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Die weltpolitischen Entwicklungen der letzten Jahre haben wieder gezeigt, wie notwendig Friedensbildung ist. Gerade der Deutschunterricht eignet sich dazu, angesichts von Gewalt und Krieg die Möglichkeiten eines friedlichen Zusammenlebens auszuloten. Widerspruchsreiche Friedensvorstellungen können über Literatur und Film erschlossen, imaginative Fähigkeiten in produktiven Zugängen auf- und ausgebaut werden. Wissen über die vielfältigen Ursachen von Krieg und Gewalt lässt sich rezeptiv-analytisch erwerben, um so ein prozesshaftes Friedensverständnis zu entwickeln. Friedensbildung kann nicht verordnet, wohl aber gefördert werden. Sie involviert Lehrende und Lernende gleichermaßen: durch Kriegslogiken in Sprache und Games, beim Stöbern in historischen Dokumenten des Pazifismus, beim Reflektieren von Kriegsfibeln und -reportagen, mit Emotion beim Lesen, Schauen und Hören von Antikriegsklassikern u.v.m. Ideen und Fragen der Beiträge zum stets unvollkommenen Frieden sind Einladung an uns alle.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 258
Veröffentlichungsjahr: 2025
Editorial
WERNER WINTERSTEINER, SABINE ZELGER:Deutschunterricht für eine Kultur des Friedens
Grundlagen
SABINE ZELGER: Friedens-Fragen in Gesellschaft und Deutschunterricht
WERNER WINTERSTEINER: Krieg, Frieden, Bildung. Ein Glossar
VERENA PLUTZAR: Gehör verschaffen. Von Sprachlosigkeit und struktureller Gewalt an Schulen und was wir dagegen tun können
Analoge und digitale Kommunikation
NIKU DOROSTKAR: Friedenslinguistik und kritische Diskursanalyse im Deutschunterricht. Am Beispiel von Online-Kommunikation auf derStandard.at
KRISTINA LANGEDER-HÖLL: »Wer aber den Frieden will, der rede vom Krieg.« Praktische Impulse zum gemeinsamen Philosophieren
Comics und Literatur
MATTHIS KEPSER: Friedensbildung mit Comics, Mangas, Graphic Novels
CAROLINE KODYM: Literatur und Frieden, Frieden durch Literatur?
ROMANA HASLINGER: Reportagen zu Krieg und Frieden
Audiovisuelle Medien und Medienverbund
NIKU DOROSTKAR, ALEXANDER PREISINGER: Mit dem Krieg (nicht) spielen. Der Erste Weltkrieg in digitalen Anti-Kriegsspielen
SOPHIE TSCHULIK: Friedenslernen mit Literatur. Der Medienverbund Hüter der Erinnerung im Deutschunterricht
MAX AIGNER, ROXANA GOL, LUKAS RAMMERSTORFER: Den Medienverbund Im Westen nichts Neues mit Friedensbrillen lesen
Service
JAN THEURL, WERNER WINTERSTEINER: Friedensbildung im Deutschunterricht. Eine Auswahlbibliographie
Magazin
Auch eine Art Kommentar
LENA NIEKOJ:Alphabet der Zuversicht. Ungeordnetes von A – Z
ide empfiehlt
MICHAEL HOFMANN:V. Abrego, I. Henke, M. Kißling, C. Lammer, M.-T. Leuker(Hg., 2023): Intersektionalität und erzählte Welten
Neu im Regal
»Frieden« in anderen ide-Heften
ide 4-2021
Global Citizenship Education im Deutschunterricht
ide 1-2017
»Menschen gehen.« Flucht und Ankommen
ide 4-2008
Politische Bildung
ide 2-2007
Mittelmeer
ide 1-2004
Europa
ide 1-1994
Wege aus der Gewalt
ide 1-1991
Friedenserziehung
Das nächste ide-Heft
ide 1-2025
Kinderliteratur zwischen Pragmatik und Ästhetik erscheint im März 2025
Vorschau
ide 2-2025
Essen
ide 3-2025
Literarästhetische Erfahrung
https://ide.aau.at
Besuchen Sie die ide-Website! Sie finden dort den Inhalt aller ide-Hefte seit 1988 sowie »Kostproben« aus den letzten Heften. Sie können die ide auch online bestellen.
www.aau.at/germanistik/fachdidaktik
Besuchen Sie auch die Website des Instituts für GermanistikAECC, Abteilung für Fachdidaktik an der AAU Klagenfurt: Informationen, Ansätze, Orientierungen.
Über 30 Jahre ist es her, seit in dieser Zeitschrift ein Themenheft zu Frieden und Friedensbildung erschienen ist (ide 1/1991). Auch wenn es in der Zwischenzeit eine Reihe von Ausgaben mit gesellschaftskritischen Themen gegeben hat, ist Frieden doch eine Zeitlang ins Abseits des pädagogischen Diskurses geraten. Zu Unrecht, wie wir meinen, denn schließlich handelt es sich um ein zentrales Menschheitsthema, das deshalb auch im Bildungsprozess junger Menschen zentral behandelt werden sollte.
Inzwischen hat sich das Blatt wieder gewendet. Die weltpolitischen Entwicklungen der letzten Jahre – Kriege, Bürgerkriege, soziale Spannungen, aber auch Klimakrise, Massenmigration, das Erstarken von nationalistischen und autoritären Bewegungen – erschüttern das Selbstverständnis der europäischen Gesellschaften. Eine ohnehin nur relative Stabilität scheint auf einmal bedroht zu sein. Ein Gefühl der Unsicherheit, mit dem weite Teile der Menschheit ohnehin schon immer leben mussten, macht sich nun auch in unseren privilegierten Gefilden breit. Das hat auch den Themenkomplex Frieden und Bildung wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt – und zwar in Form einer Polarisierung: Auf der einen Seite wird vielen der Wert und die Bedeutung des Friedens wieder stärker bewusst. Wir registrieren eine vermehrte Nachfrage nach Friedensbildung für Schüler*innen und Lehrkräfte, und es erscheinen wieder neue einschlägige Publikationen. Auf der anderen Seite mehren sich auch Stimmen, die – angesichts einer diffusen Bedrohungslage und unter dem Stichwort »Zeitenwende« – meinen, jede Friedenspädagogik grundsätzlich infrage stellen zu müssen und sie gerne durch eine militärisch verstandene geistige Landesverteidigung und Erziehung zur Wehrhaftigkeit ersetzen würden. Damit steigt aber die Gefahr der Militarisierung unserer Gesellschaft und die Unsicherheit nimmt erst recht zu (vgl. dazu Wintersteiner 2024).
Parallel dazu, aber auch verschränkt damit, mehren sich innergesellschaftlich soziale Probleme und Spannungen, rassistische und machistische Gewalt nimmt zu. Ein überfordertes, weil nicht an die Population der Schüler*innen angepasstes Schulsystem wird oft als inadäquat empfunden, besonders in den Mittelschulen der Ballungsräume. Wenn vor allem migrantische Kinder in der Schule nicht mitkommen oder sich dem System verweigern, wenn soziale und religiöse Faktoren zusammenkommen und auf den systemischen Rassismus eines Bildungssystems stoßen, ist schnell der Vorwurf mangelnder Integrationsfähigkeit zur Hand (vgl. Wintersteiner 2022). Es ginge aber darum, die komplexe Situation, deren Symptome offen daliegen, auf ihre Ursachen hin zu untersuchen und diese zu beseitigen. Auch das kann als Aufgabe der Friedensbildung verstanden werden (vgl. vor allem den Aufsatz von Verena Plutzar in diesem Heft).
Friedensbildung erhält somit gerade heute eine wichtige zivilisatorische Mission, als ein Eckpfeiler der Arbeit an einer gesamtgesellschaftlichen Kultur des Friedens. Und diese ist – angesichts der globalen Polykrise – nicht mehr bloß eine wünschenswerte Option, sondern bereits eine notwendige Voraussetzung für die Erhaltung der menschlichen und natürlichen Lebensbedingungen im Heimatland Erde (Morin/Kern 1999). Denn noch nie war es so deutlich, wie eng »Frieden unter den Menschen« und »Frieden mit der Natur« miteinander verknüpft sind. Damit wird der Friedensbegriff voller und komplexer.
Das spiegelt sich in internationalen Dokumenten, die auch für die österreichischen bildungspolitischen Weichenstellungen entscheidend sind. Am bekanntesten sind die Nachhaltigen Entwicklungsziele, die SDGs (UN 2015), die in Abschnitt 4.7 (wo es um Bildung geht) ausdrücklich auf Friedensbildung verweisen. Maßgeblich ist auch die UNESCO Recommendation (UNESCO 2023 [1974]). Was viele nicht wissen: Wie jedes Mitgliedsland hat sich auch Österreich verpflichtet, in regelmäßigen Abständen über Fortschritte bei der Umsetzung von »Education for International Understanding, Co-operation, Peace and Education relating to Human Rights and Fundamental Freedoms« zu berichten. Schließlich sei auch noch auf die sogenannte Dublin Declaration (GENE 2022) verwiesen, die globales Lernen, Ökologie und Frieden miteinander verbindet. Diese Orientierungen sind auch in den neuen österreichischen Lehrplan für Mittelschulen und Gymnasien Unterstufe eingeflossen, der – in Anspielung auf die Entwicklungsziele der UNO – in den Leitvorstellungen festhält:
Schule und Unterricht tragen dazu bei, dass junge Menschen befähigt werden, bei der Bewältigung von gesellschaftlichen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Herausforderungen eine aktive Rolle einzunehmen. Dazu gehört, dass Kompetenzen für eine nachhaltige Entwicklung angebahnt werden. Wesentliche pädagogische Bereiche, die diesen Kompetenzerwerb unterstützen, sind die Bildung für nachhaltige Entwicklung, Politische Bildung mit Global Citizenship Education, Friedenserziehung und Menschenrechtsbildung. (BMBWF 2023)
Frieden bzw. Friedenserziehung wird, außer im Fachlehrplan Geschichte und Politische Bildung, auch in Deutsch explizit genannt. Dem Fach Deutsch kommt somit eine besondere Bedeutung zu. Schließlich ist der Deutschunterricht nicht nur für kulturelle, ethische und politische Bildung ein wesentliches Trägerfach, er eignet sich auch in besonderer Weise für fächerübergreifendes Arbeiten. Mit diesem Themenheft wollen wir dazu beitragen, dass Frieden im Deutschunterricht adäquat thematisiert werden kann.
In der Folge finden Sie viele Anregungen, die direkt im Deutschunterricht, im fächerübergreifenden Unterricht oder in der akademischen Deutschdidaktik umgesetzt werden können. Angesichts der Komplexität der Materie wollen wir zudem mit dem Glossar von Werner Wintersteiner und dem Basisartikel von Sabine Zelger, in dem auch die einzelnen Beiträge des Heftes vorgestellt werden, für eine grundlegende Orientierung sorgen, während in gewohnter Form die weiterführende Bibliographie genügend Anregungen für ein persönliches Vertiefen bieten sollte …
Denn angesichts der überall zunehmenden Rüstungs- und Militarisierungshysterie müssen wir uns umso mehr auf den Grund-Satz besinnen: Wenn du den Frieden willst, bereite den Frieden vor!
Wir wünschen eine anregende Lektüre
WERNER WINTERSTEINERSABINE ZELGER
BMBWF – BUNDESMINISTERIUM FÜR BILDUNG, WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG (2023): Lehrplan der allgemeinbildenden höheren Schule. BGBl. II. Ausgegeben am 2. Jänner 2023 – Nr. 1.
GENE (2022): European Declaration on Global Education to 2050 (Dublin Declaration). Online: https://www.gene.eu/ge2050-congress [Zugriff: 27.9.2024].
MORIN, EDGAR; KERN, ANNE BRIGITTE (1999): Heimatland Erde. Versuch einer planetarischen Politik. Wien: Promedia. [Neuauflage 2023.]
UN (2015): Sustainable Development Goals deutsche Fassung. Online: https://unric.org/de/17ziele/ [Zugriff: 27.9.2024].
UNESCO (2023 [1974]): Revised Recommendation concerning Education for International Understanding, Co-operation, Peace and Education relating to Human Rights and Fundamental Freedoms (UNESCO). Online: https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000385435 [Zugriff: 27.9.2024].
WINTERSTEINER, WERNER (2022): Alltäglicher und systemischer Rassismus – Friedenspädagogik und die Mühen der Ebenen. In: Umbach, Susanne; Pinkert, Christoph (Hg.): Frieden üben – Brücken und Brüche im Denken und Handeln. Frankfurt/M.: Wochenschau, S. 86–100.
DERS. (2024): Rechtfertigung oder Überwindung der Kultur der Gewalt? Warum die Kritik an der Friedenspädagogik verfehlt ist. In: Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik (ZEP), H. 1, S. 34–35. DOI: 10.31244/zep. 2024.01.13.
WERNER WINTERSTEINER ist Universitätsprofessor für Deutschdidaktik i. R. und Friedenspädagoge sowie Gründer des Zentrums für Friedensforschung und Friedensbildung an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.E-Mail: [email protected]
SABINE ZELGER ist Hochschulprofessorin für Deutschdidaktik an der KPH Wien/Krems und lehrt im Primar- sowie Sekundarstufenbereich. Literaturwissenschaftliche und didaktische Forschungsschwerpunkte sind Politik/Ökonomie und Literatur, GCED sowie Rassismuskritik. E-Mail: [email protected]
Sabine Zelger
Friedensbildung im Deutschunterricht ist ein Anliegen, das gewünscht wird und verordnet ist, auch wenn Zugänge und Materialien rar sind. Zwar sind Ideen aus der Vergangenheit, wie den Zeiten der großen Friedensbewegungen, überliefert, zum Beispiel in Form von pazifistischen Lesebüchern und Konzepten der kritischen Friedenserziehung. Aber kann und muss die Deutschdidaktik mit den audiovisuellen und sozialen Medien, diskursanalytischen und mehrsprachigen Ansätzen, mit dem Fokus auf Handlungsfähigkeit und Ästhetik ihre Zugänge und Materialien nicht erweitern? Dieser Leitartikel argumentiert für einen »transformatorischen Imperativ« (Betty Reardon), der sowohl für die Friedensbildung als auch für den friedensbildenden Deutschunterricht konstitutiv ist. Der Modus, in dem dieser entwickelt und realisiert werden müsste, ist die Frage, wie sie auch den gesamtgesellschaftlichen Friedensprozess antreibt und begleitet. Entlang von Fragen aus Grundlagentexten zu Krieg und Frieden von Virginia Woolf (1938), Rossana Rossanda (1974), Susan Sontag (2003) und Judith Butler (2010) werden sprach-, literatur- sowie mediendidaktische Perspektiven für die Friedensbildung entwickelt und mit Blick auf die Beiträge des ide-Heftes Frieden dargelegt.
Frieden verstehen wir – im Einklang mit den aktuellen Vorstellungen der Friedensforschung – nicht bloß als einen Zustand des Gegenteils von Krieg, sondern als einen Prozess, der Krieg, Gewalt und Unrecht jeder Art zu überwinden trachtet. Es geht also um ein »Denken als handlungsleitende Kraft«, das »neue widerspruchsreiche Vorstellungen von Frieden entwickeln kann« (Jalka 2018, S. 8). Das bedeutet, dass unser Friedensverständnis sowohl den Widerstand gegen globale Ungleichheiten wie auch gegen die systemische Zerstörung der Biosphäre durch unsere Lebensweise umfasst. »Was so entsteht, ist das Bild eines ›unvollkommenen Friedens‹ [im Sinne Muñoz 2006], welcher der im positiven Sinne unvollkommenen menschlichen Natur und den menschlichen Beziehungen entspricht, die permanent zwischen Konflikt und Kooperation oszillieren.« (Koppensteiner 2018, S. 25)
Dementsprechend meint Friedensbildung die Herausbildung von Fähigkeiten, unfriedliche Prozesse und Strukturen zu erkennen, zu analysieren und nach Möglichkeit zu verändern. Dies ist ein sehr umfangreiches Unterfangen, das auch Selbstbeobachtung und Selbstreflexion einschließt. Also kann die Bereitschaft zur Friedensbildung nicht verordnet, wohl aber gefördert werden. Wie jede politische Bildung involviert auch die Friedensbildung Lehrende und Schüler:innen gleichermaßen und kann nur in demokratischen Arrangements verwirklicht werden. Widersprüche und Mehrdeutigkeiten sind nicht zu vermeiden, sondern bilden die Grundlage für ästhetische Erfahrungen und kritische Reflexion.
Maßgeblich für schulische Friedensbildung ist außerdem, dass es sich dabei um ein Querschnittsanliegen handelt, das im Deutschunterricht fächerintegrativ, aber auch fächerspezifisch realisiert werden kann. Wie für alle fachübergreifenden und interdisziplinären Themenbereiche ist damit zweierlei nötig: (1) interdisziplinäre Fundierung und (2) Orientierung auch an fachfernen Didaktiken. Das Querschnittsthema muss interdisziplinär – hier eben: friedenswissenschaftlich – fundiert sein, um zu vermeiden, »dass durch die didaktische Reduktion die Querschnittsthemen banalisiert und die hegemonialen Deutungsmuster, die Fachfremden in medialen Diskursen als natürliche vermittelt werden, reproduziert werden« (Zelger 2020, S. 8). Für Friedensbildung ist das Zusammenspiel verschiedener Bezugsdisziplinen vonnöten, damit Fehlstellen und blinde Flecken ausgeglichen werden können: Politikwissenschaftliche, psychologische und kulturwissenschaftliche Ansätze der Friedensforschung müssen miteinander und schließlich auch mit den literatur-, sprach- und medienwissenschaftlichen Grundlagen des Deutschunterrichts verbunden werden. Aber geht das?
Die Verbindung von Deutschdidaktik, Deutschunterricht und Friedensbildung hat eine lange Tradition,1 aber man darf sich nicht erwarten, dazu immer und in jeder Epoche auch programmatische und konzeptionelle Reflexionen zu finden (vgl. die Bibliographie von Jan Theurl und Werner Wintersteiner in diesem Heft).
Denken wir nur an die Generation explizit pazifistischer Literat:innen nach 1945, die ihren Weg in die Lesebücher und in den Schulunterricht gefunden haben, wie Wolfgang Borchert, Heinrich Böll, Ernst Jandl, H. C. Artmann oder Ingeborg Bachmann. Denken wir an die Bemühungen von Autor:innen und Wissenschaftler:innen, den Wert des Friedens mittels Kinder- und Jugendliteratur zu verbreiten, etwa an Jella Lepmans großartiges Projekt der Internationalen Jugendbibliothek (IJB), heute im Schloss Blutenburg, oder an die zahlreichen Autorinnen, die teilweise auch in der österreichischen Stimme der Frau publizierten, wie Mira Lobe, Christine Nöstlinger, Renate Welsh usw., schließlich auch an Karl Bruckner (Sadako will leben war nicht sein einziges pazifistisches Buch).
In den 1970er Jahren, als die Friedensbildung international wie auch im deutschen Sprachraum einen großen Aufschwung nahm und sich als Kritische Friedenserziehung konstituierte, traf sie auf eine Bewegung, die sich als kritische Deutschdidaktik verstand. Richtungsweisend war etwa das Projekt Sprache als soziales Handeln, ein friedenspädagogisches Curriculum für den Deutschunterricht, das Horst Rumpf, Dietmar Larcher und Bernhard Rathmayr (1973) mit Unterstützung der pazifistischen Berghof-Stiftung entwickelten. Ein weiteres praktisches Ergebnis dieser Arbeit war das österreichische Schulbuch für die Sekundarstufe I, unter der oberfläche (Dermutz/Larcher u. a. 1977).
Besonders in den 1980er Jahren, unter dem Einfluss der damaligen großen Friedensbewegungen, wurden spezifisch deutschdidaktische Konzepte erarbeitet und umgesetzt, zu nennen sind etwa Franz Hebel, Ursula Heukenkamp, Ingelore Oomen-Welke, Wolfgang Popp, Gerhard Rupp, Christiane Rajewsky, Albrecht Schau, Reiner Steinweg oder Bernhard Weisgerber (vgl. ide 1/1991).
Seit den 2000er Jahren scheint sich der Schwerpunkt der friedenspädagogischen Bemühungen auf den Bereich des Umgangs mit Mehrsprachigkeit und Deutsch als Zweitsprache verlagert zu haben (vgl. Wintersteiner 2019).
Und heute?
Wenn es um Krieg geht, sind Aufrufe und Antworten auf der Tagesordnung: militärische, politische, analog und digital. Werden Fragen gestellt, sind sie auf Lösungen fokussiert und gern an die Adresse von Feldherren oder allmächtigen Führungskräften gerichtet, aus deren Perspektive heraus für den Waffenstillstand, den Sieg, auch für Rückzug oder Sicherheit argumentiert wird. Mit einer Friedensbildung, die einem »transformatorischen Imperativ« folgt und auf Veränderungen in sozialen Strukturen und Denkmustern für ein planetarisches Bewusstsein abzielt (Reardon 1988; zit. nach Wintersteiner in diesem Heft), ist dieser Umgang mit Krieg und Konflikt unzureichend, ja kontraproduktiv. Stattdessen sind es Fragen, die den Motor für den gesamtgesellschaftlichen Friedensprozess bilden und die auch dem friedensbildenden Deutschunterricht zugrunde gelegt werden können: von Virginia Woolf (1938/2021), Rossana Rossanda (1974/1994), Susan Sontag (2003) und Judith Butler (2010). Nicht zufällig sind es Autorinnen aus den Bereichen Literatur-, Kultur-, Medienwissenschaften und Journalismus, die den Fragemodus wählen, um das Ungenügen enger Friedensvorstellungen und Mechanismen versteckter Gewaltlogiken zutage zu fördern. Dieser lässt sich auch für Anliegen der Friedensbildung in Literatur-, Medien- und Sprachdidaktik nutzen.
Angesichts großer Themen und allzu großer Herausforderungen ist es beliebt, simple große Fragen zu stellen: Wie Krieg verhindern, beenden, Sicherheit garantieren? Kann und soll dies jemand beantworten? An wen sind solche Fragen gerichtet? Welches Wissen, für Antworten und Rückfragen, für neue Fragen, ist nötig? Welche Rolle spielen Beteiligung und Unbeteiligtsein der Adressierten?
Virginia Woolf wurde am Vorabend des Zweiten Weltkriegs mit der Frage nach der Verhinderung eines Krieges konfrontiert, gibt jedoch keine Meinung kund, sondern holt aus. Sie eruiert, wer hier wen befragt und wem der Zugang zur Beteiligung verwehrt wird. Unter Rückgriff auf verschiedene Fakten fragt sich Woolf, ob diese nicht den Beleg dafür liefern, »dass Bildung, die beste Bildung der Welt, dem Menschen nicht beibringt, Gewalt zu hassen, sondern sie anzuwenden [.]« (ebd., S. 48; kurs. S. Z.). Fänden wir heute nicht ebenso viele Beweise für diese These? Aber Woolf arbeitet nicht an Antworten, sondern fragt nach den Bedingungen für die Erforschung dieser Frage und konstatiert schließlich: Mehr als Geschichte und Biografie stünden ihr, der als Frau der Zugang zum höheren Bildungssystem verwehrt war, nicht zur Verfügung, insofern könne sie auch keine direkte Antwort auf die Frage danach geben, »welche Art der Bildung […] der Jugend beibringen [wird], Krieg zu hassen« (ebd., S. 37; kurs. S. Z.). Für Unbeteiligte sei zuallererst die Möglichkeit der Beteiligung zu schaffen.
An solchen Frageketten und Hinterfragungen, mit denen Woolf kritische Aussagen zu Zuständigkeit und Zugänglichkeit, Partizipation und Wissen trifft, kommt Friedensbildung nicht vorbei, genausowenig wie die jüngst vom österreichischen Gesetzgeber verordnete »Friedenserziehung«. Dies gilt ganz grundsätzlich für das Zurückweisen großer Fragen, was zu tun, wie Krieg zu verhindern sei, das gilt aber auch für die Zumutung, Exkludierte und Benachteiligte zu adressieren und sie, ohne sie mit Mitteln auszustatten, mit zur Verantwortung zu ziehen.
Im Deutschunterricht zeigt sich diese Ungleichheit strukturell heute schon im Selbstverständnis der Gegenstände deutsche Literatur und Sprache, die in der Migrationsgesellschaft neu auszuverhandeln wären (vgl. Kepser/Zelger i. E.). Denn welches Wissen steht zur Debatte, welche (Kriegs- und Friedens-)Geschichten werden gelesen und erzählt und was sind die Sprachen, die gefördert oder nicht einmal zugelassen werden? Mit anderen Worten: Wie kann die postmigrantische Normalität auch in der Schule und der Lehrer:innenbildung sichtbar werden? Dass strukturelle Ausschlüsse und Ausblendungen gewaltvoll sind und auch auf diese Weise erfahren werden, zeigt Verena Plutzar in diesem Heft unter dem Titel »Gehör verschaffen« auf und leitet daraus nötige Veränderungen der institutionellen Sprachpraktiken ab. Ein Deutschunterricht mit erfahrungsorientierten Zugängen, der heterogene Lerner:innen im Blick hat, wird neben den Sprachen auch Kriegs- und Friedenserzählungen pluralisieren und in unterschiedlichen multimedialen und multimodalen Formen zum Thema machen, wie dies hier in Beiträgen zu Comics (von Matthis Kepser), Games (von Niku Dorostkar und Alexander Preisinger) und Medienverbünden (von Sophie Tschulik sowie Max Aigner, Roxana Gol und Lukas Rammerstorfer) gezeigt wird. In solchen bildreichen fiktionalen Kriegsgeschichten kann Fragen zu Verhinderungen von Kriegen, Vorkriegen und dem Frieden gemeinsam nachgegangen werden – auch wenn die Lernenden mit unterschiedlichen Erfahrungen und Fähigkeiten ausgestattet sind. Alle sind zugelassen und alles wird dazu getan, jeder Person Gehör zu verschaffen.
Der Aspekt, der mit dieser Frage thematisiert wird, ist die Zeit. Sie regt dazu an, Krieg und Frieden im Kontext des Gewordenseins zu betrachten und damit die vergangenen, die transformierten und transformierbaren Verhältnisse in den Blick zu nehmen. Auf diese Weise werden immer neue Antworten denk- und sagbar – oder bereits formulierte verlieren ihren unumstößlichen Charakter.
Wenn sich Rossana Rossanda 1974 mit dem berühmten Essay von Virginia Woolf befasst, treten unweigerlich Fragen zur Aktualität des Textes zutage. Stimmen Betrachtungen, Kritik und Forderungen noch, die wider Krieg und Kriegsgefahren in Anschlag gebracht werden? Passt die Analyse noch aus zeitgenössischer, aus gegenwärtiger Sicht? Bei ihrer Befragung geht die italienische Journalistin weniger auf die patriarchalen Grundstrukturen ein, die in das Beteiligtsein an Politik und Militär nach wie vor eingelassen waren, sondern auf die gemachten Erfahrungen mit Krieg und Gewalt.
Wissen wir nicht, daß dieser Krieg die ganze Welt in Flammen setzte, jegliche zivile Errungenschaft gefährdete, die Vernichtungslager und Hiroshima mit sich brachte? Guter Gott, während Virginia schrieb, wurden die Rassengesetze unterzeichnet! Wenn sie das gewußt hätte, hätte sie dann noch gesagt, daß die Frauen sich nicht dazu zu äußern gedächten, ehe sie nicht Bildung, Eigentum und Berufstitel erlangt hätten? (Rossanda 1994, S. 42; kurs. S. Z.)
Was Rossana Rossanda hier auf den Punkt bringt, ist für den Deutschunterricht in mehrfacher Weise relevant. Es betrifft den Aspekt der Historizität und Geschichtlichkeit von Textproduktion und -rezeption und mithin den Umgang mit der historischen Dimension von Literatur und Dokumenten. Der konventionelle Literaturgeschichteunterricht, auch wenn schon lange seitens der Fachwissenschaft und -didaktik kritisiert, reproduziert und homogenisiert nationale Kategoriesysteme und hegemoniale Lesarten. Demgegenüber wäre ein themenorientierter und diskursanalytischer Zugang zu empfehlen, der fiktionale und faktuale Texte gleichermaßen heranzieht und der Macht des Sag- und Denkbaren nachforscht. Historische Materialien sind mittlerweile über Datenbanken gut zugänglich,2 auch didaktisch aufbereitet, wie im Beitrag von Caroline Kodym veranschaulicht. Der historischen Dimension lässt sich aber auch, wie in Artikeln dieses Themenheftes vorgeführt wird, in den medialen Transformationen nachspüren, wenn (Anti-) Kriegsklassiker in verschiedenen Ausgaben immer wieder verlegt, neu verfilmt und in Hörbüchern und -spielen umgesetzt werden. Nicht zuletzt kann der Umgang mit Krieg und Frieden in der Entwicklung von Subgattungen und Genres nachvollzogen werden, wie Kriegsfilmen, Erinnerungsliteratur oder in der Entwicklung grafischer Literatur. Diese Anti-Kriegsliteratur als globalisierte Film- und Literaturgeschichte und zugleich parallel zur politischen, sozialen und ökonomischen Geschichte zu lesen, kann schließlich die Augen dafür öffnen, was Rossanda bereits vor einem halben Jahrhundert festgestellt hat, »daß es keinen Krieg der anderen mehr gibt, der von einem Hügel aus betrachtet werden könnte […]. Vor unserer Tür ist Krieg, kaum daß wir um die Ecke biegen, im Nahen Osten, vielleicht auch noch näher; der Staat steht bereits in unserer Tür. Für die Gesellschaft der Unbeteiligten ist die Beitrittsfrist 1914, so glaube ich, abgelaufen.« (Rossanda 1994, S. 43)
Schon bei oben vorgebrachten Fragen wurde durch die Wahl des Personalpronomens »Wir« ein anonymes Kollektiv angerufen, das hier bislang nicht definiert wurde. Was aber ändert sich, wenn diese Gruppe Gestalt annimmt, nationalen, nationalistischen, Klassencharakter oder ein Geschlecht erhält? Wie stehen Rezeptionserlebnisse zueinander, wenn verfeindete »Wirs« mit Kriegsbildern konfrontiert werden?
Sich von den Kriegen fernzuhalten, ist seit den medial detailreich übermittelten Angriffen von NATO-Staaten, etwa im Irak- oder Afghanistankrieg, nicht mehr möglich, es gibt keine Gesellschaft der Unbeteiligten mehr. Mit dieser Transformation und Expansion von Krieg in permanent verfügbare mediatisierte und medialisierte Gewalt tritt das Medium ins Zentrum des Interesses und mithin wiederum ein genuin deutschdidaktisches Thema. Gewaltbilder, Gewaltsprache, Gewalterzählungen kursieren im Netz und adressieren pausenlos Gesellschaften, die hierzulande positiv oder negativ fast nur ökonomisch und politisch von Kriegen betroffen sind.
Viel ist noch zu leisten, um Wege für einen friedensorientierten Umgang mit den medialen Gewaltangeboten aufzeigen, beschreiten und diskutieren zu können. Anknüpfen können wir an rassismuskritische und postkoloniale Theorien, die danach fragen, wie das Wir konstituiert, von welchen Machtverhältnissen es stabilisiert wird, was dabei sichtbar ist und was unsichtbar bleibt. Bei der Rezeption von Bildern und Erzählungen werden unterschiedliche und mehrfachzugehörige Gruppen Betroffenheit different erfahren und Aussparungen oder Herabwürdigungen unterschiedlich scharf stellen. Dies ist bei Gewaltdarstellungen besonders zu berücksichtigen, da deren Wirkungen oft binären Freund/Feind-Logiken folgen und unmittelbar sowie drastisch sind. Gut kann dazu Sontags Frage im Zwischentitel – wie auch die folgenden – für die Schulung visueller Literalität produktiv gemacht werden: ob »man durch ein Bild (oder eine Gruppe von Bildern) dazu gebracht werden [kann], sich aktiv gegen den Krieg einzusetzen« (Sontag 2022, S. 142 f.; kurs. S. Z.), ob es stimmt, »daß diese Fotos, die nicht den Zusammenstoß zweier Armeen, sondern das Abschlachten unbeteiligter Armeen zeigen, nur zur Ablehnung des Krieges anregen können« (ebd., S. 15; kurs. S. Z.) oder dass »der Schock ein Verfallsdatum« (ebd., S. 95; kurs. S. Z.) hat.
Bei den Materialien, die in diesem Heft didaktisiert werden, sind es insbesondere fiktionale Erzählungen verschiedener Medien, an denen Sontags Fragen erprobt werden können – sie schaffen die nötige Distanz zu Begegnung und Erörterung dieser Aspekte. Deutschdidaktische Zugänge zu pragmatischen Texten mit dramatischen Fragen zur Friedensfindung bieten zwei Beiträge, die neben der Rezeption auch die Textproduktion fokussieren. Romana Haslinger befasst sich mit Reportagen über Friedensbemühungen in Nigeria und Ruanda und stellt didaktisch das hybride Genre, das zwischen Objektivität und Subjektivität changiert, ins Zentrum. Niku Dorostkar entwirft friedenslinguistische Wege zur kritischen Sprachreflexion am Beispiel von Kommentaren auf derStandard.at, die zu einem Artikel nach dem ersten Jahr des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine veröffentlicht wurden.
Für beide Perspektiven der Rezeptions- und Produktionsästhetik liefert Susan Sontag in ihrem Essay Das Leiden anderer betrachten (2022 [2003]) noch viele weitere Fragen, die für Aufgabenstellungen zu faktualen und fiktionalen Texten produktiv gemacht werden könnten: »Gibt es ein Mittel, gegen die so nachhaltig verführerische Wirkung, die vom Krieg ausgeht? Und kann es sein, daß diese Frage von einer Frau eher gestellt wird als von einem Mann?« (Ebd., S. 142; kurs. S. Z.) Der Zusammenhang der beiden Fragen lässt sich auch anhand der Materialien dieser ide diskutieren, wenn Kriegscomicautor:innen oder Kriegsspielproduzent:innen sowie -nutzer:innen vor allem männlich sind. Die pazifistisch und kriegskritisch intendierten Fragestellungen dieses Leitartikels sind jedenfalls von Feminist:innen formuliert worden, die die Beteiligung an Krieg und Frieden auf Basis der Analyse von gesellschaftlichen Machtverhältnissen diskutieren.
Neben den Fragen zum Beteiligtsein und zur Beteiligung, differenziert nach Ausschluss, Erfahrung und Interessen, ist für friedensbildende Prozesse auch die Handlungsdimension und mithin die ethisch-politische Perspektive konstitutiv. Denn wie werden Analyse und Reflexion sowie die Sensibilität für Friedensfragen in Tun überführt? Wie die Einblicke in die Macht des Diskurses in die Partizipation an Gegendiskursen, an Widerparts gegenüber Gewaltverhältnissen der Lebenswelt?
In Judith Butlers Buch Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen (2010) – auch eine Frage, die die Auseinandersetzung mit den Materialien unseres Heftes anleiten könnte – werden nicht nur Antworten auf Sontags Anliegen vorgeschlagen, sondern darüber hinaus auch Wege zur Veränderung aufgezeigt. Durch das Zirkulieren von (Kriegs- und Gewalt-)Bildern in festgefügten Rahmen werden Vorstellungen und Kollektive stabilisiert und normalisiert, sodass ganze Personengruppen, wie Flüchtlinge oder Terrorist:innen nicht mehr betrauerbar sind. Wie sich aber zeigt, können solche Rahmen auch verschoben werden, etwa wenn Bilder aus Abu Graib oder das Foto des ertrunkenen kurdischen Jungen an der türkischen Küste viral gehen. Schlagartig ändert sich der Blick auf Krieg und »Wirtschaftsflüchtlinge« – Leid wird sichtbar, beklagbar, beklagt. Butler fragt: »Was geschieht in solchen Momenten? Handelt es sich bloß um flüchtige Momente, in denen der Rahmen als erschlichene und erzwungene Plausibilität enthüllt und die kritische und überbordende Befreiung vom Zwang einer illigitimen Autorität eingeleitet wird?« (Butler 2010, S. 19; kurs. S. Z.)
Auch in der Friedensbildung sind solche Momente der Befreiung, ob flüchtig oder nachhaltig, möglich und der Deutschunterricht stellt gerade durch seine Aufgaben- und Fragestellungen zu Sprache, Literatur und Medien eine Vielfalt an Zugängen für Wahrnehmungsbrüche und Dekonstruktion bereit. Sophie Tschulik und das Autor:innentrio Aigner, Gol, Rammerstorfer zeigen etwa anhand von medial unterschiedlich realisierten Szenen aus Lowrys Hüter der Erinnerung und Remarques Im Westen nichts Neues, wie theoretisch fundierte Sehbehelfe normalisierte Vorstellungen von Krieg und Frieden aufbrechen. Wie mit der Methode des philosophischen Gesprächs Fragen zum Krieg ausverhandelt werden können, legt Kristina Langeder-Höll dar und zitiert einen Jugendlichen: »Vielen Dank, dass wir endlich über dieses Thema gesprochen haben!« Der Lernbereich »Sprechen und Zuhören« wird im Deutschunterricht oft nur beiläufig berücksichtigt und kaum didaktisch reflektiert. Für die Friedensbildung ist er konstitutiv, wie in den Anschlusskommunikationen, wenn Kriegshandlungen in Games problematisiert oder friedensbildende Fragen zu ansprechenden Comics bearbeitet werden: von Fragen zu militärischen Akteuren, zur Rolle der Frauen, zu Feinddarstellungen und dem Leid der Zivilbevölkerung, zu Profiteuren, Ursachen und Folgen des Krieges, zu historischen Kontexten und Friedensmaßnahmen. Diese Fragen von Matthis Kepser an das Genre von (Kriegs-)Comics lassen sich, ebenso wie intersektionale Perspektiven auf Erzählungen (siehe Michael Hofmann in »ide-empfiehlt«), als »Friedensbrillen« für verschiedenste Bild-, Hör- und Textmedien heranziehen. Welche Begriffe der Friedensforschung und Friedenspädagogik dabei Aufgabenstellungen und Didaktisierungen leiten können, kann in Werner Wintersteiners Friedensglossar nachgelesen werden, das die Basis für die Beiträge dieses Heftes bildet.
Zweifellos können durch die vorliegenden Artikel und Anregungen Rahmen so verschoben werden, dass die Gefährdung des Lebens im Krieg wahrgenommen werden kann und die Unbetrauerbarkeit von Menschengruppen zum Skandal wird. Auch ist den Beiträgen der »transformative Imperativ«, der nach Betty Reardon im Zentrum der Friedenserziehung stehen muss (vgl. Jenkins 2013), auf unterschiedliche Weise eingewoben, und sei es auch nur in Gedichten der Zuversicht von Lena Niekoj, die hier als Kommentar abgedruckt sind. Ob daraus auch, wie Judith Butler fordert, »ethischer und politischer Widerstand gegen die Verluste von Leben im Krieg« resultiert, kann von der Deutschdidaktik nicht gewährleistet, ja auch nicht beantwortet werden. Sehr wohl lassen sich im Unterricht jedoch Rahmenbedingungen der Frage »Was soll ich tun?«3 reflektieren und friedensorientierte Widerstände denk- und sagbar machen. Dem trägt in der Tat auch der eingangs zitierte neue österreichische Lehrplan Rechnung, wenn mit einem weiten Verständnis von Integration Fachgrenzen überschritten und nicht nur Lernende, sondern auch Lehrende und das ganze Schulpersonal adressiert werden:
Für das integrative Denken der ökologischen, ökonomischen und sozialen Dimension nachhaltiger Entwicklung sind sowohl fachspezifische als auch fächerübergreifende Bezüge von großer Bedeutung. Schülerinnen und Schüler und das gesamte Schulteam übernehmen gemeinsam Verantwortung, wodurch Schulen Modelle für eine zukunftsfähige Lebensgestaltung sind. (BMBWF 2023)
Wie das Gedicht von Margret Kreidl auf der Umschlagseite dieses Themenheftes ist auch die Verordnung durch Fußnoten zu ergänzen und mit Fragen weiterzudenken.
BMBWF – BUNDESMINISTERIUM FÜR BILDUNG, WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG (2023): Lehrplan der allgemein bildenden höheren Schule. BGBl. II. Ausgegeben am 2. Jänner 2023, Nr. 1.
BUTLER, JUDITH (2010): Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Frankfurt/M.: Campus.
DERMUTZ, SUSANNE; LARCHER, DIETMAR; ARBEITSGRUPPE SPRACHE ALS SOZIALES HANDELN (Hg., 1977): Unter der Oberfläche: Lese- u. Arbeitsbuch f. d. Hauptschulen u. d. Unterstufe d. allgemeinbildenden höheren Schulen. 4 Bände. Wien: Österreichischer Bundesverlag.
ide. informationen zur deutschdidaktik (1991), H. 1: Friedenserziehung. Hg. von Werner Wintersteiner. Innsbruck: StudienVerlag.
JALKA, SUSANNE (2018): Vorwort. In: Dies. (Hg.): Denken. Kunst. Frieden. Annäherungen an das Menschsein. Berlin-Boston: De Gruyter, S. 7–10.
JENKINS, TONY (2013): The transformative imperative: The National Peace Academy as an emergent framework for comprehensive peace education. In: Journal of Peace Education. DOI: 10.1080/17400201.2013.790251.
KEPSER, MATTHIS; ZELGER, SABINE (Hg., i. E. ): Politische Dimensionen der Deutschdidaktik. Frankfurt/M.: Peter Lang (= Positionen der Deutschdidaktik). [Im Erscheinen.]
KOPPENSTEINER, NORBERT (2018): Kulturen der Frieden. Eine Transrationale Perspektive. In: Jalka, Susanne (Hg.): Denken. Kunst. Frieden. Annäherungen an das Menschsein. Berlin-Boston: De Gruyter, S. 23–45.
MUÑOZ, FRANCISCO (2006): Der unvollkommene Frieden. In: Dietrich, Wolfgang; Echavarría Alvarez, Josefina; Koppensteiner, Norbert (Hg.): Schlüsseltexte der Friedensforschung. Wien: LIT, S. 92–139.
ROSSANDA, ROSSANA (1994 [1974]): Die »Gesellschaft der Unbeteiligten«. In: Dies.: Auch für mich. Aufsätze zu Politik und Kultur. Hamburg: Argument, S. 40–44.
RUMPF, HORST; LARCHER, DIETMAR; RATHMAYR, BERNHARD (1973): Sprache als soziales Handeln. Ein friedenspädagogisch orientiertes Curriculum für die Sekundarstufe I. In: Wulf, Christoph (Hg.): Kritische Friedenserziehung. Frankfurt/M.: edition suhrkamp, S. 448–473.
SONTAG, SUSAN (2022 [2003]): Das Leiden anderer betrachten. München: Hanser.
UN GENERAL ASSEMBLY (2015): Transforming our world. The 2030 Agenda for Sustainable Development – A/Res/70/1. Online: https://www.un.org/en/development/desa/population/migration/generalassembly/docs/globalcompact/A_RES_70_1_E.pdf [Zugriff: 18.7.2024].
WINTERSTEINER, WERNER (2019): Friedenserziehung in der Perspektive von Mehrsprachigkeit. In: Fäcke, Christiane; Meißner, Franz-Joseph (Hg.): Handbuch Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik. Tübingen: Narr, S. 209–213.
WOOLF, VIRGINIA (2021 [1938]): Vom Verachtetwerden oder Drei Guineen. Zürich: Kampa.
ZELGER, SABINE (2020): Literatur. Macht. Wirklichkeit. Zur theoretischen Fundierung von Querschnittsthemen im Deutschunterricht. Antrittsvorlesung. Wien-Krems: KPH (= KPH Antrittsvorlesungen, Bd. 6).
SABINE ZELGER siehe Seite 7.
1 Den kleinen Abriss hat im Folgenden Werner Wintersteiner zusammengestellt.
2 Vgl. z. B. https://zentraleuropa.univie.ac.at/diskurs/krieg-pazifismus/ [Zugriff: 19.9.2024].
3 Dies ist einer der vorläufigen Titel von Virginia Woolfs Essay Vom Verachtetwerden oder Drei Guineen von 1938.