Friedrich Nietzsche: Ein Kämpfer gegen seine Zeit - Rudolf Steiner - E-Book

Friedrich Nietzsche: Ein Kämpfer gegen seine Zeit E-Book

Rudolf Steiner

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Beschreibung

Friedrich Nietzsche: Ein Kämpfer gegen seine Zeit - Rudolf Steiner - "Dies ist der Grund, warum ich mich gedrängt fühlte, ein Bild von dem Vorstellungs- und Empfindungsleben Nietzsches zu zeichnen. Ich glaube, dass ein solches Bild Nietzsche am ähnlichsten dann wird, wenn man es seinen erwähnten letzten Schriften gemäß schafft. So habe ich es getan. Die früheren Schriften Nietzsches zeigen uns ihn als Suchenden."Friedrich Nietzsche (1844-1900) war ein deutscher klassischer Philologe. Den jungen Nietzsche beeindruckte besonders die Philosophie Schopenhauers. Später wandte er sich von dessen Pessimismus ab und stellte eine radikale Lebensbejahung in den Mittelpunkt seiner Philosophie. Sein Werk enthält scharfe Kritiken an Moral, Religion, Philosophie, Wissenschaft und Formen der Kunst. Die zeitgenössische Kultur war in seinen Augen lebensschwächer als die des antiken Griechenlands. Wiederkehrendes Ziel von Nietzsches Angriffen ist vor allem die christliche Moral sowie die christliche und platonistische Metaphysik. Er stellte den Wert der Wahrheit überhaupt in Frage und wurde damit Wegbereiter postmoderner philosophischer Ansätze. Auch Nietzsches Konzepte des "Übermenschen", des "Willens zur Macht" oder der "ewigen Wiederkunft" geben bis heute Anlass zu Deutungen und Diskussionen.

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Rudolf Steiner
Friedrich Nietzsche: Ein Kämpfer gegen seine Zeit

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Der Charakter.

1.

Friedrich Nietzsche charakterisiert sich selbst als einsamen Grübler und Rätselfreund, als unzeitgemäße Persönlichkeit. Wer auf solchen eigenen Wegen geht, wie er, „begegnet niemandem; das bringen die eigenen Wege mit sich. Niemand kommt, ihm dabei zu helfen; mit allem, was ihm von Gefahr, Zufall, Bosheit und schlechtem Wetter zustößt, muß er allein fertig werden“, sagt er in der Vorrede zur zweiten Ausgabe seiner „Morgenröte“. Aber reizvoll ist es, ihm in seine Einsamkeit zu folgen. Die Worte, die er über sein Verhältnis zu Schopenhauer ausgesprochen hat, möchte ich über das meinige zu Nietzsche sagen: „Ich gehöre zu den Lesern Nietzsches, welche, nachdem sie die erste Seite von ihm gelesen, mit Bestimmtheit wissen, daß sie alle Seiten lesen und auf jedes Wort hören werden, das er überhaupt gesagt hat. Mein Vertrauen zu ihm war sofort da ..... Ich verstand ihn, als ob er für mich geschrieben hätte, um mich verständlich, aber unbescheiden und thöricht auszudrücken.“ Man kann so sprechen und weit davon entfernt sein, sich als „Gläubigen“ der Nietzscheschen Weltanschauung zu bekennen. Weiter allerdings nicht, als Nietzsche davon entfernt war, sich solche „Gläubige“ zu wünschen. Legt er doch seinem „Zarathustra“ die Worte in den Mund:

„Ihr sagt, ihr glaubt an Zarathustra? Aber was liegt an Zarathustra! Ihr seid meine Gläubigen: aber was liegt an allen Gläubigen!

„Ihr hattet euch noch nicht gesucht: da fandet ihr mich. So thun alle Gläubigen; darum ist es so wenig mit allem Glauben.

„Nun heiße ich euch, mich verlieren und euch finden; und erst, wenn ihr mich alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren.“

Nietzsche ist kein Messias und Religionsstifter; er kann deshalb sich wohl Freunde seiner Meinungen wünschen; Bekenner seiner Lehren aber, die ihr eigenes Selbst aufgeben, um das seinige zu finden, kann er nicht wollen.

In Nietzsches Persönlichkeit finden sich Instinkte, denen ganze Vorstellungskreise seiner Zeitgenossen zuwider sind. Von den wichtigsten Kulturideen derjenigen, in deren Mitte er sich entwickelt hat, wendet er sich ab mit einem instinktiven Widerwillen; und zwar nicht so, wie man eine Behauptung ablehnt, in der man einen logischen Widerspruch entdeckt hat, sondern wie man sich von einer Farbe abwendet, die dem Auge Schmerz verursacht. Der Widerwille geht von dem unmittelbaren Gefühl aus; die bewußte Überlegung kommt zunächst gar nicht in Betracht. Was andere Menschen empfinden, wenn ihnen die Gedanken: Schuld, Gewissensbiß, Sünde, jenseitiges Leben, Ideal, Seligkeit, Vaterland durch den Kopf gehen, wirkt auf Nietzsche unangenehm. Die instinktive Art der Abneigung gegen die genannten Vorstellungen unterscheidet Nietzsche auch von den sogenannten „Freigeistern“ der Gegenwart. Diese kennen alle Verstandeseinwände gegen die „alten Wahnvorstellungen“; aber wie selten findet sich einer, der von sich sagen kann: seine Instinkte hängen nicht mehr an ihnen! Gerade die Instinkte sind es, die den Freigeistern der Gegenwart böse Streiche spielen. Das Denken nimmt einen von den überlieferten Ideen unabhängigen Charakter an, aber die Instinkte können sich diesem veränderten Charakter des Verstandes nicht anpassen. Diese „freien Geister“ setzen irgend einen Begriff der modernen Wissenschaft an die Stelle einer älteren Vorstellung; aber sie sprechen so von ihm, daß man erkennt: der Verstand geht einen andern Weg als die Instinkte. Der Verstand sucht in dem Stoffe, in der Kraft, in der Naturgesetzlichkeit den Urgrund der Erscheinungen; die Instinkte aber verleiten dazu, diesen Wesen gegenüber dasselbe zu empfinden, was andere ihrem persönlichen Gotte gegenüber empfinden. Geister dieser Art wehren sich gegen den Vorwurf der Gottesleugnung; aber sie thun es nicht deshalb, weil ihre Weltauffassung sie auf etwas führt, was mit irgend einer Gottesvorstellung übereinstimmt, sondern weil sie von ihren Vorfahren die Eigenschaft ererbt haben, bei dem Worte „Gottesleugner“ ein instinktives Gruseln zu empfinden. Große Naturforscher betonen, daß sie die Vorstellungen: Gott, Unsterblichkeit nicht verbannen, sondern nur im Sinne der modernen Wissenschaft umgestalten wollen. Ihre Instinkte sind eben hinter ihrem Verstande zurückgeblieben.

Eine große Zahl dieser „freien Geister“ vertritt die Ansicht, daß der Wille des Menschen unfrei ist. Sie sagen: der Mensch muß in einem bestimmten Falle so handeln, wie es sein Charakter und die auf ihn einwirkenden Verhältnisse bedingen. Man halte aber Umschau bei diesen Gegnern der Ansicht vom „freien Willen“, und man wird finden, daß sich die Instinkte dieser „Freigeister“ von dem Vollbringer einer „bösen“ That geradeso mit Abscheu abwenden, wie es die Instinkte der anderen thun, die der Meinung sind: der „freie Wille“ könne sich nach Belieben dem Guten oder dem Bösen zuwenden.

Der Widerspruch zwischen Verstand und Instinkt ist das Merkmal unserer „modernen Geister“. Auch in den freiesten Denkern der Gegenwart leben noch die von der christlichen Orthodoxie gepflanzten Instinkte. Genau die entgegengesetzten sind in Nietzsches Natur wirksam. Er braucht nicht erst darüber nachzudenken, ob es Gründe gegen die Annahme eines persönlichen Weltenlenkers giebt. Sein Instinkt ist zu stolz, um sich vor einem solchen zu beugen; deshalb lehnt er eine derartige Vorstellung ab. Er spricht mit seinem Zarathustra: „Aber daß ich euch ganz mein Herz offenbare, ihr Freunde: wenn es Götter gäbe, wie hielte ich’s aus, kein Gott zu sein! Also giebt es keine Götter.“ Sich selbst oder einen andern wegen einer begangenen Handlung „schuldig“ zu sprechen, dazu drängt ihn nichts in seinem Innern. Um ein solches „schuldig“ unstatthaft zu finden, dazu braucht er keine Theorie vom „freien“ oder „unfreien“ Willen.

Auch die patriotischen Empfindungen seiner deutschen Volksgenossen sind Nietzsches Instinkten zuwider. Er kann sein Empfinden und Denken nicht abhängig machen von den Gedankenkreisen des Volkes, innerhalb dessen er geboren und erzogen ist; auch nicht von der Zeit, in der er lebt. „Es ist so kleinstädtisch — sagt er in seiner Schrift „Schopenhauer als Erzieher“ —, sich zu den Ansichten verpflichten, die ein paar hundert Meilen weiter schon nicht mehr verpflichten. Orient und Occident sind Kreidestriche, die uns jemand vor unsere Augen hinmalt, um unsere Furchtsamkeit zu narren. Ich will den Versuch machen, zur Freiheit zu kommen, sagt sich die junge Seele; und da sollte es sie hindern, daß zufällig zwei Nationen sich hassen und bekriegen, oder daß ein Meer zwischen zwei Weltteilen liegt, oder daß rings um uns eine Religion gelehrt wird, welche vor ein paar tausend Jahren nicht bestand.“ Die Empfindungen der Deutschen während des Krieges im Jahre 1870 fanden in seiner Seele einen so geringen Widerhall, daß er, „während die Donner der Schlacht von Wörth über Europa weggingen“, in einem Winkel der Alpen saß, „sehr vergrübelt und verrätselt, folglich sehr bekümmert und unbekümmert zugleich“, und seine Gedanken über die Griechen niederschrieb. Und als er einige Wochen darauf sich selbst „unter den Mauern von Metz“ befand, war er „noch immer nicht losgekommen von den Fragezeichen, die er zum Leben und der Kunst der Griechen gesetzt hatte“. (Vergl. „Versuch einer Selbstkritik“ in der zweiten Auflage seiner „Geburt der Tragödie“.) Als der Krieg zu Ende war, stimmte er so wenig in die Begeisterung seiner deutschen Zeitgenossen über den errungenen Sieg ein, daß er schon im Jahre 1872 in seiner Schrift über David Strauß von den „schlimmen und gefährlichen Folgen“ des siegreich beendeten Kampfes sprach. Er stellte es sogar als einen Wahn hin, daß auch die deutsche Kultur in diesem Kampfe gesiegt habe, und er nannte diesen Wahn gefährlich, weil, wenn er innerhalb des deutschen Volkes herrschend wird, die Gefahr vorhanden ist, den Sieg in eine völlige Niederlage zu verwandeln; in die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des „Deutschen Reiches“. Das ist Nietzsches Gesinnung in einer Zeit, in der ganz Europa voll ist von nationaler Begeisterung. Es ist die Gesinnung einer unzeitgemäßen Persönlichkeit, eines Kämpfers gegen seine Zeit. Außer dem Angeführten ließe sich noch vieles nennen, was in Nietzsches Empfindungs- und Vorstellungsleben anders ist, als in dem seiner Zeitgenossen.

2.

Nietzsche ist kein „Denker“ im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Für die fragwürdigen und tiefdringenden Fragen, die er der Welt und dem Leben gegenüber zu stellen hat, reicht das bloße Denken nicht aus. Für diese Fragen müssen alle Kräfte der menschlichen Natur entfesselt werden; die denkende Betrachtung allein ist ihnen nicht gewachsen. Zu bloß erdachten Gründen für eine Meinung hat Nietzsche kein Vertrauen. „Es giebt ein Mißtrauen in mir gegen Dialektik, selbst gegen Gründe,“ schreibt er am 2. Dezember 1887 an Georg Brandes. (Vergl. dessen „Menschen und Werke“, S. 212). Wer ihn um die Gründe seiner Ansichten fragt, für den hat er „Zarathustras“ Antwort bereit: „Du fragst warum? Ich gehöre nicht zu denen, welche man nach ihrem Warum fragen darf.“ Nicht ob eine Ansicht logisch bewiesen werden kann, ist für ihn maßgebend, sondern ob sie auf alle Kräfte der menschlichen Persönlichkeit so wirkt, daß sie für das Leben Wert hat. Er läßt einen Gedanken nur gelten, wenn er ihn geeignet findet, zur Entwicklung des Lebens beizutragen. Den Menschen so gesund als möglich, so machtvoll als möglich, so schöpferisch als möglich zu sehen, ist sein Wunsch. Wahrheit, Schönheit, alle Ideale haben nur Wert und gehen den Menschen nur etwas an, insofern sie lebenfördernd sind.

Die Frage nach dem Werte der Wahrheit tritt in mehreren Schriften Nietzsches auf. In der verwegensten Form wird sie in seinem Buche: „Jenseits von Gut und Böse“ gestellt. „Der Wille zur Wahrheit, der uns noch zu manchem Wagnisse verführen wird, jene berühmte Wahrhaftigkeit, von der alle Philosophen bisher mit Ehrerbietung geredet haben: was für Fragen hat dieser Wille zur Wahrheit uns schon vorgelegt! Welche wunderlichen, schlimmen, fragwürdigen Fragen! Das ist bereits eine lange Geschichte — und doch scheint es, daß sie kaum eben angefangen hat.“ Was Wunder, wenn wir endlich auch mißtrauisch werden, die Geduld verlieren, uns ungeduldig umdrehn? Daß wir von dieser Sphinx auch unsererseits das Fragen lernen? Wer ist das eigentlich, der uns hier Fragen stellt? Was in uns will eigentlich ‚zur Wahrheit‘? In der That, wir machten lange Halt vor der Frage nach der Ursache dieses Willens — bis wir, zuletzt, vor einer noch gründlicheren Frage ganz und gar stehen blieben. Wir fragten nach dem Werte dieses Willens. Gesetzt, wir wollen Wahrheit: warum nicht lieber Unwahrheit?

Das ist ein Gedanke von kaum zu überbietender Kühnheit. Stellt man daneben, was ein anderer kühner „Grübler und Rätselfreund“, Johann Gottlieb Fichte, von dem Streben nach Wahrheit sagt, so sieht man erst, wie tief aus dem Wesen der menschlichen Natur Nietzsche seine Vorstellungen heraufholt. „Ich bin dazu berufen“ — sagt Fichte — „der Wahrheit Zeugnis zu geben; an meinem Leben und an meinem Schicksal liegt nichts; an den Wirkungen meines Lebens liegt unendlich viel. Ich bin ein Priester der Wahrheit; ich bin in ihrem Solde; ich habe mich verbindlich gemacht, alles für sie zu thun und zu wagen und zu leiden.“ (Fichte, Vorlesungen „Über die Bestimmung des Gelehrten“, vierte Vorlesung.) Diese Worte sprechen das Verhältnis aus, in das sich die edelsten Geister der abendländischen neueren Kultur zur Wahrheit setzen. Nietzsches angeführtem Ausspruch gegenüber erscheinen sie oberflächlich. Man kann gegen sie einwenden: Ist es denn nicht möglich, daß die Unwahrheit wertvollere Wirkungen für das Leben hat, als die Wahrheit? Ist es ausgeschlossen, daß die Wahrheit dem Leben schadet? Hat sich Fichte diese Fragen gestellt? Haben es andere gethan, die „der Wahrheit Zeugnis“ gegeben haben?

Nietzsche aber stellt diese Fragen. Und er glaubt über sie erst dann ins Reine zu kommen, wenn er das Streben nach Wahrheit nicht als bloße Verstandessache behandelt, sondern nach den Instinkten sucht, die dieses Streben erzeugen. Denn es könnte ja wohl sein, daß sich diese Instinkte der Wahrheit nur als Mittel bedienten, um etwas zu erreichen, was höher steht, als die Wahrheit. Nietzsche findet, nachdem er „lange genug den Philosophen zwischen die Zeilen und auf die Finger gesehn“ hat: „Das meiste Denken eines Philosophen ist durch seine Instinkte heimlich geführt und in bestimmte Bahnen gezwungen.“ Die Philosophen glauben, die letzte Triebfeder ihres Thuns sei das Streben nach Wahrheit. Sie glauben dies, weil sie nicht auf den Grund der menschlichen Natur zu sehen vermögen. In Wirklichkeit wird das Streben nach Wahrheit gelenkt von dem Willen zur Macht. Mit Hilfe der Wahrheit soll die Macht und Lebensfülle der Persönlichkeit erhöht werden. Das bewußte Denken des Philosophen ist der Meinung: die Erkenntnis der Wahrheit sei ein letztes Ziel; der unbewußte Instinkt, der das Denken treibt, strebt nach Förderung des Lebens. Für diesen Instinkt ist „die Falschheit eines Urteils noch kein Einwand gegen ein Urteil“; für ihn kommt allein die Frage in Betracht: „wie weit ist es lebenfördernd, lebenerhaltend, arterhaltend, vielleicht gar artzüchtend“ (Jenseits von Gut und Böse § 4).

„‚Wille zur Wahrheit‘ heißt ihr’s, ihr Weisesten, was euch treibt und brünstig macht?

„Wille zur Denkbarkeit alles Seienden: also heiße ich euren Willen!

„Alles Seiende wollt ihr erst denkbar machen: denn ihr zweifelt mit gutem Mißtrauen, ob es schon denkbar ist.

„Aber es soll sich euch fügen und biegen! So will’s euer Wille. Glatt soll es werden und dem Geiste unterthan, als sein Spiegel und Widerbild.

„Das ist euer ganzer Wille, ihr Weisesten, als ein Wille zur Macht .....“ (Zarathustra, 2. Teil, Von der Selbst-Überwindung.)

Die Wahrheit soll die Welt dem Geiste unterthan machen und dadurch dem Leben dienen. Nur als Lebensbedingung hat sie einen Wert. — Kann man nicht aber noch weiter gehen und fragen: was ist das Leben selbst wert? Nietzsche hält eine solche Frage für unmöglich. Daß alles Lebende so machtvoll, so inhaltreich leben will, als irgend möglich ist, nimmt er als eine Thatsache hin, über die er nicht weiter grübelt. Die Lebensinstinkte fragen nicht nach dem Werte des Lebens. Sie fragen nur: welche Mittel giebt es, um die Macht ihres Trägers zu erhöhen. „Urteile, Werturteile über das Leben, für oder wider, können zuletzt niemals wahr sein: sie haben nur Wert als Symptome, sie kommen nur als Symptome in Betracht, — an sich sind solche Urteile Dummheiten. Man muß durchaus seine Finger darnach ausstrecken und den Versuch machen, die erstaunliche Finesse zu fassen, daß der Wert des Lebens nicht abgeschätzt werden kann. Von einem Lebenden nicht, weil ein solcher Partei, ja sogar Streitobjekt ist, und nicht Richter; von einem Toten nicht, aus einem andern Grunde. — Von seiten eines Philosophen im Wert des Lebens ein Problem sehn, bleibt dergestalt sogar ein Einwurf gegen ihn, ein Fragezeichen an seiner Weisheit, eine Unweisheit.“ — (Götzendämmerung. Das Problem des Sokrates.) Die Frage nach dem Werte des Lebens existiert nur für eine mangelhaft ausgebildete, kranke Persönlichkeit. Wer allseitig entwickelt ist, lebt, ohne zu fragen, wie viel sein Leben wert ist.

Weil Nietzsche die beschriebenen Ansichten hat, deshalb legt er auf logische Beweisgründe für ein Urteil wenig Gewicht. Nicht darauf kommt es ihm an, ob sich das Urteil logisch beweisen läßt, sondern wie gut sich unter seinem Einflusse leben läßt. Nicht allein der Verstand, sondern die ganze Persönlichkeit des Menschen soll befriedigt werden. Die besten Gedanken sind diejenigen, welche alle Kräfte der menschlichen Natur in eine ihnen angemessene Bewegung bringen.

Nur Gedanken dieser Art haben für Nietzsche Interesse. Er ist kein philosophischer Kopf, sondern ein „Honigsammler des Geistes“, der die „Bienenkörbe“ der Erkenntnis aufsucht und heimzubringen sucht, was dem Leben frommt.

3.

In Nietzsches Persönlichkeit sind diejenigen Instinkte vorherrschend, die den Menschen zu einem gebietenden, herrischen Wesen machen. Ihm gefällt alles, was Macht bekundet; ihm mißfällt alles, was Schwäche verrät. Er fühlt sich nur so lange glücklich, als er sich in Lebensbedingungen befindet, die seine Kraft erhöhen. Er liebt Hemmnisse, Widerstände für seine Thätigkeit, weil er sich bei ihrer Überwindung seiner Macht bewußt wird. Er sucht die beschwerlichsten Wege auf, die der Mensch gehen kann. Ein Grundzug seines Charakters ist in dem Spruche ausgedrückt, den er der zweiten Ausgabe seiner „fröhlichen Wissenschaft“ auf das Titelblatt gesetzt hat:

„Ich wohne in meinem eignen Haus,

Hab’ niemandem nie nichts nachgemacht

Und — lachte noch jeden Meister aus,

Der nicht sich selber ausgelacht.“

Jede Art von Unterordnung unter eine fremde Macht empfindet Nietzsche als Schwäche. Und über das, was eine „fremde Macht“ ist, denkt er anders als mancher, der sich als „unabhängigen, freien Geist“ bezeichnet. Nietzsche empfindet es als Schwäche, wenn der Mensch sich in seinem Denken und Handeln sogenannten „ewigen, ehernen“ Gesetzen der Vernunft unterwirft. Was die allseitig entwickelte Persönlichkeit thut, das läßt sie sich von keiner Moralwissenschaft vorschreiben, sondern allein von den Antrieben des eigenen Selbst. Der Mensch ist in dem Augenblicke schon schwach, in dem er nach Gesetzen und Regeln sucht, nach denen er denken und handeln soll. Der Starke bestimmt die Art seines Denkens und Handelns aus seinem eigenen Wesen heraus.

Diese Ansicht spricht Nietzsche am schroffsten in Sätzen aus, um derentwillen ihn kleinlich denkende Menschen geradezu als einen gefährlichen Geist bezeichnet haben: „Als die christlichen Kreuzfahrer im Orient auf jenen unbesiegbaren Assassinenorden stießen, jenen Freigeisterorden par excellence, dessen unterste Grade in einem Gehorsame lebten, wie einen gleichen kein Mönchsorden erreicht hat, da bekamen sie auf irgend welchem Wege auch einen Wink über jenes