Wattentod - Hardy Pundt - E-Book

Wattentod E-Book

Hardy Pundt

4,6

Beschreibung

Nach dem Tod des ostfriesischen Großunternehmers Ennenga sterben kurze Zeit später auch dessen drei Söhne. Die Obduktionen ergeben durchweg natürliche Todesursachen. Die Presse spekuliert jedoch, ob es sich wirklich nur um unglückliche Zufälle handelt. Die Kommissare Tanja Itzenga und Ulfert Ulferts werden vom Auricher Polizeipräsidenten beauftragt, die Sachlage zu klären, um schnell einen Schlussstrich ziehen zu können. Doch bereits bei der ersten Befragung der Witwen stoßen sie auf Widersprüche …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 305

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,6 (34 Bewertungen)
24
7
3
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hardy Pundt

Wattentod

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Andrea Kusajda –Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4506-4

Prolog

Missgunst, Gier. Oder war es pure Angst?

Sie war müde, ausgelaugt. Die Luft war miserabel, der Geschmack im Mund unerträglich. Sie konnte sich nicht erinnern, sich in den vergangenen Jahrzehnten einen Tag lang nicht gewaschen oder einmal die Zähne nicht geputzt zu haben.

Jetzt saß sie bereits zwei Tage hier fest. Wie viele mochten folgen? Alles, was passiert war, trieb sie beinahe in den Wahnsinn. Der Tod von jemandem, der einem nahestand, war niemals leicht. Doch der Grund war für sie einfach nicht fassbar.

Missgunst, Gier. Oder pure Angst? Angst vor dem Versagen? Angst vor dem Tod? Warum saß sie hier und konnte nichts, aber auch gar nichts tun? Die Tür fest verschlossen, der Fensterschacht mit Erde zugeschüttet. Mit Erde!

Niemand würde sie hören. Niemand würde sie vermissen. Sie musste damit rechnen, eine lange Zeit in diesem Keller eingeschlossen zu sein.

Immerhin war Wasser vorhanden. Eine Kiste Kühle Brise medium stand in der Ecke. Außerdem hatte sie zwei Dosen Hering in Tomatensoße gefunden. Eine davon hatte sie geleert, mit bloßen Händen – der Hunger war groß gewesen und der Gedanke, ob sie sich die Nahrung würde einteilen müssen, war ihr nicht gekommen.

Kein Waschbecken, kein Klo. Lediglich ein Eimer in einer Ecke.

Was dachte sich ein Mensch dabei, seinesgleichen unter solchen Bedingungen einzusperren? Rache? Gier nach Geld oder Macht? Oder war er einfach übergeschnappt?

Auf den Geschehnissen der Vergangenheit eine Zukunft aufzubauen, schien nicht vorstellbar, zumal … Das musste früher oder später schiefgehen: Alles würde herauskommen. Diese miese Geschichte zu vertuschen würde nicht funktionieren. Es gab immer undichte Stellen. Am Ende würde die Wahrheit siegen. Jedoch musste sie sich kleinlaut eingestehen, dass es oft genug anders gekommen war.

Sie wusste nicht, ob ein Plan hinter ihrer Gefangennahme stand oder ob es eine spontane Verzweiflungshandlung war. Vielleicht war diese Tat die Folge einer geistigen Verwirrung, die dazu geführt hatte, sie hier unten einzusperren und das Fenster mit Erdreich zuzuschütten – schon halb ein Grab.

Die Polizei war im Haus gewesen. Die Kripo. Diese Polizistin und ihr Kollege. Jetzt, hier unten im Kellerloch, in dieser unerträglichen Stille, die ihr viel Raum zum Nachdenken bot, war ihr klar, warum die Kripo dagewesen war. Nie und nimmer hätte sie geglaubt, dass das, was geschehen war, wirklich passieren könnte. Es war furchtbar niederträchtig gewesen!

Der Druck nahm zu. Ihr Darm rumorte. Ihr graute davor, den Eimer zu benutzen und ihn dann weiterhin in der Ecke stehen zu haben.

Missgunst, Gier, Angst, Egoismus, Machtwahn, Irrsinn … Ihr schwirrten unzählige Begriffe ungefiltert durch den Kopf. Die Welt ist mir scheißegal, nach mir die Sintflut, nur ich allein zähle! Was konnte ein Leben in kürzester Zeit aus einem Menschen machen? Oder war es eine langsame, schleichende Entwicklung gewesen, die nun ihren Höhepunkt erreichte?

Sie würde es niemals schaffen, mit all dem fertigzuwerden. Und es war ihr deshalb nicht klar, ob es sich überhaupt lohnte weiterzuleben. Sie konnte den Peiniger ein erstes und letztes Mal schocken, indem sie sich in diesem Loch einfach erhängte. Es lag viel Zeug rum, sie würde etwas finden … Doch sie war feige. Ihr Leben lang schon. Hatte geschwiegen, wenn sie hätte reden müssen. Ja und Amen, mehr war von ihr nie gekommen. Sie würde es nicht fertigbringen, sich einen Strick oder den Gürtel irgendeines muffigen Mantels aus dem wackeligen Kleiderschrank, der in der Ecke stand, um den Hals zu legen und anschließend von der Tischkante zu springen.

Sie schlurfte zum Eimer. Allein der Gedanke an den sich langsam im Raum ausbreitenden Geruch verursachte Brechreiz. Sie konnte den Raum nicht verlassen, kein Fenster öffnen. Erde! Erde vor dem Fenster! Totale Dunkelheit, wenn sie das Licht löschte.

Ein Weinkrampf packte sie. Widerwillig streifte sie die Hose herunter und hockte sich über den Eimer.

Sie war allein. Nicht nur in diesem Keller. Er würde nie wieder zurückkehren. Er war tot, elendig ersoffen und angeschwemmt an einer Sandbank. Wie lange musste sie noch in diesem Loch sitzen?

1. Kapitel

Die Sophia schaukelte von einer Seite auf die andere, der Wind peitschte die Nordsee zu immer höheren Wellen auf. Wilbert Ennenga war ein erfahrener Skipper. Er kannte sein Boot. Mit der Sophia hatte er manch größeren Törn hinter sich gebracht, stets genug Wasser unter dem Kiel, was bei Wattenmeerfahrten durchaus eine Herausforderung war. Er war wahrhaftig einer, dem man ohne Weiteres sein Boot anvertraut hätte, um es über den großen Teich an die Ostküste der USA zu überführen.

Wilbert nahm öfter seinen Bruder Renke mit, der zum Segeln ein zwiespältiges Verhältnis hatte. Begeisterung für das Meer brachte er auf, doch er fürchtete sich vor der Seekrankheit. Um ihn an das Segeln heranzuführen, waren die beiden früher mit einer kleinen Jolle auf Binnenseen unterwegs gewesen. Das Große Meer mitten in Ostfriesland war ideal dafür. Renke hatte Gefallen daran gefunden, solange es gemächlich zuging. Starker Wind und raue See, das brauchte er nicht.

Familie Ennenga hatte die stattliche Jacht seit Jahren im Hafen von Wangerooge liegen, auf der Insel besaß sie eine Ferienwohnung. Die Sophia war ein altes, aber schnittiges Boot mit guten Segeleigenschaften, selbst bei unruhiger See. Von Wangerooge aus konnten sie wunderbar die ostfriesischen Inseln ansteuern, hinaus auf die Nordsee fahren. Des Öfteren schon waren Cuxhaven oder Bremerhaven das Ziel gewesen. Aber zu weit hinaus auf die offene See war Renke meist zu viel des Guten.

Diesmal hatte er sich jedoch von seinem Bruder recht schnell breitschlagen lassen. Er fand die Idee gut, angesichts des Todesfalles einen Tag Auszeit auf See zu nehmen. Wilbert war in früheren Tagen auch schon nach Helgoland oder Hamburg gesegelt. Renke hatte dankend abgelehnt: »Nee, dann hänge ich den ganzen Tag über der Reling und füttere die Möwen.«

Er wusste nicht, dass es diesmal schlimmer kommen würde.

Mit seinen sieben Metern Länge verfügte das rote Kunststoffboot über eine großzügige Plicht, den Bereich im hinteren Teil der Sofia, in dem der Skipper das Boot mit der Pinne auf Kurs hielt und in der weitere Sitzplätze für Mitfahrer vorhanden waren. Es gab eine Kajüte, die sechs Personen Platz zum Schlafen bot, wenn man zusammenrückte. Für Wilbert war das Boot Lebenselixier; die Möglichkeit, Abstand zu gewinnen von der Arbeit, die ihn ganz und gar forderte. Und manchmal auch von Teelke, seiner Frau.

Jetzt stampfte die Sophia durch die See, brach sich ihren Weg durch die Wellen, die Renke mit Sorge betrachtete, vor allem wegen seiner Furcht vor der aufkeimenden Übelkeit. Tatsächlich grummelte es in seinem Magen bereits beträchtlich und ein leichter Schwindel überkam ihn. Wilbert lachte. Er trotzte dem Wind und der See. Obwohl auch er nicht mehr der Jüngste war, schien er in seinem Element. Der Seewetterbericht hatte starken Wind angekündigt. Nach Wilberts Berechnung würden sie so viel Fahrt machen, dass sie Cuxhaven erreichten, ohne den herannahenden Sturm mit voller Wucht abzubekommen. Wilbert versicherte Renke fortwährend, dass sie es schaffen würden. Als sie auf Wangerooge gestartet waren, hatte die Sonne geschienen und eine leichte Brise geweht. Das war nun, nach gut drei Vierteln der Seereise, nicht mehr der Fall. So war es hier an der Küste – das Wetter konnte in kurzer Zeit umschlagen.

Renke wurde nervös. Vielleicht hätte er das Große Meer doch nicht gegen die Nordsee tauschen sollen. Auch das Zwischenahner und das Steinhuder Meer hatten sie bereits ersegelt. Das waren allerdings Kaffeefahrten gewesen gegen das, was hier gerade stattfand. Wilbert versuchte Renke zu beruhigen: Am Abend lägen sie im Jachthafen der Stadt zwischen Weser- und Elbmündung und würden sich ein kühles Pils genehmigen.

Um sich abzulenken, wollte Renke ein Gespräch beginnen, was aber bei dem Wind ziemlich schwierig war. »Ja, Wilbert, nun sind wir die Verantwortlichen!«, rief er seinem Bruder zu. Er setzte sich neben ihn in die Plicht, dennoch blies der Wind derart heftig, dass sie laut sprechen mussten, damit der andere die Worte verstand.

»Dass Vater jetzt tot ist …«, bemerkte Wilbert, auf das weite Meer schauend. Wasser und Himmel gingen ohne Grenze ineinander über, der Horizont war nicht zu sehen.

»Er hat sein Leben gelebt«, antwortete Renke. »Und du hast ein Recht auf den größten Anteil, hast immer wie ein Wahnsinniger gearbeitet. Du warst Vaters rechte Hand.«

»Höre ich da Neid?«

Renke dachte einen Moment nach. »Nein, nein«, sagte er schließlich, sein Ölzeug am Hals fester zuziehend, »so wollte ich das nicht verstanden wissen. Du hast ihn die letzten Jahre in der Geschäftsführung sehr unterstützt. Dass er die Zügel nicht aus der Hand geben wollte, lag doch nur an seinem …« Renke zögerte, als suchte er nach den passenden Worten.

Wilbert sprang ein: »Altersstarrsinn?«

Renke schaute seinen Bruder an, der die Großschot dichtholte. »Altersstarrsinn? Würde ich nicht sagen, das klingt so negativ. Und starrsinnig war er schließlich schon immer ein wenig.«

»Er hatte ein Ziel und verfolgte seinen Weg – man könnte es auch Konsequenz nennen.«

»Manchmal war es schon schwierig, mit ihm ein Wort zu wechseln. Bloß nichts Neues, bloß keine Veränderungen!«

»Der Laden lief gut und er läuft gut. Wozu Veränderungen?«

»Ich weiß nicht. Die Bilanzen waren nicht mehr so, wie sie einmal waren, oder? Manchmal muss man vorausdenken, die Dinge in andere Richtungen lenken, bevor es zu spät ist!«

»Was hätte zu spät sein sollen? Dass die Konjunktur mal nicht so brummt, gehört dazu. Das macht sich auch im Baugeschäft bemerkbar. Aber nach jeder Talfahrt geht es wieder bergauf.«

Eine höhere Welle brachte das Boot gehörig ins Schwanken. Gischt spritzte den Brüdern ins Gesicht.

»Heißa!«, rief Wilbert, »es wird unruhiger!«

Renke sah seinen Bruder ängstlich an. Der hatte es mit dem Herzen, musste vorsichtig sein. Doch er saß dort wie ein alter Kapitän, den nichts erschüttern konnte. Nichts haut einen Seemann um, so besang es Udo Lindenberg. Der Gedanke an das Lied und das Bild seines Bruders vermittelten Renke ein wenig Sicherheit. Er griff, noch lauter sprechend, das Thema wieder auf: »Ich meine ja nur. Ich hatte allerhand Ideen für unsere Firma – er hat sich immer dagegengestellt. Deine Vorschläge hingegen kamen oft genug gut bei ihm an …«

»Ach, alles hat er nicht unterstützt«, entgegnete Wilbert. »Wir müssen die Fock einholen und das Großsegel reffen. Der Wind nimmt schneller zu als vorausgesagt!«

»Ganz einholen? Wir haben noch was vor uns und sollten so schnell wie möglich …«, setzte Renke an, doch Wilbert fiel ihm ins Wort – das war schon immer so gewesen.

»Wir holen sie ein! Das Großsegel reicht auch gerefft. Wir machen gehörig Fahrt!« Wilberts Wort galt.

»Nicht, dass etwas kaputt geht oder wir allzu sehr krängen. Nachher gehen wir noch über Bord!« Mit zusammengekniffenen Augen sah er seinen Bruder an.

»Meinst du, es kommt so schlimm?«

Wilbert lachte auf. Er wusste, dass sein Bruder diese Bemerkung nicht lustig finden würde, im Gegenteil, sie würde seine Furcht vor dem Sturm erhöhen. »Renke! Wir segeln nach Cuxhaven. Die Sophia ist ein gutes Boot, wir sind zwei alternde, aber nach wie vor kräftige Männer. Was soll schon schiefgehen?« Wilbert lächelte. Während sein Bruder unruhig zwischen ihm und dem Wasser hin- und hersah, schien ihm das Spiel der Elemente sehr zu gefallen.

»Ich hoffe, du hast recht!«, rief Renke gegen den Wind an. Er wusste, dass er sich nun nach vorn bewegen, die Fock einholen und dabei helfen musste, das Großsegel zu reffen. Er schüttelte den Kopf bei dem Gedanken daran, dass der Rest der Fahrt keinesfalls ein ruhiger Segeltörn werden würde, bei dem man abends bei untergehender Sonne und einem türkis-orangeroten Himmel auf spiegelglattem Wasser in den Hafen einlief. Es würde ein anstrengendes, alle Kräfte und Sinne forderndes Finish auf sie zukommen. Übelkeit stieg wieder in ihm auf. Wenn sie nur schon in Cuxhaven wären – doch das lag noch eine knappe Dreiviertelstunde entfernt.

Renke erhob sich, hielt sich an der Reling fest und begab sich zum Großmast, um die Fockschot zu lösen und das Segel zügig, aber kontrolliert einzuholen. Wilbert war der Käpt’n. Was er sagte, wurde getan. War es nicht schon immer so gewesen?, ging es Renke durch den Kopf, als er den Knoten löste und die Fockschot langsam durch die Hand rutschen ließ. Mit der anderen Hand hielt er sich krampfhaft fest, er hatte sich nicht angeleint. Bis das Großsegel dran war, würde er auf Wilberts Zeichen warten müssen. Trotz seines unangenehmen Standortes versuchte er, sich mit ein paar Gedanken abzulenken, dabei Wilbert nicht aus den Augen lassend. Hatte Wilbert am Ende nicht stets recht behalten, wenn sie mit dem Vater diskutierten oder mit dem Dritten im Bunde, Hannes, der aus dem Familienbetrieb ausgebrochen war und ein kleines Restaurant in Haffkrug an der Ostsee betrieb? Vielleicht machte Hannes alles richtig. Schließlich kam er kaum mehr nach Hause oder in die Firma in Aurich. Er, Renke, war im väterlichen Betrieb hängen geblieben, hatte jedoch nie Wilberts Enthusiasmus an den Tag gelegt. Er saß im Büro und prüfte Aufträge, schrieb Rechnungen, solche Dinge. Immer war Wilbert derjenige gewesen, der dem Vater am nächsten gewesen war und ihn tatkräftig unterstützt hatte. Er hatte dazu beigetragen, dass sich die Baufirma Arend Ennenga GmbH & Co KG zu einem Global Player entwickelt hatte. Das Geschäft brummte, das Firmenvermögen belief sich auf mehrere Millionen.

Nach dem Tod des Vaters war Renke als einer der Erben nun ziemlich reich, den Gedanken daran hatte er bislang verdrängt, Geld bedeutete ihm nicht so viel. Auch Mia, seine Frau, hatte bisher noch nicht darüber gesprochen. Wilbert würde sich jetzt noch intensiver in die Arbeit stürzen, da war sich Renke sicher. Der ewige Junior – jetzt der neue Chef. Sicher würde er sich ein größeres Boot kaufen. Den Plan, eines Tages die Welt zu umsegeln, hatte er noch nicht ad acta gelegt. Und seine Umsetzung wäre vielleicht gar nicht unmöglich – trotz des Betriebes. Teelke, Wilberts Frau, könnte ohne Weiteres für einige Zeit die Geschäfte übernehmen. Das traute Wilbert ihr zu, wie Renke wusste. Dann riss ihn die wütender werdende Nordsee aus den Gedanken.

Die Sophia legte sich von einer Seite auf die andere. Renke musste sich gut festhalten, um nicht über Bord zu gehen. Das Boot tanzte auf den Wellen, und es war nicht einfach, mit dem Arm um den Mast geschlungen die Knoten zu lösen, das Großsegel auf Halbmast zu setzen und die Fallen festzumachen. Er merkte, dass ihm das Deck des Segelbootes bei solchen Verhältnissen alles andere als vertraut war, zumal er ja auch nicht jünger geworden war. Das ein oder andere Zipperlein hatte sich in den letzten Jahren eingestellt.

»Wahrschau!«, schrie Wilbert von hinten. Renke sah nach vorn. Eine hohe Welle rollte seitlich auf die Sophia zu.

Junge, Junge!, schoss es ihm durch den Kopf. Angstvoll blickte er dem entgegen, was da auf ihn zukam. Er würde es nicht nach hinten in die Plicht schaffen. Also versuchte er, sich möglichst eng an den Mast zu pressen und mit beiden Armen festzuklammern. Die Welle erreichte die Sophia, das Boot stieg auf wie ein wilder Hengst und das Wasser rollte zischend, schäumend und gurgelnd über das Deck hinweg. Kurz darauf schien die Sophia in ein tiefes, schwarzes Loch zu fallen, wurde jedoch sogleich von einer neu anrollenden Welle emporgehoben. Für einen Moment war Renke komplett von Wasser umgeben. Das Ölzeug war zwar schwer und es behinderte seine Bewegungsfreiheit, doch es hielt ihn trocken. Er schaute nach hinten. Wilbert saß in der Plicht und hielt die Sophia eisern auf ihrem Kurs nach Cuxhaven. Er sah ihn, wegen der Salzwassergischt, die ihm ins Gesicht spritzte, leicht verschwommen. In der Plicht musste jetzt das Wasser stehen. Wilbert schien zu fluchen.

»Alles klar?«, rief er nach hinten. Er hörte Wilbert antworten, richtig verstehen konnte er ihn nicht. Wilbert lachte. Der Kerl lachte tatsächlich!

Der Wind frischte nochmals auf, brauste um sie herum und verwandelte die See in einen brodelnden Kochtopf. Noch einmal sah er zu Wilbert. Der stand plötzlich auf, deutete mit einem Kopfnicken zum Bug, was wohl bedeutete: Schau nach vorn, die nächste Bö kommt!

»Mein Gott!«, rief Renke, sobald er sich umgedreht hatte. Seine Worte wurden vom Wind verschluckt. Die Welle, die in diesem Augenblick über die Sophia hereinbrach, war noch höher als die vorherige. Die Jacht wurde hin und her geworfen, Wasser flutete das Deck, die Kajüte und die Plicht.

»Wir bieten zu viel Angriffsfläche, wir sollten das Großsegel noch weiter einholen!«, schrie Wilbert, doch er wusste nicht, ob Renke überhaupt irgendetwas hörte. Er rieb sich mit einer Hand die Augen, mit der anderen hielt er die Pinne mit aller Kraft.

»Renke!« Sein Schrei verhallte ungehört über der stürmischen See. Er hatte alle Hände voll zu tun, doch sein Blick ging Richtung Bug. Zwar war hinter der dunklen Wolke, die genau über ihnen stand, bereits wieder hellerer Himmel zu sehen, aber im Moment glich die Situation der Hölle. Es würde nur wenige Minuten anhalten, Wilbert wusste das, ehe Wind und See sich wieder beruhigten. Wilbert strengte sich an, seinen Bruder zu erspähen. »Renke!«, schrie er, lauter und kräftiger als zuvor.

Das Deck war leer, von Renke weit und breit keine Spur. Intuitiv blickte Wilbert ins Wasser, das tosend sein Boot umgab.

»Renke«, diesmal murmelte er es nur in sich hinein. Aus diesem Hexenkessel könnte ihn niemand mehr herausholen. Die nächste Welle rollte heran. Wilbert musste sich voll konzentrieren. Ihm war sofort klar, was passiert war. Oh Gott! Er konnte nichts mehr tun – Renke war in Sekunden von der Nordsee verschluckt worden.

Ruhig bleiben! Nicht dem Schock hingeben. Nur nicht durchdrehen. Auf keinen Fall verzweifeln! Vater, Bruder – oh Gott! Durchhalten und die Sophia in den Hafen bringen. Durchhalten!

2. Kapitel

Hannes Ennenga lebte seit einigen Jahren in dem kleinen Küstenort Haffkrug, unmittelbar am Ostseestrand. Er bewohnte eine Zweieinhalbzimmerwohnung über einem kleinen Ladenlokal, in dem er vor einigen Jahren ein Restaurant eröffnet hatte. Damit hatte er sich nicht nur einen lang gehegten Wunsch erfüllt, sondern ihm war gleichzeitig – und er wusste nicht, was ihm letztlich wichtiger war – die Flucht aus der von ihm als spießig und muffig empfundenen Enge des väterlichen Betriebes gelungen. Die Zubereitung delikater Speisen war seit Jahrzehnten ein Hobby, das er schließlich zum Beruf gemacht hatte. Mit Leidenschaft überlegte er sich leckere Gerichte und perfektionierte die Rezepte. Jeder Teller, der aus der Küche in die kleine Gaststube ging, wurde von ihm angerichtet, häufig auch eigenhändig serviert. Es war schwer, gegen all die anderen Gastronomiebetriebe zu bestehen, und er wollte keine allzu hohen Preise auf die Karte schreiben, um die Gäste nicht abzuschrecken. Es reichte gerade aus, um über die Runden zu kommen. Den höchsten Umsatz erzielte er in den Frühjahrs- und Sommermonaten, während er für Herbst und Winter ausreichend Geld zurücklegen musste, um die dunkle Jahreszeit zu überstehen. Er genoss es, unabhängig zu sein, nichts mit dem elterlichen Unternehmen zu tun zu haben und nicht länger unter der Fuchtel seines einst allgegenwärtigen Vaters Arend sowie seines Bruders Wilbert zu stehen. Die gute Luft an der Ostsee und ihre im Vergleich zur Nordsee weichere, manchmal beinahe zärtliche Art gefielen ihm. Oft schlenderte er im Sommer am Strand entlang, spät abends, wenn das Restaurant geschlossen hatte. Hinter den flachen Dünen flackerten meist noch ein paar Lichter, kleine Wellen klatschten an den Strand, und in der Ferne war Möwengeschrei oder manchmal auch leises Hundegebell zu hören.

Doch nach der Sommersaison hatte er manchmal die Nase voll von all dem Trubel, den vielen Menschen, der Arbeit, tagein, tagaus bis zum späten Abend. Er liebte die Gegensätze und fuhr daher an den Ruhetagen des Restaurants gerne für ein paar Tage in den Harz, um dort zu wandern. Berge, Tannen, Fichten und kleine Orte mit alten Fachwerkhäusern boten das hervorragende Gegenstück zu Strand, Möwen, Fisch und Ostsee.

Hannes Ennenga war auch an diesem Abend erschöpft aus dem Restaurant gekommen, nachdem er die Utensilien in der Küche abgewaschen und den Gastraum in Ordnung gebracht hatte. Eine Hilfskraft konnte er eben nur in den Stoßzeiten bezahlen. Jetzt betrat er seine kleine Wohnung, holte sich ein Flensburger Pils aus dem Kühlschrank und setzte sich auf den Balkon, der leider nicht zur See, sondern zum Festland hin gebaut war. Nach einem langen Arbeitstag war es ihm meistens nicht möglich, sofort schlafen zu gehen. Er brauchte noch eine Stunde, manchmal mehr, um zur Ruhe zu kommen. Er streckte die Beine aus, schaute in den Himmel und dachte an seinen Vater, der von oben herabschauen mochte. Griesgrämig wahrscheinlich – was hatten sie für Streitigkeiten ausgefochten!

Er erinnerte sich an den Moment, als er seinem Vater gegenüber geäußert hatte, ein Restaurant eröffnen zu wollen. Der Hausarzt war geholt worden, da der Blutdruck des alten Herrn bedrohlich angestiegen war. Hannes’ Bruder Wilbert hatte das Ganze kopfschüttelnd beobachtet und ihm vorgeworfen, den Familienbetrieb zu ruinieren, während Renke zu vermitteln versucht hatte.

»Allein der Ruf unserer Firma, der darunter leidet, wenn sich einer von uns auf und davonmacht. Wie sieht das denn aus? Das ist doch Verrat!«, hatte Wilbert gerufen. Doch Hannes war stur geblieben.

Nach dem Streit hatte er der versammelten Familie erklärt, er würde gehen und niemand bräuchte sich jemals wieder um ihn zu kümmern.

Das Vorkommnis hatte eine lange Sendepause zwischen ihm und seinem Bruder Wilbert sowie dessen Ehefrau Teelke zur Folge. Mit Renke und Mia konnte er ein einigermaßen normales Verhältnis aufrechterhalten. Erst kurz vor dem Tod des Vaters, als die ärztliche Prognose wenig zuversichtlich war, hatte sein Vater ihn zum Gespräch einbestellt. Hannes interpretierte es als den Sanftmut eines Menschen, der nicht mehr lange leben würde, als Arend Ennenga ihm eröffnete, er verstehe Hannes zwar nicht, aber er vergebe ihm. Es läge ihm daran, den Streit zu begraben, bevor er beerdigt werden würde. Hannes sah indes nichts, wofür ihm vergeben werden müsste, dennoch akzeptierte er die Worte des alten Mannes. Wozu noch streiten im Angesicht des Todes?

Es wunderte ihn bei dem Geschäftssinn Arend Ennengas nicht, dass er einen detaillierten Schlüssel entwickelt hatte, wie das Erbe aufzuteilen war. Das hatte sein Vater angedeutet, Hannes wusste jedoch nicht, wie dieser Verteilungsschlüssel aussah. Er sprach mit Teelke, die ihm sagte, dass Arend Wilbert mit dem größeren Anteil bedacht hatte. Er würde die Unternehmensleitung übernehmen, das war immer klar gewesen. Dennoch – und ohne bislang zu wissen, wie hoch das Erbe überhaupt ausfallen würde – entwickelte sich bei Hannes ein schlechtes Gewissen, da er sich seit Jahren nicht mehr um die familiären Belange gekümmert hatte.

Sein Restaurant lief leidlich, ja, mehr konnte man dazu nicht sagen, dachte er und nahm einen kräftigen Schluck aus der bauchigen Bierflasche. Wenn er ehrlich zu sich war, hatte er sich manches Mal bei dem Gedanken erwischt, reumütig nach Ostfriesland und in das Bauunternehmen zurückzukehren, eine sichere Zukunft vor Augen … Sein Stolz hielt ihn jedoch bis heute davon ab. Er würde es allein schaffen!

Jahrelang hatten sich Hannes und seine Frau Anna alles Mögliche ausgemalt, was sie getan hätten, wenn, ja wenn sie nur mehr Geld besessen hätten. Sie verzichteten, im Gegensatz zu Hannes’ Brüdern, auf vieles. Hannes ärgerten zunehmend die ewigen Zweifel seiner Frau an der Entscheidung, Ostfriesland und den elterlichen Betrieb zu verlassen. Es gab oft Streit, doch die Eheleute hatten es lange Zeit verstanden, sich zu versöhnen und gemeinsam das Restaurant weiterzuführen. Schließlich war sie dann doch gegangen. Nach einem Jahr der Trennung war die Scheidung erfolgt.

Hannes sah den dunklen, wolkenverhangenen Himmel und einen Moment lang hatte er Anna regelrecht vor Augen, erinnerte sich an schöne Stunden, die sie verlebt hatten. Doch er wischte diese Gedanken weg, denn das war Geschichte. Es gab eine neue Frau in seinem Leben. Karolinka arbeitete als Kassiererin bei Lidl, wo Hannes sie auch kennengelernt hatte. Sie kam aus Stettin, das auf Polnisch für ihn unaussprechlich war – Szczecin – und lebte seit zehn Jahren in Deutschland. Ihr dunkles, langes Haar und ihr freundliches Lächeln hatten dazu geführt, dass Hannes immer öfter bei diesem Discounter einkaufte. Zwar gab es hier und da Leute, die sich darüber wunderten, angesichts seines Spezialitätenrestaurants. Er verwies dann auf Studien der Stiftung Verbraucherschutz und anderer Organisationen, nach denen viele Produkte nicht schlechter, ungesünder oder qualitativ minderwertiger wären als diejenigen aus anderen Geschäften.

Er nutzte jede Gelegenheit, um an der Kasse ein paar Worte mit ihr zu wechseln, einen Witz zu machen, ein Lächeln von ihr zu erhaschen, ja, ein wenig mit ihr zu flirten. Das sah die Chefetage nicht gern, Karolinka ließ sich jedoch nicht den Mund verbieten, und ein paar freundliche Sätze, manchmal auch nur einige Worte zum aktuellen Politik- und Tagesgeschehen, waren immer möglich. Schließlich nahm Hannes seinen Mut zusammen und fragte, ob er sie in seinem Restaurant zum Essen einladen dürfe. Karolinka bejahte. Das verwunderte ihn zunächst, denn er hielt sich nicht für besonders attraktiv und überhaupt für ungeschickt in solchen Dingen. Hannes öffnete sein Restaurant am folgenden Montagabend – der eigentlich Ruhetag war – nur für Karolinka und zauberte ihr ein wunderbares Fischgericht mit erlesenen Beilagen. Er hatte selten eine derart lebenslustige Frau kennengelernt, und manchmal lehnte er sich einfach zurück, während sie über Gott und die Welt plauderte. Hannes verliebte sich. Nachdem Anna ihn verlassen hatte, war ihm alles leer und leblos erschienen. Er hatte nicht geglaubt, dass er sich noch einmal für eine andere Frau ernsthaft interessieren könnte – und umgekehrt. Er war ein leicht übergewichtiger, alternder Mann mit dunklen Rändern unter den Augen, die ihm die viele Arbeit und der wenige Schlaf eingebracht hatten. Umso mehr hatte es ihn gewundert, dass die erheblich jüngere Karolinka sich offenbar auch in ihn verliebt hatte.

Es machte ihm Freude, mit ihr zusammen zu sein, im Sommer in die Ostsee zu springen, im Winter warm vermummt am Strand entlangzugehen und irgendwo einen Grog zu trinken. Sie waren mehrmals in Karolinkas polnischer Heimatstadt gewesen, in die sie von Zeit zu Zeit auch allein fuhr, um Verwandte und Freunde zu besuchen.

Nach Arend Ennengas Tod hatte Hannes selbst ein Testament verfasst, auf Betreiben Karolinkas. Ihre Eltern waren mir nichts, dir nichts kurz nacheinander gestorben, ohne etwas geregelt zu haben. Das hatte Karolinka und ihren Geschwistern viel Kopfzerbrechen bereitet, weshalb sie ihm riet, bei ihm selbst eine ähnliche Situation zu verhindern. Eher gleichgültig hatte Hannes sie als Alleinerbin eingesetzt – wem sonst hätte er das kleine Restaurant vermachen sollen? Kinder hatte er keine – auch seine Brüder nicht.

Hatte er nicht längst auf alles verzichtet? War Vater nicht am Ende seines Lebens versöhnlich gewesen? Würde er etwas vom großen Kuchen abbekommen? Hannes beschloss, sich noch ein zweites Flensburger zu genehmigen, bevor er schlafen ging.

3. Kapitel

Wilbert hielt die Sophia stringent auf Kurs. Das Wetter beruhigte sich, der Seewetterbericht sprach allerdings lediglich von kurzen Phasen, in denen es aufklaren sollte. Wilbert schätzte die Entfernung zur Küste, Cuxhaven lag vor ihm. Kontakt zum Hafenmeister hatte er schon aufgenommen; er hatte ihm einen Liegeplatz für die Nacht genannt. Segeljacht Sophia, bin mit meinem Bruder unterwegs, so hatte Wilberts Meldung gelautet. Es war nicht das erste Mal, dass er zusammen mit Renke die Marina in Cuxhaven anlief.

Er überlegte hin und her, schien mit sich zu hadern. Renke war über Bord gegangen, er hätte die Wasserschutzpolizei, die Seenotretter alarmieren müssen! Der in Cuxhaven liegende Seenotkreuzer Hermann Helms war ein leistungsstarkes Schiff – doch für Renke wäre es ohnehin zu spät gewesen, oder?

Irgendetwas hatte ihn abgehalten, das zu tun, was jeder getan hätte. Er war weitergesegelt, hatte nichts unternommen. Er schob es auf die angespannte Situation zu dem Zeitpunkt, als Renke verschwunden war. Er griff sich sein Handy. Einige Zeit hatte es keinen Empfang gehabt, doch das war jetzt kein Problem mehr, wo er sich zusehends der Küste näherte. Er suchte eine Nummer aus dem Kontaktverzeichnis seines Telefons heraus, wählte sie und wartete, dabei die Pinne haltend.

»Wilbert? Du? War es nicht reichlich stürmisch?«, hörte er. Es rauschte und der Wind wehte, aber er konnte seine Frau Teelke verstehen.

»Teelke, hör zu. Es ist etwas Schreckliches passiert!«

»Wie bitte? Was sagst du?« Teelke Ennenga verstand ihren Mann nur schlecht. Seine Stimme klang abgehackt.

»Renke«, rief er in das Handy, »Renke ist tot! Im Sturm über Bord, er hat sich nicht richtig festgehalten, als er die Fock einholte. Es gibt keine Hoffnung mehr!«

»Um Gottes willen!«, rief Teelke. »Erst euer Vater und nun …«

»Ja, furchtbar. Hör zu, Teelke!«

»Wie geht es dir?« Der Empfang war nun besser.

»Ich bin in Ordnung. Nun hör zu. Wir werden nicht lange telefonieren können. Bei dem Wetter weiß man nie, und ich muss hier höllisch aufpassen. Renke ist ertrunken … Wir können ihm nicht mehr helfen.«

»Oh mein Gott, wie konnte das passieren?«, erregte sich Teelke Ennenga.

»Wahrscheinlich ein unachtsamer Augenblick. Es ist stürmisch. Aber es ist passiert. Hör zu, Teelke, wir müssen etwas tun, etwas, was in seinem Sinne wäre. Das Testament … Vaters Testament …« Er hielt inne.

»Was soll damit sein?«

»Renke ist tot und das heißt, dass Mia seinen Anteil erbt. Das müssen wir verhindern.«

»Wie soll das gehen?«, fragte Teelke, die sich wunderte, dass Wilbert schon wieder an geschäftliche Dinge dachte, kurz nachdem sein Bruder ertrunken war.

»Nur ein kleiner Zusatz, verstehst du? Ein ganz kleiner Zusatz. Es muss so formuliert sein, dass klar wird, dass alle Entscheidungen nach Arends Tod auf mich übergehen. Oder … Ach, im Moment fällt mir noch nicht die richtige Formulierung ein. Etwa in der Art, das Erbe wird wie folgt aufgeteilt:Im Falle des Todes von einem meiner Söhne wird es auf die verbleibenden lebenden Kinder aufgeteilt … So ungefähr.«

»Aber …«

»Nichts aber. Du musst das Testament umschreiben!«

»Wilbert, du willst …?« Das Gespräch brach ab. Eine Bö hatte die Sophia durchgeschüttelt Wilbert hatte Mühe, das Handy in der Hand und gleichzeitig das Schiff auf Kurs zu halten.

Teelke meldete sich: »Wilbert?«

»Ja?«

»Das ist Urkundenfälschung!« Teelke hatte schnell verstanden.

Er musste seine Ehefrau, mit der zusammen er schon manches Geld an der Steuer vorbeigeschafft hatte, überreden, das Testament ein klein wenig zu ändern. »Wir sollten nicht zu lange darüber reden! Also, Renke wird nicht wieder lebendig, aber sein Geld, das sollte nicht … Du weißt schon!«

»Und wer soll das tun?«

»Teelke, ich kenne deine kalligrafischen Fähigkeiten. Hat Vater dich nicht öfter in seinem Namen unterschreiben lassen, wenn es schnell gehen musste und er unterwegs war? Und nicht nur das, manchmal hast du ganze Glückwunschkarten oder Widmungen an Kunden verfasst, wenn er keine Zeit oder Lust dazu hatte. Du kannst seine Handschrift perfekt kopieren!«

»Nein, Wilbert …«

»Ich laufe morgen wieder aus. Der Hafenmeister weiß nichts von dem Unglück. Renke geht offiziell erst morgen über Bord!«

Seine Frau unterbrach ihn. »Wilbert, das kannst du Renke nicht antun!«

»Renke treibt da draußen irgendwo in der Nordsee herum! So ist es nun mal. Ich habe meinen Bruder geachtet, das weißt du. Aber nun ist es geschehen. Ich bin Realist und du bist selbst einer. Und erzähl mir nichts von kriminell. Wer sagt denn immer, man muss so viel Geld wie möglich in der eigenen Kasse halten? Manchmal muss man dabei eben ein bisschen tricksen. Mia würde alles bekommen, was Renke zugestanden hätte. Das ist zu viel, Teelke! Wie ich die kenne, holt sie gleich ihren ganzen Grovenstedt-Clan mit ins Boot. Die ist imstande und lädt ihre komplette Familie zu einer Weltreise ein. Und das mit Geld, das Vater, Renke und ich erwirtschaftet haben. Da mache ich nicht mit. Und du willst das auch nicht! Ich …«

Teelke ließ ihn nicht ausreden. »Ich verstehe dich, aber …«, sie schluckte mehrmals, »ich mach das nicht! Ist das denn überhaupt möglich? Hätte das Bestand?«

»Bestand? Wie meinst du das?«

»Na, rechtlich gesehen.«

»Wenn ein Arend Ennenga etwas verfügt, dann wird es so gemacht, basta!«

»Willst du nicht erst unseren Anwalt fragen?«

Wilbert lachte laut auf. »Achtermann? Meine Liebe, ich soll unseren Anwalt fragen, ob wir das Testament fälschen dürfen?«

»Vielleicht kann man es anders verpacken«, entgegnete sie.

»Quatsch. Ich sagte doch: Es ist Arend Ennengas Testament und gegen Arend Ennengas letzten Willen wird keiner so schnell etwas einwenden.«

»Aber wie soll ich das machen?« Teelke hatte große Zweifel, dass der Plan ihres Mannes funktionieren würde. Sie hatte kalligrafische Fähigkeiten, ja – aber waren die wirklich gut genug? Und es wäre Betrug, ein Verbrechen? Wobei sie bezweifelte, dass Wilberts spontane Idee überhaupt so funktionieren würde, wie er sich das dachte. Auf der anderen Seite wollte auch sie nicht, dass all das Geld von Renke einfach in Richtung der Familie Grovenstedt floss. Mia sollte etwas haben, ja, aber nicht alles. Sie wiederholte ihre Frage: »Wie soll ich das machen, Wilbert?«

»Vater hatte eine typische Handschrift, du kennst sie! Du musst das Testament nur abschreiben und einen Satz hinzufügen. Denk an früher, da hast du für ihn Bauanträge ausgefüllt, um …«

»Ja, ja. Das ist alles lange her. Es war nicht rechtens. Und deshalb muss man noch lange nicht …«

»Himmel, seit wann bist du dermaßen moralisch, liebe Frau?« In Wilberts Stimme schwang Sarkasmus mit.

»Hör mal …«, begann Teelke.

»Nein, du hörst mir zu!« Wilbert machte eine Pause. Er war ruppig geworden und gab sich gleich darauf Mühe, versöhnlicher zu wirken: »Wir wären dumm, wenn wir es nicht machen würden. Überleg mal, es ist unser Geld, Vater und ich haben es verdient. Den Grovenstedts geht’s nicht schlecht, wozu ihnen all das Geld in den Rachen werfen? Wer hat Vater all die Jahre unterstützt? Ich ja wohl! Nicht Renke, bei ihm war business as usual angesagt, und Hannes schon gar nicht. Vater und ich …«

»Und ich habe die ganze Zeit über Däumchen gedreht, oder was?«

»Nein, nein.« Unwillkürlich verdrehte Wilbert die Augen, jetzt kam wieder diese Masche. »Du hast auch immer für den Betrieb gelebt, natürlich! Und genau darum geht es ja: Sollen die Grovenstedts das Geld bekommen? Mia hängt eng mit ihrer Familie zusammen – die werden alle davon profitieren, aber dem Unternehmen wird das Geld fehlen!«

Teelke sagte kein Wort, so leicht konnte sie nichts schocken, doch Renkes Tod und Wilberts Forderungen waren im ersten Moment sehr verwirrend.

»Also«, setzte Wilbert fort, »ich laufe morgen in aller Herrgottsfrühe aus. Gleich besorge ich mir irgendwo vier Bier und erzähle dem Hafenmeister, Renke und ich würden ein, zwei Fläschchen trinken und bald schlafen gehen, weil wir wegen der Tide früh raus müssen. Morgen soll es wieder recht rau werden – aber nicht zu rau für die Sophia. Ich werde Kurs auf Wangerooge nehmen und irgendwo dort draußen muss es dann geschehen. Und du gehst an den Safe im Keller, du weißt, wo das Testament liegt. Morgen Abend bin ich zu Hause in Aurich. Dann sehen wir weiter.«

»Weiß Mia etwas von dem Testament?«

»Renke hat mir gesagt, sie wisse nur, dass er seinen Anteil erbt. Sie hat das Testament nie gesehen, wie auch! Und sie hat keinen Schimmer vom Gesamtvermögen der Firma, du allein weißt, dass Arend und ich da gewisse Summen zurückgehalten haben, die auch Renke nicht kannte. Also …«

»Wilbert, ich muss dir noch etwas sagen.«

»Nicht jetzt, Teelke, später!«

»Es ist wichtig!«

»Wichtig sind im Moment allein das Testament und das Geld!«

»Ich war doch neulich beim Arzt, diese Untersuchungen, die gemacht wurden …«

»Nee, Teelke, fang nicht wieder mit irgendwelchen Krankheitsgeschichten an. Renkes Tod geht mir gehörig an die Nieren. Ehrlich, erzähl mir morgen davon, nicht jetzt!«

Teelke standen Tränen in den Augen. Irgendwelche Krankheitsgeschichten. Wenn der wüsste! Sie litt seit Jahren darunter, dass er nicht an sie dachte, für ihre Probleme kein offenes Ohr hatte. Ohne sie hätte er wahrscheinlich manch falsche Entscheidung im Unternehmen getroffen. Aber wenn sie seine Unterstützung brauchte, dann war keine Zeit dafür.

Sie riss sich zusammen. Gut. Keine Rede mehr davon. Das ist mein Bier – also, wie weiter?

Wilbert dachte nur an seinen Plan: »Du magst die Grovenstedts auch nicht, alle, wie sie da sind!«

Teelke sagte zunächst nichts, sie konnte nicht. Wie Wilbert sie gerade abgewatscht hatte, ging ihr gehörig gegen den Strich. Sie versuchte, sich davon zu lösen, in diesem Augenblick klappte es allerdings noch nicht. Sie sagte lediglich: »Mit Mia habe ich mich immer recht gut verstanden.«

Sie erntete ein donnerndes Lachen, das sich mit dem Heulen des Windes vermischte.

»Verstanden? Ich kann mich an allerhand heftige Streitgespräche erinnern, fliegende Türen und grußlose Verabschiedungen, tagelange Sendepausen!« Erneut lachte Wilbert laut auf.

Teelke fand ihren Mann in diesem Augenblick anmaßend, wenn nicht gar widerlich. Und es war nicht das erste Mal, dass sie so empfand.

»Du lachst, wo dein Vater und dein Bruder …«