Fromont Junior und Risler Senior - Alphonse Daudet - E-Book

Fromont Junior und Risler Senior E-Book

Alphonse Daudet

0,0

Beschreibung

Ein Pariser Sittenbild und einer der erfolgreichsten Romane Daudets. Alphonse Daudet war ein französischer Schriftsteller, der sich zunächst als Lyriker und dann als Dramatiker und vor allem Erzähler betätigte.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 456

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Fromont junior und Risler senior

Alphonse Daudet

Inhalt:

Alphonse Daudet – Biografie und Bibliografie

Fromont junior und Risler senior

Erstes Kapitel. Eine Hochzeit bei Véfour.

Zweites Kapitel. Geschichte der kleinen Chèbe. – Drei Haushaltungen auf einem Flur.

Drittes Kapitel. Geschichte der kleinen Chébe. – Glasperlen.

Viertes Kapitel. Geschichte der kleinen Chèbe. – Die Johanniswürmchen von Savigny.

Fünftes Kapitel. Wie die Geschichte der kleinen Chèbe zu Ende ging.

Sechstes Kapitel. Der Empfangstag meiner Frau.

Siebentes Kapitel. Echte Perlen und falsche Perlen

Achtes Kapitel. Die Brauerei der Rue Blondel

Neuntes Kapitel. In Savigny.

Zehntes Kapitel. Sigismund Planus zittert für seine Kasse.

Elftes Kapitel. Die Inventur

Zwölftes Kapitel. Ein Brief.

Dreizehntes Kapitel. Der Rächer.

Vierzehntes Kapitel. Erklärung.

Fünfzehntes Kapitel. »Mamselle Zizi, armes Kind.«

Sechzehntes Kapitel. Im Wartesaal

Siebzehntes Kapitel. Eine »Vermischte Nachricht«.

Achtzehntes Kapitel. Sie hat versprochen, es nicht wieder zu thun.

Neunzehntes Kapitel. Das Märchen vom kleinen blauen Manne.

Zwanzigstes Kapitel. Enthüllungen.

Einundzwanzigstes Kapitel. Verfalltag.

Zweiundzwanzigstes Kapitel. Der neue Commis des Hauses Fromont

Dreiundzwanzigstes Kapitel. Im Café chantant

Vierundzwanzigstes Kapitel. Sidoniens Rache

Fromont junior und Risler senior, A. Daudet

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849652890

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Alphonse Daudet – Biografie und Bibliografie

Franz. Schriftsteller, geb. 13. Mai 1840 in Nimes, gest. 16. Dez. 1897 in Paris, machte während der ersten Jahre seines Pariser Aufenthalts eine herbe Lehrzeit durch, bis der Herzog von Morny ihm als Privatsekretär ein sicheres Brot und die Mittel zu Studienreisen gab. Nach poetischen und dramatischen Versuchen erzielte der junge Schriftsteller seinen ersten durchschlagenden Erfolg mit dem selbstbiographischen Roman »Le petit Chose, histoire d'un enfant« (1868; deutsch u. d. T.: »Der kleine Dingsda«, Berl. 1877). Dann machten die »Lettres de mon moulin« (1869) und namentlich der meisterhafte komisch-satirische Roman »Les aventures prodigieuses de Tartarin de Tarascon« (1872) den Namen A. Daudets immer bekannter, bis er mit dem Roman »Fromont jeune et Risler aîné« (1874; deutsch, Berl. 1876), der über 60 Auflagen erlebte, in die Reihe der gelesensten Schriftsteller Europas vorrückte. Bald lösten nun die Erfolge einander ab mit ».Jack« (1876), »Le Nabab« (1877), »Les rois en exil« (1879), »Numa Roumestan« (1882), »L'Évangéliste« (1883), »Sapho« (1884), »Tartarin sur les Alpes« (1886), »L'Immortel«, eine Satire auf die französische Akademie (1888), »Port Tarascon, dernières aventures de l'illustre Tartarin« (1890), »Rose et Ninette« (1892), »La petite paroisse« (1895) und »Soutien de famille« (1898). Die meisten dieser Werke sind fast gleichzeitig mit dem Original in deutschen Übersetzungen erschienen. D. huldigt der realistischen Richtung, weiß aber dabei seinem Gegenstand immer eine intime, gemütvolle Seite abzugewinnen. Er wird daher oft der Nachahmung Dickens' geziehen; allein er hat vor diesem die künstlerische Gestaltung wie eine bestrickende Virtuosität der Sprache voraus.Seine Erinnerungen hat er niedergelegt in »Trente aus de Paris (A travers ma vie et mes livres)«, »Souvenirs d'un hommes de lettres« (1888) und »Notes sur la vie« (1899).Von den Theaterstücken Daudets sind zu nennen: »L'Arlésienne« (1872, mit musikalischen Einlagen von Bizet), dann die Bearbeitungen seiner Romane: »Fromont«, »Jack«, »Les rois en exil«, »Sapho«, »Numa Roumestan«, sowie die selbständigen Arbeiten: »La lutte pour la vie« (1889), »L'Obstacle« (1890), »La Menteuse« (1892, nach einer Erzählung der »Femmes d'artistes«). Eine auf 18 Bände berechnete illustrierte Ausgabe seiner »Œuvres complètes« begann 1899 in Paris zu erscheinen. Vgl. Gerstmann, A. D., sein Leben und seine Werke (Berl. 1883, 2 Bde.); Léon A. Daudet, Alphonse D. (Par. 1898); B. Diederich, Alphonse D., sein Leben und seine Werke (Berl. 1900). – Seine Gattin Julia, geborne Allard, geb. 1847 in Paris, früher Mitarbeiterin verschiedener Zeitschriften, veröffentlichte »Impressions de nature et d'art« (gesammelte Aufsätze, 1879), »L'enfance d'une Parisienne« (1883), »Fragments d'un livre inédit« (1885), »Enfants et mères« (1889) und »Journées de Femme« (1898), von seiner Beobachtung zeugende Skizzen, deren Stil etwas geziert ist.

Fromont junior und Risler senior

Erstes Kapitel. Eine Hochzeit bei Véfour.

»Madame Chèbe!«

»Nun, lieber Freund?«

»Ich bin so glücklich!«

Es war wenigstens das zwanzigste Mal an diesem Tage, daß der wackere Risler versicherte, glücklich zu sein, und er that es immer mit demselben Ausdruck stiller Rührung, derselben schleppenden, dumpfen, von innerer Bewegung erstickten Stimme, die, um der Gefahr eines plötzlichen Aufschluchzens zu entgehen, nicht laut zu werden wagt.

Risler hätte aber für nichts in der Welt in diesem Augenblicke weinen mögen. Wie unpassend für einen Bräutigam, sich inmitten des Hochzeitsmahles der Rührung hinzugeben! – und doch war er nahe daran. – Sein Glück drohte ihn zu ersticken, schnürte ihm die Kehle zusammen und machte ihm das Sprechen unmöglich. Das einzige, was er thun konnte, war, von Zeit zu Zeit mit bebenden Lippen vor sich hinzumurmeln: »Ich bin so glücklich ... so glücklich!«

Er hatte wirklich alle Ursache dazu!

Seit diesem Morgen fühlte sich der gute Mann wie von einem jener herrlichen Träume umfangen, aus denen man plötzlich mit geblendeten Augen zu erwachen fürchtet; der seinige schien jedoch kein Ende haben zu sollen, denn früh um fünf Uhr hatte er begonnen, und jetzt, um zehn Uhr abends – Punkt zehn, nach Véfours großer Uhr – dauerte er noch immer fort.

Wie viel hatte Risler an diesem Tage erlebt, und wie deutlich standen ihm die geringsten Einzelheiten vor Augen.

Er sah sich selbst im Morgengrauen voll Freude und Ungeduld in seinem Junggesellenzimmer auf und nieder gehen. Nun war er rasiert, hatte den Frack angezogen und zwei Paar weiße Handschuhe in die Tasche gesteckt. Dann kommen die Hochzeitskutschen, und in der ersten, die da unten hält – der mit dem Schimmelgespann, den weißen Zügeln und gelben Damastpolstern – zeigt sich wie eine Wolke der Anzug der Braut. Darauf der Zug in die Kirche – immer zwei und zwei – allen voran die kleine, weiße Wolke, die leicht und schimmernd dahinschwebt ... dann Orgelklang, der Thürhüter, die Rede des Pfarrers, das Kerzenlicht, das auf glänzenden Schmuck und helle Frühlingsgewänder fällt... das Gedränge in der Sakristei, wo die kleine Wolke zwischen den sie Umringenden und Umarmenden verschwindet, während der Bräutigam dem gesamten Großhandel von Paris, der ihm zu Ehren erschienen ist, die Hände schüttelt ... endlich die brausenden Schlußaccorde der Orgel, die um so feierlicher wirken, da das weit geöffnete Portal, dem gleichzeitig Gäste und Klänge entströmen, die ganze Straße an dem Familienfeste teilnehmen läßt ... auch die Bemerkungen der Zuschauer fallen ihm wieder ein; besonders die einer Silberglätterin in großer Lüsterschürze, welche in die lauten Worte ausbricht: »Der Bräutigam ist gerade keine Schönheit, aber die Braut ist ein verwünscht hübsches Geschöpfchen.« Dergleichen muß einen Bräutigam stolz machen.

Und dann das Frühstück in einem mit Draperieen und Blumen geschmückten Arbeitssaale der Fabrik ... die Spazierfahrt in das Bois de Boulogne – ein Zugeständnis für die Schwiegermutter, Madame Chèbe, die als Pariser Kleinbürgerin ohne Fahrt um den See und Besuch des Wasserfalls ihre Tochter nicht für richtig verheiratet gehalten hätte. – Endlich die Rückfahrt zum Diner, während auf dem Boulevard die Laternen angezündet wurden und die Vorübergehenden sich nach der Hochzeit umsahen, dieser rechten, echten, festlichen Hochzeit, die mit lustig trabenden Mietpferden an Véfours Freitreppe vorfährt.

So weit war er in seinem Traum gekommen.

Und nun blickt der wackere Risler, halb betäubt von Müdigkeit und Wohlbehagen, über die große, achtzig Gedecke enthaltende Tafel hin, die oben und unten in Hufeisenform endigt und von lächelnden, vertrauten Gesichtern umgeben ist, in deren Augen er den Abglanz seines eignen Glückes zu sehen glaubt. – Die Mahlzeit ist beinahe zu Ende; eine Flut von Einzelgesprächen wogt um den Tisch. Hier zeigen sich einander zugewendete Profile, dort schwarze Frackärmel hinter einem Korbe voll Asklepias, oder ein lächelndes Kindergesicht über einer Schale mit Fruchteis, und das ganze schön aufgestellte Dessert schmückt die Tafel mit Heiterkeit, Licht und Farbe.

Ach ja, Risler war glücklich! Außer seinem Bruder Franz sah er alle, die er lieb hatte, um sich vereinigt. Vor allem ihm gegenüber Sidonie – gestern noch »die kleine Sidonie«, heute seine Frau. Zum Diner hatte sie ihren Schleier abgelegt und war aus der Wolke hervorgetreten. Ueber der weißen glatten Seide ihres Kleides erhob sich ein hübsches Gesichtchen von matterem, glanzloserem Weiß, und der Kranz ihrer Haare – unter dem andern, zierlich geflochtenen Kranze – schien wie von Lebenslust gekräuselt, hatte etwas von kleinen Federn, die zum Davonfliegen bereit sind; aber ein Ehemann sieht dergleichen nicht.

Nach Sidonie und Franz hatte Risler niemand auf Erden so lieb, wie Madame Georges Fromont– die von ihm »Madame Schorsch« genannt wurde – die Frau seines Compagnons und Tochter des verstorbenen Fromont, seines ehemaligen Prinzipals, den er wie einen Gott verehrte. Sie saß neben ihm, und seine Art und Weise, mit ihr zu sprechen, verriet eine gewisse zärtliche Verehrung. Sie war noch sehr jung, etwa in gleichem Alter mit Sidonie, aber von regelmäßigerer, ruhigerer Schönheit als diese. Heute sprach sie nur wenig; sie fühlte sich unbehaglich in dieser gemischten Gesellschaft, gab sich jedoch Mühe, freundlich und liebenswürdig zu sein.

An Rislers andrer Seite saß Madame Chèbe, die Mutter der Braut, leuchtend und glänzend in ihrem grünen Atlaskleide, das wie ein Harnisch schimmerte. Vom frühen Morgen an strahlten die Gedanken der guten Frau mit der symbolischen Kleiderfarbe um die Wette, und jeden Augenblick sagte sie zu sich selbst: »Meine Tochter heiratet Fromont junior und Risler senior aus der Rue des Vieilles Haudriettes.« Denn ihrer Auffassung nach war Sidonie nicht nur Risler senior angetraut, sondern der ganzen Firma des Hauses, dem ganzen in der Pariser Kaufmannschaft hochangesehenen Compagniegeschäft, und so oft sie sich dieses großen Ereignisses bewußt wurde, richtete sie sich noch höher auf, daß die straff gespannte Seide ihres Harnischs krachte.

Welch ein Gegensatz zu der Haltung ihres Mannes, der um einige Stühle weiter unten saß! Es kommt häufig vor, daß in der Ehe gleiche Ursachen völlig verschiedene Wirkungen hervorbringen. Der kleine Herr Chèbe mit der hohen Utopistenstirn, die glatt und hohl war, wie eine Glaskugel, schien ebenso grimmig zu sein, wie seine Frau glückselig war – was übrigens sein Aussehen kaum veränderte, denn vom ersten Tage des Jahres bis zum letzten pflegte er sich in einem Zustande der Wut zu befinden. Dennoch sah er diesen Abend nicht ganz so jämmerlich und verschossen aus, wie gewöhnlich, trug auch nicht den weiten wallenden Ueberrock, dessen Taschen durch Proben von Oel, Wein, Trüffeln oder Essig aufgebauscht wurden, je nachdem er den einen oder andern dieser Artikel zu vertreiben hatte – sein prachtvoller, neuer, schwarzer Frack war vielmehr ein würdiges Seitenstück zu dem grünen Kleide; aber leider trugen auch seine Gedanken die Farbe seines Anzuges. Warum hatte man ihn nicht, wie sich's gehörte, neben die Braut gesetzt? – Warum den ihm gebührenden Platz Fromont junior gegeben? Und was hatte der alte Gardinois, der Großvater Fromonts, neben Sidonie zu schaffen? – Aber so war es immer: Alles den Fromonts, nichts den Chèbes ... und solche Leute wundern sich noch, wenn es zu Revolutionen kommt!

Ein Glück war es, daß der erboste kleine Mann seine Galle gegen den neben ihm sitzenden Freund ausschütten konnte, den alten verabschiedeten Schauspieler Delobelle, der ihn mit der ruhig-würdevollen Miene seiner bessern Tage anhörte. Mag auch der Künstler durch übelwollende Theaterdirektoren seit fünfzehn Jahren von der Bühne verdrängt sein – immer wird er, sobald es darauf ankommt, die den Umständen entsprechende Haltung zu finden wissen. So zeigte denn auch Delobelle an diesem Abend sein Hochzeitsgesicht, eine helle, ernste, halb lächelnde Miene, die voll Herablassung gegen geringere Leute und ebenso ungezwungen als feierlich war. Man hätte glauben können, daß er angesichts eines gefüllten Schauspielhauses an einem Bühnengastmahl mit Gerichten von Papiermache teilnähme; er sah um so mehr danach aus, eine Rolle zu spielen, da er, seit er bei Tisch saß, in der Ueberzeugung, daß man im Lauf des Abends sein Talent in Anspruch nehmen werde, in aller Stille die Haupt- und Prachtstücke seines Repertoirs wiederholte. Sein Gesicht erhielt dadurch etwas Abwesendes, Zerstreutes, Gemachtes; jenen Ausdruck erkünstelter Aufmerksamkeit, mit dem der Schauspieler auf der Bühne seinem Partner zuzuhören scheint, während er die ganze Zeit über doch nur an seine Antwort denkt.

Seltsam! Auch die Braut hatte einen leisen Anflug dieses Ausdrucks; ihr hübsches, junges Gesicht, das vom Glück erregt, aber nicht erhellt war, verriet heimliches Sinnen, und für Augenblicke glitt, als ob sie mit sich selber spräche, ein flüchtiges Lächeln um ihre Mundwinkel.

Mit diesem halben Lächeln beantwortete sie auch die etwas derben Neckereien des Großvaters Gardinois, der ihr zur Rechten saß.

»Da seh 'mal einer diese Sidonie!« sagte der alte Bursche mit lautem Lachen. »Wenn ich bedenke, daß nicht acht Wochen vergangen sind, seit sie darauf bestand, ins Kloster zu gehen... Na, man weiß ja, was junge Mädchen damit meinen! Bei uns zu Lande sagt man: ›das Kloster des heiligen Joseph, zwei Paar Holzschuhe unter dem Bette‹.«

Die ganze Tischgesellschaft lachte über die plumpen Späße des alten Berryschen Bauers, in dessen Dasein ein kolossales Vermögen die Stelle des Herzens, der Bildung und Güte vertrat – nicht aber die des Verstandes, denn er war schlauer, als alle die Bürgersleute um ihn her. Unter den wenigen Menschen, welche ihm einige Zuneigung einflößten, gefiel ihm die kleine Chèbe, die er noch als ungezogenes Kind gekannt hatte, ganz besonders, und wenn sie – die erst zu kurze Zeit reich war, um großes Vermögen nicht zu verehren – mit ihrem Nachbar zur Rechten sprach, hatte ihr Ton eine unverkennbare Färbung von Achtung und Koketterie.

Dagegen behandelte sie ihren Nachbar zur Linken, Georges Fromont, den Compagnon ihres Mannes, mit einer gewissen Zurückhaltung. Ihr Gespräch mit ihm beschränkte sich auf einen Austausch hergebrachter Höflichkeiten; man hatte sogar eine gewisse erzwungene Kälte in dem Benehmen der beiden finden können.

Plötzlich entstand jene leichte Bewegung unter den Gästen, die das Aufstehen vom Tische anzeigt: Seidenkleider rauschten, Stühle wurden gerückt, begonnene Gespräche rasch beendet, das Lachen abgebrochen, und in diesem halben Schweigen sagte Madame Chèbe, die nach und nach mitteilsam geworden war, sehr laut zu einem Vetter aus der Provinz, der die ruhige Haltung der Braut bewunderte: »Lieber Vetter, was die Kleine betrifft, so weiß man nie, wie ihr eigentlich zu Mut ist!«

In diesem Augenblick standen alle auf und begaben sich in den großen Saal.

Während die Ballgäste in Menge eintrafen, sich mit den Tischgästen vereinigten, das Orchester stimmte, die mit Lorgnetten bewaffneten Tänzer vor den weißen Kleidern der ungeduldigen jungen Damen auf und ab stolzierten, hatte sich der Bräutigam, den die vielen Menschen einschüchterten, mit seinem Freunde Planus – Sigismund Planus, der seit dreißig Jahren Kassierer des Hauses Fromont war – in die kleine, mit Blumen geschmückte Galerie geflüchtet, deren Schlingpflanzentapete den goldnen Säulen Véfours einen Hintergrund von frischem Laub zu geben scheint. Hier waren sie allein; hier konnten sie plaudern.

»Sigismund, lieber alter Junge, ich bin so glücklich!«

Auch Sigismund war glücklich, aber Risler ließ ihm nicht Zeit, es auszusprechen. Nun er nicht mehr fürchtete, vor allen Leuten in Thränen auszubrechen, durfte die Freude feines Herzens ausströmen.

»Bedenke nur, lieber Freund, wie merkwürdig es ist, daß ein so hübsches Mädchen wie sie, mich gewählt hat. Denn schön bin ich nun einmal nicht – das unverschämte Ding von heute morgen brauchte mir dies nicht erst zu sagen... und außerdem bin ich zweiundvierzig Jahre alt... während sie so reizend ist! Sie hatte nur zu wählen, konnte einen Jüngeren, Vornehmeren bekommen, ganz abgesehen von meinem armen Franz, der sie so zärtlich liebt. Aber nein... ihren alten Risler hat sie haben wollen, und merkwürdig genug ist's dabei zugegangen. Seit längerer Zeit schon fand ich sie traurig, ganz verändert und dachte mir wohl, daß Liebeskummer daran schuld sein müsse. Die Mutter und ich zerbrachen uns die Köpfe, um herauszufinden, wer es sein könnte... da kommt eines Morgens Madame Chèbe in mein Zimmer und sagt mir unter Thränen: ›Sie sind's, lieber Freund, den das Kind lieb hat!‹... und ich war es... war es wirklich! Wer hätte das je für möglich gehalten? Und daß mir in demselben Jahre zwei so große Glücksfälle begegnen sollten... Associé des Hauses Fromont und Sidoniens Mann zu werden... Oh!«

In diesem Augenblick schwebte, sich im Walzertakt wiegend, ein Paar in den kleinen Salon. Es war die Braut mit Rislers Associé, Georges Fromont, beide gleich jung und elegant. – Sie sprachen mit leiser Stimme; auch ihre Worte schienen sich dem Walzertakt anzupassen.

»Sie lügen!« sagte Sidonie, die etwas bleich war, aber noch immer ihr früheres, leichtes Lächeln zeigte.

Und er, der bleicher war als sie, gab zur Antwort: »Ich lüge nicht!... mein Onkel hat die Heirat gemacht... er lag im Sterben... Sie waren fort... ich hatte nicht den Mut ›nein‹ zu sagen...«

Risler bewunderte sie aus der Ferne.

»Wie hübsch sie ist und wie gut die beiden tanzen!«

Aber nun bemerkten ihn die Tänzer, trennten sich und Sidonie kam rasch auf ihn zu.

»Du hier?... was soll das bedeuten?... alle suchen dich... warum bist du nicht im Saale?«

Bei diesen Worten band sie ihm mit einer anmutigen Gebärde der Ungeduld die Halstuchschleife anders. Voll Entzücken warf Risler seinem Freunde einen lächelnden Seitenblick zu und in der Wonne, die leichte Berührung der kleinen Hand an seinem Halse zu fühlen, bemerkte er nicht, daß ihre seinen Finger zitterten.

»Gib mir den Arm,« sagte Sidonie dann und lehrte mit ihm in den Saal zurück. Neben ihrer langen, weißen Schleppe sah sein schlecht gemachter, schlecht sitzender Frack doppelt ungeschickt aus; aber ein Frack kann nicht, wie eine Halstuchschleife, in aller Eile umgeformt werden – man muß ihn nehmen, wie er einmal ist. Dennoch hatte Sidonie, während sie im Vorübergehen die sich lächelnd herandrängenden Gäste begrüßte, eine Regung des Stolzes, der befriedigten Eitelkeit; schade nur, daß dieselbe nicht lange anhielt. In einer Ecke des Saales saß eine hübsche junge Frau, die niemand zum Tanze aufforderte und die mit ruhigem Blick, in dem die volle Freude des ersten Mutterglücks leuchtete, das fröhliche Treiben beobachtete. Sobald Risler sie bemerkte, ging er auf sie zu und zwang Sidonie, sich an ihre Seite zu setzen. Daß es »Madame Schorsch« war, braucht nicht erst gesagt zu werden. Mit welcher andern hätte er in so zärtlich-respektvollem Tone gesprochen? und in welche andre Hand als die ihrige die Hand seiner kleinen Sidonie legen und bitten können: »Nicht wahr, Sie werden sie lieb haben? ... Sie sind ja so gut... und Sidonie wird Ihres guten Rates, Ihrer Erfahrung und Menschenkenntnis so sehr bedürfen!«

»Mein lieber Risler,« antwortete Madame Georges, »Sidonie und ich sind alte Freundinnen und haben alle Ursache uns herzlich gut zu sein.«

Dabei suchte ihr ruhiger, offner Blick dem der alten Freundin zu begegnen, aber vergebens.

Völlig unbekannt mit dem Wesen der Frauen und von jeher gewöhnt, Sidonie wie ein Kind zu behandeln, fuhr Risler in demselben Tone fort: »Nimm sie zum Vorbild, Kleine, denn, glaube mir, es gibt in der ganzen Welt keine zweite Madame Schorsch ... ganz das Herz ihres guten Vaters ... eine echte Fromont!«

Sidonie, die mit gesenkten Augen dasaß, verneigte sich stumm, während sie ein leiser Schauer von der Spitze ihres Atlasstiefelchens bis zu dem kleinsten Zweige ihres Orangenblütenkranzes überrieselte. Aber der wackere Risler bemerkte nichts davon. Die eigne Aufregung, der Tanz, die Musik, die vielen Blumen und Lichter ... er war wie berauscht, wie verwirrt; glaubte, daß alle Anwesenden dieselbe Luft voll unaussprechlichen Glückes atmeten, die ihn umgab, und hatte keine Ahnung von dem Neid, der Mißgunst, dem kleinlichen Haß, die alle diese geschmückten Häupter umschwirrten.

Er sah nicht, daß Delobelle, seiner ewigen Paradehaltung müde, die eine Hand in die Weste geschoben, den Hut auf der Hüfte festhaltend, verdrießlich am Kamin lehnte, indes Stunde auf Stunde verfloß, ohne daß ihm Gelegenheit geboten wurde, seine Talente zur Geltung zu bringen. Er sah nicht, wie finster und gelangweilt sich Herr Chèbe zwischen zwei Thürflügeln herumdrückte, während er auf die Fromonts wütender war, als je... Oh, diese Fromonts!... wie breit sie sich bei der Hochzeitsfeier machten! Da waren sie allesamt, mit ihren Frauen, ihren Kindern, ihren Freunden... selbst den Freunden ihrer Freunde... es war, als ob einer von ihnen geheiratet hätte. Wer kümmerte sich um Risler oder die Familie Chèbe? Ihn – den Brautvater – hatte man nicht einmal vorgestellt!... Was den kleinen Mann jedoch am meisten ärgerte, war das Benehmen seiner Frau, die in ihrem glänzenden Goldkäferkleide aller Welt mütterlich zulächelte.

Uebrigens machten sich wirklich, wie bei den meisten Hochzeiten, so auch hier, zwei durchaus verschiedene Strömungen bemerklich, die sich begegneten, ohne sich je zu vermischen, und bald machte die eine der andern vollständig Platz. Die Fromonts, welche den kleinen Chèbe so heftig aufregten und die Aristokratie des Balles bildeten: der Präsident der Handelskammer, der Syndikus der Rechtsanwälte, ein bekannter Schokoladenfabrikant, der als Deputierter im Parlamente saß, der alte Millionär Gardinois – sie alle zogen sich bald nach Mitternacht zurück. Gleich nach ihnen stiegen auch Georges Fromont und seine Frau in ihr Coupé – nun war der Chèbe-Rislersche Teil der Gesellschaft allein und sofort gewann das Fest einen andern, geräuschvolleren Charakter.

Der berühmte Delobelle, der es nicht länger ertrug, daß niemand irgend etwas von ihm verlangte, hatte sich entschlossen, das selbst zu thun und begann, während die Gäste sich am Büffett um Schokoladetassen und Punschgläser drängten, mit donnernder Stimme den Monolog aus Ruy-Blas: »Wohl bekomm's, meine Herrn!« – Auf den Seitenbänken breiteten sich jetzt bescheidene Anzüge mit dem frohen Bewußtsein aus, nun endlich zur Geltung zu kommen, und hin und wieder erlustigten sich ein paar von Ehrgeiz und Eitelkeit erfüllte Ladendiener am Wagnis einer Française. Seit längerer Zeit schon hatte die Braut fort verlangt; endlich verschwand sie mit Risler und Madame Chèbe. Herr Chèbe dagegen, der jetzt zum Vollgefühl seiner Wichtigkeit gelangt war, ließ sich durchaus nicht zum Fortgehen bewegen. Den Teufel auch! – es mußte doch jemand da sein, der die Honneurs machte, und der kleine Mann war ganz dazu geeignet. Er war rot, aufgeregt, laut... beinahe wie ein Rebell. Unten im Hause konnte man es hören, wie er mit Véfours Oberkellner über Politik sprach und die verwegensten Ansichten kundthat.

Inzwischen fuhr der Hochzeitswagen, dessen Kutscher infolge seines benommenen Kopfes die weißen Zügel etwas locker hielt, schwerfällig durch die verödeten Straßen nach dem Marais.

Madame Chèbe war sehr redselig, zählte alle Herrlichkeiten des denkwürdigen Tages noch einmal auf und verweilte mit besonderm Entzücken bei dem Diner, dessen herkömmliche Speisekarte ihr als der höchste Ausdruck kulinarischer Pracht erschien. Sidonie lehnte träumend in der Wagenecke und Risler, der ihr gegenüber saß, sagte zwar nicht mehr: »Ich bin so glücklich!« war aber bis ins Innerste des Herzens davon erfüllt. Einmal versuchte er die kleine weiße Hand zu fassen, die an dem geschlossenen Fenster lag; sie wurde ihm aber hastig entzogen und er blieb unbeweglich, in stummer Anbetung sitzen.

Sie fuhren an den Markthallen vorbei, durch die Rue de Rambuteau, die schon voll Gärtnerkarren stand, kamen an das Ende der Rue des Francs Bourgeois und bogen um die Ecke des Archivgebäudes, um in die Rue de la Braque zu gelangen. Hier hielt der Wagen zum erstenmal. Madame Chèbe stieg aus, trat in ihre Hausthür, die für das prächtige, grüne Atlaskleid viel zu schmal war, und verschwand in dem engen Gange, wo ihre zerdrückten Volants zornig aufrauschten. – Einige Minuten später öffnete in der Rue des Vieilles Haudriettes ein großes, massives Portal, unter dessen zerbröckelndem, adeligem Wappen ein Schild mit der blauen Inschrift: »Tapetenfabrik« angebracht war, seine beiden Flügel, um den Hochzeitswagen einzulassen.

Jetzt schien die Braut, die unbeweglich, wie im Schlaf versunken dagesessen hatte, plötzlich zu erwachen, und wären nicht alle Lichter der weitläufigen Werkstätten und Magazine erloschen gewesen, hätte Risler ein triumphierendes Lächeln in dem hübschen rätselhaften Antlitz aufleuchten sehen. Nun rollten die Wagenräder mit sanfterer Bewegung über den feinen Sand des Gartenweges und hielten vor der Freitreppe eines kleinen, zweistöckigen Hotels. Im Erdgeschoß wohnten die jungen Fromonts, die erste Etage sollte Risler beziehen. Es war ein vornehm aussehendes Haus, durch das der reiche Handelsherr sich für die düstere Straße und das abgelegene Stadtviertel schadlos hielt. Auf der Treppe lag ein Teppich, im Vorzimmer standen Blumen, überall schimmerte weißer Marmor, Spiegelglas und blankes Messing.

Während Risler seine Glückseligkeit durch alle Räume der neudekorierten Wohnung trug, blieb Sidonie allein in ihrem Zimmer. Beim Schein der blauen Ampel, die von der Decke niederhing, warf sie einen Blick in den Spiegel, der sie vom Kopfe bis zu den Füßen wiedergab, einen zweiten auf all den jungen Luxus, der ihr so neu war, und statt sich niederzulegen, öffnete sie das Fenster und sah, auf die Brüstung gelehnt, regungslos in die Nacht hinaus.

Es war hell und mild. Deutlich konnte sie die Fabrikgebäude erkennen, ihre zahllosen Fenster ohne Vorhänge, die großen, glänzenden Scheiben, den hohen, himmelansteigenden Schornstein, dichter vor ihr den kleinen, verschwenderisch ausgestatteten Garten, im Schutz der alten Mauer des ehemaligen Edelsitzes, und ringsumher elende, ärmliche Dächer, dunkle, dunkle Straßen ... Plötzlich schauderte sie zusammen; dort hinten, in der düstersten, häßlichsten aller der Mansarden, die sich, wie von Elend überbürdet, aneinander zu lehnen und zu stützen schienen, war in der fünften Etage ein Fenster weit geöffnet und wie von Nacht erfüllt. Sie erkannte dasselbe sogleich – es war das Fenster des Flurs, an dem ihre Eltern wohnten.

Das Fenster des Treppenflurs.

Welche Fülle der Erinnerungen rief dies Wort in ihr wach ... Wie viele Stunden und Tage hatte sie an diesem feuchten Fenster ohne Brüstung oder Gitter gestanden und nach der Fabrik hinübergeschaut. Noch jetzt glaubte sie dort oben das muntere Gesicht der kleinen Chèbe zu sehen, und in dem Rahmen dieses ärmlichen Fensters zeigte sich ihr das ganze Bild ihres bisherigen Lebens, ihre Kindheit und ihre Jugend – die traurige Jugend eines armen Pariser Mädchens.

Zweites Kapitel. Geschichte der kleinen Chèbe. – Drei Haushaltungen auf einem Flur.

Für arme Pariser Familien, die sich in ihren kleinen Wohnungen beengt fühlen, ist der Treppenflur ein Zimmer mehr – eine Ergänzung der eignen Räume. Von ihm aus dringt im Sommer etwas frische Luft in die Wohnung, er ist das Plauderzimmer der Frauen, der Spielplatz der Kinder.

Wenn die kleine Chèbe zu viel Lärm machte, sagte die Mutter: »Geh, du quälst mich ... spiele auf dem Flur!« und das Kind beeilte sich der Weisung zu folgen.

Dieser Treppenflur lag im obersten Stockwerk eines alten Hauses, in dem man den Raum nicht gespart hatte. Es war ein langer, hoher Gang, nach der Treppe zu durch ein Gitter von Schmiedeeisen abgeschlossen und durch ein großes, breites Fenster erleuchtet, aus dem man Dächer, Höfe, viele andre Fenster und weiterhin den Garten der Fromontschen Fabrik erblickte, der zwischen den riesigen alten Mauern ein grünes Winkelchen bildete.

Obwohl dies alles nicht eben freundlich war, fühlte sich die Kleine hier draußen wohler als in ihrer Stube. Dort war es noch viel trauriger, besonders bei Regenwetter und wenn Ferdinand nicht ausging.

Ferdinand Chèbe, dessen Hirn fortwährend mit neuen Ideen beschäftigt war, die jedoch nie zu irgend einem Ergebnis führten, gehörte zu der Klasse jener Nichtsthuer und Projektenmacher, die in Paris so häufig zu finden sind. Seine Frau hatte sich anfangs von ihm blenden lassen, war aber nur zu bald zur Erkenntnis seiner Nichtigkeit gekommen und hatte sich daran gewöhnt, seine unaufhörlichen Träume von Glück und Erfolg ebenso ruhig zu ertragen, wie die jederzeit darauf folgenden Enttäuschungen.

Von den achtzigtausend Franken Mitgift, die sie ihm zugebracht und die er in thörichten Unternehmungen vergeudet hatte, war ihnen nur eine unbedeutende Rente geblieben, die ihnen, den Nachbarn gegenüber, dennoch ein gewisses Ansehen gab, wozu überdies der aus allen Schiffbrüchen gerettete Kaschmirshawl der Madame Chèbe, die Spitzen ihres Brautkleides und zwei sehr kleine, sehr bescheidene Brillantknöpfe das ihrige beitrugen. Diese Knöpfe, die auf Sidoniens inständige Bitten zuweilen aus der Kommodenschublade hervorgeholt und ihr gezeigt wurden, lagen in einem alten Schmuckkästchen von weißem Samt, das in goldnen, seit dreißig Jahren langsam erblindenden Buchstaben den Namen des Juweliers trug, und bildeten den einzigen Luxus in dem ärmlichen Hauswesen dieser Rentiersfamilie.

Lange, sehr lange hatte Herr Chèbe nach einer Anstellung gesucht, um seine spärlichen Einnahmen zu verbessern. Er hätte sie jedoch, seiner Ausdrucksweise nach, bei einer »Beschäftigung im Stehen« finden müssen, da ihm seine Gesundheit jede sitzende Lebensweise verbot.

Der kleine Mann sollte nämlich in der ersten Zeit seiner Ehe, als er noch in einem großen Handelshause thätig war und für seine Geschäftsreisen einen Einspänner hielt, einen bösen Fall mit dem Wagen gethan haben, und dieses Unglück, von dem er bei jeder Gelegenheit erzählte, mußte seiner Trägheit zur Entschuldigung dienen.

Man konnte nicht fünf Minuten mit Herrn Chèbe zusammen sein, ohne daß er in vertraulichem Tone fragte: »Sie wissen von dem Unfall, der den Herzog von Orleans betroffen hat?« Und auf seinen kleinen, kahlen Schädel schlagend, fügte er hinzu: »In meiner Jugend ist mir etwas Aehnliches widerfahren.«

Seitdem er diesen berühmten Sturz erlitten hatte, verursachten ihm alle Comptoirarbeiten Schwindelanfälle, so daß er sich vom Schicksal auf »Beschäftigung im Stehen« verwiesen sah. So war er denn nacheinander Agent für Wein, Verlagsartikel, Trüffeln, Uhren und viele andre Dinge geworden. Unglücklicherweise wurde er jeder Thätigkeit bald wieder müde, denn keine seiner Stellungen vertrug sich mit den Ansprüchen, die er als ehemaliger Großhändler, Besitzer eines Einspänners zu machen hatte, und da er jede Beschäftigung unter seiner Würde fand, wurde er nach und nach immer unbrauchbarer, wurde zum alten Müßiggänger, der am Bummeln Geschmack fand, zum vollendeten Pflastertreter.

Wie oft werden Künstlern ihre Seltsamkeiten vorgeworfen, ihre angebornen Launen, ihr Abscheu vor dem Herkömmlichen, der sie auf Abwege treibt. Wer aber beachtet alle die lächerlichen Einfälle und Wunderlichkeiten, mit denen der unbeschäftigte Kleinbürger die Leere seines Daseins auszufüllen sucht. Herr Chèbe zum Beispiel hatte bei seinen Ausgängen und Spaziergängen jederzeit einen Zweck. Solange am Boulevard Sebastopol gebaut wurde, mußte er täglich zweimal nachsehen, »ob die Sache im rechten Zuge sei«. Niemand wußte so genau wie er um die besten Läden und ihre Spezialitäten Bescheid, und oft, wenn sich Madame Chèbe darüber ärgerte, ihres Mannes einfältiges Gesicht an die Fensterscheibe gedrückt zu sehen, indes sie sich abmühte, ihre Wäsche auszubessern, schickte sie ihn fort: »Du weißt doch – an der Ecke der Straße Soundso sind die guten Brioches zu haben ... du könntest uns einige zum Nachtisch holen.«

Dann machte sich der Gatte auf den Weg, ging über den Boulevard, hielt an den Läden Maulaffen feil, paßte den Omnibus ab und brachte den halben Tag auf der Straße zu, um zwei Brioches für drei Sous zu erstehen, die er siegesbewußt nach Hause trug, indem er sich erhitzt die Stirne trocknete.

Herr Chèbe schwärmte für den Sommer, den Sonntag, weite Fußwanderungen im Staube von Clamart oder Romainville, für Festlärm und Menschengedränge. Er gehörte zu den Müßiggängern, die während der ganzen, dem 15. August vorangehenden Woche die schwarzen Illuminationslämpchen, die Taxusbäume und Festtribünen in Augenschein nahmen. Seine Frau hatte nichts dagegen – war sie doch nun von dem ewig Lamentierenden erlöst, der sich sonst den lieben langen Tag mit seinen neuen riesenhaften Plänen, seinen unsinnigen Berechnungen, seinen fruchtlosen Rückblicken auf vergangene Zeiten und seiner Wut, kein Geld verdienen zu können, um sie herumdrückte.

Auch sie verdiente keins, aber die gute Frau verstand so gut zu sparen, teilte das wenige, was sie hatte, so wundervoll ein, daß es der Not – so nahe dieselbe ihren beschränkten Verhältnissen zu stehen schien – niemals gelungen war, in ihre drei allezeit sauber gehaltenen Stübchen einzudringen, oder ihre sorgsam ausgebesserten Kleidungsstücke und die alten, von Ueberzügen verhüllten Möbel völlig zu zerstören.

Der Chèbeschen Thür gegenüber, deren Messingklinke mit kleinbürgerlicher Sorgfalt geputzt war, befanden sich zwei andre, kleinere Thüren.

An der ersten war, wie es bei Kunsthandwerkern gebräuchlich ist, mit vier Nägeln eine Visitenkarte befestigt mit der Aufschrift: »Risler, Musterzeichner für Fabriken«. An der andern befand sich ein kleines ledernes Schild, auf dem in goldnen Buchstaben zu lesen war:

»Mmes Delobelle Modeartikel in Vögeln und Käfern.«

Die Delobellesche Thür stand häufig offen und gewährte Einblick in ein großes Zimmer mit Backsteinfußboden, in dem zwei Frauen saßen, Mutter und Tochter – letztere fast noch ein Kind, aber eine so bleich und müde wie die andre und beide mit der Herstellung einer jener zahllosen Phantasiearbeiten beschäftigt, die den sogenannten Pariser Artikel bilden.

Damals waren, als Schmuck für Hüte und Ballkleider, die hübschen kleinen aus Südamerika kommenden Tierchen Mode, die an Glanz und Farbenpracht mit den Edelsteinen wetteifern. In dieser Spezialität waren die beiden Delobelles thätig.

Ein Engrosgeschäft, welches von den Antillen direkte Sendungen erhielt, schickte ihnen uneröffnet lange leichte Kistchen zu, aus denen, wenn der Deckel abgenommen wurde, ein widerlicher Geruch, ein feiner Arsenikstaub aufstieg, während lange Reihen aufgespießter Insekten oder dicht zusammengeschichteter Vögelchen sichtbar wurden, deren Flügel ein Streifen Papier zusammenhielt. Es galt nun, diese kleinen Geschöpfe für den Gebrauch zurechtzumachen, die Käfer auf zitterndem Messingdraht zu befestigen, die Federn der Kolibris aufzubauschen und zu glätten, mit seidenem Faden ein zerbrochenes korallenrotes Beinchen wiederherzustellen, erloschene Augen durch ein paar glänzende Perlen zu ersetzen und Insekten und Vögeln die anmutig-bewegte Haltung lebender Wesen wiederzugeben.

Die Mutter führte, unter Anleitung der Tochter, allerhand Vorarbeiten aus, denn trotz ihrer großen Jugend besaß Désirée den feinsten Geschmack, die Erfindungsgabe einer Fee, und niemand konnte so geschickt wie sie die Vogelköpfchen mit Perlenaugen versehen oder zusammengedrückte Flügelchen wieder ausbreiten.

Infolge eines Unfalls, den sie als Kind erlitten, der aber die feine Anmut ihres regelmäßigen Gesichtchens nicht beeinträchtigt hatte, hinkte Désirée Delobelle, und ihrer gewissermaßen erzwungenen Unbeweglichkeit, ihrer Unlust das Haus zu verlassen, verdankte sie eine aristokratische Hautfarbe und sehr weiße Hände. Mit zierlich geordnetem Haar saß sie Tag für Tag in einem großen Lehnstuhl an ihrem mit Modebildern und bunten Vögeln bedeckten Tische und fand in ihrer heiteren, modisch-eleganten Arbeit eine Art Entschädigung für die Eintönigkeit ihres Daseins.

In Gedanken folgte sie all den kleinen, geflügelten Wesen, die sich aus ihrem stillen Stübchen aufschwangen, um weite Streifzüge durch das Pariser Leben zu machen und bei Festlichkeiten im Lichte der Kronleuchter zu glänzen. Aus der Haltung, welche sie ihren Vögeln und Käfern gab, war deutlich ihre Stimmung zu erkennen; in Tagen des Trübsinns, der Niedergeschlagenheit schienen die spitzigen, vorgestreckten Schnäbelchen und ausgebreiteten Flügel leidenschaftlich hinauszustreben, weit weg von Wohnungen im fünften Stock, eisernen Oefen, Not und Entbehrung; war ihr jedoch wohl zu Mute, so hatten auch alle ihre Tierchen etwas Lebensfrohes, sahen keck und vergnügt, als echte Kinder der Mode, in die Welt hinaus.

Aber mochte Désirée heiter oder traurig sein, ihr Fleiß blieb immer derselbe. Vom Morgengrauen bis tief in die Nacht war ihr Tisch mit Arbeit überladen; dann, wenn beim letzten Tagesschimmer in den umliegenden Fabrikhöfen die Feierabendglocke geläutet wurde, zündete Madame Delobelle die Lampe an und nach einem mehr als bescheidenen Mahle kehrten Mutter und Tochter zu ihrer Beschäftigung zurück. – Sie hatten einen Zweck, eine Aufgabe, welche sie für die Anstrengung langer Nachtwachen unempfindlich machte: die Sorge für den Schauspielerruhm des großen Delobelle.

Seitdem er die Provinzialtheater verlassen hatte, um in Paris aufzutreten, wartete Delobelle darauf, von einem klugen Direktor – jenem Ideal, das die Genies zu entdecken versteht – ebenfalls entdeckt und mit Rollen, die seiner Größe angemessen waren, betraut zu werden. Vielleicht hätte er – anfangs wenigstens – in einem Theater dritten Ranges eine untergeordnete Stellung finden können, aber erniedrigen wollte sich Delobelle nicht.

Lieber warten und kämpfen, wie er sagte. Das Kämpfen verstand er aber folgendermaßen: Morgens in seinem Schlafzimmer, oft sogar schon im Bette, nahm er die Rollen seines ehemaligen Repertoirs wieder durch, und seine Frau und Tochter erbebten, wenn sie hinter dem Verschlage Bruchstücke aus »Antony« oder dem »Kinderarzt« von einer dröhnenden Stimme, die sich mit den tausend Arbeitslauten des großen Pariser Bienenkorbes vereinigte, deklamieren hörten. Nach dem Frühstück ging der Schauspieler bis zum Abend fort, um »seinen Boulevardbesuch zu machen«, das heißt, um mit kleinen Schritten zwischen dem Chateau d'Eau und der Madeleine umher zu spazieren, einen Zahnstocher im Mundwinkel, den Hut etwas auf die Seite geschoben, allezeit wohlgebürstet, glänzend, in guten Handschuhen.

Die Frage des Anzugs war für ihn von großer Wichtigkeit; sie war eine Hauptbedingung seines Erfolgs, ein Köder für den Direktor – jenen wunderbaren, feinsinnigen Direktor in spe – der sich nie dazu verstehen würde, einen schäbig aussehenden, schlecht gekleideten Künstler zu engagieren.

Delobelles Frau und Tochter waren denn auch sorgsam darauf bedacht, es ihm an nichts fehlen zu lassen, und wie viele Käfer und Vögel dazu gehörten, einen so stattlichen Herrn auszurüsten, ist leicht zu ermessen. Der Schauspieler fand die Bemühungen der Seinigen ganz natürlich und hatte das Gefühl, daß Frau und Tochter nicht sowohl um seiner Persönlichkeit willen arbeiteten und entbehrten, sondern für den geheimnisvollen, unbekannten Genius, als dessen Vertreter er sich betrachtete.

Die Verhältnisse der Familien Chèbe und Delobelle besaßen eine gewisse Aehnlichkeit, aber das Leben der letzteren war weniger traurig. Während sich Chèbes in ihrem geringen Einkommen wie festgeschmiedet fühlten und keinerlei Aussicht auf Veränderung hatten, boten Hoffnung und Phantasie der Familie des Schauspielers immer neue, entzückende Ausblicke.

Chèbes wohnten gleichsam in einer Sackgasse, Delobelles dagegen in einer kleinen Straße, die zwar auch eng, schmutzig und düster war und weder Luft noch Licht hatte, durch welche jedoch in nächster Zeit ein großer Boulevard geführt werden sollte. Ueberdies glaubte Madame Chèbe nicht mehr an ihren Mann, indes ihre Nachbarin, kraft des Wunderwortes »Kunst«, an dem ihrigen niemals gezweifelt hatte.

Und doch hatte Monsieur Delobelle nun schon seit vielen, vielen Jahren ganz vergebens seinen Wermut mit Theateragenten, seinen Absinth mit Führern der Claque, seinen Bittern mit Vaudevilledichtern, Dramaturgen und einem berühmten Maschinisten getrunken... die ersehnten Engagements kamen nicht! Ohne jemals eine Bühne zu betreten, hatte der Beklagenswerte allgemach vom ersten Liebhaber zum Charakterspieler, zum Bonvivant, zum edlen Vater, endlich zum alten Schwätzer herabsinken müssen.

Dabei blieb er stehen!

Zwei- oder dreimal hatte man ihm Gelegenheit geboten, seinen Lebensunterhalt als Vorsteher eines Klubs oder Kaffeehauses, oder als Aufseher in einem großen Laden, wie im »Pharus der Bastille« oder dem »Koloß von Rhodus« zu verdienen: um seinen Aufgaben zu genügen, war nichts erforderlich, als gute Manieren – und die, bei allen Göttern! besaß Monsieur Delobelle. Aber heldenmütig hatte der große Mann alle Vorschläge zurückgewiesen.

»Ich habe nicht das Recht, der Bühne zu entsagen,« erklärte er – ein Ausspruch, der im Munde dieses armen Teufels, der seit vielen Jahren die Bretter nicht betreten hatte, von unwiderstehlicher Komik war. Aber die Lachlust verging, wenn man es mit ansah, wie seine Frau und Tochter Tag und Nacht Arsenikstaub einatmeten, oder wenn man von beiden, während sie ihre Nähnadeln am Messingdraht der kleinen Vögel abbrachen, die energische Versicherung hörte: »Nein, nein! ein Delobelle hat nicht das Recht, der Bühne zu entsagen.«

Beneidenswerter Mann, dem der herablassende Blick seiner vorstehenden Augen und die Gewohnheit, im Drama zu gebieten, auf Lebenszeit die Ausnahmestellung eines verhätschelten, bewunderten Märchenprinzen gegeben hatten. So oft er ausging wurde er von den Ladenbesitzern der Rue des Francs Bourgeois – mit der dem Pariser eignen Vorliebe für alles, was dem Theater angehört – ehrfurchtsvoll begrüßt. Er war auch immer so gut angezogen! und dabei so liebenswürdig und gefällig. Ging er doch jeden Samstagabend, er »Ruy Blas«, »Antony«, »Raphael« aus den »Filles de marbre«, »Andrès« aus den »Pirates de la Savonne«, mit einem Pappkasten unter dem Arme nach einem Blumengeschäft der Rue Saint Denis, um die Arbeit der beiden Frauen abzuliefern ...

Aber selbst wenn er sich dazu verstand, einen derartigen Auftrag zu übernehmen, wußte der große Mann eine solche Vornehmheit und natürliche Würde zu bewahren, daß die mit der Berechnung des Delobelleschen Guthabens betraute Kassiererin jedesmal eine gewisse Scheu empfand, diesem vollendeten Gentleman den mühsam verdienten Wochenlohn einzuhändigen.

An diesen Abenden pflegte der Schauspieler nicht zu Hause zu essen – Frau und Tochter wußten das schon. Gewöhnlich traf er auf dem Boulevard einen ehemaligen Kameraden, einen Pechvogel wie er selbst – es gibt deren so viele in seinem traurigen Berufe – dem er im Restaurant und Kaffeehause die Zeche bezahlte. Den Rest des Geldes lieferte er – was ihm hoch angerechnet wurde – getreulich zu Hause ab. Zuweilen nur brachte er seiner Frau ein Sträußchen, Désirée ein unbedeutendes Geschenk – eine Kleinigkeit, ein Nichts. Was kam darauf an? – Ueberdies war es eine Theatergewohnheit ... es ist so leicht, im Melodrama eine Handvoll Goldstücke aus dem Fenster zu werfen.

»Da, Bursche! nimm diese Börse und sage deiner Herrin, daß ich ihrer harre.«

So kam es, daß Frau Delobelle und Désirée, trotz ihres emsigen Fleißes und ihrer ziemlich einträglichen Arbeit, häufig in Verlegenheiten gerieten, besonders in der toten Jahreszeit für Pariser Modeartikel. Ein Glück, daß sie den guten Risler hatten, der immer bereit war, seinen Freunden beizustehen.

Wilhelm Risler, der dritte Mietsmann des Stockwerks, wohnte mit seinem Bruder Franz zusammen, der um etwa fünfzehn Jahre jünger war als er. Diese beiden großen, blonden, kräftigen Schweizer mit der frischen Gesichtsfarbe schienen der Stickluft des düstern Arbeiterhauses etwas von der Gesundheit des Landlebens mitzuteilen. Der ältere war Musterzeichner in der Fromontschen Tapetenfabrik und bezahlte den Unterricht seines Bruders, der – bis er zur Aufnahme in die Ecole centrale tüchtig war – die Chaptalschen Vorlesungen besuchte.

Als Wilhelm nach Paris gekommen war, hatte er in allen Verlegenheiten, welche ihm die Einrichtung seines kleinen Haushaltes verursachte, bei den Nachbarinnen Chèbe und Delobelle Rat, Auskunft und Hilfe gefunden. Für den treuherzigen, etwas schwerfälligen Burschen, der sich durch Aussprache und Aussehen verschüchtert fühlte, war ein solcher Beistand unentbehrlich, und nach kurzer Zeit hatten freundschaftlicher Verkehr und gegenseitige Gefälligkeiten die Gebrüder Risler den beiden Nachbarfamilien gleichsam einverleibt.

Zu allen Festtagen wurde für sie in den beiden Familien mitgedeckt, und es war eine Erquickung für die Heimatlosen, in diesen armen, bescheidenen Haushaltungen ein warmes Eckchen und freundliche Aufnahme zu finden. Die Einnahmen des Musterzeichners, der in seinem Beruf sehr geschickt war, setzten ihn in den Stand, Delobelles beim Quartalschluß gefällig zu sein und bei Chèbes als Großonkel mit Ueberraschungen und Geschenken zu erscheinen, so daß die Kleine, sobald er sich sehen ließ, seine Taschen untersuchte und auf seinen Schoß kletterte.

Sonntags führte er die ganze Gesellschaft ins Theater, und in der Woche ging er beinahe jeden Abend mit Chèbe und Delobelle in eine Brauerei der Rue Blondel, wo er sie mit Bier und Salzbretzeln traktierte. Bier und Salzbretzeln waren seine Leidenschaft.

Er kannte kein größeres Glück, als beim Schoppen zwischen seinen beiden Freunden zu sitzen und ihnen zuzuhören, während er sich nur ab und zu mit einem lauten Auflachen oder einem Kopfschütteln an ihrem Gespräche – gewöhnlich nur ein Ausbruch bitterer Anklagen gegen Welt und Menschen – beteiligte.

Die kindliche Schüchternheit und die deutschen Sprachwendungen, welche er in seinem der Arbeit gewidmeten Leben nicht loszuwerden vermochte, erschwerten ihm den Ausdruck seiner Gedanken. Außerdem flößten ihm seine beiden Freunde zu großen Respekt ein; besaßen sie doch ihm gegenüber den unermeßlichen Vorzug des Müßiggängers vor dem Arbeitenden, und Herr Chèbe, der weniger großherzig war als Delobelle, konnte sich's nicht versagen, ihn das fühlen zu lassen. Er behandelte ihn sehr von oben herab, der edle Herr Chèbe. Seiner Meinung nach war ein Mensch, der wie Risler täglich zehn Stunden lang arbeitet, nachher völlig außer stande, eine vernünftige Ansicht auszusprechen, und wenn der Musterzeichner, der ganz erschöpft aus der Fabrik nach Hause kam, sich gar noch anschickte, auch die Nacht einer dringenden Arbeit zu widmen, war in den Mienen Monsieur Chèbes die tiefste Empörung zu lesen. »Mir sollte man mit derartigen Anforderungen kommen!« rief er, warf sich in die Brust und fügte, indem er Risler mit dem Herz und Nieren prüfenden Blick des Arztes betrachtete, hinzu: »Sie werden es nur zu bald zu einem gehörigen Schlaganfall bringen!«

So grausam war Delobelle nun zwar nicht, aber desto hochmütiger.

»Die Ceder sieht den Rosenstrauch Zu ihren Füßen nicht...«

So übersah Delobelle den guten Risler. Wenn er sich aber zufällig seines Daseins zu erinnern geruhte, hatte der große Mann, während er ihn anhörte, eine ganz besondre Art und Weise, sich zu ihm niederzubeugen und seinen Worten, wie denen eines Kindes, freundlich zuzulächeln. Hin und wieder machte er sich auch das Vergnügen, ihm verblüffende Anekdoten von Schauspielerinnen zu erzählen, oder gab ihm Anstandslehren, oder die Adressen seiner Lieferanten, denn daß ein Mensch, der so viel Geld verdiente, wie ein schäbiger Schulmeister einherging, begriff er nicht. Der gute Risler, der von seiner Unvollkommenheit durchdrungen war, suchte sich durch tausend Aufmerksamkeiten und Gefälligkeiten Verzeihung zu erwirken, wobei er sich selbstverständlich zur höchsten Zartheit verpflichtet fühlte – war er es doch, der beständig Wohlthaten erwies.

Diese drei auf demselben Flur befindlichen Haushaltungen wurden durch das Kommen und Gehen der kleinen Chèbe in beständiger Verbindung erhalten.

Zu jeder Tageszeit schlüpfte sie in das Atelier der beiden Delobelles, sah ihnen bei der Arbeit zu, betrachtete die kleinen Tierchen, und da ihr schon jetzt Putz und Tand mehr am Herzen lagen, als Kinderspiele, bemächtigte sie sich jedes Käfers, der unterwegs einen Flügel verloren, jedes Kolibris, der sein Federkleid beschädigt hatte, um sie als farbigen Schmuck in ihr feines, krauses Haar zu stecken. Désirée und ihre Mutter sahen lachend zu, wie sich die Kleine auf den Fußspitzen hob und sich mit gezierten Mienen und Bewegungen in dem alten, erblindeten Spiegel betrachtete. War sie endlich der Selbstbewunderung müde, so öffnete sie, alle Kraft der Fingerchen aufbietend, die Thür und ging, den Haarputz nicht zu gefährden, stolz und steif über den Flur, um bei Rislers anzuklopfen.

Tagsüber war nur Franz, der Schüler, zu Hause, der über seinen Büchern saß und gewissenhaft an seinen Aufgaben arbeitete. Trat Sidonie ein, so war es freilich damit vorbei! er mußte alles liegen lassen, um diese schöne, mit einem Kolibri geschmückte Dame zu begrüßen; wie eine Prinzessin kam sie ihm vor, die im Collège Chaptal erschien, ihn vom Direktor zum Ehemann zu begehren.

Es machte einen seltsamen Eindruck, den großen hoch aufgeschossenen Jungen mit diesem achtjährigen Mädchen spielen, sich ihren Launen fügen und sie schon jetzt in aller Unterwürfigkeit anbeten zu sehen. Als er sich später ernstlich in sie verliebte, hätte niemand zu sagen vermocht, zu welcher Zeit er damit begonnen habe.

Aber so sehr die kleine Chèbe in beiden Nachbarfamilien verhätschelt wurde, es kam doch immer wieder der Moment, der sie an das Treppenfenster zurückführte. Hier fand sie jederzeit ihre liebste Unterhaltung, einen weiten Horizont und gleichsam eine Vision der Zukunft, zu der sie sich neugierig und furchtlos hinabbeugte – Kinder wissen nicht, was Schwindel ist.

Zwischen den einander zugeneigten Schieferdächern zeigten sich ihr die hohen Fabrikmauern, die Platanenwipfel des Gartens, die hohen Fenster der Werkstätten wie das gelobte Land, wie das Reich ihrer Träume.

Für sie war dies Fromontsche Haus der Inbegriff alles Reichtums.

Der große Raum, den es in diesem, zu gewissen Tagesstunden vom Rauch und Lärm seiner Maschinen ganz erfüllten Winkel des Marais einnahm, die Begeisterung Rislers, seine fabelhaften Berichte über den Reichtum, die Güte und Klugheit seines Prinzipals, hatten die Neugier des kleinen Mädchens erregt, und was sie von dem Wohnhause sehen konnte, die zierlichen Holzjalousieen, das Halbrund der Freitreppe, die Gartenmöbel am Fuße derselben, das große im Sonnenschein glänzende Vogelhaus von weißem Drahtgeflecht mit vergoldeten Stäben, das blaue Coupé, das im Hofe angespannt wurde – alles war ihr ein Gegenstand unaufhörlicher Bewunderung.

Um alle Gewohnheiten des Hauses wußte sie Bescheid: um die Zeit des Läutens, das Fortgehen der Arbeiter, die Lohnzahlungen des Samstags, für die das Lämpchen des Kassierers bis zum späten Abend brannte, die stillen Sonntagnachmittage, wenn die Arbeitssäle leer und die Feuer erloschen waren. Dies tiefe Schweigen brachte ihr die Spiele der kleinen Claire, die mit ihrem Vetter Georges im Garten umherlief, gleichsam näher, und Risler teilte ihr allerlei Einzelheiten mit.

»Zeige mir die Fenster des Salons,« bat das Kind, »und wo Claires Zimmer liegt.«

Risler war entzückt über das lebhafte Interesse an seiner geliebten Fabrik und gab der Kleinen vom Treppenfenster aus genaue Erklärungen über die Einteilung der Gebäude, zeigte ihr die Druckerei, die Säle der Vergolder, der Grundierer, den Zeichensaal, in dem er selbst arbeitete, den Maschinenraum, aus dem die ungeheure Esse aufstieg, deren Rauch alle Mauern ringsumher geschwärzt hatte, ohne zu ahnen, daß ein junges unter einem Nachbardache verborgenes Leben mit allen Wünschen und Gedanken an ihrer keuchenden unermüdlichen Thätigkeit teilnahm.

Eines Tages erlangte Sidonie Zutritt in dies von fern belauschte Paradies.

Madame Fromont, der Risler häufig von der Artigkeit und Klugheit seiner kleinen Nachbarin erzählt hatte, forderte ihn auf, sie zu dem Kinderballe mitzubringen, den sie zu Weihnachten geben wollte. Zuerst wies Monsieur Chébe die Einladung mit aller Entschiedenheit ab. Schon damals waren ihm die Fromonts verhaßt, deren Namen Risler beständig im Munde führte und deren Reichtum ihn demütigte. Ueberdies handelte sich's um einen Kostümball, und Monsieur Chébe – der nicht mit Tapeten handelte – war nicht in der Lage, seine Tochter als Springerin auszustaffieren. Aber Risler redete zu, erklärte sich bereit, alles Notwendige zu liefern, und begann sofort ein Kostüm zu zeichnen.

Es war ein denkwürdiger Abend. Im Chébeschen Wohnzimmer, in dem Stoffe, Stecknadeln und allerlei Putzgegenstände durcheinander lagen, führte Désirée Delobelle die Oberaufsicht über Sidoniens Anzug. Das kleine Mädchen, das im kurzen, schwarz und rot gestreiften Flanellröckchen ungewöhnlich groß erschien, stand gerade und regungslos in der Pracht der Verkleidung vor dem Spiegel und sah wirklich sehr hübsch aus. Das schwarze Samtmieder, das über dem weißen Hemdchen geschnürt war, die schönen, kastanienbraunen, unter dem Strohhute niederhängenden Zöpfe, alle herkömmlichen Attribute eines Schweizer Landmädchens erhielten einen besondern Reiz durch das kluge Gesichtchen der Kleinen und ihr lebhaftes, der Farbenfrische ihres theatralilischen Aufputzes entsprechendes Wesen.

Die ganze Nachbarschaft war herbeigeeilt und erging sich in Ausdrücken der Bewunderung. Während Delobelle gerufen wurde, ordnete Désirée die Falten des Rockes, die Schleifen auf den Schuhen, warf, ohne die Nähnadel aus der Hand zu legen, einen letzten Blick auf ihr Werk und war selbst hocherregt von dem Vorgefühl des Festes, an dem sie, das arme, lahme Kind, nicht teilnehmen sollte. Der große Mann erschien, ließ Sidonie die schöne Verbeugung wiederholen, die er ihr einstudiert hatte, ließ sie gehen, sich setzen, und zeigte ihr noch einmal, wie sie beim Lächeln den Mund nur so weit öffnen dürfe, daß der kleine Finger hineinpaßte... Sehr komisch war die Genauigkeit, mit der die Kleine alles nachmachte. »Sie hat Komödiantenblut in den Adern!« versicherte der alte Schauspieler voll Begeisterung, während der lange Schlingel, der Franz, ohne zu wissen warum, am liebsten in Thränen ausgebrochen wäre.

Was Sidonie betrifft, so hätte sie noch nach Jahr und Tag zu sagen gemußt, welche Blumen die Vorzimmer schmückten, mit welchen Farben die Möbel überzogen waren und welche Tanzmelodie gespielt wurde, als sie den Ballsaal betrat. Der Eindruck, den das Fest auf sie machte, war ein so tiefer, daß sie nichts vergaß, weder die Anzüge, die um sie her wirbelten, noch das Lachen der Kinder, noch die vielen kleinen Füße, die über das glatte Parkett flogen. Für einen Augenblick fiel ihr, während sie auf einem rotseidenen Kanapee saß und von dem Präsentierbrett, das ihr der Diener reichte, zum erstenmal in ihrem Leben ein Glas Sorbett nahm, die dunkle Treppe ein, die zu der engen, dumpfigen Wohnung ihrer Eltern führte, aber sie dachte daran, wie an ein entferntes Land, das sie auf immer verlassen hatte.

Sie fand übrigens allgemeinen Beifall, wurde von allen gelobt und gehätschelt, und Claire Fromont, die wie das Miniaturbild einer in Spitzen gekleideten Cauchoise aussah, machte sie mit ihrem Vetter, Georges Fromont, bekannt, einem prachtvollen Husaren, der sich nach jedem Schritte umdrehte, um seine Säbeltasche zu bewundern.

»Sieh her, Georges,« sagte sie; »dies ist meine Freundin; sie wird jeden Sonntag herkommen, um mit uns zu spielen. Mama hat es erlaubt.«

Und in der fröhlichen Unbefangenheit eines glücklichen Kindes umarmte sie die kleine Chébe mit großer Herzlichkeit.

Endlich mußte geschieden sein ... aber lange noch, in der dunkeln Straße, wo der Schnee unter ihren Füßen zerfloß, auf der dunkeln Treppe, in dem stillen Schlafkämmerchen, wo die Mutter auf sie wartete, waren ihre Augen wie geblendet von dem glänzenden Licht der Gesellschaftsräume.

»War es schön? Hast du dich gut amüsiert?« fragte Madame Chébe mit leiser Stimme, während sie die Haken des glänzenden Kostüms langsam aufmachte.

Sidonie war jedoch so übermüdet, daß sie, ohne zu antworten, im Stehen einzuschlafen schien, schon damals begann sie sich in dem schönen Traume zu wiegen, der ihre ganze Jugendzeit ausfüllte und ihr manche bittre Thräne erpressen sollte.

Claire Fromont hielt Wort. Sidonie kam häufig in den schönen Garten mit den Kieswegen, konnte die Holzjalousieen und das Vogelhaus mit den goldnen Stäben in der Nähe sehen, lernte alle Winkel und Gänge der weitläufigen Fabrikgebäude kennen, spielte an stillen Sonntagnachmittagen hinter den Druckerpressen Verstecken und durfte an Feiertagen mit den Kindern essen. Alle hatten das kleine Mädchen gern, obwohl sie eigentlich für niemand besondre Zuneigung verriet. Solange sie sich inmitten der reichen Umgebung befand, fühlte sie sich glücklich, freundlich gestimmt und gleichsam verschönert; kam sie dann aber zu den Eltern zurück und sah durch die trüben Scheiben des Treppenfensters nach der Fabrik hinüber, so hatte sie unerklärliche Regungen von Bitterkeit und Zorn, obwohl Claire Fromont sie immer als Freundin behandelte.

Zuweilen wurde sie in dem berühmten blauen Coupé in das Bois de Boulogne oder nach den Tuilerien mitgenommen, ja sogar aufs Land, zum Großvater Gardinois, in dessen Schloß bei Savigny-sur-Orge sie hin und wieder eine ganze Woche verleben durfte. Die Geschenke des wackern Risler, der auf die Erfolge seiner Kleinen stolz war, setzten sie in den Stand, immer nett zu erscheinen. Für Madame Chébe war es Ehrensache, und die hübsche, lahme Nachbarin beeiferte sich, den Reichtum an Geschmack und Geschicklichkeit, den sie für sich selbst nicht verwerten konnte, ihrer kleinen Freundin zur Verfügung zu stellen. Monsieur Chébe blieb auch jetzt seiner Abneigung gegen die Fromonts treu und beobachtete diese wachsende Vertraulichkeit mit mißvergnügtem Blick. Der wirkliche Grund dazu war, daß er nicht eingeladen wurde, das gestand er aber nicht, sondern sagte zu seiner Frau: »Siehst du denn nicht, daß deine Tochter jedesmal mit schwerem Herzen von dort zurückkommt und stundenlang am Fenster hinträumt?«

Die arme Madame Chébe war jedoch durch die Leiden ihres Ehestandes unvorsichtig geworden. Sie behauptete, da man der Zukunft nicht sicher sei, müsse man die Gegenwart genießen und das Glück im Fluge festzuhalten suchen, denn nur zu oft wäre die Erinnerung an die fröhliche Kinderzeit der einzige Halt und Trost für das ganze Leben.

Dies eine Mal sollte aber Monsieur Chébe recht behalten.

Drittes Kapitel. Geschichte der kleinen Chébe. – Glasperlen.

Nach zwei bis drei Jahren vertraulichen Verkehrs und gemeinsamer Spiele, in deren Verlauf Sidonie sich an Luxus gewöhnt und das anmutige Wesen eines Kindes aus reichem Hause angenommen hatte, wurde die Freundschaft plötzlich zerrissen.

Vetter Georges, dessen Vormund Monsieur Fromont war, befand sich schon seit längerer Zeit in einem Lyceum, und nun wurde auch Claire, mit der Ausstattung einer kleinen Königin, ins Kloster geschickt, indes gleichzeitig bei Chébes die Rede davon war, Sidonie einen Beruf erlernen zu lassen. Die Freundinnen versprachen, sich lieb zu behalten und sich monatlich zweimal, an den Ausgehsonntagen, zu sehen.

Die kleine Chébe ging denn auch wirklich noch einigemal hinüber, um mit ihren Freunden zu spielen, aber je mehr sie heranwuchs, um so fühlbarer wurde ihr der Abstand, der sie und Claire trennte; auch fand sie für den Salon der Madame Fromont ihre Kleidung gar zu einfach.