Frieden - Gene Wolfe - E-Book

Frieden E-Book

Gene Wolfe

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Beschreibung

Alden Dennis Weer lebt in einem Haus, dessen Zimmer er nicht alle kennt, und doch glaubt er, dass er in manchen davon aufgewachsen ist. Seine Zeit verbringt er größtenteils in einem Sessel vor einem warmen Kaminfeuer, wo er in Gedanken vergangene Jahrzehnte wiedererstehen lässt und sich nur manchmal, wie von fern, die Frage stellt, wie er eigentlich hierher geraten ist. Zentrale Figur der Erinnerungen, in denen er sich ergeht, ist seine Tante Olivia, bei der er einen Großteil seiner Kindheit verbracht hat. Aber was hat es mit den drei Männern auf sich, die dieser jungen, tatkräftigen Frau den Hof machen? Wo ist das geheimnisvolle Kunstwerk aus Porzellan verborgen, dem Tante Olivia so beharrlich nachstellt? Und wieso ist die hübsche Bibliothekarin, für die Alden schwärmte, so plötzlich aus seinem Leben verschwunden? Ob Geistergeschichte, realistische Erzählung oder visionäres Historienspiel – "Frieden" gilt unter Kennern von Gene Wolfe, neben dem "Buch der neuen Sonne", als sein bester Roman.

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Seitenzahl: 468

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Aus dem

amerikanischen Englisch

übersetzt von

Hannes Riffel

Impressum

Deutsche Erstausgabe

Titel der Originalausgabe: Peace

Erstmals erschienen 1975 bei Harper & Row in New York

© 1975 by Gene Wolfe

© der Übersetzung 2025 by Hannes Riffel

© dieser Ausgabe 2025 by Carcosa Verlag, Wittenberge

Alle Rechte vorbehalten

Wir danken Christian Dittus von der literarischen Agentur Fritz + Fritz in Zürich für die freundliche Vermittlung // Die vorliegende Übersetzung folgt der im Dezember 2012 bei Tom Doherty in New York erschienenen Second Orb Tradepaperback Edition // Das Zitat aus Tausendundeine Nacht auf Seite 117 entstammt dem ersten Band der Ausgabe letzter Hand der Übersetzung von Enno Littmann (Frankfurt am Main: Insel, 1953), S. 167/168, das Zitat auf Seite 118 demselben Band, S. 186 // Verlag und Übersetzer danken Christopher Ecker & Kai U. Jürgens für die unermüdliche fachmännische Unterstützung

Carcosa Verlag ist ein verschwistertes Imprint von

Memoranda Verlag | Hardy Kettlitz | Ilsenhof 12 | 12053 Berlin

www.carcosa-verlag.de | www.memoranda.eu

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung

[email protected]

Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von §44b UrhG behalten wir uns ausdrücklich vor.

Lektorat: Karen Nölle

Korrektorat: Udo Klotz

Umschlaggestaltung: s.BENeš [www.benswerk.com]

E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz

ISBN: 978-3-910914-36-0 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-910914-37-7 (E-Book)

Eins | Alden Dennis Weer

Die Ulme, einst von Eleanor Bold gepflanzt, der T}ochter des Richters, ist letzte Nacht umgestürzt. Ich habe geschlafen und nichts gehört, doch die Anzahl der geborstenen Äste und die Größe des Stammes lassen vermuten, dass es furchtbar gekracht haben muss. Ich bin aufgeschreckt – ich saß in meinem Bett vor dem Feuer –, aber bis ich ganz wach wurde, war nichts mehr zu hören außer dem Tropfen des schmelzenden Schnees, der von der Dachtraufe rann. Ich weiß noch, dass mein Herz pochte und ich befürchtete, ich könnte einen Infarkt haben, und dann dachte ich benommen, der Herzinfarkt hätte mich vielleicht geweckt, und dann, dass ich vielleicht tot war. Ich versuche, die Kerze so wenig wie möglich zu benutzen, aber da habe ich sie angezündet, mich in die Decken gewickelt, am Kerzenschein erfreut und dem tropfenden Schnee und den schmelzenden Eiszapfen gelauscht. Dabei hatte ich den Eindruck, das ganze Haus schmilzt wie eine Kerze, wird weich und sickert in den Rasen hinein.

Als ich heute Morgen aus dem Fenster schaute, sah ich den Baum. Ich holte die Axt mit dem langen Stiel und ging hinaus, hackte ein paar abgebrochene Äste noch kleiner und legte sie, obwohl es nicht mehr kalt war, aufs Feuer. Seit meinem Schlaganfall kann ich die große kanadische Axt mit dem Doppelblatt nicht mehr handhaben, aber mindestens zweimal am Tag lese ich, was darauf steht: »Buntings Best, 4 lb. 6 oz., Hickory Handle« ist in das Holz eingebrannt. Sie war also, anders gesagt, gebrandmarkt, wie ein Stier; nachdem ich es zum drei- oder vier- oder fünfhundertsten Mal gelesen hatte, begriff ich endlich, dass daher wohl der Ausdruck »brandneu« stammte – Werkzeuge wie meine Axt (und zweifellos auch andere Dinge, vor allem, als noch mehr aus Holz gemacht war) wurden, nachdem sie einer Prüfung standgehalten hatten oder von dem Prüfer als Abnahmebestätigung, mit dem Markenzeichen des Herstellers versehen. Damit war der Herstellungsvorgang beendet – sie waren bereit für den Verkauf und »brandneu«. Wirklich schade, dass mir das erst jetzt eingefallen ist, wo es niemanden gibt, dem ich es erzählen könnte. Aber vielleicht ist das auch besser so; es gibt viele solche Fragen, und die Leute wollen, wie ich festgestellt habe, die Antworten eigentlich gar nicht wissen.

Als ich noch bei meiner Tante Olivia wohnte, schenkte ihr Ehemann ihr eine Porzellanfigur von Napoleon, für ihren Kaminsims. (Vermutlich steht sie immer noch dort – das ist gut möglich; ich sollte ihr Zimmer suchen und nachschauen.) Besucher dachten oft laut darüber nach, warum er immer eine Hand in seine Weste schob. Tatsächlich kannte ich den Grund, denn ich hatte ungefähr ein Jahr zuvor etwas darüber gelesen – in Ludwigs Biografie, meine ich. Anfangs verriet ich ihn, weil ich hoffte, ihre Neugier zu befriedigen (und dabei die reale, wenn auch nicht greifbare Befriedigung zu erlangen, die immer süß ist, aber am süßesten mit dreizehn, und die uns zuwächst, wenn wir kenntnisreich erscheinen und somit implizit auch als effektiv). Später wurde es eher zu einem psychologischen Experiment, da mir aufgefallen war, dass diese unschuldige Bemerkung ausnahmslos kränkend wirkte.

Mein kleines Feuer schwelt nur noch; aber ich bin warm angezogen, und so ist das Zimmer nicht unbehaglich. Der Himmel draußen ist bleiern, und es weht eine leichte Brise. Ich komme eben von einem Spaziergang zurück, und es fühlt sich an, als wäre dem Wetter nach Regen zumute, obgleich der Boden bereits von dem schmelzenden Schnee aufgeweicht ist. Das laue Lüftchen lässt den Frühling erahnen, aber sonst deutet nichts darauf hin; die Rosen und sämtliche Bäume tragen noch die harten, festen Winterknospen; und manche Rosen weisen (wie Mütter, die ihre toten Kinder hochhalten) noch die weichen, verfaulten Schösslinge auf, die sie in den letzten warmen Herbsttagen ausbilden.

Manchmal gehe ich so viel wie möglich zu Fuß und manchmal so wenig wie möglich, aber groß ist der Unterschied nicht. Das mache ich, um mich zu trösten. Wenn ich befinde, dass ein Spaziergang meine linke Seite dem Tod noch näherbringen wird, plane ich jeden Weg mit Bedacht; erst zum Holzstapel (neben dem Porzellanelefanten, dessen Sänfte meinen Füßen als Kissen dient), dann zum Kamin, dann wieder zu meinem Sessel vor dem Feuer. Wenn ich jedoch den Eindruck habe, dass ich mich etwas bewegen sollte, begebe ich mich vorsätzlich auf kleine Ausflüge: erst zum Feuer, um mir die Hände zu wärmen, dann zum Holzstapel, dann wieder zum Feuer, und wenn ich mich dann setze, strahle ich geradezu vor ertüchtigter Tugendhaftigkeit. Aber ganz gleich, welchem Plan ich folge, mein Zustand scheint sich dadurch nicht zu verbessern, und ich wechsle regelmäßig den Arzt. Eines muss man den Medizinern zugutehalten: Wir können sie konsultieren, obwohl sie tot sind, und ich konsultiere die Doktoren Black und Van Ness.

Dr. Black konsultiere ich als Junge (wenn auch nach einem Schlaganfall), Dr. Van Ness dagegen als Mann.

Ich halte mich aufrecht und bin eins achtzig groß, ein stattliches Mannsbild, wenn auch zwanzig (Dr. Van Ness behauptet dreißig) Pfund untergewichtig. Es ist wichtig, zum Arzt zu gehen. Auf eine irrwitzige Weise sogar wichtiger als eine Vorstandssitzung. Während ich mich morgens anziehe, rufe ich mir in Erinnerung, dass ich mich nicht wie gewohnt ausziehen werde, um ins Bett zu gehen, sondern im Behandlungszimmer des Arztes. Das ist in etwa so, als begäbe ich mich zu einer fremden Frau, und daher dusche ich nach dem Rasieren und suche eine frische Unterhose, ein frisches Unterhemd und frische Socken heraus. Um ein Uhr dreißig betrete ich durch Bronzetüren das Gebäude der Cassionsville & Kanakessee Valley State Bank, schreite nochmals durch Bronzetüren zu einem Aufzug und durch eine Glastür ins Wartezimmer, in dem fünf Patienten sitzen und Glinkas Ein Leben für den Zar lauschen: Margaret Lorn, Ted Singer, Abel Green und Sherry Gold. Und ich. Wir lesen Zeitschriften, und zwar Life, Look, Today’s Health und Water World. Zwei von uns lesen Life. Unterschiedliche Ausgaben natürlich, und einer davon bin ich, die andere ist Margaret Lorn. Vor mir liegt (um genau zu sein) ein ganzer Stapel Life, und ich versuche mich, wie so oft, an dem Spiel, sie chronologisch zu ordnen, ohne auf das Datum zu schauen, und verliere. Margaret wirft ihre Ausgabe auf den Tisch und geht zum Arzt hinein, und irgendwie weiß ich, dass das ein Zeichen von Verachtung ist. Ich greife nach dem Heft und entdecke auf dem Titelblatt eine Stelle, die von ihren Händen noch warm ist (und leicht feucht). Eine Schwester kommt ans Fenster und fragt nach Mrs. Price; Sherry, die jetzt sechzehn ist, sagt ihr, dass sie bereits hineingegangen ist, und die Schwester wirkt betrübt.

Sherry wendet sich an Ted Singer: »Ich habe …« Ihre Stimme senkt sich zu einem Flüstern. Ted sagt: »Wir alle haben Probleme.«

Ich gehe zu der Schwester, eine Frau, die ich nicht kenne, eine blonde Frau, die vielleicht schwedischer Abstammung ist. Ich sage: »Bitte, ich muss den Arzt sehen. Ich sterbe.«

Die Schwester: »Diese Leute sind alle vor Ihnen dran.«

Ted Singer und Sherry Gold sind beide offensichtlich viel jünger als ich, aber gegen dergleichen kommt man nicht an. Ich setze mich wieder, und die Schwester ruft meinen Namen – in eine Kabine, um mich auszuziehen.

Dr. Van Ness ist nur wenig jünger als ich und wirkt auf jene trügerische Weise kompetent wie die Mediziner im Fernsehen. Er fragt, was denn los sei, und ich erkläre ihm, dass ich zu einer Zeit lebe, in der er und all die anderen tot sind, und dass ich einen Schlaganfall hatte und seine Hilfe benötige.

»Wie alt sind Sie, Mr. Weer?«

Ich sage es ihm. (Wobei ich mir nicht ganz sicher bin.)

Seinem Mund entschlüpft ein klitzekleiner Laut, und er öffnet die Aktenmappe, die er in Händen hält, und nennt mir mein Geburtsdatum. Es ist im Mai, und da findet eine Party statt, angeblich für mich, im Garten. Ich bin fünf. Der Garten befindet sich seitlich am Haus, hinter der großen Hecke. Es ist ein großer Garten, nehme ich jedenfalls an, selbst für Erwachsene, groß genug für Badminton und Krocket, wenn auch nicht für beides gleichzeitig; einem Fünfjährigen kommt er riesig vor. Kinder werden in kastenförmigen, schwankenden Autos gebracht, als wären sie Spielsachen, die in kleinen Lastern angeliefert werden, die Mädchen in rosafarbenen Spitzenkleidchen, die Jungen in weißen Hemden und marineblauen kurzen Hosen. Ein Junge trägt eine Mütze, die wir in die Brombeeren werfen.

Heute ist Frühling, eine Jahreszeit, die im Mittleren Westen weniger als eine Woche andauern kann, sodass die Narzissen in der Hitze die Köpfe hängen lassen, bevor sich die Blüten richtig geöffnet haben – aber jetzt ist Frühling, echter Frühling, und der Wind peitscht den ersten Löwenzahn, der ebenfalls Geburtstag hat, einmal für dieses Jahr, einmal für das letzte, zehn um daran zu wachsen und ein Zwicken für einen Zentimeter. Die Kleider der Mütter reichen ihnen bis eine Handbreit über die Knöchel und haben eine dem Anlass angemessene Farbe; sie mögen breitkrempige Hüte mit flacher Krone und Gagatperlen. Ihre Röcke flattern, und sie lachen, beugen sich vor, um sie zu raffen, halten mit einer Hand ihren Hut, wenn die Krempe flattert, und der Wind fährt in ihre Perlen, sodass sie rasseln wie Vorhänge in einem tunesischen Bordell.

Im Windschatten der Garage, auf dem ordentlich gemähten Rasen, gibt es Limonade für sie und einen rosafarbenen Kuchen mit rosafarbener Glasur; die Kerzen darauf erfüllen, wenn man sie mit einem Atemzug ausbläst, jeden Wunsch. Meine Tante, die violette Augen und schwarze Haare hat, trinkt lieber Eiswasser aus einem großen Kelch, lässt ihn in ihrer Hand kreisen, als wärmte sie Brandy; Wasser aus Cassionsville, aus dem Kanakessee River, das Heimweh nach seinen Welsen hat. Zu ihren Füßen liegt ein weißer Pekinese so groß wie ein Spaniel, und er knurrt, wenn jemand ihm zu nahe kommt. (Lacht nur, Ladies, aber Ming-Sno beißt.)

Die Schwestern Mrs. Black und Mrs. Bold sitzen nebeneinander. Sie haben – zusammen, als wären sie die Göttinnen ganzer Nationen, die sich verbündet haben, um die Ländereien fremder Mächte (mich) zu verheeren – Bobby Black mitgebracht. Barbara Black hat kastanienbraunes Haar, regelmäßige Gesichtszüge und lange, weiche Wimpern; seit sie ihr Kind zur Welt brachte, hat sie – wie meine Großmutter behauptet, die als flüchtiges, rosafarbenes Gespenst auf meiner Party herumspukt – »zwanzig Pfund gesundes Fleisch zugelegt«; aber Farbe hat sie deshalb keine bekommen, sondern weist weiterhin jene zarte, rosige Tönung auf, mit der alle Bolds geschlagen sind. Ihre Schwester ist strahlend blond, schlank und so biegsam wie eine Gerte – was anderen Frauen missfällt, denn für sie lässt körperliche Biegsamkeit auf moralische Flexibilität schließen, und sie trauen Eleanor Bold nicht (und schreiben ihr, im Stillen wie auch bei den Gesprächen im nachbarlich hilfsbereiten methodistischen Häkelkreis, die unmöglichsten Liebhaber zu: Landarbeiter und Feuerwehrleute, die vorgeblichen Söhne verstorbener Pastoren, den schweigsamen Stellvertreter des Sheriffs).

Dieses hohe weiße Haus gehörte meiner Großmutter, und da unsere Mütter auf dem Rasen sehen können, was wir da treiben, halten wir uns – weitgehend – drinnen auf, poltern die steile, schmale teppichlose Treppe rauf und runter, die vom ersten Stock in den zweiten führt, sodass wir dort lautlos kichernd das riesige Bild des toten Bruders meines Vaters anstarren können, das, unaufgehängt, im hintersten, kältesten Zimmer an der Wand lehnt.

Es wurde, wie ich aus geheimer Quelle weiß, welche sich unter dem schlaflosen, prüfenden Blick der Spiritistenvereinigung von Cassionsville, die meine Tante Arabella vor Kurzem erst neu organisiert hat, als Hannah entpuppen könnte (einst die Köchin meiner Großmutter und jetzt die meiner Mutter) – es wurde, sage ich, fast genau ein Jahr vor seinem Tod gemalt. Er sieht darauf aus wie ungefähr vier, ein Kind mit traurigem Blick und dunklen Haaren, das bereitwillig, aber ohne Freude dasteht, um sich porträtieren zu lassen. Er trägt weite rote Hosen wie ein Zuave, ein weißes Seidenhemd und eine schwarze Samtweste, und er riecht, nachdem er so lange mit ihnen eingelagert war, nach Äpfeln und nach Steppdecken (von Hand genäht, und zwar so unglaublich fein, dass jede in ihrem stofflichen Dasein ein weiches, warmes Mahnmal für die endlosen Mühen der dienstäglichen und donnerstäglichen Nachmittage darstellt – ganz so wie viele durch ihre Muster für das Genie des William Morris); und später, nachdem ich den toten Bruder meines Vaters jahrelang nicht mehr gesehen hatte – er selbst hatte ihn überhaupt nie gesehen –, stellte ich mir vor, dass er in eine Steppdecke gewickelt dastand (so wie ich, als Kind, nach dem Baden in ein großes Handtuch gewickelt worden war), während zu seinen Füßen Äpfel herumkullerten. Ich ging, ungefähr im Alter von zwanzig Jahren, meine ich, wieder in dieses Haus hinauf und befreite mich von dieser Vorstellung, und erkannte zur selben Zeit – mit unvermitteltem Staunen, das fast etwas von Beschämung hatte –, dass es sich bei der Traumlandschaft, vor der er stand wie auf einem Fenstersims, Gefilde, die mich immer an die Märchen von Andrew Lang (vor allem jene im Green Fairy Book) erinnert hatten, in Wirklichkeit um einen toskanischen Garten handelte.

Dieser Garten mit seinem Marmorfaun und seinem Springbrunnen, seinen lombardischen Pappeln und seinen Birken hat auf mich stets einen stärkeren Eindruck gemacht als der arme tote Joe, den außer meiner Großmutter und Hannah keiner von uns je gesehen hat und dessen kleines Grab auf dem Hügelfriedhof vor allem von den Ameisen gepflegt wurde, die über seiner Brust eine Stadt errichtet hatten. Wenn ich jetzt allein vor meinem Feuer sitze und auf das Wrack der Ulme hinausblicke, das, so verworren und verfallen wie ein auf Grund gelaufenes Schiff, von herabzuckenden Blitzen der Dunkelheit entrissen wird, habe ich den Eindruck, dass dieser Garten – ich meine den Garten des kleinen Joe, der sich auf ewig im Sonnenschein des tyrrhenischen Nachmittags aalt – der Kern und die Wurzel der wirklichen Welt darstellt, wohingegen dieses Amerika nur eine Miniatur auf einem Medaillon in einer vergessenen Schublade ist; und dieser Gedanke gemahnt mich (von der Erinnerung noch verstärkt) an Dantes Paradies, wo (weil die Weisheit dieser Welt die Torheit der nächsten war) die Erde als Körper im Mittelpunkt stand, umgeben vom Limbus des Mondes und all der anderen Sphären, eine größer als die andere, und schließlich von Gott, wo die materielle Realität jedoch letztlich trügerisch war, denn die geistige Wahrheit lautete, dass Gott im Mittelpunkt stand und unsere arme Erde verstoßen wurde – für die Belange des Himmels nebensächlich, es sei denn, die Erinnerung daran weckte, mit etwas, das einer unreinen Nostalgie nicht unähnlich war, die großen Heiligen und Christus aus ihrer Kontemplation des dreieinigen Gottes.

Wahr; alles wahr. Warum lieben wir dieses verlassene Land am Rande von überall?

Wenn der Wind draußen weht, wenn er in dem Kamin aus Feldsteinen stöhnt, den ich zur Zierde habe errichten lassen, in Dachrinnen und Gitterwerk und Traufen und Zierleisten und Spalieren heult, weiß ich, während ich vor meinem kleinen Feuer sitze, dass dieser Planet Amerika, der sich um sich selbst dreht, lediglich im Abseits steht, an der Peripherie, an den Rändern einer grenzenlosen Galaxis, und schwindelerregend seine Kreise zieht. Und dass die Sterne, die auf unseren Winden zu reiten scheinen, deren Verursacher sind. Manchmal glaube ich, riesige Gesichter zu sehen, die sich zwischen den Sternen herabbeugen, um durch meine beiden Fenster zu blicken, zarte goldene Gesichter, von Mitleid und Staunen berührt; und dann erhebe ich mich aus meinem Sessel und hinke zu der wenig soliden Tür, und da ist nichts; und dann nehme ich die Axt mit dem langen Stiel zur Hand (Buntings Best, 2 lb. head, Hickory Handle), die neben der Tür steht, und gehe hinaus, und der Wind singt, und die Bäume peitschen sich wie Flagellanten, und die Sterne blitzen zwischen dahinrasenden Wolkenbalken hervor, doch der Himmel zwischen ihnen ist blass und leer.

Ganz anders der toskanische Himmel; er ist von einem sorglosen Blau, hier und dort mit einem Hauch dünner weißer Wolken, die auf die darunterliegende Erde keinen Schatten werfen. Der Springbrunnen funkelt in der Sonne, aber Joe hört ihn nicht, und das Wasser wird auch nie seine Kleidung oder auch nur die Steinplatten um das Becken herum befeuchten. Joe hält eine winzige Pistole mit einem Blechlauf und einen steifbeinigen Holzhund, doch da kommt Bobby Black, und wenn er in das Zimmer gelangt, wird er mit Äpfeln werfen, die, wenn sie auf die Wand treffen, zerplatzen und Bild und Boden mit knackigen, duftigen, säuerlichen Bruchstücken verunreinigen, und diese wiederum werden mit der Zeit braun, schmutzig und bitter, und dann werde ich (höchstwahrscheinlich von Hannah) getadelt, denn es ist unmöglich, unvorstellbar, dass ich den Boden putzen soll, ebenso gut könnte man ein Schwein auffordern zu fliegen oder eine Maus, Mundharmonika zu spielen – wir Schweine, wir Mäuse, wir Kinder tun dergleichen nicht, unsere Glieder würden uns nicht gehorchen. Ich stehe am oberen Ende der Treppe, hinsichtlich Kraft und Größe unterlegen, aber in überlegener Stellung, schweigend, die Augen fast geschlossen, das Gesicht verzerrt, kurz davor loszuheulen, und ich biete ihm die Stirn; er verhöhnt mich, denn er weiß, wenn er mich zum Sprechen bringt, hat er die Schlacht gewonnen; die anderen schauen mir über die Schultern und zwischen den Beinen hindurch – mein Publikum, nicht meine Verbündeten.

Schließlich stapfen wir, ächzend, aufeinander zu, umfassen wie Ringer den pummeligen Leib des anderen, rotgesichtig, weinend. Und schwanken einen Moment lang.

Draußen hat sich meine Tante eine Zigarette angezündet, die in einer riesigen Elfenbeinspitze (einem Teufelszahn) steckt, die so lang ist wie ihr Unterarm. Mrs. Singer, die nicht sie, sondern meine Mutter anschaut, sagt: »Haben Sie das Fell?«, und meine Mutter: »Ja, das liegt auf dem Klavier. Hannah soll es uns bringen, wenn sie wieder herauskommt«, und Mrs. Green, die sich irgendwie – ich bin zu jung, um das zu verstehen – vor meiner Mutter duckt, weil uns der Hof ihres Mannes gehört: »Ich hole es, Prinzessin Weißkitz«, und meine Mutter: »Fliege dahin, Prinzessin Kleiner Vogel«, und alle lachen, denn sie sind alle Indianer, und Mrs. Green, die nicht klein ist, sondern kurz und grobknochig und schwer, wollte Prinzessin Kleiner Vogel sein (dabei hätte sie passenderweise Prinzessin Maispflanzer sein können, wie Prinzessin Stern-Jenseits-Der-Sonne – meine Tante Olivia – vorgeschlagen hat) und stellt einen Ausdruck törichter Freude zur Schau, wenn sie mit diesem Namen von sich spricht, wie es bei zeremoniellen Anlässen von ihr erwartet wird (sie legt sich eine Hand auf die linke Brust, während meine Mutter ihr eine Feder ins Haar steckt, weil sie für den Kriegsrat Brownies gebacken hat).

»Wirklich schade«, sagt meine Mutter. »Sie hätten auf das alte besser aufpassen sollen.«

Prinzessin Singender Vogel, deren Mann Bauunternehmer ist, sagt: »Sie hätten es in einen Grundstein tun sollen«, und Prinzessin Fröhliche Medizin, Eleanor Bolds Schwester: »Sie wollten, dass die Schulkinder es sehen.«

Mrs. Green kommt zurück. Voller Ehrfurcht trägt sie ein weiches, zusammengerolltes Hirschfell; es ist blassbraun und beinahe so weich wie Gamsleder. Meine Tante Olivia mit der olivfarbenen Haut und dem ovalen Gesicht, die attraktivste Frau unter den Anwesenden, sofern wir Eleanor Bold als Mädchen bezeichnen (was sie auch war; die Feuerwehrleute und Handelsreisenden, die Eisenwarenverkäufer und Hilfskräfte sind so mystisch wie Zentauren), nimmt es ihr ab und entrollt es, ihre Zigarettenspitze – die anderen sind ebenso überwältigt wie empört – zwischen den Zähnen. »Delia, da ist nichts drauf.«

Meine Mutter sagt: »Ich weiß. Das ist uns überlassen, nicht wahr?« Und Mrs. Singer fragt: »Woher haben Sie das Fell?«

»John hat es geschossen«, sagte Tante Olivia. Sie lächelt. »Ich meine Häuptling Weißkitz.«

»Ach, Vi!«

»Ich wollte nur ein Lachen aus dir herauskitzeln«, sagt Prinzessin Stern-Jenseits-Der-Sonne und kratzt Ming-Sno hinter den Ohren.

»Ach, Vi!«

Hannah kommt herbei, räumt Kuchenteller weg, bringt Kaffee. »Wo sind die Kinder, Hannah?« – »Drinnen. Keine Ahnung. Hinter dem Gemüsegarten, glaube ich, ein paar jedenfalls.« Ihre Arme sind rot, ihr Haar ist weiß, ihr Gesicht groß und kantig. Sie kann sich noch an Planwagen erinnern, aber das will sie nicht zugeben. Meine Mutter spricht mit ihrem Mann, Tante Olivia mit ihren Hunden, die Frau des Methodistenpastors mit Gott, und Großmutter spricht mit Hannah, aber Hannah spricht mit niemandem außer mir, und deshalb kann ich, in meinem Bett vor dem Feuer, sie noch immer hören, während so viele andere schweigen. Ich gehe zum alten Haus, zum Haus meiner Großmutter, in die Küche, wo das alte blaue Linoleum in der Mitte bis auf die Dielen ausgetreten ist, und Hannah spült dort Geschirr, Prinzessin Schäumendes Wasser. Ich sitze auf dem kleinen Hocker vor dem eisernen Herd …

»Das is’ nich’ das Gleiche. Ich bin hier nich’ richtig. Früher war ich dort, und jetzt bin ich hier, und alle sagen – würden’s sagen, wenn ich sie fragen würd’ –, dass es Tage und Nächte sind, die da vergehen, die sich im Kreis drehen wie diese elektrische Uhr mit dem Loch im Ziffernblatt, das mit jeder Sekunde schwarz wird und dann weiß, dass man den Drehwurm kriegt, wenn man zuschaut, aber das isses nich’. Wie kann sich alles verändern, nur weil die Sonne untergeht? Das wüsst’ ich gern. Weiß doch jeder, dass das nich’ so is’. Ich kann mich noch erinnern, als ich ganz klein war, nich’ mehr als so’n winziges Ding, da hat Maud – die er geheiratet hat, nachdem meine Mama gestorben is’, und ich musst’ ‘nen Spüllappen um den Kopf tragen, damit meine Ohren nich’ abstanden – das Dienstmädchen, diese Irin, dazu gebracht, ihr Geschichten zu erzählen, und ich hatte Angst, so sehr, dass ich nachts nich’ mehr rausgegangen bin, nachts, wenn’s dunkel war, und dort am Sugar Creek war’s echt dunkel, mit nichts als Petroleumlampen, und kein anderes Haus weit und breit, und die Sterne! Die Sterne so hell, als hingen sie direkt überm Haus, aber wenn ich rausgegangen bin, hintenraus auf die Treppe, konnte ich die Maiskörner unter meinen Füßen spüren, die mir aus der Schürze gefallen war’n, als ich die Hühner gefüttert hab, und so wusste ich, dass ich hier richtig war, und ich bin rüber zur Pumpe, und da war nichts – es war sogar schon hell, als ich von der Treppe aufstand –, und ich bin mit langen Schritten zurückgelaufen und hab dabei meinen Rock angehoben.

Das is’ jetzt alles fort, und als ich mit Mary wieder dahin gegangen bin, war sogar der Sugar Creek verschwunden, und nur noch raue Felsen, wo er gewesen is’. Das war im Mai – nein, stimmt nich’; es war Juni – Ende Mai oder Anfang Juni, is’ auch egal … Und das Haus; so klein. Wir haben da nie alle zusammen gelebt, das wär’ gar nicht gegangen. Es fällt in sich zusammen, wird immer weniger, kleine schmale Türen, durch die keiner durchpasst. In meinem ganzen Leben war ich nich’ hundert Meilen von dem kleinen Haus weg, aber jetzt isses fort, und ich hab nich’ gesehen, wie’s verschwunden is’.«

Und ich empfinde genau wie sie, nur anders. Dieses Haus ist größer geworden, nicht kleiner. (Und es fällt auch nicht in sich zusammen – noch nicht.) Inzwischen frage ich mich, warum ich um all diese Zimmer gebeten habe – und jedes Mal, wenn ich auf Erkundung ausgehe, scheint es mehr und mehr zu geben – und warum sie so groß sind. Dieses Zimmer ist breit und trotzdem viel länger, als es breit ist, mit zwei großen Fenstern an der Westseite, die auf den Garten hinausgehen, und an der Ostseite eine Wand, die das Esszimmer aussperrt und die Küche und mein Arbeitszimmer, das ich nicht mehr betrete. Am Südende befindet sich der Kamin aus Feldsteinen (deshalb lebe ich hier; das ist der einzige Kamin im Haus, außer ich habe irgendwo einen vergessen). Der Boden ist gefliest, die Wände sind aus Backstein, und zwischen den Fenstern hängen Bilder. Mein Bett (kein richtiges Bett) steht vor dem Kamin, wo ich es warm habe. Wenn der Sommer kommt – ein seltsamer Gedanke –, gehe ich vielleicht nach oben und schlafe wieder in meinem Zimmer.

Und dann wird es vielleicht wieder so sein wie früher. Ich frage mich, was wohl geschehen wäre, wenn Hannah auf der Sugar Creek Farm geschlafen hätte (das ist mein Name dafür; die Nachbarn sagten bestimmt einfach »Mühlenhaus« dazu)? Wäre der Sugar Creek dann wieder geflossen, plätschernd in der Nacht, um all diese trockenen Steine zu umspülen?

»Hannah?«

»Ja, was ist los, was willst du? Dieser kleine Junge, der da mit weit aufgerissenen Augen sitzt, was weiß der schon? Arbeit? Wieso, du hast in deinem ganzen Leben noch keinen Handstreich getan. Schau dir den Teller an. Für andere Leute gearbeitet. Na ja, is’ nicht deine Schuld. Denny, ich hab nich’ mehr lange. Wen kümmert das? Spül du doch mal, und ich geh raus und spiel mit den andern Fangen. Was wäre deine Mama nich’ überrascht – bestimmt würde sie sagen: ›Wer ist das neue Mädchen?‹ Gerade wollt’ ich sagen, dass ich noch weiß, wie sie selbst ein richtig kleines Mädchen war, aber das stimmt nich’, sie is’ nich’ von hier; das war ‘n anderes Mädchen, mit dem dein Papa gespielt hat, als er klein war. Wenn der Sommer warm war, dann versammelten sich draußen auf der Straße mehr Kinder um die Gaslampen als Müller um den Kamin. Bald isses wieder Sommer und warm, und dann bist du wahrscheinlich selbst da draußen, und ich back’ Pfefferkuchen, die ihr zum Wurzelbier essen könnt; ich hab’ ‘nen weiteren Winter überstanden, und im Sommer werd’ ich bestimmt nich’ sterben.«

Ich glaube nicht, dass ich jemals gesehen habe, wie in unserer Küche jemand Geschirr spülte. Da steht ein Geschirrspüler – den haben sie immer benutzt, nachdem sie erst alles von den Tellern in die Spüle gekratzt haben, was dann runter in den Müllschlucker ging, sodass die Spüle zu so was wie einem Mülleimer wurde. Ich bereite mein Essen inzwischen im Kamin zu und esse es auch dort, und ich esse sowieso nicht viel.

»Sie sind dünn, Mr. Weer. Untergewichtig.«

»Ja, Sie untersuchen mich immer auf Diabetes.«

»Ziehen Sie sich bitte bis auf die Unterhose aus. Ich werde die Schwester bitten, hereinzukommen und Sie zu wiegen.«

Ich ziehe mich aus, wobei ich mir bewusst bin, dass Sherry Gold sich in der Kabine nebenan befindet, wahrscheinlich nackt bis auf ihren BH und ihren Schlüpfer. Sie ist ein kleines Mädchen und ein bisschen mollig (»Sie scheinen zugenommen zu haben, Miss Gold. Ziehen Sie sich bitte bis auf BH und Schlüpfer aus, dann komme ich und wiege Sie«), hübsch, ein jüdisches Gesicht – jüdische Gesichter sollten eigentlich nicht hübsch sein, aber sie ist trotzdem hübsch. Wenn ich mit meinem Klappmesser ein Loch in die Trennwand machen würde, könnte ich sie sehen, und wenn ich Glück hätte, würde sie die helle Klinge der Lederahle nicht durch die Wand kommen sehen oder das dunkle Loch hernach, mit dem hellblauen Auge eines Mannes in mittleren Jahren dahinter. Obwohl ich weiß, dass ich so etwas nie tun würde, krame ich auf der Suche nach dem Messer in meinen Hosentaschen; es ist nicht da, und mir fällt ein, dass ich vor Monaten aufgehört habe, es bei mir zu tragen, weil ich jeden Tag ins Büro gegangen bin und es, weil ich nicht mehr im Labor arbeitete, nie gebraucht habe; und dass es den Stoff meiner Hose verschliss, wo sein Kropf gegen die Ecke meiner rechten Gesäßtasche drückte, sodass sie dort zuerst dünn wurde.

Ich stehe da, stütze mich mit einer Hand auf den Kaminsims und suche ein weiteres Mal: Es ist weg. Draußen plätschert der Regen. Möglicherweise brauche ich es irgendwann noch. »Wenn ich wirklich einen Schlaganfall hätte, Dr. Van Ness, was sollte ich dann tun?«

»Mr. Weer, ich kann unmöglich eine Therapie für ein nicht vorhandenes Leiden verordnen.«

»Herrgott nochmal, setzen Sie sich doch! Warum zum Teufel kann man nicht mit einem Arzt sprechen, als wäre er ein Mensch?«

»Mr. Weer …«

»In meiner Fabrik gibt es keinen Menschen, mit dem ich so reden würde, wie Sie mit Ihren Patienten reden.«

»Aber ich kann meine Patienten nicht feuern, Mr. Weer.«

Ich ziehe mich wieder an und setze mich auf den Stuhl. Die Schwester kommt herein, erklärt mir, dass ich ausgezogen sein sollte, und geht hinaus; kurz darauf wieder Dr. Van Ness: »Was ist los, Mr. Weer?«

»Ich möchte mit Ihnen reden; setzen Sie sich.«

Er setzt sich auf den Rand des Untersuchungstischs, und ich wünsche mir, Dr. Black wäre wieder am Leben, jener eindrucksvolle, massige Mann aus meiner Kindheit, mit seiner dunklen Kleidung und der goldenen Uhrkette. Wahrscheinlich ist Barbara Bold allein schon deswegen fett geworden, weil sie für ihn kochte; nachdem sie gesehen hat, wie er aß, ist ihr bestimmt jeder Sinn für Verhältnismäßigkeit abhanden gekommen, waren ihre eigenen Mahlzeiten, wie groß sie auch sein mochten, doch so viel kleiner; wie hätte sie begreifen sollen, dass eine zweite Backkartoffel oder eine Schüssel Milchreis mit Sahne zu viel war, wenn ihr Ehemann so viel aß wie drei Frauen ihres Kalibers? Meine Mutter reicht ihr noch ein weiteres Stück rosaroten Kuchen, eigentlich mein Geburtstagskuchen.

»Dankeschön, Delia.«

Barbaras Schwester Eleanor sagt: »Na schön, wir können was draufschreiben, aber was und womit?«

»Am besten Ölfarbe«, sagt meine Tante Olivia. »Ihr könnt meine verwenden.«

Jemand wendet ein, dass die Indianer keine Ölfarbe hatten, und Mrs. Singer weist darauf hin, dass die Kinder das nicht wissen werden.

»Aber wir werden es wissen«, sagt Mutter. »Oder etwa nicht?«

»Hören Sie«, sagt Mrs. Singer. »Ich habe eine tolle Idee. Wenn sie sich getroffen haben … die Siedler und die Indianer, meine ich? Nun, sie haben die Indianer darauf schreiben lassen, aber was, wenn sie es selbst getan hätten? Dann wäre daran nichts Außergewöhnliches, und wir könnten das einfach machen.«

Einen Moment bitte. Lassen Sie mich aufstehen und zum Fenster gehen. Lassen Sie mich diesen abgebrochenen Ulmenzweig – der so geformt ist, als sollte er das Geweih eines Holzhirsches bilden, ein Hirsch, wie er vielleicht unter einem dieser großen Weihnachtsbäume steht, die draußen aufgestellt werden – aufs Feuer legen. Meine Dame, das wollte ich nicht. Meine Damen, ich möchte nur wissen, ob ich mich in meinem Zustand bewegen soll oder nicht; denn wenn die Antwort lautet, dass ich mich bewegen soll, werde ich nach meinem Pfadfindermesser suchen.

»Mr. Weer! Mr. Weer!«

»Ja?« Ich strecke den Kopf durch die Tür.

»Oh, Sie sind angezogen; ich sehe das an Ihrem Ärmel.«

»Sherry, was ist?«

»Kommen Sie nicht rein, ich bin nicht angezogen. Oh!« (Dr. Van Ness kommt wieder, und Sherry zieht sich zurück und knallt die Kabinentür zu.)

»Doktor, bei einem Schlaganfall …«

»Mr. Weer, wenn ich Ihre Fragen beantworte, werden Sie sich dann einer kleinen Untersuchung unterziehen? Ein Spiel mit Spiegeln. Werden Sie dann mir zuliebe ein paar Bilder anschauen?«

»Wenn Sie meine Fragen beantworten, ja.«

»Na schön, Sie hatten einen Schlaganfall. Ich finde ja, dass Sie nicht danach aussehen, aber ich bin bereit, es als gegeben hinzunehmen. Was sind Ihre Symptome?«

»Nicht jetzt. Jetzt hatte ich noch keinen Schlaganfall; bitte versuchen Sie das zu verstehen.«

»Sie werden einen Schlaganfall haben?«

»Ich hatte einen in der Zukunft, Doktor. Und da ist niemand mehr, der mir helfen könnte, überhaupt niemand. Ich weiß nicht, was ich tun soll – deshalb greife ich auf Sie zurück.«

»Wie alt sind Sie? Ich meine, als Sie diesen Schlaganfall hatten.«

»Das weiß ich nicht genau.«

»Neunzig?«

»Nein, nicht neunzig, so alt nicht.«

»Haben Sie noch Ihre Zähne?«

Ich greife mir in den Mund, taste herum. »Die meisten.«

»Was für eine Farbe haben Ihre Haare?« Dr. Van Ness beugt sich vor und nimmt unbewusst die Haltung eines Staatsanwalts an.

»Das weiß ich nicht. Sie sind mir ausgefallen, größtenteils jedenfalls.«

»Haben Sie Schmerzen in den Fingern? Sind Sie geschwollen, steif, entzündet?«

»Nein.«

»Und verspüren Sie noch immer, von Zeit zu Zeit, sexuelles Verlangen?«

»O ja.«

»Dann sind Sie, meine ich, etwa sechzig, Mr. Weer. Womit ich sagen möchte, dass Sie bis zu ihrem Schlaganfall nur noch fünfzehn oder zwanzig Jahre haben – beunruhigt Sie das?«

»Nein.« Ich stand die ganze Zeit in der Tür meiner Kabine. Ich ziehe mich zurück und setze mich auf den Stuhl; Dr. Van Ness folgt mir hinein. »Doktor, die eine Seite meines Gesichts, die linke Seite, ist irgendwie verzogen – zu einem Ausdruck, den ich so noch nie gesehen habe, und das die ganze Zeit. Mein linkes Bein scheint fortwährend gekrümmt – als wäre es gebrochen gewesen und nicht anständig gerichtet worden –, und mein linker Arm ist schwach.«

»Ist Ihnen schwindlig? Haben Sie häufig den Drang, sich zu übergeben?«

»Nein?«

»Ist Ihr Appetit gut?«

»Nein.«

»Bereitet es Ihnen Schmerzen, hin und her zu gehen? Starke Schmerzen?«

»Nur emotional – wissen Sie, wegen der Dinge, die ich sehe.«

»Aber nicht körperlich.«

»Nein.«

»Hatten Sie bisher nur einen einzigen Schlaganfall?«

»Ich glaube schon. Ich bin so aufgewacht. Das war an dem Morgen, nachdem Sherry Gold gestorben ist.«

»Miss Gold?« Der Arzt deutet mit einer unbeabsichtigten, kaum merklichen Bewegung auf die Trennwand zwischen uns. Ich frage mich, ob das Mädchen zuhört; hoffentlich nicht.

»Ja.«

»Aber es ist nicht schlimmer geworden.«

»Nein.«

»Mr. Weer, Sie brauchen Bewegung. Sie müssen aus dem Haus gehen, nicht nur im Haus herumlaufen, und Sie müssen sich mit anderen Leuten unterhalten. Machen Sie einen ausgiebigen Spaziergang – ein paar hundert Meter am Tag, wenn das Wetter es erlaubt. Sie haben doch einen großen Garten?«

»Ja.«

»Dann arbeiten Sie dort. Jäten Sie Unkraut oder etwas in der Art.«

Und ebendas mache ich öfter, Unkraut jäten oder etwas in der Art. Bei »in der Art« handelt es sich meist um Blumen, wenn nicht um Gemüse, oder ich stelle später oft fest, dass das Unkraut, das ich gejätet habe, schöner war als die Blüten, die von mir gepäppelt wurden. Vor allem eine Pflanze gibt es, die ich seit Jahren nicht mehr gesehen habe und die früher zwischen dem Zaun und der Gasse vor dem Haus meiner Großmutter wuchs, ein äußerst hohes Kraut mit einem grünen Stiel, der einer zarten, geraden Säule glich, und horizontalen Zweigen in absolut gleichmäßigen Abständen, luftig und schlank, jeder einzelne perfekt gewachsen und mit einem Grüppchen winziger Blätter besetzt, die glücklich zur Sonne emporschauten. Manchmal denke ich, dass die Bäume im Sommer deshalb so still sind, weil sie sich einer Art Ekstase hingeben; im Winter dagegen, wenn die Biologen uns weismachen wollen, dass sie schlafen, sind sie hellwach, denn die Sonne ist fort und sie sind Süchtige ohne ihre Droge, schlafen unruhig, werden oft wach und wandeln auf der Suche nach der Sonne durch die dunklen Korridore des Waldes.

Und so werde ich also nach meinem Messer suchen und mir damit jene Bewegung verschaffen, die Dr. Van Ness verordnet. Es war groß, und das Wort »Pfadfinder« prangte darauf. Die Griffschalen waren aus nachgebildetem schwarzem Hirschhorn, was an das Gemälde eines nachgebildeten Hirschs erinnerte (zumindest mich), der, die Hörner ebenso stolz erhoben wie das schönste Ulmenwild, durch den Wald streift zwischen den jetzt erwachenden Bäumen – Bäume, deren Blätter mit dem Sommer in jeder Farbe sterben, wie Blutergüsse, aber Blutergüsse so schön wie die Haut ungeborener Völker, uns vorenthalten, weil Gott oder das Schicksal oder der bloße Zufall der Wissenschaftler (deren blinder, Flöten spielender Affengott, dieser göttliche Idiot, uns schon einmal begegnet ist; wir kennen dich, Plage von Babylon) uns den Anblick all dieser scharlachroten und gelben – wahrhaft roten, orangenen, rostbraunen – Völker auf unseren Gehsteigen versagt, den ganzen wundervollen Reichtum an Stereotypen, mit denen wir uns hätten zerstreuen können, wären sie uns nur vergönnt gewesen: die scharlachroten Leute mit den geschlossenen Fäusten und den offenherzigen Frauen, den kollernden Dialekten, einem Talent für Zeichnungen, die mit Kreide auf den Wänden von Zeitungskiosken ausgeführt werden, und außerordentlichen Fähigkeiten, wenn es darum geht, Hobbyzubehör wie winzige Spielzeugdüsenflieger feilzubieten und Modellmüllautos, deren hungriges Hinterteil, während sie in Kellerräumen über die Platte ausrangierter Esstische gerollt werden, den Unrat von Bahnhofsimbissen verschlingt; die orangenen Leute mit ihrer seltsamen Religion, die von ihnen verlangt, Sonnenuhren anzubeten (während unsere, so erscheint es anderen, von uns verlangt, Telefonmasten anzubeten), sodass sie während freundlicher Gespräche in Umkleideräumen, wenn wir sie endlich unter Androhung eines gewissen gesetzlichen Drucks nach Pinelawn eingelassen haben und die eben gespielte Runde besprechen, die tollsten Flüche vom Stapel lassen. Was ist ein Gemank?

Und alle müssen sie, da alle Länder der Erde bewohnt sind, aus seltsamen, weit entfernten Ländern stammen, von der Brasilinsel oder den Inseln der Sonne, von den Kontinentalinseln oder den Inseln im Thessysmeer. Nur die rarsten, die Rostbraunen, gehören hierher, Eingeborene von St. Brendan’s Land, und sie sterben; berühmt sind sie nicht für merkwürdige Flüche, künstlerisches Talent oder Gerissenheit in irgendeinem Gewerbe, sondern für Alkoholismus, Tripper und Abkratzen. Sie geben gute Soldaten ab, und das ist verhängnisvoll, ebenso wie die Tapferkeit des nachgebildeten Hirschs, die ihm nur den Tod bringen wird, wenn er dem vorgetäuschten Kriegsruf antwortet und sich in den trockenen Herbstwäldern Kugeln einfängt und zu Boden geht, wobei seiner Lunge am Rand der Kartoffelfelder Ersatzblut entströmt. Der Möchtegernjäger brüllt und tanzt vor Freude, und da er zwar sehr gut schießen gelernt hat, aber niemals schlachten, und da er, seiner eigenen Meinung nach, zu alt ist, um schwere Lasten zu tragen, lässt er ihn liegen, sodass er stinkend verwest, zum Köder wird für Plastikfliegen mit Angelhaken in den Bäuchen. Mit der Zeit zerfällt sein Fleisch, wird von jenen pelzartigen Füchsen, die noch übrig sind, zerrissen und von den Zähnen der Köter, und nur seine Hörner und seine Zelluloidknochen bleiben zurück, werden zur Beute des Fabrikanten von Pfadfindermessern.

Die Kröpfe – jene harten Kröpfe, die, als mein Leben vorbei und ich an meinen Schreibtisch zurückgekehrt war, so viele Garbadinen und Sergen verschlissen haben – waren aus deutschem Silber, aus Fünfcentstücksilber, wie die Knöpfe der SS. Dieses Metall ist weich, aber widerstandsfähig, und verströmt einen unbestechlichen matten Glanz. Verwechsle uns nicht mit Zinn, aus dem Teller und Tafeln und Trinkgefäße bestehen.

Aber diese Dinge, diese Griffschalen und Kröpfe, waren bloße Äußerlichkeiten; sie waren sozusagen die Verkleidung des Messers. Die Wahrheit im Innern war von dem Plättchen an der Seite vorgebildet, und dieses war aus Stahl.

Ich kann mich noch gut an das Weihnachtsfest erinnern, als ich das Messer geschenkt bekam; das einzige Mal, das wir bei meinem Großvater feierten, dem Vater meiner Mutter. Jenes Haus stand hoch oben auf einer Klippe, die über dem Mississippi aufragte, und hatte viele breite Fenster; allerdings war es, wie das Haus meiner Großmutter mit den schmalen Fenstern, aus weiß gestrichenem Holz. Der Weihnachtsbaum stand vor mehreren dieser Fenster, sodass man durch die Zweige, zwischen den Glitzerpüppchen, dem Lametta und dem funkelnden falschen Obst aus entsetzlich dünnem Glas die Dampfschiffe beobachten konnte. An jenem Weihnachtsfest, da bin ich mir sicher, schneite es, obwohl es so weit südlich nur selten Schnee gab, und wenn er fiel, wenn er denn überhaupt fiel, dann meist später im Jahr. Meine Mutter hatte mich hingebracht; mein Vater war zu Hause geblieben, zweifellos um zu jagen. Demnach waren wir in dem Haus zu viert: ich, meine Mutter, mein Großvater (ein hochgewachsener und – wie ich damals dachte – alter Mann, der seinen Bart und seinen Schnauzer schwarz färbte) und seine Haushälterin, eine stämmige blonde Frau von ungefähr vierzig Jahren (nehme ich an). Meine Mutter dürfte fünfundzwanzig gewesen sein, ich sechs. Das war in dem Jahr, nachdem Bobby Black seinen Unfall hatte.

Wir kamen mit dem Zug und trafen an einem Bahnhof ein, der von Schnee bereits leicht bestäubt war, der Mantel meiner Mutter mit Fuchspelz um den Hals, ein Schwarzer – der jedes Mal grinste, wenn meine Mutter ihn ansah –, um uns mit den Taschen zu helfen und in den Wagen mit der hölzernen Karosserie, der uns, wie meine Mutter mir erklärte, zu Opa bringen würde. »Dir ist kalt, nicht wahr, Den?«

Ich verneinte.

»Und Hunger hast du bestimmt auch. Wenn wir dort sind, kannst du dich aufwärmen, und ab ins Bett, und dann ist Weihnachten und du bekommst deine Spielsachen.«

Der Fahrer sagte: »Sie sind wohl Vant’ys Tochter.« Er hatte langgezogene Wangen, wie ein Gesicht, das sich in einem umgedrehten Löffel spiegelt, und schwarze Pickel in den Augenwinkeln.

Mutter sagte: »Ja, ich bin Adelina.«

»Nun, Sie werden feststellen, dass es ihm gutgeht; im Moment ist er kräftiger als die meisten Menschen im Laufe ihres Lebens. Bestimmt haben Sie gehört, dass Mab Crawford ihm jetzt den Haushalt führt.«

»Sie hat mir geschrieben.«

»Tatsächlich? Tja, kannste mal sehen.« Der Mann wandte sich von uns ab, und der Wagen mit der hölzernen Karosserie, der die ganze Zeit vor sich hin geplappert hatte, machte einen Satz nach vorn, blieb beinahe ebenso unvermittelt stehen, unter den Füßen meiner Mutter explodierte etwas, und dann begann er sich einigermaßen normal vorwärtszubewegen. »Earl ist ihr weggelaufen – haben Sie das gehört?«

Mutter schwieg und zog ihren Mantel enger um sich. Die großen Fenster neben uns klapperten und ließen kalte Luft herein.

»Wahrscheinlich ist er nach Memphis gegangen, aber Ihrem Pa geht’s gut – er ist bei bester Gesundheit, kann’s mit jedem jungen Kerl aufnehmen.« Wir fuhren zwischen Läden mit dunklen Fenstern hindurch, eine Straße entlang, die mir, vielleicht nur weil sie leer war, recht breit vorkam. »Das sagt er jedenfalls, und ich glaub’s ihm. So ist das nun mal. Sie ist auch nach Memphis gegangen – haben Sie das gehört? Wenigstens ist sie dahin gegangen, und deshalb meinten alle, dass er dahin gegangen ist. Ungefähr drei Monate, nachdem er verschwunden ist. Ist fast bis zum vierten Juli dageblieben; dann ist sie zurückgekommen – na ja, irgendwas musste sie ja machen, wenn Sie mich fragen. Eine Frau, die ihr eigenes Haus hatte, möchte bestimmt nicht für eine andere Frau arbeiten, auch wenn sie’s bei Earl nicht besonders schön hatte.«

Bestimmt hatte das Haus – das Haus meines Großvaters – irgendwelche äußeren Verzierungen, aber daran kann ich mich nicht erinnern. Wie gesagt, es war ein Holzhaus, und weiß, glaube ich, aber das kann auch am Schnee gelegen haben. Kurz bevor wir dort ankamen (eigentlich sogar schon eine ganze Weile vorher, denn ich dachte, wie Kinder meist, dass wir unser Ziel erreicht hatten, kaum dass wir losgefahren waren), befürchtete ich, dass es gar kein richtiges Haus sein würde – ein Holzhaus, meine ich –, sondern eines dieser widernatürlichen Ziegel- oder Klinkerhäuser, die (wie Bühnenbilder, in meinen Augen allerdings noch unwirklicher, denn damals war ich mit dem Begriff noch nicht vertraut oder mit dem, was damit gemeint war) nur dazu dienten, die Straßenränder von irgendetwas anderem abzutrennen – dachte ich jedenfalls. Soweit ich sehen konnte, wohnten darin Leute, aber eigentlich taugten sie nur für Trolle (von deren Existenz ich noch Jahre später überzeugt war, wie im Übrigen auch von der Existenz des Weihnachtsmanns).

Das Haus bestand jedoch aus stabilem Holz, das zusammengenagelt war und also nicht einstürzen würde, und wenn doch, wäre es nicht schwer. Mein Großvater und seine Haushälterin begrüßten uns auf der Veranda; dessen bin ich mir sicher. Unser aller Atem dampfte, und während meine Mutter in ihrer Handtasche kramte, bezahlte mein Großvater den Mann, der uns gebracht hatte. Mrs. Crawford, die im Freien keinen Mantel trug, sondern nur ihr langes Kleid, umarmte mich und erklärte mir, ich solle Mab zu ihr sagen; sie roch nach parfümiertem Puder und Schweiß, und nach dem Waschtag jener Zeit: schmutziges Wasser, das auf einem Kohleofen aufgewärmt wurde. Das klingt alles recht widerwärtig, war es in Wirklichkeit aber nicht. Diese Gerüche waren mir – mit Ausnahme des parfümierten Puders, da meine Mutter und meine Tante Olivia und die anderen Frauen, die ich kannte, andere Marken verwendeten – vertraut, jedenfalls weit mehr als die fremdartigen Gerüche in dem Eisenbahnwagen, mit dem wir gekommen waren.

Soweit ich mich entsinne, haben wir uns, während dem ganzen Umarmen und Bezahlen, dem Gepäckabladen und Begrüßen, auf der knarrenden Veranda eine ganze Weile umkreist, wobei die weißen Atemwolken und der aufgewehte Schnee an der schmutzigen Fliegengittertür hängenblieben, die noch immer vor der eigentlichen Tür angebracht war, welche zu einem Viertel offenstand. Im Haus gab es einen dickbäuchigen Ofen, und als wir dorthin gelangt waren, versuchte die blonde Frau, Mab, mir mit den Galoschen zu helfen, bekam sie aber nicht über die Fersen, sodass letztendlich meine Mutter kommen und sie mir ausziehen musste, wozu sie für den Augenblick ihre Unterhaltung mit meinem Großvater unterbrach. Die Decken waren in sämtlichen Zimmern äußerst hoch, und es gab einen großen Weihnachtsbaum, verziert mit Spielzeug und Kugeln und Kerzen, die noch nie angezündet worden, und Plätzchen, die mit Eiweiß bestrichen waren, mit Rotebeetesaft gefärbt und mit kleinen Zuckerstücken gespickt.

Beim Abendessen fiel mir auf (wobei ich sagen möchte, dass ich bei alledem denke und glaube, in gewissem Sinne einem religiösen Glauben nicht unähnlich, tatsächlich bemerkt, empfunden oder durchlebt zu haben, was ich beschreibe – es aber sein kann, dass Kindheitserinnerungen deshalb eine so große Wirkung auf uns haben, weil wir uns, da sie von allem, was wir besitzen, am weitesten zurückliegen, ihrer am schlechtesten entsinnen und sie somit jenem Prozess, bei dem wir sie mehr und mehr umformen und einem Ideal annähern, den kleinsten Widerstand entgegensetzen, einem Ideal, das im Wesentlichen künstlerisch ist oder zumindest nicht den Fakten entspricht; deshalb hat sich manches, was ich hier beschreibe, möglicherweise gar nicht ereignet, sondern hätte sich nur ereignen sollen, und anderes hatte nicht den Beigeschmack – von Eifersucht zum Beispiel, oder von Altertümlichkeit oder Scham –, den ich ihm später unbewusst gegeben habe), dass mein Großvater Mrs. Crawford zwar mit Mab anredete, was er wohl immer tat, sie aber Mr. Elliot zu ihm sagte; und das war offenbar neu zwischen ihnen, und sie bildete sich etwas darauf ein, als hätte sie das Gefühl, sich um einer edlen Sache willen zu erniedrigen – eine Gemütsregung, die damals, wenn sie unter Erwachsenen zur Sprache kam, das Schlagwort von den »Bibelchristen« heraufbeschwor. Meinem Großvater war, meine ich, diese ungewohnte Ehrerbietung peinlich; er wusste, dass sie unaufrichtig war, und hatte den Eindruck, dass meine Mutter dies auch wusste (jedenfalls bevor die Mahlzeit zu Ende war), und das beschämte und erzürnte ihn. Er kränkte Mrs. Crawford auf jene grobe provinzielle Weise, die sie beide verstanden, erklärte meiner Mutter (während er die Knödel hinunterschlang), er habe nichts Anständiges mehr gegessen, seit ihre Mutter »entschlafen« sei, und manche Leuten hätten wenig genug zu tun, da sie sich schließlich nur um einen anderen Menschen kümmern müssten, im Unterschied zu ihr, »der kleine Schlingel hält dich bestimmt Tag und Nacht auf Trab, Delia, und für einen kirchlich angetrauten Ehemann musst du auch noch sorgen«. Damit ging er natürlich über Hannah hinweg, von der er gewusst haben muss und die zu Hause alles Kochen und die schwere Hausarbeit erledigte. An den Wänden des Esszimmers hingen sepiafarbene Photographien von trabenden Pferden, ausgenommen die Wand unmittelbar hinter dem Kopf meines Großvaters und somit völlig außerhalb seines Gesichtsfeldes, wenn er am Tisch saß: Dort prangte das große Bild einer Frau in der stattlichen, aufwändigen Tracht der Achtzehnachtziger – meine andere Großmutter, Evadne.

Nach dem Essen wurde ich nach oben gebracht, um mich bettfertig zu machen, und zwar von meiner Mutter wie von Mab, die mit einer Lampe vorausging – nicht, wie sie sagte, um uns den Weg zu weisen, den meine Mutter doch bestimmt viel besser kannte, sondern »weil es nicht richtig ist, dass Gäste, die eben erst eingetroffen sind, ohne Begleitung da hochsteigen, das käme mir nicht richtig vor, und dann könnte ich nicht schlafen; kein Auge könnte ich zumachen, Mrs. Weer«. Meine Mutter erwiderte: »Sagen Sie doch Delia zu mir«, was Mrs. Crawford so sehr verwirrte, dass sie beinahe die Lampe fallenließ.

Nachdem sie gegangen war, nahm meine Mutter das Zimmer unter die Lupe, in dem sie, wie sie mir erklärte, als Kind immer schlief. »Das war mein Bett«, sagte sie und deutete auf das, auf dem sie gerade noch gesessen hatte, »und in dem anderen hat Tante Arabella geschlafen.« Ich fragte, ob ich darin schlafen musste, und sie sagte, dass ich bei ihr schlafen könnte, wenn mir das lieber wäre. Ich trapste hinüber, über einen kalten Boden, der nur von einem dünnen Flickenteppich bedeckt war, setzte mich mitten auf das Bett und beobachtete sie. »Wir hatten hier ein Puppenhaus«, sagte sie, »zwischen den Dachgauben.«

»Bekomme ich ein Puppenhaus zu Weihnachten, Mama?«

»Nein, Dummerchen, Puppenhäuser sind für Mädchen. Du bekommst Bubenspielzeug.«

Ich war enttäuscht; eine Spielgefährtin (wobei mir nicht bewusst gewesen war, dass sie eins besaß, weil sie ein Mädchen war) hatte ein großes, wunderschön angemaltes Puppenhaus, bei dem man die Wände rausnehmen konnte. Dabei war ich ihr mehrmals behilflich gewesen, so oft, dass es mir in aller Deutlichkeit vor Augen stand – und jetzt würde es nie für mich unter irgendeinem Weihnachtsbaum stehen. Gerade hatte ich mich ihm so nahe geglaubt, und nun schwebte es davon in die verschwommenen Gefilde des Unmöglichen. Ich hatte vorgehabt, meine Spielzeugsoldaten hineinzustellen, damit sie zu den Fenstern hinausschießen konnten.

»Ein Buch«, sagte Mutter nach langem Schweigen, während dem sie in Schränke und Schränkchen hineingeschaut hatte. »Vielleicht bringt dir der Weihnachtsmann ein Buch, Den.«

Ich mochte Bücher, aber ich war mir keineswegs sicher, dass der Weihnachtsmann außer unserem noch irgendein anderes Haus besuchte – oder jedenfalls irgendein Haus außerhalb von Cassionsville. Ganz bestimmt nicht dieses seltsame, stille Haus, das nach Kleidern roch, die Jahr um Jahr in den Schränken hingen. Ich fragte meine Mutter, und sie erwiderte, sie hätte dem Weihnachtsmann Bescheid gegeben, wo wir wären.

»Bringt der Weihnachtsmann auch was für Opa?«

»Wenn er ein braver Junge war. Dreh dich um, Den. Mit dem Blick zur Wand. Mama möchte sich ausziehen.«

Als die Lampe erlosch, senkte sich tiefe Stille auf das Haus herab. Obwohl es dunkel war und ich die Augen geschlossen hatte, nahm ich wahr, wie draußen der Schnee fiel. Mir war auch bewusst, dass wir die einzigen Menschen auf diesem Stockwerk waren, bis schließlich, sehr spät, wie es mir schien, Mab erschöpft die Treppe heraufkam, um in dem Zimmer zu schlafen, das – wie meine Mutter mir später erzählte – der Mutter von Großmutter Vant’y gehört hatte, als sie ein Mädchen war. Wo sich mein Rücken an meine Mutter schmiegte, war mir warm, aber sonst fror ich entsetzlich, trotz des erdrückenden Gewichts der Steppdecken und Federbetten; einerseits wahrscheinlich, weil ich so müde war, andererseits, weil das Haus hier im Süden die Kälte nicht gewohnt war, die sich jetzt darauf stürzte, ein luftiges, zugiges Haus, dass sogar im tiefsten Winter von ruhigen, warmen Sommerabenden träumte, von Schaukelstühlen auf der Veranda und dem Summen der Stechmücken. Meine Mutter schlief, aber ich nicht. Unter dem Bett stand ein Nachttopf; ich benutzte ihn und kehrte, keinesfalls erleichtert, in die Wärme der Decken zurück.

Schließlich gelangte ich zu der Überzeugung, dass ich fast die ganze Nacht wachgelegen hatte und dass vor den Fenstern bereits der Morgen dämmerte (wobei diese »Dämmerung« nichts anderes war als der Mondschein auf dem frisch gefallenen Schnee draußen), und schlich nach unten, um mich am Ofen in der guten Stube zu wärmen und den Weihnachtsbaum zu betrachten, wobei ich wohl noch immer glaubte, dass meine Geschenke – wenn ich denn in diesem Jahr welche bekam – zu Hause liegen würden, dort, wo unser Baum stehen würde, wenn wir einen gehabt hätten, oder auf einem Haufen unter dem strumpflosen Kaminsims. Vom Grundriss des Hauses hatte ich wohl nur eine vage Vorstellung; ich weiß, dass ich mich wiederholt in das falsche Zimmer verirrte – in die große Küche, ins Esszimmer, wo an den Wänden Pferde entlangtrabten, in das museumsgleiche Empfangszimmer mit dem großen Vogel unter einer Glasglocke auf dem Tisch in der Mitte, als würde von dem Besuch (wenn denn jemals Besuch kam und wenn denn dieser Besuch so vornehm war, dass er ins Empfangszimmer mit den Schalen aus geschliffenem Glas, den Wachsfrüchten, den Rosshaarbezügen und dem mit Ackerwinden verzierten Trompe-l’Œil-Grammophontrichter eingelassen wurde) erwartet, dass er sich hinsetzte und das staubfreie Federkleid bestaunte, als wäre es der Simorgh, der letzte Vogel dieser Art auf der ganzen Welt, als erwartete mein Großvater Besuch von lauter Naturforschern, und vielleicht war es so und vielleicht tat er das.

Die Tür zum richtigen Zimmer, der »Alltagsstube«, war geschlossen; noch bevor ich sie öffnete, sah ich, buttergelb, das Licht unter der Tür. Ob ich dachte, das Licht käme von der Glimmerscheibe des Ofens oder jemand hätte eine Lampe brennen lassen oder die Sonne schiene durch ein Fenster, das nach Osten hinausging – denn ich glaubte immer noch, dass es Morgen war –, weiß ich nicht mehr so genau; wahrscheinlich überlegte ich gar nicht erst. Ich öffnete die Tür (die keinen drehbaren Knauf hatte wie bei uns zu Hause – da hatten wir Gaslicht und benutzten die Petroleumlampen nur, wenn das Licht herumgetragen werden musste, sodass ich anfangs glaubte, in Opas Haus herrschte ein ständiger Ausnahmezustand –, sondern einen seltsamen Schnappriegel, der sich auf der einen Seite anhob, wenn ich die andere mit dem Daumen herunterdrückte), und als ich das tat, fiel das weiche gelbe Licht, das so weich war wie ein zwei Tage altes Küken, so weich wie eine Löwenzahnblüte, nur noch leuchtender, durch die Tür, und ich sah zu meinem Erstaunen, dass alle Kerzen am Weihnachtsbaum brannten, wobei jede einzelne so aufrecht am Ende eines Zweigs stand wie die Flamme darüber, ein weißer Schemen, der von Feuer gekrönt war. Ich ging auf den Baum zu und blieb, auf halbem Weg von der Tür, meine ich, wie angewurzelt stehen. Er erstrahlte vor dem Hintergrund der dunklen Fensterscheibe; hinter ihm funkelten, weit weg, die Sterne, die sich im Fluss darunter spiegelten; ein hell erleuchtetes Dampfboot, das auf diese Entfernung winziger wirkte als ein Spielzeug, fuhr zwischen den Zweigen hindurch. Unter dem Baum lagen Geschenke, und weitere waren zwischen die unteren Ästen gesteckt worden, aber ich bemerkte sie kaum.

»Na, sieht fast so aus, als kämst du zu spät«, sagte mein Großvater. »Der alte Nick war schon da.« Sein »spät« dehnte er zu einem spä-het.

Ich sagte nichts, nahm ihn anfangs gar nicht wahr in seiner Ecke, wo er in einem riesigen alten Schaukelstuhl saß, in dessen Kopfstütze eine Maske geschnitzt war.

»Er kam angerauscht, hat seine Sachen hingelegt, die ganzen Kerzen angezündet, und schon war er den Schornstein rauf. Schau auf die Uhr dort – es ist nach zwölf. Er kommt fast immer um zwölf und verschwindet gleich wieder. Ich bin nur runtergekommen, um mir die Kerzen anzuschauen und sie auszumachen, bevor ich ins Bett gehe. Das hab ich früher immer gemacht, vor Jahren, wenn er weg war. Kannst du die Uhr lesen, junger Weer?«

Ich hieß nicht Junger, aber ich wusste, dass er mich meinte, und schüttelte den Kopf.

»Ich denk mal, es schadet nich’, wenn du dir’s auch anschaust. Dann kannst du wieder ins Bett. Na, gehn dir ordentlich die Augen über?«

Ich sagte: »An unserem Baum zu Hause haben wir keine Kerzen.«

»Wahrscheinlich hat dein Papa Angst, dass ihm das Haus abbrennt. Tja, das kann schon passieren. Ich komme immer gleich, wenn der alte Nick da war, und blase sie aus. Den Baum hab ich erst vor zwei Tagen gefällt. Als deine Mama klein war, kamen sie und ihre Schwester immer runter und haben ihn angestaunt. Wahrscheinlich hat sie das vergessen – oder sie hat dich geschickt.«

»Sie schläft.«

»Möchtest du sehen, was Nick gebracht hat?«

Ich nickte.

»Hm, deine Sachen kann ich dir nich’ zeigen, aber du kannst dir angucken, was die anderen kriegen. Schau mal, hier.« Er erhob sich aus dem Schaukelstuhl, eine hochgewachsene Gestalt in dunkler Kleidung, die Barthaare am Kinn so steif und schwarz wie das Ende eines Zaunpfahls, der in Teeröl getaucht war. Er stützte sich auf seinen Stock und kniete zusammen mit mir vor dem Baum nieder. »Das hier«, sagte er, »ist für dich.« Er zeigte mir ein schweres, rechteckiges Paket, die Bänder und Schleifen ein wenig zerdrückt. »Und das hier auch.« Eine kleine Schachtel, in der etwas klapperte. »Das wird dir gefallen. Glaub ich jedenfalls.«

»Darf ich es schon aufmachen?«