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Louisa ist 28 und ihr Leben gleicht einem Bausparvertrag: geplant und geregelt, auf Jahrzehnte hinaus. Herrlich! Doch plötzlich setzt ihr Freund sie vor die Tür. Zum Glück haben Sophie und Paul ein Zimmer frei. Aber in der WG der beiden Rentner geht es alles andere als ruhig zu. Cannabispflanzen auf dem Balkon, wilde Partys - Louisa versucht verzweifelt, ihren penibel strukturierten Alltag aufrechtzuerhalten.
Am meisten jedoch nervt sie Ben von gegenüber, der sie nur noch „Stuffy Lou“ nennt und dummerweise verdammt sexy ist ...
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Seitenzahl: 348
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Louisa ist 28 und ihr Leben gleicht einem Bausparvertrag: geplant und geregelt, auf Jahrzehnte hinaus. Herrlich! Doch plötzlich setzt ihr Freund sie vor die Tür. Zum Glück haben Sophie und Paul ein Zimmer frei. Aber in der WG der beiden Rentner geht es alles andere als ruhig zu. Cannabispflanzen auf dem Balkon, wilde Partys – Louisa versucht verzweifelt, ihren penibel strukturierten Alltag aufrechtzuerhalten.
Am meisten jedoch nervt sie Ben von gegenüber, der sie nur noch »Stuffy Lou« nennt und dummerweise verdammt sexy ist …
Über Jennifer Bentz
Jennifer Bentz, Jahrgang 1980, lebt mit Sohn, Katze und beträchtlicher DVD-Sammlung in der Pfalz. Nach ihrem Studium der Publizistik- und Filmwissenschaften, begann sie zu schreiben. Bei ihren Romanen, Sach- und Drehbüchern geht es immer um Figuren, die mit dem alltäglichen Leben zu kämpfen haben. Dabei steht der Humor im Vordergrund.
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Jennifer Bentz
Frühstück mit Sofie
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Impressum
Harmonie ist der
Friedhof des Gefühls
Martin Walser
Es heißt, wenn die FSK einen Film über dein Leben ohne Altersbeschränkung freigeben würde, machst du was falsch. Wenn das stimmt, habe ich die letzten achtundzwanzig Jahre alles falsch gemacht. Und in etwa einer Stunde werde ich auch noch dafür sorgen, dass es für den Rest meines Lebens so bleibt.
»Sag mal, hast du gerade dieser Frau hinterhergeguckt?«
Ich blicke zum Nachbartisch.
»Geht das jetzt schon wieder los?«, antwortet ein Mann, dessen langer Hals aus einem beigefarbenen Rollkragenpullover herausragt. »Herrgott, Sarah, ich hab doch nur die Toiletten gesucht.«
»Du hast dich sogar nach ihr umgedreht, als sie an uns vorbeigelaufen ist«, erwidert Sarah. Ich kann sie nur von hinten sehen. Sie trägt ein schwarzes Oberteil aus Samt, auf dem sich ihr hellblondes Haar in dicken Strähnen verteilt.
»Weil die Toiletten da drüben sind.« Der Mann deutet mit dem Zeigefinger über seine Schulter.
»Wollen Sie schon mal was zu trinken bestellen?« Ein Kellner mit gezücktem Stift verstellt mir die Sicht. Er hat auffallend viele Schweißperlen auf der Stirn und atmet schwer.
»Gerne, ein Mineralwasser«, antworte ich. »Oder bringen sie gleich zwei. Alles in Ordnung bei Ihnen?«
»Ganz und gar nicht. Mit oder ohne Kohlensäure?«
»Ohne.«
»Schlimmster Tag des Jahres.« Er steckt den Stift hinter sein Ohr.
»Wirklich? Ich dachte, gerade heute machen Sie ein gutes Geschäft.«
»Nicht der Rede wert.« Er wischt sich mit dem Ärmel über die Stirn. »Das Datum setzt Paare unter Druck. Die Frauen sind hysterisch und die Männer mies gelaunt. Viele kriegen Streit und gehen, bevor der letzte Gang serviert ist. Manche vergessen sogar zu bezahlen. Es ist ein Desaster.«
»Oh.« Er tut mir aufrichtig leid. Man kennt schließlich miese Tage im Job. »Bei uns wird es weder Streit noch ein Desaster geben, das kann ich Ihnen versprechen.«
»Na dann.« Er trottet davon.
Steffen und ich sind ein Paar jenseits der Kontrollverluste. Was mich angeht, ich suche und finde grundsätzlich Harmonie. Aus Gesellschaftssicht bin ich ein zweckdienlicher Bürger, zahle meine Steuern, wenn mich jemand beleidigt, sehe ich den Fehler bei mir und seit ich denken kann, ist es mein schlimmster Albtraum, versehentlich aus der Reihe zu tanzen. Als Kind habe ich mich noch nicht einmal getraut, bei Malen nach Zahlen ein Feld mit einer falschen Farbe anzupinseln, selbst wenn ich mir sicher war, dass das Gesamtkunstwerk damit besser aussehen würde. Und was Steffen betrifft, er ist ein Kaltblüter. Ein halblautes »Das gibt’s doch nicht«, wenn er ein Knöllchen an der Frontscheibe seines Autos vorfindet, ist die Spitze seiner Eskalationsfähigkeit. Schließlich bringt das die Bilanz seiner Monatseinnahmen und -ausgaben durcheinander und er muss es in der aktuellen Spalte seines Finanzheftes unter Unvorhergesehene Ausgaben vermerken. So etwas hasst er. Steffen ist der berechenbarste Mensch der Welt, und zusammen sind wir das unaufregendste Paar der Stadt. Samstags gehen wir zu Rewe, sonntags gucken wir Tatort und beim Autofahren hören wir James Blunt, das musikalische Äquivalent zum Bausparvertrag. Seit Jahren befinden wir uns in einer Art herzleeren Leidenschaftslethargie, die anderen langjährigen Paaren bekannt sein dürfte und die man einfach deswegen nicht thematisiert, weil sie einem schlicht peinlich ist – und irgendwie auch nicht wichtig genug.
»Schaffen Sie es nicht, eine Gabel unfallfrei auf eine Serviette zu transportieren …?«
Ich drehe mich um. Am Tisch hinter mir ist Besteck in eine Salatschüssel gefallen, und das Dressing hat das Hemd eines Herrn mit grau meliertem Haar bespritzt. Der Kellner fummelt die Gabel aus dem Salat, der Mann tupft sich die Krawatte ab und die Frau, die ihm gegenüber sitzt, zischelt hinter vorgehaltener Hand: »Helmut, bitte …« Sie ist auf unbeholfene Weise adrett gekleidet, so adrett, wie man eben aussieht, wenn man selten ausgeht, aber an einem Tag wie diesem etwas ganz Besonderes tragen will.
»Du wolltest doch unbedingt, dass wir hierherkommen«, murrt Helmut. Will wohl heißen, der Umstand, dass er gegen seinen Willen hier ist, hat ihm automatisch das Recht verliehen, seine gute Laune zu Hause zu lassen.
»Und du hast immer gesagt, wenn die Kinder groß sind …«, erwidert die Frau, während der schwitzende Kellner davonläuft. »Und heute ist Valentinstag.« Ihr roter Lippenstift beißt sich mit den orangefarbenen Glitzerelementen der Bluse, an der eine goldene Brosche hängt, die so schwer ist, dass sie vornüberkippt und man das Motiv nicht erkennen kann. Mit ihrem rundlichen Körper, den grauen Locken und den weichen Gesichtszügen kann man sie sich gut als fürsorgliche und herzliche Mutter vorstellen.
»Eben, Elke! Das nutzen die Halunken hier doch schamlos aus! Ich will gar nicht wissen, wie hoch die Rechnung wird.« Ich vermute mal, Helmut ist der Prototyp des mies gelaunten Valentinstags-Begleiters, von dem der Kellner gesprochen hat.
»Wir haben noch nicht einmal die Vorspeise gegessen, und du hast schon wieder Angst ums Geld«, sagt Elke und klingt dabei, als wäre sie gar nicht überrascht. Ich drehe mich wieder um. Bei uns gibt es auch nie Überraschungen. Heute macht Steffen mir einen Heiratsantrag. Wieder keine Überraschung. Vor allem, da er den Valentinstag in den letzten fünf Jahren zuverlässig vergessen hat. Dass er mich also ausgerechnet heute Abend in mein Lieblingsrestaurant auf der anderen Rheinseite bestellt hat, ist verdächtig. Sogar so verdächtig, dass es beinahe die Romantikerin in mir kränkt. Aber da diese im Gegensatz zu meiner inneren Pragmatikerin ein Zwerg und noch dazu in ihrer Durchsetzungskraft degeneriert ist, komme ich ausgesprochen gut damit klar. Steffen ist gestern geschlagene fünfundzwanzig Minuten später als sonst nach Hause gekommen und war etwas durch den Wind. Vielleicht hatte er Angst bekommen, dass ich Nein sagen könnte. Das wäre beinahe süß. Oder er hatte gerade die Ringe besorgt. Auf Steffen ist eben Verlass. Da es im Durchschnitt etwa ein Dreivierteljahr dauert, bis man nach dem Antrag heiratet und noch mal ein halbes Jahr, bis man nach der Hochzeit schwanger ist, passt der Zeitpunkt haargenau. In exakt eineinviertel Jahren werde ich nämlich schwanger sein, haben wir asugerechnet, damit die Geburt noch im mütterlichen Durchschnittsalter von neunundzwanzig Jahren stattfindet. Nicht zu spät, aber keinesfalls so früh, dass ich etwas verpasst haben könnte. Zumindest sage ich das, weil man das eben so sagt. Im Grunde habe ich in der Zwischenzeit nicht viel unternommen, um irgendetwas nicht zu verpassen. Man will ja immer mehr rausgehen, mehr reisen, mehr erleben, aber dann bekommt man eine Grippe oder die Wohnung ist schmutzig. Oder die Partyeinladung fällt auf einen Sonntag, und am Montag ist das wichtige Meeting. Und beim Städtetrip könnte das Wetter mies sein. Dann kann man es auch gleich sein lassen. Da ist niemand so deutsch wie ich. An meinen Socken kann man stets den richtigen Wochentag ablesen, und ich habe zehn Regeln, deren Einhaltung sicherstellt, dass mein Leben in meinem Sinne verläuft. Mutig sein bedeutet bei mir, eine neue Kafeesorte auszuprobieren. Und als ich das letzte Mal mein Leben ändern wollte, gipfelte der euphorische Ausbruch in der Anschaffung eines Billy- Regals für unseren Kellerraum, bei dessen Aufbau ich mir den Daumennagel abgehämmert habe. Ich like Facebook-Sprüche wie »Vielleicht sollten wir mal das tun, was uns glücklich macht und nicht das, was das Beste ist« und tue das, was das Beste ist. Und all das ist auch kein Wunder: Ich wurde in das wohlsortierte Leben einer so durchschnittlichen Familie hineingeboren, dass wir, als ich zehn war, die Vorzeigegruppe einer Panelstudie über das Konsumverhalten der deutschen Normfamilie wurden und beinahe täglich Fragen am Telefon beantworten mussten. Im Reihenendhaus mit faltenfreier Bettwäsche und L-förmiger Vorgartenhecke, in die unsere drei Mülltonnen millimetergenau eingepasst waren, wurde ich planmäßig und komplikationslos großgezogen. In unserer Straße einer Wiesbadener Vorstadtsiedlung lebt noch heute fast meine gesamte Familie: die Großeltern gegenüber, Onkel, Tante und mein gleichaltriger Cousin zwei Häuser weiter. Sie alle sind gut angepasste Durchschnittsbürger, im Großen und Ganzen liebenswert und harmlos. Na gut, manchmal streunt mein Opa aus Langeweile durch die Stadt, um Falschparker auf die Straßenverkehrsordnung hinzuweisen und bei anhaltender Reuelosigkeit an die Politessen zu verpetzen. Aber sonst wirklich harmlos. Seltsamerweise besitzt keiner meiner Familienangehörigen einen Gartenzwerg, obwohl die doch als Inbegriff des Spießertums gelten. Ich vermute mal, sie wollen die Welt bewusst an der Nase herumführen. Und ich? Bin vom Baum geplumpst und direkt am Stamm liegen geblieben. Als ich auszog, habe ich den vorbildlich durchgetakteten Alltag von zu Hause übernommen und kam mühelos in der Welt zurecht. Dann kam Steffen, zeitlich vorteilhaft, als ich Mitte zwanzig war, immer gut gekämmt und mit festem Plan für die Zukunft. Unser zweites Date fand in seinem nahezu keimfreien Wohnzimmer statt und als er, nach einer Sturmankündigung des Wetterberichtes, seine Balkonpflanzen zur Sicherheit nach drinnen schleppte, wusste ich, dass wir zusammenpassten. Ich könnte nicht mit jemandem zusammenleben, der nachts Krümel in der Küche hinterlässt, Kleidung über den Badewannenrand hängt oder samstags noch nicht weiß, was er am Sonntag tun will. Deswegen ist Steffen Fluch und Segen zugleich: Wenn zwei zu hundert Prozent unspontane Planungsfreaks aufeinandertreffen, werden sie nicht einfach zu einem Pärchen aus insgesamt zweihundert Prozent, sondern es steigert sich in einer unauflöslichen Symbiose ins Unermessliche. Und so optimieren und verzahnen wir die Abläufe unseres Alltags dermaßen penibel, dass wir um uns herum kaum noch etwas mitbekommen. Man könnte uns als spießig bezeichnen. Oder einfach als harmonisch. Es hat sich eben eingeschliffen. Mir ist bewusst, dass das Leben mit Steffen eher Einklang als Leidenschaft, eher Organisation als Abenteuer verheißt. Aber da eine Ehe, die auf pragmatische Art geschlossen wird, deutlich länger hält als bei einer leidenschaftlichen Spontan-Hochzeit, und ich eine ganze Latte an Langzeitplänen habe, spielt mir das in die Karten. Nur ganz selten wimmert ein unterdrücktes Freiheitsgefühl kläglich aus irgendeinem verschütteten Seelenwinkel, ich schätze das ist normal. Der Alltag kommt mir dann vor wie eine Plastikfolie, die über allem liegt. Wie in einem Geisterhaus, in dem man die Möbel abgedeckt hat: Es ist alles da und doch nimmt es nicht am Leben teil. Bisher dachte ich auch immer, alles würde noch losgehen. Kurz vor Steffens Heiratsantrag sollte ich mir allerdings klarmachen, dass da gar nichts mehr losgeht. Bis auf Eigenheim, Kinder und Teilzeit-Job. Aber das passt zu meinem geradlinigen Weg. Schließlich hat mich niemand gezwungen. Steffen hat mein Faible für Organisation und Ordnung nur noch perfektioniert. Es mag etwas eintönig erscheinen, aber wenn man so darüber nachdenkt, lief doch alles wie am Schnürchen. Und bitte, in welchen Fällen bekäme mein Leben schon einen respektablen FSK-Stempel? Die Drogen müssten ziemlich hart sein, die Sprache obszön, ich müsste jemanden umbringen (aber nicht aus Versehen) oder irgendwelche abgefahrenen Sexualpraktiken beherrschen. Muss das echt sein? Alternativ könnte ich von ein paar Zombies zerhackt werden. Steffen wird ungefähr in einer Viertelstunde hier auftauchen und, wie ich ihn kenne, wird er nach der Vorspeise zum eigentlichen Thema kommen. Ganz in Ruhe natürlich, frei von Pathos und mit dem geradlinig stabilen Ruhepuls eines Kampfbullen – wie immer und bei allem. Im Gegenzug werde ich das Ja weder schreien noch schluchzen und im Anschluss auch nicht hysterisch gackernd im Kreis tanzen – erstens da es in meiner Natur nicht angelegt ist, und zweitens aus Rücksicht auf den nicht besonders stressresistenten Kellner. Ich werde einfach Ja sagen, als hätte er mich gefragt, ob ich die Buntwäsche schon in den Trockner geräumt habe; wir können essen und uns wieder unserem Alltag zuwenden. In einer Stunde wird alles anders sein. Und doch auch nichts.
»Hallo.« Steffen drückt mir einen trockenen Kuss auf die Wange und hängt seinen Mantel über die Stuhllehne gegenüber.
»Ich hab dir schon ein Wasser mitbestellt.«
Steffen nickt und setzt sich. Er wirkt noch immer konfus, wenn ich recht hinsehe vielleicht sogar etwas blasser als sonst. Außerdem ist er tatsächlich zu früh aufgetaucht. Sein Vorhaben scheint ihn regelrecht aus der Fassung zu bringen. Ich lächle.
»Ich muss mit dir reden.«
Ich nicke und lächle noch mehr. Auch wenn ich finde, dass es heute für Steffens Verhältnisse verflixt schnell geht. Ich strecke eine Hand über den Tisch zu ihm. Er tätschelt sie kurz, dann schiebt er sie zurück und nestelt seine Serviette auseinander.
»Ähm …«
»Ja?«
»Cornelia Rabe ist schwanger von mir.«
Das ist die falsche Information. Und nicht mit meiner Lebenswelt kompatibel. Sie kann in keinem der bekannten Programme geöffnet werden, was zum Systemabsturz führt. Mein Hirn geht offline.
»Äh …, äh … was … äh, hast du? Äh … gesagt?«
»Cornelia Rabe ist schwanger von mir.«
So langsam bilden sich neue Synapsen. Heißt das etwa, Steffen ist fremdgegangen?
»Äh …«, stammle ich. Ich glaube, mein Mund steht offen. Mein Steffen, der Leidenschaftslegastheniker? Der selbst Sex innerhalb einer Beziehung mindestens drei Tage im Voraus plant (allerdings nur den ungeplanten, der geplante findet unverrückbar am Samstagabend statt) und jeden Anflug von Romantik oder Spontaneität für eine abnorme Form menschlicher Schwäche hält? Kurz schießen mir noch die Begriffe Missverständnis, Intrige und Samenraub durch den Kopf. Aber egal, wie es dazu gekommen war, sollte es stimmen, wird das Leben, das wir geplant hatten, niemals stattfinden. Mit einem Mal kommt die Information auch in meinem Körper an. Ich springe von meinem Stuhl auf. »Waaaaas?«, schreie ich und stoße gegen den Kellner hinter mir. Ich drehe mich um und er blickt mir in die wahrscheinlich schockgeweiteten Augen.
»War ja klar«, murmelt er und wischt eine Pfütze aus übergeschwapptem Mineralwasser auf seinem Tablett weg.
»’tschuldigung.« Ich setze mich.
»Bin ja Kummer gewohnt.« Der Kellner stellt unsere beiden Wassergläser auf dem Tisch ab, setzt ein depressives Gesicht auf und trottet davon. Ich blicke zu Steffen. Jetzt bin ich wohl diejenige, die blasser ist als sonst.
»Cornelia Ra… Rabe? Die Assistentin von deinem Chef?«
Steffen nickt. Er faltet die Serviette wieder zusammen, dann wieder auseinander. Dabei schaut er zu mir, dann dem Kellner hinterher, schließlich auf die Serviette, und am Ende wandert sein Blick durch den ganzen Raum. So nervös habe ich ihn tatsächlich noch nie erlebt.
»Kannst du … k-k-kannst du mir das irgendwie genauer erklären?«
»Die Abteilungsweihnachtsfeier.«
»Die Abteilungsweihnachtsfeier?«
»Die Abteilungsweihnachtsfeier.«
»Steffen!«
»Ich war betrunken, ach, angetrunken. Ich vertrag doch nichts, ich trink doch nie.«
Das stimmt. Steffen trinkt nur einmal im Jahr, eben bei dieser Abteilungsweihnachtsfeier. Und das auch nur, weil er Angst hat, dass ihn seine Kollegen sonst für einen Freak halten.
»Und Conny hat mir ja schon immer, ich meine, so ein bisschen …«
»So ein bisschen was?« Ich werde zum Satzende hin lauter, sogar sehr laut. Der Kellner, der gerade an einem Tisch auf der anderen Seite des Restaurants beschäftigt ist, dreht sich zu mir um. Meine Lippen formen ein lautloses Sorry. Dann wende ich mich wieder Steffen zu. »Sie hat dir schon immer so ein bisschen gefallen, wolltest du das gerade sagen?«
»Nein! Nachgestellt. Sie hat mir schon immer ein bisschen nachgestellt. Gefallen hat sie mir nicht.«
»Aber das hat dich nicht daran gehindert, mit ihr … Herrgott, wir hatten auch Sex, als du betrunken von der Weihnachtsfeier … Steffen, das ist so ekelhaft!«
Steffen blickt auf die Tischplatte. »So was passiert mir garantiert nicht noch mal! Deshalb hab ich auch nichts gesagt, ich wollte keine schlafenden Hühner … Also … Aber gestern kam sie dann zu mir und hat mir von der Schwangerschaft … also sie hat mir ein Ultraschallbild …«
»Gnade dir Gott, wenn du noch mehr Details auspackst!« Ich springe wieder auf. »Ich glaub’s einfach nicht …« Ich laufe in Richtung Tür, blicke Steffen aber noch an. »Hast du vielleicht eine Ahnung, was jetzt …« Dann spüre ich einen Stoß an meiner Schulter.
»Geht’s noch?« Eine auffällig kleine Frau mit knallroten Locken blickt zu mir auf. Sie trägt ein anthrazitfarbenes Businesskleid und kommt mir irgendwie bekannt vor. Sie reibt sich den Kopf.
»Herrjeh, entschuldigen Sie bitte, ich hatte Sie überhaupt nicht gesehen, ich …«
»Ja, weil Sie rückwärts durch den Raum laufen! Herrgott noch mal! Da würd ich auch …«
»Sag mal, glotzt du der Tussi schon wieder hinterher?«, fragt Sarah am Tisch daneben. Jetzt kann ich sie auch von vorn sehen. Sie ist im Gegensatz zu ihrem Begleiter noch sehr jung.
»Sarah, wenn du so weitermachst, geh ich! Das …«
»Entschuldigen Sie mal!« Die Rothaarige wendet sich an Sarah. »Nur weil Sie offenbar ’ne notgeile Pimmelbirne zum Freund haben, brauchen Sie mich noch lange nicht als Tussi zu bezeichnen!«
»Was bin ich?« Der ohnehin lange Hals des Mannes wächst noch ein Stück weiter aus dem Rolli heraus.
»Was ist denn hier los?« Der Kellner taucht mit seinem Tablett auf.
»Wieso gehen Sie auch alle paar Minuten aufs Klo?« Sarah streckt einen Arm in Richtung der Rothaarigen aus.
»Wieso hab ich mich jetzt zu rechtfertigen?«, gibt diese zurück. »Hatten Sie schon mal ’ne scheiß Blasenentzündung, bei der …«
»Hören Sie mal!«, mischt sich Helmut vom Tisch hinter uns ein. »Ich möchte hier mit meiner Frau einen romantischen Abend verbringen, können Sie sich bitte ein bisschen zusammenreißen?«
»Wie romantisch kann’s denn sein, wenn Sie die ganze Zeit rumnörgeln und sich schon im Vorhinein über die Rechnung beschweren?«, sage ich laut – und wundere mich über mich selbst.
»Da hat die Frau nicht unrecht«, sagt Elke.
»Louisa!«, höre ich Steffens Stimme. »Also bitte! Setz dich hin!«
»Dann kann ich ja auch gehen!« Helmut steht auf und pfeffert seine Serviette auf den Tisch.
»Halt du die Klappe, du hast Conny Rabe geschwängert!« Meine Stimme klingt schrill.
Der Kellner blickt an die Decke. »Lieber Gott, bitte mach, dass es aufhört!«
»Olala, da kommt’s raus«, sagt die Rothaarige mit Blick zu Steffen und wendet sich zum Gehen, während Helmut einen Fünfziger auf den Tisch wirft. »Soll mir noch mal einer sagen, dass ich geizig bin«, murmelt er und stampft hinaus. Steffen blickt mich an. Sarah und ihr Freund schauen ebenfalls zu mir. Die Rothaarige setzt sich ein paar Tische weiter zu einem Mann, der mir ebenfalls bekannt vorkommt. Der Kellner wimmert irgendwas und verschwindet in die Küche. Wie aus dem Nichts taucht die Rothaarige wieder vor mir auf und steckt mir eine Visitenkarte zu. »Falls Sie zu Hause raus wollen, ne? Würd ich ja an Ihrer Stelle empfehlen«, flüstert sie mir zu. »Bei uns im Haus is grad was frei.« Wie in Trance reiche ich ihr im Gegenzug meine Karte aus der Brusttasche meines Jacketts. Sie schnappt danach und verschwindet wieder. Ich blicke auf die Karte. Lea Kronberger, Redaktionsleitung Rheinhessen-aktuell. Jetzt fällt’s mir ein. Und der Mann ihr gegenüber ist Philip Weidmann. Die beiden moderieren die Abendnachrichten. Lustig, dass sie privat ein Paar sind. Ich blicke mich um und habe keine Ahnung, was ich als Nächstes tun soll. Da ich im Improvisieren keinerlei Übung besitze, setze ich mich einfach wieder zu Steffen.
»Louisa, ich …«
»Sei ruhig!«
In irgendeinem Parallelwinkel meines Gehirns wundere ich mich inmitten des ganzen Chaos darüber, dass ich das Bild nicht sehe. Dieses Bild, von dem so viele Menschen reden, wenn der Partner sie betrogen hat, wie er oder sie sich mit einer anderen Person innig herumwälzt. Es taucht nicht auf. Und wenn ich es bewusst nachzeichne, mir Steffen mit Conny Rabe vorstelle, lässt es mich kalt. Mich stört nur, dass unser Plan nicht aufgeht, dass Chaos ausbricht und ich gerade die Kontrolle verliere. Und Steffen? Ist tatsächlich fremdgegangen. Obwohl er Sex für vollkommen überschätzt hält. Kann das Liebe sein?
»O Mann«, sage ich vor mich hin. »Der arme Kellner, ich hab ihm versprochen, dass bei uns keine Katastrophe passiert, und jetzt habe ich …«
»Der arme Kellner?«, unterbricht mich Steffen. »Ich hatte ein einziges Mal was mit einer anderen Frau, Louisa! Ein einziger Fehler in meinem ganzen Leben und sie ist sofort schwanger. Das habe ich nicht verdient!«
»Steffen!« Ich schlage mit der flachen Hand auf die Tischplatte. »Du lädst mich am Valentinstag zum Essen ein und sagst mir, dass du ein Kind mit einer anderen bekommst! Und jetzt willst du Mitleid von mir?«
»Valentinstag?«
***
Das Flugzeug hat sich noch nicht in Bewegung gesetzt. Früher habe ich Fliegen gehasst: Für einen Kontrollfreak wie mich ist es der blanke Horror, keinen Einfluss darauf zu haben, in welchem Aggregatzustand man wieder auf dem Boden ankommt. Seit dem Valentinstag hat sich einiges verändert. Ich blicke auf mein Organisationsbüchlein, das etwa in der Mitte eingerissen ist. Da stehen sie, sauber aufgelistet, meine zehn Grundregeln, an die ich mich seit Jahren akribisch halte. Meine Sitznachbarin dreht den Kopf zu mir, als ich auflache: Als ich am Valentinsabend das Restaurant verlassen hatte, war mir noch nicht einmal im Ansatz bewusst gewesen, dass ich innerhalb kürzester Zeit jede einzelne dieser Regeln brechen würde …
Die erste Grundregel
»Beherrsche dich selbst.«
Meine Koffer waren gepackt, die Umzugskisten geschnürt. Ich hatte sogar mitten in der Nacht meinen Kleiderschrank abgebaut. Es war mittlerweile elf Uhr morgens, ich saß auf einer umgestülpten Getränkekiste und wollte nicht weg. Als das Gespräch am Vorabend angefangen hatte sich im Kreis zu drehen, hatte ich Steffen gebeten, das Restaurant zu verlassen. Er war meiner Bitte sofort nachgekommen, wahrscheinlich war er sogar erleichtert gewesen. Nicht, weil er meine Anwesenheit meiden wollte, sondern weil er nicht wusste, wie er sich in dieser Situation verhalten sollte. So weit kannte ich ihn. Was Gefühlskram anging, war er immer schon etwas unbeholfen gewesen. »Emotionsresistente Arschnase«, hatte Lea Kronberger geschimpft. Mit ihr hatte ich im Anschluss vor dem Restaurant gestanden, auf den Schock ein ganzes Glas Rotwein getrunken und mich zu einem ähnlich folgenschweren Ausbruch hinreißen lassen wie Steffen bei der besagten Abteilungsweihnachtsfeier: Ich hatte mit Lea ausgemacht, heute noch aus der gemeinsamen Wohnung mit Steffen auszuziehen und ab sofort zur WG-Untermiete bei einem Studentenpärchen zu wohnen, das neu bei ihr ins Haus eingezogen war. Lea hatte aufgeregt mit beiden Armen vor meinem Gesicht herumgefuchtelt und mir erklärt, was sie so alles mit Steffen anstellen würde, wäre es ihr Freund. Von öffentlicher Bloßstellung über körperliche Gewalt (im glücklicherweise bagatellisierbaren Bereich) bis hin zu erstaunlich detailliert geplantem Psychoterror war so ziemlich alles dabei. Aber was ich mindestens tun sollte, war, die untreue Sackratte gedanklich beizusetzen und ab sofort mein eigenes Ding durchzuziehen. Ich hatte den Wein viel zu schnell getrunken, und Leas Gesicht und die fuchtelnden Arme waren immer mehr vor meinen Augen verschwommen, irgendwann hatte ich einfach beständig alle paar Sekunden genickt. Nach einem weiteren Glas Wein war ich mit eingestiegen und hatte mich lallend bei Lea über Steffen, mein bisheriges Leben an sich und meine eigene Spießigkeit beschwert. Jede Woche ist gleich, ab und zu ist Weihnachten, und plötzlich ist man alt! Und dass ich nichts, aber auch rein gar nichts zu erzählen hätte, wenn ich dann alt wäre. Oder dass ich noch nie aus Europa und nur selten aus Deutschland rausgekommen war, weil zuerst meine Eltern und danach Steffen der Überzeugung waren, Sparen käme doch immer vor dem Reisen. Das geht ja so nicht weiter, hatte Lea beschlossen, ich glaube, sie hatte dabei sogar mit dem Fuß aufgestampft. Und auf einmal war ich fest davon überzeugt gewesen, dass Conny Rabes Schwangerschaft das Beste war, was mir hätte passieren können, weil ich nun endlich die Möglichkeit haben würde, frei und unabhängig zu werden. Das typische esoterische Gefasel, mit dem man sich eine ungünstige Lebensphase schönredet, um nicht vollends durchzudrehen. Nun aber war der Alkohol aus dem Blut verschwunden, mein Hirn drückte von innen gegen die Schädeldecke, und ich hatte eine pelzige Zunge. Ich wollte mein Leben nicht hergeben. Manchmal Ausbruchsgedanken zu haben und dann wirklich auszubrechen sind doch zwei völlig verschiedene Dinge! Außerdem war mein Alltag gar nicht so leer, unter Alkoholeinfluss dramatisiert man gern mal. Wir hätten ein ruhiges und geregeltes Wochenende vor uns gehabt. Am Samstag hätten der wöchentliche Wohnungsputz und Großeinkauf stattgefunden, am Sonntag hätten wir Steffens Eltern in Kassel besucht – zum Mittagessen wären wir dort und zum Abendessen wieder zu Hause gewesen. Mein Leben war alles andere als leer. Manchmal sogar ziemlich vollgestopft: mit Überstunden, Weiterbildung, Sport und dauernd hatte irgendjemand Geburtstag. Es war doch alles gut. Und solange ich es vermied, viel drüber nachzudenken oder The Clash zu hören, fühlte ich mich auch ganz wohl. Je länger ich zwischen meinen gepackten Sachen saß, desto inständiger wurde mir meine dämliche Lage bewusst: Steffen hatte ich erst am Abend erlaubt wiederzukommen, wenn ich planmäßig mit Sack und Pack ausgezogen war. Lea wollte mich später abholen, meine neuen Mitbewohner warteten bereits in einer Wohnung am Mainzer Gartenfeldplatz auf mich – und ich hatte mich gerade umentschieden. Ich wollte meine Beziehung und meine Pläne nicht aufgeben. Es gab Tausende von Beziehungen, die einen Fehltritt überlebt haben, man konnte sicher daran arbeiten. Ich fragte mich nur, woran genau? Und immer wieder auch, wie es so weit überhaupt hatte kommen können. Die ersten zwei Jahre unserer Beziehung waren gut gewesen, für unsere Verhältnisse sogar vergleichsweise romantisch. Dann war es eben gekommen, wie es immer kommt: Die Jobs hatten uns immer stärker vereinnahmt, abends waren wir erledigt und hatten uns nicht mehr von morgens bis abends umeinander bemüht. Aber das war doch normal. Der Lauf der Dinge. Und da lag auch der Fehler im System: Die Beziehung beenden und eine neue eingehen war keine Lösung, weil es mit dem nächsten Mann auf das Gleiche hinauslaufen würde. Man bräuchte nur wieder eine ganze Zeit lang, bis man nicht mehr zu aufgeregt war, um nebeneinander einschlafen zu können, bis man eine SMS schreiben konnte, ohne zehnmal den letzten Satz umzustellen oder bis es einem egal war, was der andere denkt, wenn man ohne Mascara zum Frühstück erschien. Aber genau da will man doch letztendlich sowieso wieder hin. Das war das Ziel der ganzen Aufregung. Aber Ziele sind eben auch Enden. Man will quasi schnellstmöglich an den Punkt kommen, wo eine Beziehung am Ende ist. Wo steckte in diesem dämlichen Kreislauf der Sinn? Ich griff nach meinem Handy und tippte Leas Nummer ein.
»Ja?«
»Du, ich hab mir das alles noch mal überlegt, also, ich … Ich will doch nicht ausziehen, tut mir leid für den falschen Alarm und eure Umstände, falls ihr schon welche hattet. Und das mit Steffen … also … ach, ich weiß nicht, irgendwie ist es ja auch so, dass ich ihn trotzdem irgendwie … also du weißt schon … Lea, hörst du eigentlich zu? Hallo? Lea?«
»Was?«
»Was meinst du mit was? Ab wann hast du mich nicht mehr verstanden?«
»Ich hab nicht zugehört, wir suchen grade dein Haus … Sophie, schau mal, da, Nummer, äh, Dings, ja, das muss es sein! Louisa, bist du noch dran? Mach uns mal auf, wir stehen vor der Tür!«
»Was?« Ich sprang von der Getränkekiste auf. »Wieso jetzt? Wir hatten doch vierzehn Uhr vereinbart, und es ist gerade mal Viertel nach elf! Und wieso wir?« Lea hatte angekündigt, mich mit dem Technikbus ihres Senders abzuholen, der angeblich jedes zweite Wochenende für irgendeinen Wohnungsumzug zweckentfremdet wurde. »Lea, das, äh, überfordert mich jetzt!«
»Du wirst doch wohl in der Lage sein, einen Türöffner zu bedienen, Herrgott noch mal!«, schrie mir Lea ins Ohr.
»Das meine ich doch nicht, ich … «
»Mach jetzt sofort auf, es ist arschkalt!«
In einer Art Reflex drückte ich auf den Knopf. »Dritter Stock«, sagte ich noch ins Handy, aber Lea hatte bereits aufgelegt. Ich öffnete die Wohnungstür und stellte mich paralysiert in den Türrahmen. Im Erdgeschoss hörte ich bereits Gemurmel, Frauenlachen und Absätze, die auf Treppenstufen klackten. Ich hätte die Tür einfach wieder zuhauen und so tun können, als wäre ich nicht da. Als hätten sich Lea und ihre Begleiter im Gebäude geirrt. Zu dumm, dass ich so ordentlich gewesen war, sogar die Wohnungstür mit Steffens und meinen Vor- und Nachnamen zu beschriften.
»Warum gibt’s hier keinen Aufzug?« Lea bog um die Ecke und kam auf mich zu. Ihre sommersprossigen Wangen glühten. Sie blies sich eine rote Locke aus der Stirn, und in ihrer Hand baumelte eine riesige Axt mit Holzstiel. »Für Leute mit meinen kurzen Beinen, ist das viel zu …«
»Um Himmels willen, wieso hast du eine Axt dabei?«, unterbrach ich sie.
»Manchmal entscheidet man spontan, dass irgendwas zum Sperrmüll soll oder so. Ich bin echt erfahren im Umziehen.« Sie blickte auf die Axt in ihrer Hand. »Man könnte das Ding aber auch als Kriegsbeil benutzen, falls du ein paar von Steffens Sachen vernichten willst, hä? Bock?«
»Lea, das geht zu weit, ich wollte dir sowieso sagen, dass …«
»Hallo erst mal!« Sie fiel mir um den Hals.
»Äh … hi.« Wie ein nasser Sack hing ich in Leas Arm. Als sie sich von mir löste, hielt sie mich noch an den Schultern fest und blickte mich an. »Du siehst fabelhaft aus!«
Das wagte ich zu bezweifeln.
»Sophie ist auch dabei, ich hab dir ja schon von ihr erzählt.« Richtig. Würde ich tatsächlich umziehen, fiel mir ein, wäre Sophie meine neue Mitbewohnerin, die sich demnächst für das erste Semester an der Schauspielschule bewerben wollte. Lea trat zur Seite. Ich hielt inne. Und musste noch mal hinsehen: Sophie sah überhaupt nicht aus wie Sophie. Zumindest nicht wie eine Schauspielschülerin. Und schon gar nicht wie eine aus dem ersten Semester.
»Äh …«, sagte ich. »Äh, aber …« Ich blickte sie an. Sie trug ein langes Strickkleid mit Holzknöpfen, hatte kinnlanges braunes Haar mit vielen grauen Strähnen, weiche Gesichtszüge – und war mindestens sechzig. Sie strahlte mich an, und hinter ihrer Brille erschienen Tausende kleine Lachfalten. Bevor ich sie begrüßen konnte, stand sie bereits vor mir und, während sich Lea an uns vorbei ins Wohnzimmer quetschte, drückte Sophie mich an ihre Brust. »Hallo, Louisa. Louisa, richtig? Das ist ja wirklich schlimm, was dir da passiert ist. Schlimm, schlimm, schlimm.«
Sophie drückte meinen Kopf in ihr Haar, das nach süßem Parfüm roch. Mir fiel noch auf, dass mich zum ersten Mal jemand in den Arm nahm, seit am Vortag meine komplette Welt implodiert war. Und viel zu schnell, um sie zurückzuhalten, schossen mir Tränen in die Augen. Mitten im Hausflur schluchzte ich zusammenhanglose Satzfetzen an die Schulter einer Frau, die ich überhaupt nicht kannte: »Immer gedacht, das wäre …«, »weiß gar nicht, was ich jetzt …«, »und außerdem …«
Sophie tätschelte meinen Hinterkopf.
»Wer bitte beklebt Umzugskisten mit ausgedruckten Inhaltsverzeichnissen?«, rief Lea von drinnen.
Ich riss mich zusammen, löste mich von Sophie und wischte mir mit dem Ärmel über die Augen. »Tut mir leid, normalerweise weine ich nie, ich …«
»Jetzt packen wir erst mal deine Sachen in den Bus, und dann geht’s in dein neues Zuhause«, sagte Sophie. »Da kannst du dich von dem Schock erholen.«
Schon wieder stiegen mir die Tränen in die Augen, aber ich hatte keine Zeit, ihnen nachzugeben. »Hallo, ich heiße Tine«, rief eine Frau, die etwas schwerfällig die letzten Stufen heraufkam. »Ich bin Leas Mitbewohnerin, wir wohnen einen Stock über Sophie und Paul. Du bist Louisa?« Schnell wischte ich mir noch mal über die Augen und nickte ihr zu. Sie war ungefähr in meinem Alter, etwas pummelig und hatte die blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Dass Lea in einer WG lebte, wunderte mich noch immer. Ich hatte immer gedacht, TV-Moderatoren wohnten in einem schicken, vom Sender bezahlten Loft mit persönlicher Assistentin und sprachgesteuerter Sicherheitsanlage. Als ich Lea am Vorabend vor dem Restaurant darauf angesprochen hatte, hatte sie nur gemeint, dass das leider nicht aufs Regionalfernsehen zuträfe und ihre persönliche Assistentin vermutlich ein höheres Gehalt bekäme als sie selbst. Aber sie könne sich das Ganze durchaus sehr gut vorstellen und würde es zeitnah mit ihrem Redaktionsleiter besprechen.
»Ich geh mal Lea helfen.« Sophie tätschelte meine Schulter und wandte sich von Tine und mir ab.
»Halt, ich …« Ich wollte Sophie hinterhergehen, um endlich klarzustellen, dass ich gar nicht ausziehen wollte. Doch bevor ich mich richtig abwenden konnte, fiel mir Tine um den Hals. Das schien mir eine Hausgemeinschaft mit sehr viel Körperkontakt zu sein.
»Da steht dir ein schwerer Umbruch bevor«, sagte Tine, als sie sich wieder von mir löste. »Das kommt sicher erst mal wie ein Schock. Aber rückblickend ist es hundertprozentig genau das, was du jetzt für deinen Lebensweg brauchst, weißt du? Das chinesische Wort für Krise bedeutet gleichzeitig Chance! Letztes Jahr hat sich mein Therapeut erhängt, und mein Freund hat Schluss gemacht, und alles an einem einzigen Tag! Am Ende war das für mich ein Segen, verstehst du?«
Ich blickte sie ratlos an.
»Unbewusst ruft man Veränderungen sogar«, fügte sie an. »Nenn es nicht fremde Gewalt, du bist’s in eigener Gestalt.«
»Nimm’s ihr nicht übel«, schrie Lea aus dem Wohnzimmer. »Sie ist ’ne Therapeutentochter und hat neuerdings noch ’nen Hang zum Buddhismus.«
»Äh, ich … ich weiß nicht so recht, ob ich es gerufen habe, dass mein Freund eine andere schwängert …«
Lea zwängte sich mit einer riesigen Kiste voller Bücher über Unternehmensführung an uns vorbei. »Was liest du eigentlich für ’ne Scheiße?«
»Äh, stopp, also …« Lea blickte auf, als ich mich ihr in den Weg stellte. »Das wollte ich schon vorhin am Telefon sagen, ich hab’s mir anders überlegt, ich will nicht ausziehen. Ich will mit Steffen reden und alles wieder …« Ich spähte über die Schulter nach drinnen zu Sophie, die Trennwände meines Kleiderschrankes aufeinanderstapelte und vor sich hin summte.
»Bist du irre?« Lea ließ die Kiste los und richtete sich auf.
»Ach herrje, du klammerst dich an jemanden, der dich nicht respektiert. Ich war früher genauso.« Tine sah mich aus riesigen Augen an und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Aber du musst so nicht leben. Es gibt Menschen, die dir da helfen können!«
»Was?« Ich reckte den Hals.
»Mein Gott, Louisa!« Lea schüttelte den Kopf. »Lass uns ’ne Voodoo-Puppe mit seinem Arschgesicht nadeln, aber mehr Aufmerksamkeit hat er echt nicht verdient! Was hast du vor, wenn du hierbleibst? Willst du ihm ’ne fröhliche Dreier-Kommune mit seiner Kollegin vorschlagen? Und das Kind einträchtig mit den beiden zusammen großziehen, oder was?«
»Ich … hab noch nicht drüber nachgedacht.«
»Hast du denn eine Ahnung, was deinem zwanghaften Handeln zugrunde liegt?«, fragte Tine dazwischen.
»Meinem was?«
»Oje, du hast das ja noch gar nicht reflektiert, hm.« Tine zog die Augenbrauen zusammen. »Es gibt immer einen Grund für unser aktuelles Verhalten, weißt du? Meistens liegt er in vergangenen traumatischen Erlebnissen verborgen und …«
»Ich denke nicht, dass es einen Zusammenhang zwischen …«
»Natürlich gibt es einen, du kennst ihn nur noch nicht.«
»Lass sie.« Lea lehnte sich an den Türrahmen und seufzte. »Wär doch voll Avantgarde, wenn sie keine psychologische Basis für ihr verkorkstes Handeln hat.«
»Verkorkst?«
»Wo sind die Möbel?« Ein älterer Mann mit blauer Latzhose, bürstenartigem Riesenschnauzer und Werkzeugkasten tauchte vor uns auf.
»Paul, na endlich, komm rein!«, schrie Sophie von drinnen.
»Schrei doch nicht so«, schrie er noch lauter zurück. »n’tach«, sagte er im Vorbeigehen und nickte mir zu.
»N-Nein!«, hörte ich mich sagen, nachdem ich ihm für ein paar Sekunden verdutzt nachgeblickt hatte. Paul drehte sich um. Sophie, die eine weitere Regalplatte in der Hand hielt, blickte auf. »Ich will nicht ausziehen«, platzte es endlich aus mir heraus. »Tut mir leid, dass Sie sich alle so viel Mühe gegeben haben, aber das will ich schon die ganze Zeit sagen.« Ich schluckte und spürte die Blicke der anderen. Langsam senkte ich den Kopf und zog die Schultern nach oben. Wahrscheinlich waren nun alle wütend auf mich. Wenn es darum ging, dass ich etwas falsch gemacht haben könnte und mit Konsequenzen zu rechnen hatte, verfügte ich über eine ausgeprägte Phantasie. In meiner Vorstellung donnerten Sophie, Paul, Lea und Tine nun Werkzeuge und Umzugskisten auf den Boden und sagten mir, dass sie nie wieder etwas mit mir zu tun haben wollten. Auf ihrem Weg nach draußen lachten sie mich aus und fragten sich, wie verzweifelt man eigentlich sein musste, um eine halbe Nacht lang alkoholisiert über Freiheit zu schwadronieren und am nächsten Tag bedürftig zu seinem untreuen Typen zurückzukriechen. Ich schluckte und sah mich um. Es passierte nichts dergleichen. Meine Vorstellung war immer schon so abstrus gewesen, dass sie von der Realität sowieso niemals eingeholt werden konnte – fiel mir ein.
»Lea?« Sophie hielt noch immer eine Regalplatte meines Kleiderschranks in der Hand. »Du hast doch gesagt, sie will umziehen?«
»Will sie ja auch, sie ist nur etwas speziell.«
»Wie bitte?«, fragte ich.
Sophie legte die Regalplatte vorsichtig auf die anderen. »Du, das klingt mir aber gar nicht so. Wir wollen doch niemanden gegen seinen Willen …«
»Es ist ja nicht wirklich gegen ihren Willen!« Lea hob die Hände. »Ihr müsstet mal sehen, was passiert, wenn man ihr eine homöopathische Menge an Alkohol einflößt und …«
»Sollen wir sie jetzt etwa abfüllen, damit sie mitkommt?«, fragte Sophie.
»Was?« Ich hob den Kopf
Lea wandte sich an mich. »Louisa, echt, das ist doch jetzt Kacke! Gib dir ’nen Ruck! Du musst doch sowieso erst mal runterkommen, und er muss erst mal Reue zeigen! So kannst du zwei Katzen mit einer Klappe schlagen!«
»Fliegen«, sagte Tine.
»Genau, du kannst zwei Fliegen mit einer Katze schlagen!«
»Lea, du musst dringend lernen, den Dingen ihren Lauf zu lassen«, sagte Tine. »Wenn sie sich jetzt so entschieden hat, ist es eben noch nicht die richtige Zeit für sie, die Dinge …«
»Bin ich jetzt völlig umsonst hier aufgekreuzt, oder was?« Paul blickte auf seinen Werkzeugkoffer.
»Bleib mir bitte vom Hals mit deinem Alles-kommt-schon-wie-es-soll-Mist, Tine, ich kann es nicht mehr hören«, sagte Lea. »Nur weil du jetzt ein Buch über Achtsamkeit gelesen hast.«
»Und eins über Feng-Shui.« Tine verschränkte die Arme vor der Brust.
»Paul, ich bitte dich, du siehst doch, wie mitgenommen das Mädchen ist.« Sophie blickte zu Paul. »Jetzt sei um Himmels willen nicht so unsensibel.«
»Das wollte ich sowieso noch sagen: Feng Shui verbiete ich dir ab sofort!« Lea fuchtelte mit dem Zeigefinger vor Tines Nase herum. »Wenn du weiter unsere Wohnung umräumst und ungefragt meine Pflanzen entsorgst, mach ich da nicht mit!«
»Wie bitte?« Paul reckte den Kopf in Sophies Richtung. »Da komm ich an meinem freien Tag hierher und muss mich von dir als unsensibel beschimpfen lassen?«
»Palmen mit spitzen Blättern schaffen eine aggressive Stimmung im Wohnzimmer«, sagte Tine zu Lea. »Und davon bringst du ja schon von Natur aus genug mit.«
»Gottchen, Paul, jetzt sei doch nicht so sensibel.« Sophie verdrehte die Augen.
»Willst du mich jetzt auch auf den Balkon stellen, bis ich erfroren bin?«, fragte Lea an Tine gewandt, während Paul sich auf seinen Werkzeugkoffer setzte und die Arme verschränkte.
»Sei nicht albern, du könntest es ja genauso gut mal zu schätzen wissen, was ich in der WG alles für das Allgemeinwohl tue«, sagte Tine. »Menschen, die nach Feng Shui leben, sind nachgewiesenermaßen viel glücklicher.«
»Weil sie die Verantwortung für ihr Scheitern auf den falschen Standort von Möbeln schieben können, Himmelherrgottnochmal«, schrie Lea. »Das nennt man Verblendung!«
»Ich lass mich doch von dir nicht anschreien«, piepste Tine und rauschte an mir vorbei ins Treppenhaus.
»Ich komme mit.« Paul stand auf, schnappte seinen Werkzeugkoffer und folgte ihr.
Lea stand noch immer im Türrahmen, Sophie schüttelte den Kopf. Ich überlegte, was ich sagen könnte, mir fiel aber nichts ein. Und ich musste korrigieren: Meine abstruse Vorstellungskraft konnte doch von der Realität eingeholt werden, und überholt.
***
»Ich muss ja sagen, ich finde es schön, wenn die jungen Leute nicht bei jeder Kleinigkeit alles hinschmeißen.« Sophie saß mir in meinem ausgeräumten Wohnzimmer auf einer Getränkekiste gegenüber. »Eine Beziehung beenden, das geht ganz schnell. Aber zusammen auch mal eine Durststrecke meistern, das kriegen ja heutzutage die Wenigsten hin. Oder, Lea, wie siehst du das?«
»Kann man das essen?« Lea stand vor dem geöffneten Kühlschrank und hielt einen Teller mit einem in Klarsichtfolie verpackten Lasagnerest in der Hand. Ich nickte ihr zu.
»Was ich sagen will, es hat doch auch etwas Romantisches, wenn du deinen Freund so sehr liebst, dass du ihm alles verzeihen kannst.« Sophie strahlte eine solche Gutmütigkeit aus, dass ich es nicht übers Herz brachte, sie anzulügen.
Ich seufzte. »Es liegt nicht an der Liebe.«
»Woran dann?« Sie blickte auf.
»Ich habe einfach keine Lust, mit fast dreißig alleine dazustehen und ganz von vorne anzufangen. Und was die Zukunft angeht, auch wenn es sich vielleicht nach den jüngsten Ereignissen nicht so anhört, aber mit Steffen bin ich da auf der sicheren Seite.«
»Auf der sicheren Seite parken lauter silberne Audi TT.« Lea setzte sich mit ihrem Teller neben uns auf den Boden. Die Hälfte der Lasagne hatte sie bereits auf dem Weg vom Kühlschrank ins Wohnzimmer verputzt.
»Woher weiß ich denn, ob es ohne ihn besser ist? Oder ob ich noch mal jemanden finde? Mal unter uns Frauen, ich bin jetzt auch nicht mehr die Jüngste.«
Sophie blickte mich verwirrt an. »Kannst du mir das irgendwie genauer erklären?«