namen gegeben hatte: der Wolfsfluss.
Das graue Schmelzwasser der Berge mündete hier in das weite Meer der Riesen. Über diesen Fluss kamen Schiffe aus dem Süden, von den verschiedenen Häfen, die am Trostsee lagen, um noch einmal ihre Vorräte aufzustocken, bevor sie den weiten Ozean besegelten.
Genau das war der Grund, weshalb Wolfshafen zu solch einer großen Stadt geworden war.
Spartacus hing nun seit mehreren Stunden über dem Tresen von Alfreds Taverne. Der Kapitän hatte nur wenige Schwächen, doch Alkohol war die größte davon.
Nicht selten kam es vor, dass er sich im Rum und Grog verlor. Es war mittlerweile Nacht geworden, durch die dreckigen Fenster schien nur noch spärliches Licht. Die Taverne war um einiges voller als mittags, und verschiedenste Menschen füllten das Haus.
Spartacus’ Kopf hing über seinem leeren Becher und er schaukelte hin und her. Plötzlich spürte er eine Bewegung an seinem Gürtel. Der Pirat schien blitzschnell wieder nüchtern geworden zu sein, und packte die Hand, die sich seinen Beutel schnappen wollte. „Was mascht du da, du Halunge?“, lallte er, und blickte in die grünen Augen eines kleinen Mannes. Er hatte schütteres Haar und trug die Kleidung eines Hafenarbeiters. Spartacus erinnerte sich an ihn. Der Fremde gehörte zu den Gästen, die mittags Dartpfeile auf das Bild des Commodore geworfen hatten.