Der fünfte Kopf des Zerberus - Gene Wolfe - E-Book

Der fünfte Kopf des Zerberus E-Book

Gene Wolfe

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Beschreibung

Auf den Zwillingsplaneten Sainte Croix und Sainte Anne haben britische Siedler die ehemals französische Kolonie erobert. Doch was ist mit den Ureinwohnern geschehen, die hier einst lebten? Einige von ihnen scheinen sich ins unerforschte Hinterland zurückgezogen zu haben. Wolfe verknüpft auf brillante Weise drei Handlungsfäden miteinander: Der Sohn eines Wissenschaftlers – und Bordellbesitzers – kommt dem bizarren Geheimnis seiner Herkunft auf die Spur; ein junger Aborigine begibt sich auf eine mystische Traumreise und muss im Kampf gegen seinen verlorenen Bruder seine Identität finden; ein Anthropologe berichtet in nur bruchstückhaft überlieferten Erinnerungen von seiner Begegnung mit den Ureinwohnern – aber ist er wirklich, wer er zu sein vorgibt? Die Einstiegsdroge in das Werk eines Autors, der in der ganzen englischsprachigen Literatur nicht seinesgleichen hat.

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Seitenzahl: 416

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Aus dem

amerikanischen Englisch

neu übersetzt von

Hannes Riffel

Impressum

Titel der Originalausgabe: The Fifth Head of Cerberus

Erstmals erschienen 1972 bei Charles Scribner’s Sons in New York

© 1972 by Gene Wolfe

© der Übersetzung 2023 by Hannes Riffel

© dieser Ausgabe 2023 by Carcosa Verlag, Wittenberge

Alle Rechte vorbehalten

Die deutsche Erstausgabe erschien, übersetzt von Yoma Cap, 1974 bei Heyne in München und wurde dort 1990 als Band 81 der BIBLIOTHEK DER SCIENCE FICTION LITERATUR neu aufgelegt // Die vorliegende Übersetzung folgt der 1994 bei Tom Doherty in New York erschienenen Ausgabe // Die Novelle »The Fifth Head of Cerberus« erschien erstmals im Februar 1972 in ORBIT 18 (hrsg. von Damon Knight) // Die Gedichtzeilen von Samuel Taylor Coleridge übersetzte Christopher Ecker // Das Vergil-Zitat wurde von Dietrich Ebener übertragen und entstammt: Vergil, Werke in einem Band (Berlin & Weimar: Aufbau, 1987), Seite 139 // Das Zitat von Karel Čapek übersetzte Erik Simon // Übersetzer & Verlag danken Peter Itzerott & Marcus Weible für sachdienliche Hinweise

Carcosa ist ein verschwistertes Imprint von

Memoranda Verlag | Hardy Kettlitz | Ilsenhof 12 | 12553 Berlin

www.carcosa-verlag.de | www.memoranda.eu

Lektorat: Christopher Ecker & Erik Simon

Redaktion: Kai U. Jürgens

Korrektorat: Christian W. Winkelmann

Umschlaggestaltung: s.BENeš [www.benswerk.com]

E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz

ISBN: 978-3-910914-06-3 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-910914-07-0 (E-Book)

Für Damon Knight,

der mich an einem denkwürdigen Abend im Juni 1966

aus einer Bohne herangezogen hat

Inhalt

Der fünfte Kopf des Zerberus

The Fifth Head of Cerberus

»Eine Geschichte« von John V. Marsch

»A Story«, by John V. Marsch

V. R. T.

Der fünfte Kopf des Zerberus

Wenn im schneebedeckten Efeugerank

Das Käuzchen über dem Wolfe klagt,

Der die Jungen der Wölfin frisst.

Samuel Taylor Coleridge,

Die Ballade vom alten Seemann

Als ich ein Junge war, mussten mein Bruder David und ich immer früh zu Bett gehen, ob wir nun müde waren oder nicht. Besonders im Sommer kam die Schlafenszeit oft vor Sonnenuntergang; und weil unser Zimmer im Ostflügel des Hauses lag, mit einem breiten Fenster, das auf den Innenhof hinausging und somit nach Westen, drang das grelle rosafarbene Licht manchmal noch stundenlang herein, während wir dalagen und zu dem verkrüppelten Äffchen meines Vaters hinausstarrten, das auf einer Balkonbrüstung saß, von der der Rost abblätterte, oder einander mit lautlosen Gesten Geschichten erzählten, von einem Bett zum anderen.

Unser Schlafraum lag im obersten Stockwerk des Hauses, und vor unserem Fenster war ein schmiedeeisernes Gitter befestigt, das wir nicht öffnen durften. Vermutlich wurde befürchtet, dass ein Einbrecher an einem regnerischen Morgen (nur dann konnte er hoffen, das Dach, auf dem so etwas wie ein Lustgarten eingerichtet war, leer vorzufinden) ein Seil herablassen und so in unser Zimmer eindringen könnte, falls das Gitter nicht geschlossen war.

Dieser hypothetische und äußerst beherzte Dieb hätte es natürlich nicht nur auf uns abgesehen. Kinder waren, Jungen wie Mädchen, in Port-Mimizon außerordentlich günstig zu haben; tatsächlich war mir einmal erklärt worden, dass mein Vater, der früher mit ihnen gehandelt hatte, dies inzwischen wegen der schwachen Nachfrage unterließ. Ob das nun der Wahrheit entsprach oder nicht, jeder – oder fast jeder – kannte einen Experten, der das Gewünschte beschaffen konnte, in angemessenem Rahmen und zu einem niedrigen Preis. Diese Männer hatten die Kinder der Armen und der Sorglosen im Blick, und sollte es jemanden, sagen wir, nach einem braunhäutigen, rothaarigen kleinen Mädchen verlangen oder nach einem, das drall war oder lispelte, nach einem blonden Jungen wie David oder einem blassen, braunhaarigen, braunäugigen wie mir, konnten sie dergleichen innerhalb weniger Stunden besorgen.

Ebenso wenig würde uns der imaginäre Einbrecher aller Wahrscheinlichkeit nach eines Lösegelds wegen entführen, obwohl manche Leute meinen Vater für unermesslich reich hielten. Dafür gab es mehrere Gründe. Die wenigen Menschen, die wussten, dass mein Bruder und ich überhaupt existierten, wussten auch – oder hatten jedenfalls Grund zu der Annahme –, dass wir unserem Vater vollkommen gleichgültig waren. Ob das der Wahrheit entsprach oder nicht, vermag ich nicht zu sagen; ich habe es auf jeden Fall geglaubt, und mein Vater gab mir nie den geringsten Anlass, daran zu zweifeln, obwohl mir der Gedanke, ihn zu töten, damals noch nicht gekommen war.

Und falls diese Gründe noch nicht überzeugend genug ausfielen: Jeder, der etwas von dem Milieu verstand, dessen Dreh- und Angelpunkt mein Vater vielleicht geworden war, musste sich darüber im Klaren sein, dass dieser sich, gäbe er einmal so leichtfertig Geld heraus, der Gefahr zahlloser ruinöser Angriffe aussetzen würde; war er doch bereits gezwungen, die Geheimpolizei mit enormen Summen zu bestechen. Das mag der eigentliche Grund gewesen sein, warum wir nie gestohlen wurden – das und die Furcht, die er verbreitete.

Das Eisengitter ist (denn ich schreibe dies in meinem alten Schlafraum) so gefertigt, dass es, auf starre und übertrieben symmetrische Weise, den Zweigen einer Weide ähnlich sieht. In meiner Kindheit schlang sich die Ranke einer (seither ausgegrabenen) Silbertrompete darum, die vom darunterliegenden Hof die Mauer heraufgeklettert war, und ich habe mir oft gewünscht, diese würde das Fenster vollständig zuwuchern und somit, wenn wir zu schlafen versuchten, die Sonne aussperren; aber David, dessen Bett unter dem Fenster stand, brach fortwährend Zweige ab, um durch die hohlen Stängel zu pfeifen – aus vier oder fünf davon bastelte er eine Art Panflöte. Das Flöten wurde natürlich umso lauter, je verwegener David wurde, und erregte mit der Zeit die Aufmerksamkeit von Mr. Million, unserem Hauslehrer. Mr. Million kam jedes Mal völlig lautlos ins Zimmer, und während David so tat, als schliefe er, glitten seine breiten Räder über den unebenen Boden. Die Panflöte mochte inzwischen unter dem Kopfkissen verborgen sein, im Bettbezug oder sogar unter der Matratze, aber Mr. Million fand sie immer.

Was er mit diesen kleinen Musikinstrumenten tat, nachdem er sie David wegnahm, hatte ich bis gestern vergessen; und das, obwohl ich mir im Gefängnis, wenn uns Unwetter oder starker Schneefall am Ausgang hinderten, oft mit dem Versuch die Zeit vertrieb, mich daran zu erinnern. Sie zu zerbrechen oder durch den Fensterladen auf die darunterliegende Veranda zu werfen, hätte ihm gar nicht ähnlichgesehen; Mr. Million machte nie etwas mit Absicht kaputt, und er verschwendete auch nie etwas. Vor meinem geistigen Auge sehe ich noch genau den halb traurigen Ausdruck, mit dem er die winzigen Flöten hervorholte (das Gesicht, das hinter seinem Bildschirm zu schweben schien, ähnelte sehr dem meines Vaters), und wie er sich umdrehte und aus dem Zimmer glitt. Aber was ist aus ihnen geworden?

Gestern ist es mir, wie gesagt (dergleichen gibt mir mein Selbstvertrauen zurück), wieder eingefallen. Er unterhielt sich mit mir, während ich arbeitete, und als er mich verließ, hatte ich – als ich mit müßigem Blick seine geschmeidigen Bewegungen verfolgte – den Eindruck, dass irgendetwas fehlte, eine schwungvolle Bewegung vielleicht, an die ich mich aus frühester Kindheit erinnerte. Ich schloss die Augen und versuchte mich zu entsinnen, was das gewesen sein mochte, wobei ich jede Skepsis unterdrückte, jeden Versuch, im Voraus zu erraten, was ich gesehen haben »musste«; und mir wurde bewusst, dass der fehlende Bestandteil ein kurzes Aufblitzen, das Schimmern von Metall über Mr. Millions Kopf war.

Nachdem ich dies festgestellt hatte, wusste ich, dass eine rasche, aufwärtsgerichtete Bewegung seines Arms die Ursache gewesen sein musste, als salutierte er, wenn er das Zimmer verließ. Eine Stunde oder länger kam ich nicht hinter den Grund dieser Geste und konnte nur annehmen, dass er, worin auch immer er bestanden haben mochte, von der Zeit ausgelöscht worden war. Ich versuchte mich zu erinnern, ob sich in jener eigentlich gar nicht so fernen Vergangenheit auf dem Flur vor unserem Schlafraum etwas befunden hatte, das jetzt verschwunden war: eine Gardine oder ein Rollladen, irgendeine Vorrichtung, die bewegt werden musste und die eine Erklärung bot. Da war nichts.

Ich ging auf den Flur hinaus und suchte den Boden nach Anzeichen dafür ab, dass dort einmal ein Möbelstück gestanden hatte. Ich suchte nach Haken oder Nägeln in den Wänden, wobei ich die grobmaschigen alten Gobelins beiseiteschob. Mit in den Nacken gelegtem Kopf nahm ich die Decke in Augenschein. Dann, nach einer Stunde, betrachtete ich die Tür selbst und sah, was ich nie gesehen hatte, während ich tausendmal hindurchgegangen war: dass sie, wie alle Türen im Haus (das sehr alt ist), einen massiven Holzrahmen hat und dass der Türsturz weit genug von der Wand absteht, um über der Tür ein schmales Bord zu bilden.

Ich schob meinen Stuhl in den Flur und stieg auf die Sitzfläche. Auf dem Bord lag eine dicke Staubschicht, und darin ruhten siebenundvierzig der Pfeifen meines Bruders sowie eine wundervolle Sammlung anderer kleiner Gegenstände. An viele davon erinnerte ich mich, andere dagegen finden in den Winkeln meines Gehirns noch immer keinen Widerhall …

Das kleine blaue Ei eines Singvogels, braun gesprenkelt. Vermutlich hatte der Vogel in den Ranken vor unserem Fenster genistet, und David oder ich hatten das Nest geplündert, nur um selbst von Mr. Million ausgeraubt zu werden. An den Vorfall kann ich mich jedoch nicht entsinnen.

Außerdem liegen dort ein (zerbrochenes) Puzzle aus den bronzierten Eingeweiden irgendeines kleinen Tieres und – wunderbar sinnträchtig – einer jener großen und phantasievoll verzierten Schlüssel, die alljährlich verkauft werden und es ihrem Besitzer im Geltungsjahr gestatten, bestimmte Räume der Stadtbibliothek nach der Schließzeit zu betreten. Ich nehme an, dass Mr. Million ihn konfiszierte, als er nach Ablauf der Frist entdeckte, wie der Schlüssel seinen Dienst als Spielzeug versah; aber was für Erinnerungen!

Mein Vater hatte eine eigene Bibliothek, die sich nun in meinem Besitz befindet; uns war es allerdings verboten, sie zu betreten. Ich kann mich schwach entsinnen, wie ich – in welch frühem Alter, weiß ich nicht zu sagen – einmal vor der riesigen getäfelten Tür stand; wie sie vor meinen Augen aufschwang und wie sich das verkrüppelte Äffchen auf der Schulter meines Vaters an sein Adlergesicht schmiegte, darunter das schwarze Halstuch und der scharlachrote Hausmantel und jenseits davon Reihen über Reihen schäbiger Bücher und Notizblöcke; und der süßliche Geruch von Formaldehyd, der aus dem Labor hinter dem Schiebespiegel drang.

Ich weiß nicht mehr, was er sagte oder ob ich oder jemand anderes geklopft hatte, aber ich entsinne mich, dass sich, nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, eine Frau in Rosa, die ich für sehr hübsch hielt, zu mir herabbeugte und mir versicherte, mein Vater habe all diese Bücher geschrieben, die ich gerade gesehen hatte, und dass ich nicht im Mindesten daran zweifelte.

*

* *

Meinem Bruder und mir war, wie gesagt, dieses Zimmer verboten; aber als wir ein wenig älter waren, nahm uns Mr. Million etwa zweimal pro Woche auf Expeditionen in die Stadtbibliothek mit. Ansonsten wurde uns so gut wie nie gestattet, das Haus zu verlassen, und da unser Hauslehrer seine mit Gelenken versehenen Metallmodule nur ungern angewinkelt in einen Mietwagen hievte und keine Sänfte sein Gewicht tragen oder seinen umfänglichen Leib aufnehmen konnte, wurden diese Streifzüge zu Fuß unternommen.

Lange Zeit war dieser Weg zur Bibliothek der einzige Teil der Stadt, den ich kannte. Drei Blocks die Saltimbanque Street entlang, wo unser Haus stand, an der Rue d’Asticot rechts zum Sklavenmarkt und einen Block weiter zur Bibliothek. Ein Kind, das nicht weiß, was außergewöhnlich ist und was gewöhnlich, findet sich normalerweise irgendwo in der Mitte wieder, interessiert sich für Vorfälle, die Erwachsene nicht der Beachtung wert befinden, und nimmt völlig gelassen die unwahrscheinlichsten Ereignisse hin. Mein Bruder und ich waren von den zweifelhaften Antiquitäten und überteuerten Waren der Rue d’Asticot fasziniert, aber langweilten uns oft, wenn Mr. Million darauf bestand, eine Stunde auf dem Sklavenmarkt zu verweilen.

Dieser war nicht besonders groß, schließlich war Port-Mimizon kein Handelszentrum, und die Auktionatoren und ihre Waren standen häufig auf freundschaftlichem Fuße – begegneten sie einander doch oft mehrmals, wenn eine Abfolge von Besitzern die immer gleichen Mängel bemerkte. Mr. Million gab nie ein Gebot ab, aber verfolgte so manche Versteigerung mit ausdrucksloser Miene, während wir uns die Beine in den Bauch standen und das geröstete Brot mampften, das er an einem Stand für uns erworben hatte. Da gab es Sänftenträger mit muskulösen Beinen; einfältig lächelnde Badewärter; Kampfsklaven in Ketten, der Blick von Drogen abgestumpft oder lodernd vor schwachsinniger Wildheit; Köche, Hausdiener, einhundert andere – und trotzdem baten David und ich inständig darum, allein zur Bibliothek vorausgehen zu dürfen.

Die Bibliothek war ein verschwenderisch großes Gebäude, das früher, als noch französisch gesprochen wurde, verschiedene Ministerien beherbergte. Der Park, in dessen Mitte es sich einst erhoben hatte, war kleinlicher Korruption zum Opfer gefallen, und die Bibliothek umgab jetzt ein Wirrwarr von Läden und Mietshäusern. Ein schmaler Durchgang führte zum Hauptportal, und wenn wir das Gebäude betraten, ließen wir das Elend des Viertels hinter uns und befanden uns stattdessen inmitten alter, verblasster Pracht. Die Buchausgabe befand sich direkt unter der Kuppel, und diese Kuppel, zu der ein riesiger Wendelgang hinaufführte, den der Hauptbestand der Bibliothek säumte, schwebte einhundertfünfzig Meter über allem: ein steinernes Himmelsgewölbe, von dem nur ein winziger Splitter herabfallen musste, um einen der Bibliothekare an Ort und Stelle zu töten.

Während sich Mr. Million, majestätisch stöbernd, die Spirale hinaufbewegte, rannten David und ich voraus, bis wir uns mehrere Umrundungen über ihm befanden und tun und lassen konnten, was wir wollten. Als ich noch recht jung war, verfiel ich oft auf den Gedanken, dass ja auch einige Bücher meines Vaters hier stehen müssten, schließlich hatte er (die rosafarbene Dame hatte es bezeugt) ein ganzes Zimmer voll davon verfasst; entschlossen stieg ich hinauf, bis ich fast die Kuppel erreicht hatte, und machte mich auf die Suche. Da die Bibliothekare die Bücher nur sehr nachlässig wieder einräumten, bestand immer die Möglichkeit, dass ich etwas fand, das mir bislang entgangen war. Die Regale ragten weit über mir empor, aber wenn ich mich unbeobachtet glaubte, kletterte ich an ihnen hinauf wie an einer Leiter, trat auf Bücher, wenn auf den Borden kein Platz für die platten Spitzen meiner kleinen braunen Schuhe war, wobei manchmal Bände zu Boden fielen, wo sie bei meinem nächsten Besuch noch immer lagen und beim übernächsten, ein Beweis dafür, dass die Mitarbeiter die lange gewundene Steigung nur widerwillig erklommen.

Die oberen Borde waren, wenn überhaupt, in noch größerer Unordnung als die leichter zugänglichen, und eines glorreichen Tages, als ich das allerhöchste von ihnen erreichte, entdeckte ich in diesen erhabenen, wenngleich staubigen Gefilden (neben einem falsch eingestellten Text über Astronautik, Das meilenlange Raumschiff, von irgendeiner Deutschen) nur ein einsames Exemplar von Montag oder Dienstag, das an einem Buch über die Ermordung von Trotzki lehnte, und einen zerbröselnden Band mit Kurzgeschichten von Vernor Vinge, der seine Anwesenheit dort, so vermute ich jedenfalls, einem längst verstorbenen Bibliothekar verdankte, der das verblasste V. Vinge auf dem Buchrücken mit »Winge« verwechselt hatte.

Bücher von meinem Vater fand ich keine, aber ich bereute es nie, den langen Aufstieg bis unter die Kuppel unternommen zu haben. Wenn David mich begleitete, rannten wir gemeinsam hoch, die gewundene Schräge hinauf und hinunter – oder wir spähten über das Geländer zu Mr. Million, der sich nur langsam vorwärtsbewegte, und erwogen, ob es möglich wäre, seiner Existenz mit dem gezielten Wurf eines gewichtigen Werkes ein Ende zu setzen. Wenn David es vorzog, weiter unten eigene Interessen zu verfolgen, stieg ich bis ganz nach oben, wo sich die Krone der Kuppel unmittelbar über meinem Kopf wölbte, und von einem rostigen Steg aus, der kaum breiter war als eines der Borde, die ich erklommen hatte (und wohl bei Weitem nicht so stabil), öffnete ich dort, eines nach dem anderen reihum, eine Folge von winzigen Nietlöchern – Nietlöchern in einer Eisenblechwand, die so dünn war, dass ich, wenn ich die von Rost zerfressenen Abdeckplatten beiseitegeschoben hatte, den Kopf hindurchstecken konnte –, worauf ich wahrhaftig das Gefühl hatte, mich im Freien zu befinden, inmitten des Windes und der kreisenden Vögel und über der kalkgesprenkelten Fläche der Kuppel, deren Wölbung sich unter mir erstreckte.

Im Westen konnte ich, da es höher war als die umliegenden Gebäude und gut erkennbar wegen der Orangenbäume auf seinem Dach, unser Haus sehen. Im Süden die Masten der Schiffe im Hafen und bei klarem Wetter – und zur richtigen Tageszeit – die Schaumkronen der Gezeitenströme, die Sainte Anne zwischen den Halbinseln hindurchjagte, welche Zeigefinger und Daumen genannt wurden. (Und einmal sah ich, wie ich mich noch gut entsinne, im Süden einen großen sonnenbeschienenen Geysir, als ein Sternenkreuzer ins Wasser eintauchte.) Im Osten und im Norden breitete sich die eigentliche Stadt aus, die Zitadelle und der große Markt, und dahinter lagen die Wälder und die Berge.

Früher oder später jedoch, ob David mich nun begleitet hatte oder auf eigene Faust losgezogen war, rief Mr. Million uns zu sich. Dann blieb uns nichts anderes übrig, als ihm in einen der Flügel zu folgen, um diese oder jene wissenschaftliche Sammlung zu besuchen. Bücher für den Unterricht also. Mein Vater legte Wert darauf, dass uns gründliche Kenntnisse in Biologie, Anatomie und Chemie beigebracht wurden, und unter Mr. Millions Anleitung geschah ebendies – er war nie der Meinung, dass wir ein Fach beherrschten, sofern wir nicht jedes Thema in jedem Buch, das unter dieser Rubrik verzeichnet war, erörtern konnten. Ich hegte eine große Vorliebe für die Biowissenschaften, während David Sprachen, Literatur und Rechtslehre vorzog; denn wir wurden auch in diesen oberflächlich unterrichtet sowie in Anthropologie, Kybernetik und Psychologie.

Nachdem er die Bücher ausgesucht hatte, mit denen wir uns in den nächsten Tagen beschäftigen sollten, und uns ermahnt hatte, weitere auszuwählen, zog sich Mr. Million gemeinsam mit uns in die ruhige Ecke irgendeines wissenschaftlichen Lesekabinetts zurück, wo Stühle standen und ein Tisch und wo es genügend Platz gab, sodass er seine Gelenke anwinkeln oder sich aufrecht gegen eine Wand oder einen Bücherschrank lehnen konnte, ohne einen der Durchgänge zu versperren. Um den offiziellen Beginn des Unterrichts zu kennzeichnen, rief er unsere Namen auf, wobei meiner immer zuerst an der Reihe war.

»Hier«, sagte ich dann, um zu zeigen, dass meine Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet war.

»Und David.«

»Hier.« (David hat eine illustrierte Ausgabe der Geschichten aus der Odyssee offen im Schoß liegen, wo Mr. Million sie nicht sehen kann, aber er blickt Mr. Million mit aufgewecktem, gespieltem Interesse an. Die Sonne scheint durch ein Fenster hoch oben auf den Tisch und lässt das Gewimmel der Staubkörner in der Luft sichtbar werden.)

»Ich frage mich, ob einer von euch die Steinwerkzeuge in dem Raum bemerkt hat, durch den wir vor wenigen Augenblicken gekommen sind.«

Wir nicken, wobei jeder hofft, dass der andere sprechen würde.

»Wurden sie auf der Erde hergestellt oder hier auf unserem Planeten?«

Das ist eine Fangfrage, allerdings eine einfache. David sagt: »Weder noch. Sie sind aus Kunststoff.« Und wir kichern.

Mr. Million sagt geduldig: »Ja, das sind Kunststoffnachbildungen, aber woher stammen die Originale?« Sein Gesicht – dem meines Vaters zum Verwechseln ähnlich, wenngleich es damals in meiner Vorstellung nur ihm gehörte, sodass es eine beängstigende Umkehrung der Natur darstellte, es an einem lebenden Menschen zu sehen anstatt auf dem Bildschirm – ist weder interessiert noch wütend oder gelangweilt; sondern kühl und unnahbar.

David antwortet: »Von Sainte Anne.« Sainte Anne ist unser Schwesterplanet, der sich mit uns um einen gemeinsamen Mittelpunkt dreht, während wir um die Sonne kreisen. »Das stand auf dem Schild, und die Aborigines haben sie hergestellt – und hier gab es keine Abos.«

Mr. Million nickt und wendet sein unergründliches Gesicht mir zu. »Hast du den Eindruck, dass diese Steinwerkzeuge im Leben ihrer Schöpfer eine zentrale Rolle gespielt haben? Sag Nein.«

»Nein.«

»Warum nicht?«

Ich denke krampfhaft nach, wobei mir David, der mir unter dem Tisch einen Tritt versetzt, keine Hilfe ist. Allmählich dämmert mir etwas.

»Sprich. Antworte sofort.«

»Das ist doch offensichtlich, oder?« (Immer ein guter Einstieg, wenn du dir nicht einmal sicher bist, ob »das« überhaupt im Rahmen des Möglichen liegt.) »Zunächst einmal können diese Werkzeuge nicht besonders gut gewesen sein, warum sollten die Abos sich also auf sie verlassen haben? Es lässt sich behaupten, dass sie die Pfeilspitzen aus Obsidian und die beinernen Angelhaken benötigten, um an Nahrung zu gelangen, aber das ist nicht wahr. Sie konnten das Wasser mit den Säften bestimmter Pflanzen vergiften, und für primitive Völkerschaften ist es wahrscheinlich am effektivsten, mit Reusen zu fischen oder mit Netzen aus Rohleder oder aus Pflanzenfasern. Ebenso wäre es effektiver, Tiere mittels Feuer zu fangen oder zusammenzutreiben, als sie zu jagen; außerdem braucht man überhaupt keine Steinwerkzeuge, um Beeren zu sammeln und die Triebe essbarer Pflanzen und dergleichen, und das waren wahrscheinlich ihre wichtigsten Nahrungsmittel – diese Steindinger sind in den Vitrinen gelandet, weil die Schlingen und die Netze verrottet sind und nichts anderes mehr übrig ist, und deshalb tun die Leute, die damit ihren Lebensunterhalt verdienen, so, als wären sie wichtig.«

»Gut. David? Sei originell, bitte. Wiederhole nicht, was du gerade gehört hast.«

David blickt von seinem Buch auf und sieht uns beide aus blauen Augen spöttisch an. »Wenn ihr sie fragen könntet, würden sie euch antworten, dass ihnen vor allem ihre Magie und ihre Religion, die Lieder, die sie gesungen haben, und die Traditionen ihres Volkes wichtig waren. Opfertiere haben sie mit Flegeln aus rasiermesserscharfen Muschelschalen getötet, und sie erlaubten ihren Männern nicht, Kinder zu zeugen, bevor sie genügend Feuer ausgehalten hatten, um ein Leben lang gezeichnet zu sein. Sie haben sich mit Bäumen gepaart und die Kinder ertränkt, um ihre Flüsse zu ehren. Das war ihnen wichtig!«

Mr. Millions Gesicht nickt halslos. »Nun werden wir erörtern, ob diese Aborigines menschlich waren. David – zuerst, was dagegenspricht.«

(Ich trete nach ihm, aber er hat die festen, sommersprossigen Beine hochgezogen oder hinter den Stuhlbeinen versteckt, der Schummler.) »Menschlich sein«, sagt er mit seiner hässlichsten Stimme, »setzt in der Menschheitsgeschichte die Abstammung von jemandem voraus, den wir der Einfachheit halber Adam nennen; genau genommen das ursprüngliche terrestrische Geschlecht, und wenn ihr beide das nicht begreift, seid ihr Idioten.«

Ich warte darauf, dass er fortfährt, aber er ist fertig. Damit ich Zeit zum Nachdenken habe, sage ich: »Mr. Million, es ist nicht fair, dass er mich während einer Erörterung beschimpfen darf. Schließlich streiten wir uns nicht.«

Mr. Million sagt: »Keine persönlichen Angriffe, David.« (David hat sich längst wieder dem Zyklopen Polyphem und Odysseus zugewandt – offenbar hofft er, dass ich länger rede. Ich fühle mich herausgefordert und beschließe, genau das zu tun.)

»Das Argument«, beginne ich, »das die terrestrische Abstammung für grundlegend erklärt, ist weder stichhaltig noch überzeugend. Und zwar, weil es allemal möglich ist, dass die Aborigines von Sainte Anne die Nachfahren einer früheren Welle menschlicher Expansion sind – eine, die vielleicht sogar älter ist als die der homerischen Griechen.«

»An deiner Stelle würde ich mich auf Argumente beschränken, für die eine größere Wahrscheinlichkeit spricht.«

Trotzdem erlaube ich mir einige Bemerkungen über die Etrusker, Atlantis und die Beharrlichkeit und die expansionistischen Tendenzen einer hypothetischen Hochkultur in Gondwanaland. Als ich fertig bin, sagt Mr. Million: »Jetzt umgekehrt. David, was spricht dafür, ohne Wiederholungen?«

Mein Bruder war natürlich, anstatt zuzuhören, in sein Buch vertieft, und ich trete ihn halbherzig – bestimmt weiß er jetzt nicht mehr weiter; aber er sagt: »Die Abos sind Menschen, weil sie alle tot sind.«

»Erläutere das.«

»Wären sie am Leben, wäre es gefährlich, sie Menschen sein zu lassen, denn dann würden sie Anspruch auf vieles erheben, aber wenn sie tot sind, macht es das weit interessanter, wenn sie Menschen waren und die Siedler sie alle getötet haben.«

Und dergleichen mehr. Der Fleck Sonnenlicht wandert über das schwarzgestreifte Rot der Tischplatte – ist bereits hundertmal darübergewandert. Wir verließen die Bibliothek durch einen Seitenausgang und durchquerten einen zwischen zwei Flügeln gelegenen vernachlässigten Lichthof. Dort standen leere Flaschen herum, und der Wind blies alle möglichen Papiere auseinander, und einmal stießen wir auf einen Toten in hellen Lumpen, über dessen Beine wir Jungs hüpften, während Mr. Million schweigend um ihn herumrollte. Als wir aus dem Lichthof auf eine schmale Straße traten, riefen die Signalhörner der Garnison in der Zitadelle (wie weit entfernt sie klangen) die Soldaten zur Abendmahlzeit. In der Rue d’Asticot ging jetzt der Lampenanzünder seiner Arbeit nach, und die Läden schlossen ihre eisernen Fenstergitter. Die Gehwege, wie durch ein Wunder von alten Möbelstücken befreit, wirkten breit und bloß.

Ganz anders in unserer Saltimbanque Street, wo gerade die ersten Nachtschwärmer eintrafen: wackere weißhaarige Männer und unter ihrer Anleitung sehr junge Männer und Knaben, Männer wie Knaben ansehnlich und muskulös, wenngleich ein wenig überfüttert; junge Männer, die zaghafte Witze machten und einander mit vortrefflichen Zähnen anlächelten. Diese trafen immer am frühesten ein, und als ich ein wenig älter war, fragte ich mich manchmal, ob sie nur deswegen früh kamen, weil die weißhaarigen Männer ihr Vergnügen haben und außerdem ausreichend Schlaf finden wollten, oder weil sie wussten, dass die jungen Männer, die sie in das Etablissement meines Vaters einführten, nach Mitternacht schläfrig und reizbar sein würden, wie Kinder, die zu lange aufgeblieben sind.

Da Mr. Million nicht wollte, dass wir uns nach Einbruch der Dunkelheit in den Gassen aufhielten, gingen wir zusammen mit den weißhaarigen Männern und ihren Neffen und Söhnen durch den Haupteingang. Hier gab es einen Garten, der nicht viel größer war als ein kleines Zimmer – eine Nische in der fensterlosen Fassade des Hauses. Darin befanden sich Farnbeete von der Größe von Gräbern; ein kleiner Springbrunnen, in dem das Wasser auf Glasröhrchen fiel, die fortwährend klimperten und vor den Straßengören beschützt werden mussten; und, die Füße fest in das Moos gepflanzt, wenn nicht gar davon überwuchert, die eiserne Statue eines Hundes mit drei Köpfen.

Diese Statue hat unserem Haus vermutlich den volkstümlichen Namen Maison du Chien eingebracht, wenngleich das auch eine Anspielung auf unseren Nachnamen sein kann. Die drei Köpfe waren glatt und kräftig, Schnauze wie Ohren liefen spitz zu. Einer knurrte, und einer, der mittlere, betrachtete die Welt des Gartens und der Straße mit nachsichtiger Neugier. Der dritte, welcher dem breiten Pfad, der zu unserer Haustür führte, am nächsten war, grinste breit – anders lässt es sich nicht beschreiben. Die Kunden meines Vaters hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, diesen Kopf zwischen den Ohren zu tätscheln, wenn sie den Pfad entlangkamen. Ihre Finger hatten die Stelle so sehr poliert, dass sie inzwischen die Beschaffenheit von schwarzem Glas hatte.

*

* *

Dies also war meine Welt nach sieben der langen Jahre unserer Welt und vielleicht für ein weiteres halbes Jahr. Die meisten meiner Tage verbrachte ich in dem kleinen Klassenzimmer, in dem Mr. Million waltete, und meine Abende in dem Schlafraum, wo David und ich in völliger Stille spielten und stritten. Abwechslung brachten jene Ausflüge zur Bibliothek, die ich beschrieben habe, oder, sehr selten, woandershin. Gelegentlich schob ich die Blätter der Silbertrompetenranke beiseite, um die Mädchen und ihre Wohltäter unten im Hof zu beobachten, oder ich hörte ihre Gespräche vom Dachgarten herunterwehen, aber die Dinge, die sie taten und über die sie sprachen, interessierten mich nicht weiter. Ich wusste, dass der hochgewachsene Mann mit dem Raubvogelgesicht, der über das Haus herrschte und von den Mädchen und den Dienern »Maître« genannt wurde, mein Vater war. Seit eh und je wusste ich, dass es irgendwo eine furchterregende Frau gab – die Diener hatten schreckliche Angst vor ihr –, »Madame« genannt, die allerdings weder meine Mutter war noch Davids und auch nicht die Ehefrau meines Vaters.

Dieses Leben und meine Kindheit, oder zumindest meine frühe Kindheit, endeten eines Abends, nachdem David und ich, erschöpft von Ringkämpfen und lautlosen Wortwechseln, eingeschlafen waren. Jemand schüttelte mich an der Schulter und sprach mich an, und es war nicht Mr. Million, sondern einer der Diener, ein buckliger kleiner Mann in einer schäbigen roten Jacke. »Er verlangt nach dir«, informierte mich dieser Bote. »Steh auf.«

Das tat ich, und er sah, dass ich Nachtkleidung trug. Darauf war er wohl nicht vorbereitet gewesen, und für einen Augenblick, während ich dastand und gähnte, debattierte er mit sich selbst. »Zieh dich an«, sagte er schließlich. »Kämm dir die Haare.«

Ich gehorchte und zog die schwarzen Samthosen an, die ich tagsüber getragen hatte, aber (von irgendeinem Instinkt geleitet) ein frisches Hemd. Das Zimmer, zu dem er mich anschließend lotste (durch gewundene, von den letzten Kunden verlassene Korridore und durch andere, muffige, von Rattenkot verschmutzte, zu denen die Kunden keinen Zugang hatten), war die Bibliothek meines Vaters – das Zimmer mit der großen vertäfelten Tür, vor der mir die Dame in Rosa die vertrauliche Bemerkung zuflüsterte. Ich hatte es noch nie betreten, aber als mein Führer dezent an der Tür klopfte, schwang sie auf, und ich fand mich im Innern wieder, noch bevor ich begriff, was geschehen war.

Mein Vater, der die Tür geöffnet hatte, schloss sie hinter mir, ließ mich einfach stehen, schritt zum entferntesten Ende des langen Raums und warf sich in einen riesigen Sessel. Er trug, wie meistens, den roten Hausmantel und das schwarze Halstuch, und sein langes, spärliches Haar war gerade nach hinten gekämmt. Er starrte mich an, und ich weiß noch gut, dass meine Lippen zitterten, während ich versuchte, nicht in Schluchzen auszubrechen.

»Nun«, sagte er, nachdem wir einander lange Zeit gemustert hatten, »da bist du also. Wie soll ich dich nennen?«

Ich sagte ihm meinen Namen, aber er schüttelte den Kopf. »Das nicht. Für mich brauchst du einen anderen Namen – einen vertraulichen Namen. Du darfst ihn dir selbst aussuchen, wenn du magst.«

Ich erwiderte nichts. Es schien mir vollkommen unmöglich, dass ich irgendeinen anderen Namen haben sollte als die beiden Wörter, die, in einem geheimnisvollen Sinn, den ich lediglich akzeptierte, aber nicht begriff, mein Name waren.

»Dann entscheide ich für dich«, sagte mein Vater. »Du bist Nummer Fünf. Komm her, Nummer Fünf.«

Das tat ich, und als ich vor ihm stand, erklärte er mir: »Wir werden jetzt ein Spiel spielen. Ich werde dir einige Bilder zeigen, verstehst du? Und die ganze Zeit, während du sie betrachtest, musst du reden. Über die Bilder. Wenn du sprichst, gewinnst du, aber wenn du aufhörst, auch nur für eine Sekunde, gewinne ich. Verstanden?«

Ich bejahte.

»Gut. Ich weiß, dass du ein heller Junge bist. Um genau zu sein: Mr. Million hat mir die Prüfungen ausgehändigt, denen er euch unterzogen hat, und alle Aufnahmen von seinen Gesprächen mit euch. Wusstest du das? Hast du dich je gefragt, was er damit macht?«

Ich sagte: »Ich dachte, er wirft sie weg«, und mein Vater beugte sich, wie mir nicht entging, vor, während ich redete, ein Umstand, den ich damals schmeichelhaft fand.

»Nein, ich habe sie hier.« Er drückte auf einen Schalter. »Denk daran, du darfst nicht aufhören zu reden.«

Während der ersten Momente war ich jedoch viel zu gefesselt, um zu reden.

In dem Zimmer erschienen, wie durch Zauberei, ein Knabe, der erheblich jünger war als ich, und ein bemalter Holzsoldat, der fast so groß war wie ich, die sich, als ich die Hand ausstreckte, um sie zu berühren, als so ungreifbar erwiesen wie Luft. »Sag etwas«, sagte mein Vater. »Woran denkst du gerade, Nummer Fünf?«

Ich dachte, natürlich, an den Soldaten, und genau das tat der jüngere Knabe, der etwa drei zu sein schien. Er tapste durch meinen Arm wie durch Nebel und versuchte, den Soldaten umzuwerfen.

Beide waren Holographien – dreidimensionale Bilder, die durch die Überlagerung von zwei Wellenfronten aus Licht entstehen –, etwas, das mir äußerst langweilig vorgekommen war, als ich die planen Illustrationen von Schachfiguren in meinem Physikbuch betrachtet hatte; allerdings dauerte es eine Weile, bevor ich die Schachfiguren mit den Phantomen in Verbindung brachte, die mitten in der Nacht durch die Bibliothek meines Vaters schritten. Die ganze Zeit über sagte mein Vater: »Rede! Sag etwas! Was, meinst du, empfindet der kleine Junge?«

»Na ja, dem kleinen Jungen gefällt der große Soldat, aber er möchte ihn umwerfen, jedenfalls versucht er es, denn der Soldat ist nur ein Spielzeug, aber er ist größer als er …« Und so redete ich und redete – stundenlang, nehme ich an – immer weiter. Die Szenerie veränderte sich und veränderte sich wieder. Der riesige Soldat wich einem Pony, einem Kaninchen, einer Mahlzeit aus Suppe mit Kräckern. Aber der dreijährige Junge blieb die Figur, um die sich alles drehte. Als der Bucklige in der schäbigen Jacke – gähnend – wieder erschien, um mich ins Bett zurückzubringen, war meine Stimme zu einem heiseren Flüstern geworden und mir tat der Hals weh. In jener Nacht träumte ich, wie der kleine Junge von einer Betätigung zur anderen trippelte, wobei ich seine Persönlichkeit irgendwie mit der meinen und der meines Vaters durcheinanderbrachte, sodass ich gleichzeitig Beobachter, Beobachteter und jemand Drittes war, der uns beide beobachtete.

Am nächsten Abend schlief ich fast augenblicklich ein, nachdem Mr. Million uns nach oben ins Bett geschickt hatte, und blieb nur lange genug bei Bewusstsein, um mir selbst zu gratulieren, dass mir das gelungen war. Ich erwachte, als der Bucklige das Zimmer betrat, aber er weckte nicht mich, sondern David. Ich tat so, als schliefe ich (denn ich befürchtete – mit gutem Grund, wie mir damals schien –, dass er, falls er sah, dass ich wach war, uns beide mitnehmen würde), und beobachtete, wie mein Bruder sich anzog und sich abmühte, so etwas wie Ordnung in das Gewirr seiner blonden Haare zu bringen. Als er zurückkehrte, schlief ich tief und fest und hatte erst Gelegenheit, ihn zu befragen, als Mr. Million uns, wie er es manchmal tat, allein frühstücken ließ. Ich hatte David ganz selbstverständlich von meinen Erfahrungen berichtet, und er konnte mir lediglich erzählen, dass sein Abend dem meinen sehr ähnlich gewesen war. Er hatte holographische Bilder betrachtet, offenbar dieselben wie ich: den Holzsoldaten, das Pony. Er war angehalten worden, in einem fort zu reden, wozu uns Mr. Million bei Erörterungen oder mündlichen Prüfungen schon sehr oft aufgefordert hatte. Nur in einer Hinsicht schien sich, soweit ich das feststellen konnte, sein Gespräch mit unserem Vater von meinem zu unterscheiden.

Als ich ihn fragte, wie er genannt worden war, sah er mich verständnislos an, ein Stück Toast halb zum Mund erhoben.

Ich fragte noch einmal: »Wie hat er dich genannt, als er mit dir geredet hat?«

»Er hat mich David genannt. Was denkst du denn?«

Als diese Gespräche ihren Anfang nahmen, veränderte sich die Struktur meines Lebens, und was ich für vorübergehend gehalten hatte, verfestigte sich immer mehr, nahm nach und nach eine neue Gestalt an, ohne dass sich David oder ich dessen bewusst gewesen wäre. Unsere Spiele und Geschichten nach Schlafenszeit hörten auf, und David fertigte immer seltener seine Panflöten aus der Silbertrompetenranke. Mr. Million erlaubte uns, länger zu schlafen, und wie beiläufig wurde uns zugestanden, dass wir erwachsener wurden. Etwa zu der Zeit begann er auch, uns in einen Park mitzunehmen, in dem es einen Bogenschießstand gab und Anlagen für weitere Sportarten. Dieser kleine Park, der nicht weit von unserem Haus entfernt war, grenzte mit einer Seite an einen Kanal. Oft saß ich dort, während David Pfeile auf eine mit Stroh ausgestopfte Gans schoss oder Tennis spielte, und starrte in das ruhige, nur leicht trübe Wasser; oder ich wartete auf eines der weißen Schiffe – große Schiffe mit einem Bug so scharf wie der Skalpellschnabel eines Eistauchers und mit vier, fünf oder sogar sieben Masten –, die, wenn auch selten, von zehn oder zwölf Ochsengespannen vom Hafen heraufgeschleppt wurden.

*

* *

Im Sommer meines elften oder zwölften Jahres – ich glaube, es war das zwölfte – wurde uns zum ersten Mal erlaubt, nach Sonnenuntergang im Park zu bleiben; wir saßen auf der schräg abfallenden Kanalböschung im Gras und schauten einem Feuerwerk zu. Kaum hatten sich die ersten Raketenflüge, die den Auftakt bildeten, eine halbe Meile über der Stadt erschöpft, wurde David übel. Er stürzte zum Wasser und übergab sich, die Hände bis zur Hälfte des Unterarms in den Matsch getaucht, während die prachtvollen roten und weißen Sterne über ihm loderten. Mr. Million nahm ihn auf die Arme, und nachdem David fertig war, eilten wir nach Hause.

Seine Krankheit erwies sich als nicht dauerhafter als das verdorbene Sandwich, das sie ausgelöst hatte, doch während unser Tutor ihn zu Bett brachte, beschloss ich, mich nicht um den Rest der Vorführung bringen zu lassen, von der ich auf unserem Heimweg Teile zwischen den Häusern hindurch flüchtig zu sehen bekommen hatte. Nach Einbruch der Dunkelheit durfte ich das Dach eigentlich nicht mehr betreten, aber ich wusste nur zu gut, wo das nächste Treppenhaus war. Der Nervenkitzel, den ich empfand, als ich in diese verbotene Welt aus Laub und Schatten eindrang, während sich über ihr purpurne und goldene und scharlachrote Feuerblüten öffneten, griff mich an wie die Nachwehen eines Fiebers und ließ mich, mitten im Sommer, zitternd und frierend nach Luft schnappen.

Auf dem Dach hielten sich bei Weitem mehr Menschen auf, als ich erwartet hatte, die Männer ohne Mäntel, Hüte oder Stöcke (die sie alle in den Garderoben meines Vaters zurückgelassen hatten) und die Mädchen, die Angestellten meines Vaters, in Kostümen, die ihre rotgeschminkten Brüste in an Vogelkäfige erinnernden Drahtgehäusen ausstellten oder ihnen das Aussehen übertriebener Größe verliehen (jedenfalls bis jemand dicht an sie herantrat), oder in langen Kleidern, deren Röcke Gesicht und Büste der Trägerin widerspiegelten wie stilles Wasser die Bäume, die an ihm stehen, sodass sie – die Mädchen – im unregelmäßigen Feuerwerkschein wie die Königinnen seltsamer Farben in einem Tarotspiel wirkten.

Natürlich wurde ich gesehen, denn ich war viel zu aufgeregt, um mich erfolgreich zu verbergen; aber niemand befahl mir, nach unten zu gehen – wahrscheinlich nahmen sie an, mir sei das Heraufkommen gestattet worden, um das Feuerwerk zu betrachten.

Dieses währte eine lange Zeit. Ich erinnere mich an einen Gast – einen dicken, dummen Mann mit kantigem Gesicht, bei dem es sich offenbar um jemanden von Bedeutung handelte –, der äußerst begierig darauf war, die Gesellschaft seines Protegés zu genießen (die erst hineingehen wollte, wenn das Feuerwerk vorbei war), und der so großen Wert darauf legte, ungestört zu sein, dass zwanzig oder dreißig Büsche und kleine Bäume aufgestellt werden mussten, um einen kleinen Hain um die beiden zu bilden. Ich half den Bediensteten, einige der leichteren Töpfe und Kübel zu tragen, und als das Gehege fertig war, gelang es mir, hineinzuschlüpfen. Hier konnte ich weiterhin die explodierenden Raketen und »Fliegerbomben« betrachten und gleichzeitig den Gast und seine nymphe du bois, die den Blick weit aufmerksamer nach oben gerichtet hatte als ich.

Mein Motiv war, soweit ich mich erinnere, nicht Laszivität, sondern schlichte Neugier. Ich war in jenem Alter, in dem uns alles leidenschaftlich interessiert, die Leidenschaft aber dem reinen Wissen gilt. Meine war fast befriedigt, als ich von hinten am Hemd gepackt und aus dem Gebüsch gezerrt wurde.

Alsbald wurde ich losgelassen, und ich drehte mich in der Erwartung um, Mr. Million vor mir zu haben, aber er war es nicht. Ich war von einer kleinen grauhaarigen Frau aufgegriffen worden, die ein schwarzes Kleid trug, dessen Rock, wie mir sogar zu dem Zeitpunkt auffiel, von der Taille gerade bis zum Boden fiel. Ich nehme an, dass ich mich verbeugt habe, da sie ganz offensichtlich keine Dienerin war, aber sie erwiderte die Begrüßung nicht, sondern starrte mich auf eine Weise an, dass ich den Eindruck hatte, sie könne in den Augenblicken zwischen den prachtvoll aufscheinenden Lichtkaskaden ebenso gut sehen wie in deren Schein. Schließlich schoss, vermutlich das Finale der Vorführung, kreischend eine große Rakete empor, die ein Feuerband hinter sich herzog, und die alte Dame hob bedächtig den Blick. Nachdem sich am Himmel eine malvenfarbene Orchidee von unglaublicher Größe und Leuchtkraft geöffnet hatte, packte mich diese eindrucksvolle kleine Frau erneut und führte mich mit fester Hand zur Treppe. Während wir uns auf dem ebenen Steinpflaster des Dachgartens befanden, setzte sie, soweit ich sehen konnte, nicht etwa einen Fuß vor den anderen, sondern schien über den Boden zu gleiten wie eine Schachfigur aus Onyx über ein poliertes Spielbrett; und genauso erinnere ich mich, trotz allem, was seither vorgefallen ist, noch immer an sie: als die schwarze Königin, eine Schachfigur, die weder gut noch böse ist und nur deshalb schwarz, um sich von irgendeiner weißen Königin zu unterscheiden, der zu begegnen mir nicht bestimmt war.

Als wir die Treppe erreichten, wurde aus diesem geschmeidigen Gleiten allerdings ein fließendes Hüpfen, bei dem zwei Zoll oder mehr ihres schwarzen Rocks mit jeder Stufe in Berührung kamen, als glitte ihr Oberkörper jede einzelne davon hinab wie ein kleines Boot eine Stromschnelle – mal eilend, mal innehaltend und hin und wieder in einer Gegenströmung fast rückwärts ruckend.

Sie hielt sich auf der Treppe im Gleichgewicht, indem sie sich auf mich stützte und den Arm eines Dienstmädchens umfasste, das am obersten Treppenabsatz auf uns gewartet hatte und ihr von der anderen Seite beistand. Als wir den Dachgarten überquerten, hatte ich angenommen, ihr Gleiten sei lediglich das Resultat eines wunderbar kontrollierten Gangs und einer äußerst aufrechten Haltung gewesen, aber jetzt begriff ich, dass sie auf irgendeine Weise behindert war; und ich hatte den Eindruck, dass sie ohne unsere Hilfe kopfüber die Treppe hinuntergefallen wäre.

Nachdem wir den Fuß der Treppe erreicht hatten, bewegte sie sich wieder ebenso geschmeidig wie zuvor. Sie entließ das Dienstmädchen mit einem Nicken und führte mich den Korridor entlang in eine Richtung, die von unserem Schlafraum und dem Klassenzimmer wegführte, bis wir ein Treppenhaus weit hinten im Haus erreichten, eine äußerst steile Wendeltreppe, die selten benutzt wurde, mit einem niedrigen Eisengeländer in der Mitte, wo es sechs Stockwerke tief in den Keller ging. Hier ließ sie mich los und forderte mich kurz und bündig auf, nach unten zu gehen. Ich stieg mehrere Stufen hinab und wandte mich dann um, nur für den Fall, dass sie irgendwelche Schwierigkeiten hatte.

Das hatte sie nicht, aber sie benutzte auch nicht die Treppe. Während ihr langer Rock so gerade wie ein Vorhang herabhing, schwebte sie in der Mitte des Treppenschachts und sah mich an. Ich war so erschrocken, dass ich stehen blieb, worauf sie wütend den Kopf herumriss – und ich zu rennen begann. Während ich die Spirale hinunterfloh, drehte sie sich mit mir, wandte mir stets ein Gesicht zu, das ungemein dem meines Vaters glich, eine Hand fortwährend auf dem Geländer. Als wir bis zum zweiten Stock gelangt waren, stieß sie auf mich herab, packte mich so mühelos wie eine Katze ein umherirrendes Junges und führte mich durch Zimmer und Korridore, die mir bislang verboten gewesen waren, bis ich so verwirrt war, als befände ich mich in einem fremden Gebäude. Endlich blieben wir vor einer Tür stehen, die sich in keiner Hinsicht von den anderen unterschied. Sie öffnete sie mit einem altmodischen Messingschlüssel, der einen Sägebart hatte, und bedeutete mir einzutreten.

Das Zimmer war hell erleuchtet, und ich konnte deutlich erkennen, was ich auf dem Dach und den Fluren nur geahnt hatte: Der Saum ihres Rocks hing, ganz gleich wie sie sich bewegte, zwei Zoll über dem Fußboden, und zwischen Saum und Fußboden befand sich rein gar nichts. Sie wies auf einen kleinen Schemel, der mit Gobelinstickerei bedeckt war, und sagte: »Setz dich«, und als ich das getan hatte, glitt sie zu einem hochlehnigen Schaukelstuhl hinüber und ließ sich, das Gesicht mir zugewandt, darin nieder. Nach einer Weile fragte sie: »Wie heißt du?«, und nachdem ich ihr geantwortet hatte, hob sie eine Augenbraue und setzte den Stuhl in Bewegung, indem sie sich sanft mit den Fingern von der Stehlampe abstieß, die neben ihr stand. Nach langer Zeit fragte sie: »Und wie nennt er dich?«

»Er?« Vermutlich war ich vom Schlafmangel ganz benommen.

Sie schürzte die Lippen. »Mein Bruder.«

Ich entspannte mich ein wenig. »Oh«, sagte ich. »Dann sind Sie meine Tante. Ich dachte mir schon, dass Sie meinem Vater ähnlich sehen. Er nennt mich Nummer Fünf.«

Einen Moment lang starrte sie mich weiter an, die Mundwinkel nach unten gezogen, wie es mir von meinem Vater vertraut war. Dann sagte sie: »Die Zahl ist entweder viel zu niedrig oder zu hoch. Am Leben sind noch er und ich, und ich nehme an, dass er die Simulation mitzählt. Hast du eine Schwester, Nummer Fünf?«

Mr. Million hatte uns dazu angehalten, David Copperfield zu lesen, und als sie das sagte, erinnerte sie mich so unerwartet und so unverkennbar an Tante Betsey Trotwood, dass ich in Gelächter ausbrach.

»Daran ist überhaupt nichts Albernes. Dein Vater hatte eine Schwester – warum nicht auch du? Hast du keine?«

»Nein, gnädige Frau, aber ich habe einen Bruder. Er heißt David.«

»Sag Tante Jeannine zu mir. Sieht David so aus wie du, Nummer Fünf?«

Ich schüttelte den Kopf. »Seine Haare sind gelockt, und er ist blond, nicht so wie ich. Vielleicht sieht er mir ein wenig ähnlich, aber nicht sehr.«

»Vermutlich«, sagte meine Tante im Flüsterton, »hat er eines von meinen Mädchen benutzt.«

»Gnädige Frau?«

»Weißt du, wer Davids Mutter war, Nummer Fünf?«

»Wir sind Brüder, also ist es wohl dieselbe wie meine, aber Mr. Million hat gesagt, sie ist vor langer Zeit fortgegangen.«

»Nicht dieselbe wie deine«, sagte meine Tante. »Nein, ich könnte dir ein Bild von deiner Mutter zeigen. Möchtest du es gerne sehen?« Sie läutete, und ein Dienstmädchen kam knicksend aus einem Zimmer hinter dem, in welchem wir saßen; meine Tante flüsterte ihr etwas zu, und sie ging wieder hinaus. Als meine Tante sich mir wieder zuwandte, fragte sie: »Und was machst du den ganzen Tag, Nummer Fünf, wenn du dich nicht auf dem Dach herumtreibst, wo du nichts verloren hast? Wirst du unterrichtet?«

Ich erzählte ihr von meinen Experimenten (ich stimulierte unbefruchtete Froscheier, damit sie sich geschlechtslos entwickelten, und verdoppelte die Chromosomen mittels einer chemischen Behandlung, damit eine weitere geschlechtslose Generation erzeugt werden konnte) und von den Sektionen, zu denen mich Mr. Million damals ermutigte, und während ich sprach, ließ ich zufällig eine Bemerkung fallen, wie interessant es doch wäre, an einem der Aborigines von Sainte Anne eine Biopsie durchzuführen, wenn es denn noch welche gäbe, da die Schilderungen der ersten Forscher so sehr voneinander abwichen und einige der Pioniere behauptet hatten, die Abos könnten ihre Gestalt verändern.

»Ah«, sagte meine Tante, »du weißt von ihnen. Lass mich dich auf die Probe stellen, Nummer Fünf. Was ist Veils Hypothese?«

Das hatten wir vor einigen Jahren gelernt, und so sagte ich: »Veils Hypothese geht davon aus, dass die Abos über die Fähigkeit verfügten, die Menschheit perfekt nachzuahmen. Veil glaubte, dass die Abos, als die Schiffe von der Erde eintrafen, alle getötet, ihre Plätze eingenommen und sich der Schiffe bemächtigt haben. Also sind nicht sie tot, sondern wir.«

»Du meinst, die Leute von der Erde sind es«, sagte meine Tante. »Die Menschen.«

»Gnädige Frau?«

»Wenn Veil richtigliegt, dann sind du und ich Abos von Sainte Anne, zumindest was die Herkunft betrifft – aber das hast du wahrscheinlich gemeint. Glaubst du, dass er recht hat?«

»Ich glaube, dass das keine Rolle spielt. Er hat gesagt, die Nachahmung müsse perfekt gewesen sein, und wenn das zutrifft, sind sie ohnehin genauso, wie wir waren.« Ich hielt mich für besonders klug, aber meine Tante lächelte und schaukelte energischer. In dem stickigen, hellen kleinen Zimmer war es sehr warm.

»Nummer Fünf, du bist zu jung für Haarspaltereien, und ich fürchte, dass du von dem Wort perfekt auf eine falsche Fährte gelockt worden bist. Dr. Veil hat es, da bin ich mir sicher, in einem weniger strengen Sinne gebraucht und nicht so präzise, wie du zu glauben meinst. Die Nachahmung kann wohl kaum exakt gewesen sein, da Menschen nicht über diese Fähigkeit verfügen, und wenn die Abos sie perfekt nachgeahmt hätten, hätten sie diese Fähigkeit verlieren müssen.«

»Vielleicht haben sie das?«

»Mein liebes Kind, Fähigkeiten jeglicher Art müssen sich erst entwickeln. Und während sie dies tun, müssen sie angewandt werden, sonst verkümmern sie. Hätten die Abos andere so gut nachahmen können, dass sie deshalb die Fähigkeit zur Nachahmung verloren hätten, wäre das ihr Ende gewesen, und zwar zweifellos lange bevor die ersten Schiffe eintrafen. Freilich gibt es nicht die geringsten Beweise dafür, dass sie zu so etwas in der Lage waren. Sie sind einfach ausgestorben, bevor sie gründlich studiert werden konnten, und Veil hat, auf der Suche nach einer dramatischen Erklärung für die Grausamkeit und die Unvernunft, die uns umgibt, eine schwergewichtige Theorie auf einem nicht vorhandenen Fundament errichtet.«

Diese letzte Bemerkung schien mir eine geradezu ideale Gelegenheit zu bieten, nach der erstaunlichen Fortbewegungsweise meiner Tante zu fragen, zumal sie den Eindruck machte, bei bester Laune zu sein, aber ausgerechnet jetzt wurden wir, fast gleichzeitig, aus zwei verschiedenen Richtungen unterbrochen. Das Dienstmädchen kehrte zurück und brachte ein großes, in geprägtes Leder gebundenes Buch, und kaum hatte sie es meiner Tante gereicht, klopfte es an der Tür. »Mach auf«, sagte meine Tante gedankenverloren, und da die Bemerkung ebenso gut mir gegolten haben konnte wie dem Dienstmädchen, befriedigte ich meine Neugier auf andere Weise und beeilte mich, die Tür zu öffnen.

Zwei der Demimondaines meines Vaters warteten auf dem Flur, so sehr kostümiert und geschminkt, dass sie fremdartiger wirkten als irgendwelche Abos, so imposant wie lombardische Pappeln und so unmenschlich wie Gespenster, mit grünen und gelben Augen, die so aussahen, als hätten sie die Größe von Eiern, die prallen Brüste bis auf Schulterhöhe hochgeschoben. Und wenngleich sie eine aufgesetzte Gelassenheit zur Schau stellten, war ich mir freudig bewusst, dass sie verwundert waren, mich an der Tür zu sehen. Ich bat sie mit einer Verbeugung herein, doch als das Dienstmädchen die Tür hinter ihnen schloss, sagte meine Tante gedankenverloren zu ihnen: »Gleich, meine Lieben. Ich möchte dem Jungen hier noch etwas zeigen, dann kann er gehen.«