Friesenwut - Hardy Pundt - E-Book

Friesenwut E-Book

Hardy Pundt

3,8

Beschreibung

Eine Landstraße in Ostfriesland, weit nach Mitternacht. Es kracht. Die Landwirtstochter Freya Reemts, mit dem Fahrrad von der Disco nach Hause unterwegs, wird von einem Auto erfasst und in den Straßengraben geschleudert. Kurz darauf verliert der Fahrer die Kontrolle über sein Fahrzeug und prallt gegen einen Baum. Für Kommissarin Itzenga und ihren Kollegen Ulferts von der Kripo Aurich scheint der Fall klar - der Unglückswagen war viel zu schnell unterwegs. Bis ein Stückchen Stoff am Unfallort entdeckt wird. Es ist Teil eines Kleidungsstücks, das keiner der beteiligten Personen zugeordnet werden kann …

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Seitenzahl: 350

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Titel

Hardy Pundt

Friesenwut

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2010 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 07575/2095-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2010

Lektorat: Katja Ernst, Meßkirch

Herstellung/Korrekturen: Julia Franze / Claudia Senghaas

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Bildes von: candela / photocase.com

ISBN 978-3-8392-3566-9

Prolog

Heute trug er tatsächlich einen Nadelstreifenanzug. Die dunkle Krawatte war gelöst, den oberen Hemdknopf hatte er schon vor Stunden geöffnet. Manchmal fühlte er sich so, als drehe ihm einer die Luft ab. Das Zimmer lag in der Dämmerung, nur die Schreibtischlampe warf Licht auf den Bildschirm des Laptops, der vor ihm stand. Seine rechte Hand drehte immerzu an dem kleinen Rädchen der Maus, ab und zu klickte es. Immer wieder öffneten sich neue Seiten, mal waren es Linien-, mal Balkendiagramme, mal waren es Tabellen mit vielen Zeilen und Spalten, gefüllt mit Zahlen. Eine Karte mit Häuschen in verschiedenen Rottönen: ›Vermuteter Mangel an Liquidität führender Bankhäuser‹, so der Titel. Der Mann blickte sorgenvoll. Die linke Hand griff zum Weinglas. Die Flasche neben dem Glas war leer. Ein französischer Merlot, trocken.

»Runter, immer nur runter!«, flüsterte er, obwohl weit und breit niemand zu sehen war, der ihn hätte hören können. Noch leiser fügte er hinzu: »Verlust, nichts als Verlust …«

Sein Gesicht nahm einen verzweifelten Ausdruck an. Plötzlich sprang er auf, riss sich die Krawatte vom Hals und feuerte sie auf das Sofa, das nahe dem Schreibtisch stand. Er öffnete eine Schranktür, hinter der eine neue Flasche Wein stand. Der Korkenzieher lag noch auf dem Schreibtisch, und sorgsam drehte er das spiralförmige Werkzeug in den Flaschenverschluss. Ohne den Korken vom Öffner zu entfernen, legte er ihn zurück auf die Tischplatte, schenkte ein neues Glas ein und trank hastig zwei Schlucke. Dann setzte er sich, rieb sich müde die Augen und starrte erneut auf den Bildschirm. Die Geschäfte liefen schlecht, was sich in seinem Aussehen niederschlug. Hätte er es vorhersehen können? Schließlich kannte er die Risiken. Eigentlich war doch immer alles gut gelaufen.

Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. In Dagobert Ducks Motto steckte schließlich ein Stückchen Wahrheit.

Der Mann streckte die Beine aus und sackte in sich zusammen. Wer ihn jetzt sah, hätte gedacht: Er sieht schlecht aus. Er schloss die Fenster und fuhr den Rechner herunter. Dann ergriff er die Titelseite einer der Tageszeitungen, die er neben sich auf den Boden geworfen hatte. Er las und wusste nicht, zum wievielten Mal, in immer neuen Variationen. Die Experten, die den Karren in den Dreck gefahren hatten, überboten sich mit Interpretationen der Ursachen und möglicher Wege aus der Misere: »Finanzkrise schlimmer als erwartet – auch kleinere Banken wollen staatlichen Schutzschirm.«

Noch einmal, ein weiteres Mal gingen ihm die letzten Worte seines Chefs durch den Kopf: »In diesen Zeiten noch solche Geschäfte abzuschließen ist unseriös und schlichtweg finanzieller Selbstmord! Lassen Sie sich schleunigst etwas einfallen, das unsere Bank – und Sie selbst – aus diesem Schlamassel wieder herausholt.« Dann hatte er eine Pause gemacht und leise, ganz leise hinzugefügt: »Ehrlich gesagt, Aldenhoff, glaube ich nicht, dass Sie das noch schaffen. Sie haben richtigen Mist gebaut. Da kann ich Sie nicht mehr raushauen. Das ist so sicher wie die ganze verdammte Finanzmisere.« Dann war er gegangen. Und Aldenhoff hatte fast den Eindruck gehabt, sein Chef hatte das Kinn gehoben und ein wenig nach vorn geschoben. Als ob der nichts gewusst hätte! Hatte doch oft genug gesagt: ›Dieses Mal wird’s schon noch mal klappen – sehen Sie sich die Gewinnmargen an!‹. Und jetzt machte er auf unschuldig. ›Ja, Herr Aldenhoff, der hat sich verspekuliert. Ich hatte ihn gewarnt, aber …‹

Die Buchstaben der Zeitung verschwammen ihm vor den Augen. Mit wenigen hastigen Schlucken leerte er das Glas. Dann schmetterte er es in einem Augenblick, in dem plötzlich die Wut in ihm aufstieg, an die Wand. Er nahm seine Jacke, wollte weg. Irgendwohin, wo etwas los war. Nur nicht hier bleiben. In eine Kneipe, in die Disco. Möglicherweise war sie dort: seine Traumfrau. Endlich hatte er sie … erobert. Diese junge Frau vom Hof in der Krummhörn, diesem wunderbaren Landstrich hinterm Deich. Nie hätte er gedacht, dass er sich in eine Bauerntochter verlieben könne. Sie hatte jedoch alle Eigenschaften, die für ihn eine Traumfrau ausmachten. Gleichwohl ahnte er, dass seine Beziehung zu ihr nicht mehr lange halten würde. Was er getan hatte, war unverzeihlich. Und ein Einziger war dafür verantwortlich. Er selbst. Hastig verließ er seine Wohnung.

1

Als Meinhard Harms an diesem Morgen die Stufen in die Kabine seines Treckers emporkletterte, ahnte er nicht, dass der Vormittag einen anderen Verlauf nehmen würde als gewöhnlich. Er startete die Maschine, legte den ersten Gang ein und fuhr behutsam vom Hofgelände auf die renovierungsbedürftige Landstraße, die in Richtung der Kreisstraße zwischen Norden und Pewsum führte. Hier würde er abbiegen, um dann in einem der höheren Straßengänge in schnellem Tempo in das Dorf zu fahren, das Plattdeutsch ausgesprochen ›Paaisn‹ hieß, was den vielen Touristen, die im Sommer hier ihren Urlaub verbrachten und die den Namen ›Pewsum‹ auf der Karte sahen, völlig unverständlich erscheinen musste.

Meinhard Harms war nicht unzufrieden. Der Hänger hinter seinem Schlepper war randvoll mit gutem Weizen und dieser würde im Moment ebenso gutes Geld bringen. Der Weltmarkt war leer gefegt. Nun kauften sogar die Chinesen Getreide aus Europa – also stiegen die Preise. Angesichts vieler Jahre, in denen mancher Landwirt hatte aufgeben müssen, empfand Meinhard dies als gerecht. Schließlich hatte er all die Jahre hart gearbeitet und nun gab es endlich mal wieder einigermaßen akzeptable Weltmarktpreise, es würde etwas Geld übrig bleiben. Das war nicht immer so gewesen; manchmal hatten die Investitions- und Betriebskosten sogar mehr betragen als das, was durch den Getreideverkauf wieder hereingekommen war. Dann kam noch die Milchpreiskrise hinzu und Meinhard und seine Frau Erna dachten ernsthaft daran, alles aufzugeben. 55 Cent für einen Liter bei den Discountern – prima für die Kunden, eine Katastrophe für die Produzenten. Bei dem kamen weniger als 30, manchmal weniger als 25 Cent an. Das reichte einfach nicht aus, deckte nicht einmal die Kosten. Das Wort ›Gewinn‹ hatte er vorerst aus seinem Sprachgebrauch gestrichen. Doch was sollten sie tun? Jetzt schon in Rente gehen? Und wie hoch würde diese sein? Nein, es konnte so nicht weitergehen. Allerdings hatte sich das Weitermachen, zumindest teilweise, gelohnt. Der Milchpreis erholte sich zwar immer noch nicht nachhaltig, aber – wenigstens das! – die Getreidepreise waren in Ordnung. Dennoch, die Entwicklung war mitunter sehr bitter gewesen und hatte manchen Abend gekostet, an dem Harms und seine Frau hin- und hergerechnet hatten, um die Finanzlage zu checken. Sie wussten, die Banken, die die Kredite für allerhand Neuanschaffungen und Renovierungsarbeiten am Hof vorgestreckt hatten, würden sich nicht lange vertrösten lassen. Banken – das wusste Meinhard Harms – waren nur so lange nett und freundlich, wie die monatlichen Raten eintrafen. Und wenn man verglich, was man an Zinsen zahlte und was als Tilgung den Kredit reduzierte, dann könnte man daran verzweifeln. Der kleine Mann musste immer tapfer herhalten.

Meinhard bog in die Kreisstraße ein. Hier, wo es links nach Norden, geradeaus nach Marienhafe und rechts nach Pewsum ging, hatte es schon manch schweren Unfall gegeben. Immer wieder waren verantwortungslose Fahrer über die unübersichtliche Kreuzung gerast. Das Aufstellen von Stoppschildern und das Aufmalen dicker, weißer Linien hatten offenbar gefruchtet. In den letzten zwei, drei Jahren war nichts mehr passiert. Nachdem Meinhard den Blinker ausgestellt hatte, automatisch funktionierte es nicht mehr, schaltete er gleich zwei Gänge höher und trat auf das Gaspedal. Der Schlepper stieß eine Rauchwolke aus und fuhr mit mehr als 40 Stundenkilometern Richtung Südwest. Die Straße war gut ausgebaut und es ging erst einmal ein gutes Stück nur geradeaus. Am Starenkasten am Wirdumer Altendeich würde er aufpassen müssen. Wäre natürlich eine schöne Geschichte, in der Marsch mit dem Trecker geblitzt zu werden …

Nach nicht einmal einem Kilometer weiter, Meinhard war in Gedanken versunken, bemerkte er etwas Ungewöhnliches: schwarze Bremsspuren auf der Fahrbahn. Sie begannen in der Mitte der Straße, schwenkten nach links und rechts, weit über die Mittellinie hinaus. Sie führten schließlich geradewegs auf den Straßengraben zu, der an dieser Stelle besonders tief und mit hohem Schilf bewachsen war. Auswärtige könnten den Eindruck gewinnen, hier ginge die Straße mehr oder weniger gleichmäßig in den anschließenden Acker über. Beiderseits der Landstraße war ein tiefer, breiter Graben und das Schilf erreichte mitunter mehr als drei Meter Höhe. ›Schloote‹ nannte man die Straßengräben in dieser Gegend; ein plattdeutscher Ausdruck, den die Binnenländer, besonders die aus dem Ruhrpott, oft missinterpretierten. Das habe mit Semantik zu tun, hatte sein Sohn ihm neulich erklärt. Mein Gott, der studierte jetzt in Göttingen Germanistik. Wie war er darauf nur gekommen? Als Meinhard seiner Frau Erna zuraunte, der schlage ja völlig aus der Art, sagte diese nur vorwurfsvoll, es sei doch eine tolle Sache, dass ihr Sohn jetzt studiere. Auf das ›Wat kann man dormit denn anfangen? Woför brukt man dat denn?‹ war sie gar nicht eingegangen. Sie sagte nur: ›De weet, wat he will!‹. Trotzdem, studieren – so etwas hatte es bislang in seiner Familie nicht gegeben. Hier wurde gearbeitet, nicht geschwatzt. Das war jedenfalls Meinhards Meinung.

Er bremste seinen Trecker ab. Links, im Schloot, bemerkte er erneut etwas, was anders war als sonst. Er konnte nicht genau sagen, was es war, irgendetwas war auffällig. Viel zu oft war er diese Strecke entlanggefahren, als dass er die Veränderung nicht bemerkt hätte. Diese Bremsspuren, kaum Verkehr …, hier war doch einer ins Schleudern geraten?

Meinhard hielt an und legte den Rückwärtsgang ein. Es war noch früh am Tag, kaum jemand war unterwegs, sodass er ohne Gefahr einige Meter zurücksetzen konnte. An der Stelle, an der das Schilf nicht mehr aufrecht stand und Lücken zeigte, stoppte er, nachdem er den Trecker so weit rechts an den Straßenrand wie möglich gefahren hatte. Viel Platz war nicht, ein Seitenstreifen nicht vorhanden. Meinhard betrachtete noch einmal die Bremsspur und begann zu kombinieren. Kurz vor dem Schloot hatte der Fahrer den Wagen wieder unter Kontrolle gebracht. Die Bremsspur endete und ein paar unterbrochene, schwarze Reifenrückstände wiesen selbst für einen Laien wie Meinhard darauf hin, dass der Fahrer zurück auf die Fahrbahn gekommen und die Fahrt hatte fortsetzen können. Kein Auto lag im Straßengraben. Schwein gehabt … Irgendetwas war dennoch nicht in Ordnung – das spürte er.

Die kalte Morgenluft, der Nebel, der noch über den Feldern lag und die Stille – auch die eher ungewöhnliche Windstille – ließen Unbehagen in ihm aufkommen. Meinhard bekam nur selten echte Angst. Er hatte so eine Ahnung, befürchtete, dass er auf etwas Unangenehmes stoßen könnte. Andererseits wurde ihm bewusst, dass er sich nicht einfach aus dem Staub machen konnte. Womöglich brauchte jemand Hilfe?

Der Mann erreichte den Straßengraben. Hier war erst kürzlich eine Schneise in das Schilf geschlagen worden. Die Öffnung war schmal, das war kein Auto gewesen, es sah eher so aus, als habe sich eine Person hindurchbewegt. Doch wer ging schon freiwillig direkt in einen Schloot – zumal die Böschung sehr steil war. Meinhard schaute in die Schneise. Einige Schilfhalme hatten sich schon wieder aufgerichtet, andere waren abgebrochen und versperrten die Sicht. Wie lang würde die Schneise sein? Wer oder was hatte sie verursacht? Was würde an ihrem Ende zu sehen sein? Meinhard gab sich einen Ruck und stieg langsam und vorsichtig die glitschige Grabenböschung hinunter, die Schilfhalme nach hinten wegbiegend. Es schien fast so, als wolle er ihnen nicht wehtun. Plötzlich machte die Schneise einen Bogen nach rechts. Meinhard blieb wie angewurzelt stehen. Er sah das Hinterrad eines Fahrrades. Guck an, dachte er, hier ist jemand mit seinem Fahrrad rein, wahrscheinlich duhn … »Oh nein«, rief er plötzlich, obwohl er mutterseelenallein war. Mit dem linken Fuß war er im Wasser eingesackt, erst knöchel-, dann fast knietief. De Footen sünd natt, dachte er und versuchte, weiterzukommen. Jetzt sah er das komplette Fahrrad und ein maßloser Schreck fuhr ihm in die Glieder. Ohne Vorwarnung schossen zwei Stockenten urplötzlich aus dem Nichts auf ihn zu und flogen laut quakend in den Nebel. ›Mistviecher‹, dachte er. Erneut Stille. Dann ein weiterer kalter Schauer, den Rücken rauf und wieder runter. Die Person, die dort auf der anderen Böschungsseite auf dem Bauch lag, Beine im Wasser, Oberkörper im Schilf, Gesicht nach unten, war weiblich. »Warum habe ich nur angehalten«, murmelte Meinhard. Auf so etwas hätte er gut und gern verzichten können. Nun musste er handeln. Auf der Straße rauschte ein Auto vorbei, hatte er die Warnblinker eigentlich eingeschaltet?

Er näherte sich sehr bedächtig der Frau, die dort lag. Sie bewegte sich nicht. Deutlich sah man, dass sie mit dem Fahrrad mit erheblicher Geschwindigkeit in den Straßengraben gedüst war. Kein Stoppen mehr möglich gewesen. »Mein Gott, sie wird doch nicht …«, bei dem Gedanken, dass sich die Frau etwa das Genick gebrochen haben könnte, wurde es Meinhard mulmig. Er war nicht zart besaitet, ganz und gar nicht, aber eine Tote, an diesem Morgen, der so kalt und neblig war, an dieser Stelle, nicht weit von zu Hause, darauf hätte jeder verzichten können.

Jetzt war Meinhard der Frau ganz nahe. Sie regte sich nicht. Schwerverletzte sollte man möglichst nicht bewegen, so erinnerte er sich an den Erste-Hilfe-Kurs, den er vor langer Zeit absolviert hatte. Andererseits lag sie mit dem Gesicht nach unten im Schilf – was, wenn sie keine Luft kriegte? Atmete sie überhaupt noch? Meinhard grübelte. Dann streckte er Zeige- und Mittelfinger, bewegte seine Hand ganz langsam in Richtung des Halses. Der Gedanke, er könne gleich etwas Hartes, Kaltes fühlen, machte ihm die Situation fast unerträglich. Er gab sich einen Ruck und setzte seine Finger an die Stelle, an der er die Halsschlagader vermutete. Die Haut war weich. Kühl, aber nicht kalt. Meinhard suchte ein wenig mit den Fingern, dann fand er die Schlagader. Die Frau lebte. Ja, es floss noch Blut. Ganz langsam drehte er ihren Kopf so, dass sie besser atmen konnte. Jetzt erst erkannte er sie. »Um Himmels willen, Freya …«, Meinhard erstarrte. Freya Reemts. Die kannte er von klein auf. Menno Reemts, ihrem Vater, gehörte der Hof nur etwa 2 Kilometer von diesem Ort entfernt. Warum, verdammt noch mal, lag sie hier? Meinhard hetzte die Böschung hoch, rannte zum Trecker, sprang geradezu in die Kabine und suchte nach seinem Handy. »So ein Scheiß …Düfel ook«, fluchte er und vor seinem geistigen Auge sah er das Gerät zu Hause auf dem Küchentisch liegen. Freya brauchte dringend einen Arzt. Meinhard startete die Maschine, legte den Rückwärtsgang ein, fuhr – viel zu schnell – auf der rechten Straßenseite rückwärts zurück bis zu einer Stelle, von wo man von der Straße auf den Acker fahren konnte. Hier, bi’t Düker kann ick wenden, dachte Meinhard und fuhr rückwärts auf den Überweg, der von der Straße, den Graben kreuzend, zum angrenzenden Ackerland führte. Er bremste scharf ab, legte den Vorwärtsgang ein, schaute einmal links, einmal rechts. Nichts und niemand zu sehen. Er drückte fest aufs Gaspedal und bog links ab, wieder in Richtung seines Hofes. Er musste rasch telefonieren und Hilfe holen. So schnell wie möglich. Bis nach Hause war es zu weit. Er würde bei Siebelt Reersemius klingeln. Der bewirtschaftete einen Schweinebetrieb und musste meistens nicht ganz so früh aus den Federn, wach würde er jedoch schon sein. Von hier aus würde er Hilfe holen, einen Arzt und die Polizei.

2

Meinhard fuhr rasant – soweit das mit einem Trecker möglich war – im Halbbogen vor das imposante Hofgebäude. Die Reifen quietschten direkt vor der Haustür der Landwirtsfamilie Reersemius, die in einem der großen, eindrucksvollen ostfriesischen Gulfhöfe lebte, in denen das Wohnhaus vorne und, direkt anschließend, Stallungen und Scheune angebaut waren. Letztere zeichneten sich äußerlich durch ein weiter heruntergezogenes Dach aus. Wohnhaus und Stallungen wurden durch das Karnhus getrennt, in dem zu früherer Zeit die Milch zu Butter und Käse verarbeitet wurde und in denen die kleinen 1-Liter-Kannen der Nachbarn standen, die dort ihre manchmal noch warme Milch abholten. Meinhard sprang aus der Kabine, rannte zur Tür, klingelte wie wild. Er sah, wie der Vorhang des Fensters neben der Tür kurz zur Seite geschoben und dann schnell wieder fallen gelassen wurde. »Nun mach schon!«, rief Meinhard, als Reersemius bedächtig die Tür öffnete.

»Bist du von allen guten Geistern verlassen?«, begann Reersemius.

Meinhard unterbrach ihn geradezu barsch: »Siebelt, ich muss telefonieren. Dringend. Alles Weitere später!«

Reersemius sah ihn verdutzt an. Was hatte der denn? Er sah Meinhard nach, der wusste, wo das Telefon stand. Er sagte nichts. Duhn, also angetrunken oder gar besoffen, schien Meinhard nicht zu sein, er sprach klar, schwankte nicht, außerdem war es früher Morgen … Reersemius konnte sich keinen Reim machen. Meinhard nahm den Hörer ab. »Notarzt – ist das 110 oder 112?«, rief er Reersemius zu, obwohl er neben ihm stand.

»Weet ick ook nich«, stammelte der.

»Egal, ich versuch’s mal unter 110.« Meinhard wählte die Nummer und schnell nahm jemand ab. »Ein Notfall, Kreisstraße nach Pewsum, nahe der Kreuzung, wissen Sie, hinter Schoonorth, wenn man aus Norden kommt. Ein Krankenwagen muss her. Ich habe eine Frau gefunden. Sie lebt, aber sie bewegt sich nicht, ist wohl bewusstlos. Sie liegt im Schloot. Wie bitte? Na, im Straßengraben … Bitte, beeilen Sie sich. Ich habe keine Ahnung, wie schwer verletzt sie ist. Ich werde mit einem Bekannten an der Straße stehen, Sie werden uns schon von Weitem sehen …«

Meinhard wurden noch ein paar Fragen gestellt, die er hektisch beantwortete, dann legte er auf.

»Was, Notfall? Frau? Im Schloot?«, der Gesichtsausdruck von Siebelt Reersemius hatte sich sichtlich verändert. Er begann die Aufregung zu verstehen.

»Ja, ich habe sie zufällig gefunden. Erst sah ich nur Bremsspuren. Die waren gestern noch nicht da. Und dann war das Schilf beschädigt, lag teils platt. Dort habe ich die Frau gefunden. Komm, wir müssen zu ihr; der Notarzt will in 10–15 Minuten hier sein. Wir müssen los, damit sie die Unfallstelle gleich finden.«

»Lebt sie?«, fragte Siebelt.

»Ja, jedenfalls eben noch …«, Meinhard lief es wieder kalt über den Rücken, »vielleicht wacht sie auf – dann muss jemand bei ihr sein.«

»Warte, ich ziehe mir nur schnell Stiefel an.« Siebelt verschwand für kurze Zeit. Nach wenigen Sekunden kam er wieder, mit Stiefeln und Jacke.

»Nehmen wir dein Auto?«

»Klar.«

»Na denn man los!«

»Wie alt ist sie denn?«, rief Siebelt Meinhard zu.

»Jung, Siebelt, jung. Im Vergleich zu uns jedenfalls. Genau weiß ich es nicht. Wie alt ist Freya Reemts?«

»Wieso Freya?« Reersemius starrte Harms verblüfft von der Seite an.

»Sie ist es, die dort im Graben liegt!«

»Oh nee, wo ist dat mögelk, so een Schiet!«

Meinhard Harms und Siebelt Reersemius saßen blitzschnell in dem alten Benz, den Siebelt schon seit vielen Jahren fuhr. Eine Zeit lang war die Abwrackprämie ein Thema, er hätte ihn also verschrotten lassen können. Den guten alten Benz würde er niemals weggeben. Eine Diesel-Gedenkminute, dann ging es los. Mit aller Bedächtigkeit eines in die Jahre gekommenen Strich-8-Daimlers setzte sich die graue Karosse in Bewegung. Beide Männer dachten nicht daran, sich anzuschnallen, sie hingen während der kurzen Fahrt zur Unfallstelle ihren Gedanken nach. Erst als Siebelt die Bremsspuren auf der Straße entdeckte, meinte er: »Mann, hier ist einer ziemlich Slalom gefahren … Er scheint den Wagen aber in den Griff bekommen zu haben.«

»Magst wohl recht haben«, Meinhard starrte schon etwas geistesabwesend auf den Punkt, an dem das umgeknickte Schilf auf den Unfall von Freya Reemts hinwies. Wer etwas schneller fuhr, würde diese Schneise gar nicht wahrnehmen.

»Hier ist es«, sagte er schließlich und Siebelt parkte am Straßenrand. Sie sprangen aus dem Wagen und rutschten die Böschung des Schloots herunter, fanden, halb im Wasser stehend, Halt und kämpften sich zu Freya vor.

»Oh, Mann!«, rief Siebelt, als er die Frau sah, »sieht ja schlimm aus!«

»Sie liegt unverändert«, flüsterte Meinhard, der wieder zwei Finger an die Halsschlagader hielt.

»Sie lebt, Gott sei Dank. Ich kann ihren Puls fühlen …Verdammt, wann kommt endlich der Krankenwagen?«

»Wir sind nicht das Zentrum der Welt, Meinhard. Es mag wohl noch zehn Minuten dauern.« Siebelt schien sich schon wieder gefasst zu haben.

»Zehn Minuten können bannig lang sein.«

»Wir können im Moment nicht mehr tun.«

Die beiden Männer waren sichtlich nervös und fühlten sich nicht wohl in ihrer Haut. Es war erst kurz nach sieben. Jetzt, zu Herbstbeginn war es um diese Zeit noch nicht richtig hell. Es war kalt, nebelig, die Luft fühlte sich feucht an. Ein Tag, der sich entschieden hatte, den Leuten klarzumachen: Der Sommer geht irgendwann zu Ende, auch in diesem Jahr.

»Ich kannte Freya, da lag sie noch im Kinderwagen …«, murmelte Meinhard irgendwann. Siebelt nuschelte leise: »Ja, ik ook.«

»Ich hab’ Rehna und Menno noch vor Augen, als sie bei uns klingelten. Stolz wie Oskar. Es sah ja zwischenzeitlich so aus, als hätten die Komplikationen während Rehnas Schwangerschaft eine ernste Ursache.«

»Stimmt, ich erinnere mich.«

»›Hier, unsere Tochter!‹, lachte Menno mir ins Gesicht. Erna und ich sahen das kleine Ding gleich im Kinderwagen, eingemummelt, schlafend … ist lange her.«

»Jetzt liegt sie wieder da … und schläft.«

»Mensch, mach keine Witze!«, rügte Meinhard und blickte ernst auf die leblose Frau.

Sie konnten sich keinen Reim darauf machen, was passiert war. Wenn doch nur endlich der Krankenwagen käme und der Notarzt Freya professionell versorgen würde. Hoffentlich gab sie nicht jetzt, im letzten Augenblick, bevor Hilfe kommen würde, auf und überließ sich anderen Mächten, welchen auch immer. Meinhard und Siebelt starrten immerzu auf die Verletzte, die, obwohl der Sturz in den Straßengraben ihr selbst und der Kleidung sichtlich Schaden zugefügt hatte, immer noch Schönheit und Anmut ausstrahlte, die den Eindruck der Männer verstärkte, dies alles sei gar nicht wahr, ein Traum, wenn auch ein schlechter. Freya passte nicht in einen kalten Straßengraben, das total zerstörte Fahrrad daneben … Es war still, nach wie vor war kein Auto zu hören, nur ein leises Vogelrufen in der Ferne. Ein paar Enten waren Richtung Deich unterwegs, es war Ebbe und das Watt hatte reichlich zum Frühstück aufgetischt. Die Männer standen dort, als hielten sie Totenwache.

3

Siebelt kehrte wieder auf die Straße zurück, um den Krankenwagen zur Verletzten zu lotsen. Endlich leuchteten am Horizont, dort, wo die Linie der Straße fast ohne Übergang in den Himmel überzugehen schien, zwei Scheinwerfer auf. Das Blaulicht hob sich deutlich aus dem Grau dieses Morgens ab. Eine Sirene war nicht zu hören. Offenbar verzichtete man darauf, da die Verkehrsdichte es nicht erforderlich machte. Schnell näherte sich der Krankenwagen und blieb schließlich vor dem heftig gestikulierenden Siebelt stehen. Fahrer und Beifahrer sprangen heraus.

»Wo ist die Verletzte?«

»Sie liegt dort unten im Graben, folgen Sie mir«, informierte Siebelt und zeigte auf den mittlerweile ziemlich ausgetrampelten Weg im Schilf.

»Okay«, antwortete der Fahrer, »ich fahre den Wagen jetzt so an die Seite, dass wir die verletzte Person möglichst einfach hineinschieben können.«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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