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Fridi ist alleinerziehend und schafft es nicht mal regelmäßig zum Friseur. Als die Kita streikt, muss sie sich die Notbetreuung mit Karrierefrau Lea und Super-Mama Annette teilen. Und die beiden geraten ständig aneinander. Dabei hat jede der drei Frauen echte Probleme: Fridi wird im Job benachteiligt, während sich Lea und Annette mit besserwisserischen Schwiegermüttern und haushaltsfaulen Ehemännern herumschlagen. Doch die drei raufen sich zusammen und entwickeln einen Schlachtplan. Denn »Mädchen« müssen sich gar nichts gefallen lassen ...
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Seitenzahl: 390
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Fridi ist alleinerziehend und schafft es nicht mal regelmäßig zum Friseur. Als die Kita streikt, muss sie sich die Notbetreuung mit Karrierefrau Lea und Super-Mama Annette teilen. Und die beiden geraten ständig aneinander. Dabei hat jede der drei Frauen echte Probleme: Fridi wird im Job benachteiligt, während sich Lea und Annette mit besserwisserischen Schwiegermüttern und haushaltsfaulen Ehemännern herumschlagen. Doch die drei raufen sich zusammen und entwickeln einen Schlachtplan. Denn »Mädchen« müssen sich gar nichts gefallen lassen …
Über Jennifer Bentz
Jennifer Bentz, Jahrgang 1980, lebt mit Sohn, Katze und beträchtlicher DVD-Sammlung in der Pfalz. Nach ihrem Studium der Publizistik- und Filmwissenschaften, begann sie zu schreiben. Bei ihren Romanen, Sach- und Drehbüchern geht es immer um Figuren, die mit dem alltäglichen Leben zu kämpfen haben. Dabei steht der Humor im Vordergrund.
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Jennifer Bentz
La dolce Kita
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Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Impressum
»Frau Schmitz, wollen Sie auch etwas dazu sagen? Frau Schmiiiihiiiitz!«
»Was?« Fridi schreckte hoch.
»He, bist du grade eingenickt, oder was?«, zischelte Lea vom Platz neben ihr.
»Ähm …« Fridi setzte sich aufrecht hin und blinzelte. Nicht nur die Gruppenleiterin, sondern auch die anderen Eltern im Stuhlkreis schauten sie an. Mit einem Mal war sie hellwach. »Äh … natürlich möchte ich was dazu sagen …« Sie hatte nur keinen Schimmer, worum es gegangen war. Das Blut schoss ihr in den Kopf. Sie blickte zu ihrer Sitznachbarin Lea, die schnell ihr Smartphone wegsteckte und offensichtlich ebenso wenig im Bilde war. Fridi räusperte sich. Zum Glück war dies nicht ihr erster Elternabend, und sie kannte ein paar Floskeln, die, pauschal in jede erdenkliche Kita-Diskussion eingeworfen, immer auf Zustimmung stießen: »Ich finde, das ist jetzt ein Punkt, mit dem man sehr sensibel umgehen muss«, begann Fridi und blickte in die Runde. »Das heißt, wir sollten einen Kompromiss finden, hinter dem wir als Eltern geschlossen stehen können. Aber sicher stimmen wir gleichzeitig darin überein, dass das Wohl der Kinder im Mittelpunkt steht und es damit das Wichtigste ist, aus ihrer Sicht die beste Lösung zu finden. Schließlich wollen wir niemanden übergehen. Also, wie schon gesagt, sehr sensibel.«
Die Eltern im Stuhlkreis starrten Fridi an. Die Gruppenleiterin legte die Stirn in Falten. »Frau Schmitz, es ging darum, ob die Schildkrötengruppe einen zusätzlichen Kleiderhaken an der Garderobe benötigt.«
»Ähm …« Fridi schluckte.
Lea gluckste.
»Ich find ja immer noch, wir ham genuch Haken!«, rief eine beleibte Dame, der sich Fridi, für ihr Einschreiten zu exakt diesem Zeitpunkt, zu Dank verpflichtet fühlte. Die Dame schaute mit einer auffallend tiefen Zornesfalte zwischen den Augen und aufeinandergepressten Lippen in die Runde, während Zeichentrick-Ente Alfred Kwak auf ihrem rechten Stuhlbein in einer Sprechblase fragte: Warum bin ich so fröhlich? So fröhlich, fröhlich, fröhlich? »Was soll die Diskussion überhaupt?«, fuhr die Frau fort. »Ab Montag soll es womöglich einen Kitastreik geben, die meisten Eltern wüssten nicht, wohin mit ihren Kindern, und wir reden hier seit einer Viertelstunde über einen Jackenhaken?«
»Richtig«, warf Lea vom Platz neben Fridi ein. »Wir sollten über den Streik reden.« Da beide zu spät gekommen waren, hatten sie keine Stühle mehr erwischt und saßen außerhalb des Sitzkreises auf einer, laut Beschriftung, Steckspielzeug-Holzkiste für die ganz Kleinen.
»Was für ein Streik?«, flüsterte Fridi Lea zu.
»Wohnst du im Wald?«, zischelte Lea. »Lad mich doch mal an deine Feuerstelle ein. Ich bring was zum Zwitschern mit und ein Notstromaggregat, dann kriegst du sogar die Tagesschau.«
Fridi verschränkte die Arme. Als wüsste sie nicht selbst, dass sie kaum etwas von der Welt mitbekam. Vor Kurzem hatte sie zwar eine Schlagzeile zu einem möglichen Streik in städtischen Kitas überflogen, hatte das Ganze aber nicht besonders ernst genommen – bei schlimmen Dingen denkt man ja immer, man sei nicht betroffen.
»Noch steht nichts offiziell fest«, sagte die Gruppenleiterin. »Sollte es tatsächlich zu einem Streik kommen, wird auch unsere Einrichtung auf unbestimmte Zeit geschlossen bleiben. In diesem Fall werden wir Sie via Handzettel darüber informieren. Eine Notfallbetreuung wäre in diesem Fall nicht organisiert.«
Unter den Eltern brach ein heftiges Getuschel aus.
»Es ist noch nicht mal offiziell.« Fridi sah Lea an. »Also wie hätte ich das wissen sollen?«
»Ich seh’s seit Wochen kommen.«
»Du bist auch Journalistin.« Fridi verdrehte die Augen. Langsam kam die Information bei ihr an. »Wo bitteschön soll ich Hanna morgens hinbringen, wenn die Kita geschlossen bleibt?«
»Das fragst du mich?« Lea riss den Kopf herum. »Guten Morgen, Fridi! Wir wissen selbst nicht, wie es dann gehen soll. Es läuft jetzt schon alles ruckelig. Man muss sich eben Urlaub nehmen, die Großeltern fragen, was weiß ich was.«
Fridi schluckte. Die Großeltern backpackten zurzeit durch Afrika. Oder war es Indien? Und Urlaub war unmöglich. Sie stand beruflich gerade vor dem Aufstieg, auf den sie seit Jahren hingearbeitet hatte. Fridi strich sich ihre halblangen dunkelblonden Haare aus dem Gesicht und starrte durch die offen stehende Tür in den Schildkröten-Nebenraum, in dem mehrere Schlafsäckchen ordentlich aufgereiht auf winzigen Matratzen für den Mittagsschlaf bereitlagen. Sie sprang schon trotz Vollzeitbetreuung Tag und Nacht scheinbar systemlos zwischen Meetings, Kitaschließzeiten und Bügelwäsche hin und her und wusste manchmal nicht, wem gegenüber sie das größere schlechte Gewissen haben sollte – Hanna, die fast jeden Abend als Letzte abgeholt wurde oder ihren Kollegen, weil sie nicht, wie alle anderen, bis lange nach Feierabend im Büro saß.
»… sofern Sie also im Streikfall nicht auf familiäre Ressourcen zurückgreifen können, empfehlen wir Ihnen, sich frühzeitig um Ersatz zu bemühen und Betreuungsgruppen zu gründen. Nun würde ich gerne zum Thema zurückkehren.« Die Gruppenleiterin wandte sich Harald Groll zu, der, wie bei jedem Elternabend in einem asphaltgrauen und fachkundig gebügelten Anzug direkt neben der Gruppenleiterin saß, und das ganze Prozedere mit unsinnigen Diskussionen in die Länge zog. »Herr Groll, wollen Sie vielleicht noch mal erläutern, warum Sie der Meinung sind, wir bräuchten einen zusätzlichen Haken?«
»Sehr gerne«, antwortete er, rückte seinen Schlips zurecht und schlug die Beine übereinander, woraufhin sein rosafarben, mit Lilifee-Motiven beklebtes Stühlchen drohte, nach links zu kippen. »Wobei ich Sie korrigieren muss. Ich bin der Meinung, wir bräuchten mindestens einen zusätzlichen Haken, mehrere wären selbstverständlich besser. Prinzipiell haben wir durch das staatlich zur Verfügung gestellte Kleiderhaken-Kontingent genügend Aufhängemöglichkeiten für den laufenden Betrieb des Tagesgeschäfts vor Ort. Was mir allerdings Sorgen bereitet, sind die Kita-Feste im Herbst und Winter im Hinblick auf das mit einem Familienausflug vergleichbare Erscheinen aller Erziehungsberechtigten. Gesetzt den Fall, dass alle Kinder und alle Eltern gleichzeitig anwesend wären, würde nach meinen Berechnungen mindestens ein Haken fehlen.«
»Das war jetzt echt das Thema?«, flüsterte Fridi Lea zu und schaute auf ihre Armbanduhr. »Der Babysitter kostet mich zehn Euro die Stunde!«
»Leute die Gesetzt den Fall sagen, sagen auch zum Bleistift oder schnakseln anstatt vögeln«, antwortete Lea, und ihr Blick fror ein, während sie Harald Groll anblickte. »O Gott, kannst du dir den Groll beim Sex vorstellen?«
»Psssst.« Fridi legte den Zeigefinger an die Lippen, während Harald Groll mit dem eventuellen Besuch der Großeltern bei Kita-Festen weiterhin für mindestens einen Zusatz-Kleiderhaken argumentierte.
Aber Lea flüsterte mit verstellter Stimme weiter: »Prinzipiell habe ich durch die staatlich zur Verfügung gestellte biologische Aufklärung im Schulunterricht genügend theoretisches Fachwissen für eine umgehende Inbetriebnahme meiner Sexualität erhalten. Was mir allerdings Sorgen bereitet, ist die praktische Umsetzung im Hinblick auf meine, mit einem altersschwachen Schleudertrockner vergleichbare, erotische Ausstrahlung. Gesetzt den Fall, dass ich tatsächlich vorhätte, von der Theorie zur Tat überzugehen, würde nach meinen Berechnungen mindestens ein interessierter weiblicher Gegenpart fehlen.«
»Tzzz.« Fridi stieß Lea in die Seite, konnte ein Kichern aber nicht unterdrücken. »Er wird’s schon hinkriegen, er hat schließlich ein Kind.«
»Dir ist wohl die Ähnlichkeit seiner Tochter mit dem Dietmar aus dem Vodafone-Shop entgangen?«, gab Lea zurück, während die Dame auf dem Entenstuhl zeterte: »Herrschaftszeiten, es ist doch kein Weltuntergang, mal zwei Jacken an einen Haken zu hängen! Abgesehen von dem Streik, würde ich auch gerne mal darüber sprechen, dass offensichtlich einige Eltern der Meinung sind, es wäre okay, kranke Kinder in der Kita abzuliefern. Oder warum breitet sich das Vierundzwanzig-Stunden-Virus ungehindert aus? Und die Hand-Fuß-Mund-Krankheit! Und sämtliche Bronchialinfekte …«
»Was ist eigentlich diese Hand-Fuß-Mund-Krankheit?«, flüsterte Fridi.
»Harmloser Virus.« Lea winkte ab. »Das einzig Wissenswerte: ihn Maul-und-Klauen-Seuche nennen und sich in Anwesenheit einer betroffenen Mutter über seinen eigenen Witz kaputtlachen, kommt nicht gut an, das hab ich getestet.«
Die Gruppenleiterin wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. »Wenn Sie alle einverstanden sind, machen wir eine kurze Pause, vielleicht kommen wir danach zu einer Einigung, ja?«
»Moment, ich …«, begann Fridi, musste aber feststellen, dass die Frage der Gruppenleiterin viel mehr als Feststellung gedacht gewesen sein musste, da sie bereits in großen Schritten den Gruppenraum der Schildkröten verließ. Fridi seufzte und blickte sich um. Lea zückte ihr Handy und scrollte durch ihre WhatsApp-Nachrichten. Harald Groll nestelte an seiner Krawatte herum. Die Dame auf dem Entenstuhl war in irgendein benachbartes meditatives Nirwana abgedriftet und summte mit geschlossenen Augen vor sich hin. Fridi nickte ein paar Eltern zu, die sich auf dem Weg zur Terrasse des Gruppenraums an ihr vorbeiquetschten. Sie lächelte Sabine Matuschek zu, sie war im Elternausschuss. Und seit Fridi der Ruin des Sommerfestes angehängt worden war, weil sie beim rückwärts Einparken die Hüpfburg angefahren hatte, konnte sie ihr Image in der Gruppe schlecht einschätzen. Blieb zu hoffen, dass ihr das Wegnicken von vorhin nicht als Desinteresse ausgelegt würde. Warum schlief sie in letzter Zeit auch immer ein, wenn sie länger als dreißig Sekunden stillsaß? Vor Kurzem war ihr das sogar im Büro passiert, als sie einen Moment warten musste, weil sich ihr Computer nach einem Update neu startete – natürlich war sie umgehend von einem Kollegen überrascht worden. Gut, vielleicht nicht umgehend, sondern eineinhalb Stunden später. Und er hatte sie auch nur durch kräftiges Rütteln aus einem soliden Tiefschlaferlebnis an der Grenze zum Jenseits zurückholen können. Aber man musste ihr zugutehalten, dass sie seit Hannas Geburt kaum eine Nacht ausreichend geschlafen hatte.
»Friderieke, hi, ich hab dir was mitgebracht.« Annette, die Mutter von Hannas Kindergartenfreundin, stand vor ihr. Sie hatte Fridi und Lea im Stuhlkreis schräg gegenübergesessen. »Wir haben gestern den ganzen Nachmittag gebacken, und da wollte Emily der Hanna auch ein paar Kekse schenken.«
»Ach, das ist ja lieb, da wird sie sich aber freuen.« Fridi nahm eine vollbepackte Kekstüte entgegen und lächelte Annette zu. »Wie geht’s dir?«
»Gut, gut, danke«, antwortete Annette. »Jan wurde befördert, und den Kindern geht’s prima.«
»Sie hatte doch gefragt, wie es dir geht«, mischte sich Lea ein, ohne von ihrem Handy aufzublicken. »Aber du bist ja nicht so wichtig, gelle? Wie schön, dass es noch Mütter gibt, die ganze Nachmittage verbacken, um die alten Werte hochzuhalten.«
Fridi riss den Kopf herum und blickte Lea an, aber sie war noch immer in einen WhatsApp-Chat vertieft.
»Danke«, sagte Annette. »Wie freundlich.«
»Ich mein`s aber nicht so«, murmelte Lea, erneut ohne aufzublicken.
»Als ob ich das nicht wüsste«, gab Annette zurück.
Fridi sah von einer zur anderen »Ihr kennt euch?«
»Von der Schule«, fügte Annette an. »Und vom Studium.«
»Das du ja wohl nicht gebraucht hättest«, meinte Lea.
»Darüber diskutiere ich nicht.«
»Nein, wozu sich den Kopf zerbrechen, wenn man ein Nudelholz zu Hause hat«, sagte Lea.
»Was ist denn gegen ein Nudelholz einzuwenden?« Fridi war irritiert.
»Lea ist zu emanzipiert, um ein Nudelholz zu besitzen.« Annette winkte ab. »Und zu intolerant, um andere ungestraft ein Nudelholz besitzen zu lassen. Bestimmt hält sie gleich einen Vortrag über die Bedeutung des Nudelholzes als symbolisches Wahrzeichen der weiblichen Unterdrückung durch die Jahrhunderte.«
»Siehst du?« Lea deutete mit ausgestrecktem Arm auf Annette. »Ein scharfzüngiges Luder! Sie hat schon an der Journalistenschule ständig Preise für ihre Texte bekommen. Aber statt die Welt zu verändern, wollte sie ja lieber dauerschwanger werden, das Studium abbrechen und es als Arbeit bezeichnen, morgens zwei Stündchen bei einem Anzeigenblättchen zu tippen und ansonsten in ihrer Oberstadt-Villa die Teppichfransen glatt zu streichen.«
Fridi blickte Annette an. Sie wirkte gar nicht wie eine akademische Überfliegerin, sondern viel eher wie eine Frau, die sich seit Anbeginn der Zeit auf ihren Einsatz als Mutter vorbereitet hatte. Sie war immer die Ruhe selbst und von oben bis unten praktikabel ausgestattet: Khaki-Hosen mit vielen Taschen, pflegeleichter Igel-Haarschnitt und, als Gipfel der Praktikabilität, hatte sie immer ihren Rucksack dabei. Ob im Supermarkt, auf dem Familiengeburtstag oder zu Hause, Annette war grundsätzlich für jeden noch so unerwarteten Ausnahmefall gerüstet, hatte aber trotz allem immer die Hände frei für ihre Kinder. Fridi und Hanna hatten auf dem Spielplatz schon mehrfach davon profitiert, dass Annette, wo auch immer sie auftauchte, sich und die Umwelt mit Windeln, abgekochten Schnullern, Bauchweh-Tröpfchen oder Heftpflastern mit Kikaninchen-Motiven versorgen konnte. Kennengelernt hatte Fridi Annette, als ihr im ersten Kindergartenjahr fünf Minuten vor dem Kuchenbasar zugunsten der neuen Ausstattung für den Turnraum eingefallen war, dass man zur Veranstaltung tatsächlich einen Kuchen mitbringen sollte. Annette hatte ihr eine ihrer selbstgebackenen Bio-Erdbeer-Dinkel-Torten abgetreten und gegenüber dem Elternausschuss auch noch glaubhaft versichert, sie hätten einfach nur das gleiche Rezept gehabt. Fridi blickte von Annette zu Lea.
»Habt ihr irgendwie Zoff?«, fragte Fridi.
»Ach, Quatsch«, erwiderte Annette. »Lea verurteilt mich nur. Mich und mein Leben. Komplett.«
»Das stimmt überhaupt nicht!« Jetzt blickte Lea doch auf. »Ich verurteile dich und dein Leben … nur ein bisschen.«
»Lass mich doch einfach machen, was ich will«, keifte Annette.
»Tu ich ja.« Lea hob die Schultern. »Aber man wird ja wohl noch ungefragt seine Meinung äußern dürfen.«
Lea wiederum hatte Fridi bei Hannas erstem Martinsumzug kennengelernt. Zum Laternen-Bastelnachmittag hatte sie es nicht in die Kita geschafft, und so hatten alle Kinder außer Hanna selbstbemalte Laternen dabeigehabt. Fridi hätte am liebsten kehrtgemacht – bis ihr Leas Zwillinge über die Füße gestolpert waren, mit den gleichen Fertiglaternen aus dem Supermarkt, wie Hanna eine gehabt hatte, nur waren die der Zwillinge noch viel ramponierter gewesen.
»Den Kindern ist es vollkommen egal, also scheiß drauf«, hatte Lea gesagt. »Es ist nur echt das Letzte, dass hier kein Umtrunk für die Eltern organisiert wird. Man muss sich echt um jeden Scheiß selbst kümmern.« Dann hatte sie Glühwein aus einer Thermoskanne in zwei Pappbecher gegossen und mit Fridi angestoßen.
»Wie geht’s dir denn, Friderieke?« Auf ihrem Rückweg von der Terrasse blieb Sabine Matuschek vor Fridi stehen. Offensichtlich hatte sie das Hüpfburg-Dilemma verarbeitet.
»Ich …«, begann Fridi.
»Was hältst du denn von der Sache mit dem Streik?«, unterbrach sie Fridi.
»Ich …«, begann Fridi erneut.
»Das ist doch eine schöne Gelegenheit, mal die Dinge mit den Kindern zu unternehmen, die man sonst nie tun würde«, erzählte Sabine. »Wir fahren nach Sylt und richten unser Ferienhaus neu ein, bleibt nur zu hoffen, dass das Wetter mitspielt. Und ihr?«
»Ich muss arbeiten«, sagte Fridi.
»Oh, das ist natürlich ungünstig.« Sabine wandte sich zum Gehen und deutete auf ihren Platz im Stuhlkreis. »Ich setz mich mal wieder.«
»Pissnelke«, wisperte Lea, als Sabine verschwunden war.
»Wieso sagst du’s nicht laut?«, fragte Annette. »Du bist doch sonst nicht so zurückhaltend.«
Fridi blickte zu Lea. Man konnte von ihr halten, was man wollte, aber unehrlich oder subtil war sie wirklich nicht.
»Sie ist die Frau unseres neuen Investors, was soll ich machen.« Lea hob die Schultern. »Mein Therapeut hat mir empfohlen, es mir nicht mit Leuten zu verkacken, die wichtig sein könnten.«
»Ist ein Fuchs, dein Therapeut«, meinte Annette.
»Fridi, du bist so still«, sagte Annette. »Alles okay?«
»Ja … nee … ach«, antwortete Fridi. »Ich mach mir Sorgen um diesen Streik. Falls es wirklich dazu kommt, hätte ich niemanden, der mir helfen könnte. Und Urlaub nehmen wäre unmöglich, eigentlich müsste ich sogar an den Wochenenden schuften.«
»Sei froh, dass du nicht noch irgendein Ferienhaus neu einrichten musst«, sagte Lea.
»Wie wär’s, wenn du deine Chefin einfach mal nett fragst, ob es im Streikfall möglich wäre, dass du …«, begann Annette.
Fridi lachte laut auf, dann sah sie in Annettes Gesicht und verstummte. »Ach so, sorry, ich dachte, das sei ein Witz, aber du kennst ja meine Chefin nicht.« Dann schaute Fridi von Annette zu Lea und legte die Stirn in Falten. »Wie wär’s denn, wenn wir drei im Fall der Fälle eine Betreuungsgruppe gründen würden? Ich meine, wir …«
»Nein!«, sagte Annette, bevor Fridi ausgeredet hatte, während Lea: »Auf gar keinen Fall!«, sagte.
»Warum denn nicht?« Fridi blickte zwischen den beiden hin und her. »Ihr seid die Einzigen, die ich hier mag und denen ich trauen würde. Die Kinder kennen sich aus der Gruppe, und ihr kennt euch sogar noch untereinander. Besser ginge es doch gar nicht! Bräuchtet ihr denn keinen Notfallplan?«
»Doch«, antwortete Lea. »Aber der Umstand, dass wir uns kennen, hält uns grade davon ab, so was zu tun.«
Annette nickte. »Das würde ständige Diskussionen geben.«
»Wir haben sehr unterschiedliche Ansichten, was den Umgang mit Kindern betrifft«, sagte Lea. »Oder sogar welche Spielsachen erlaubt sind und welche nicht.«
»Geht’s jetzt schon wieder um die Sache an Emilys Geburtstag?« Anette seufzte.
»Nicht direkt um ihren Geburtstag, sondern um das Geschenk, das ich wieder mit nach Hause nehmen musste, weil es nicht schadstoffgeprüft war!«
»Ich hab dir schon hundert Mal gesagt, man konnte bei dem Ding nirgends entnehmen, was genau da drin ist. Und Emily hat eine Allergie auf Latex«, entgegnete Annette. »Meine Güte, wie lange willst du mir das noch nachtragen?«
»Bitte!«, sagte Fridi laut. »Hört mir doch erst mal zu! Während eine von uns die Kinder betreuen würde, wären die anderen doch gar nicht da. Da könntet ihr gar nicht so viel aneinandergeraten, wie ihr jetzt vielleicht denkt.«
Lea und Annette blickten sich an. »Lass uns drüber nachdenken«, sagte Lea schließlich. »Wir telefonieren dann. Vielleicht geht ja auch alles noch mal gut, und es bricht gar kein Streik aus.«
»Wenn Sie bereit sind, können wir weitermachen«, unterbrach die Gruppenleiterin, die inzwischen an ihren Platz im Stuhlkreis zurückgegangen war. »Wir waren bei der Diskussion um einen zusätzlichen Jackenhaken stehen geblieben.«
»Das gibt’s doch nicht! Müssen wir jetzt wirklich noch mal mit diesem Thema anfangen?«, keifte die Dame auf dem Entenstuhl.
»Ich finde auch nicht, dass wir jetzt …«, begann Lea, aber Fridi holte Luft und unterbrach sie: »Um das ganze abzukürzen: Da es ja darum ging, dass die Haken nur dann nicht ausreichen, wenn alle Kinder mit beiden Elternteilen gleichzeitig anwesend wären, kann ich Ihnen die Sorgen nehmen. Mein Kind hat keine zwei Elternteile, die gleichzeitig …«
»Es geht doch hier ums große Ganze«, warf Harald Groll ein. »Auch nach uns besteht die Schildkrötengruppe weiter, und wir sollten langfristig denken, um …«
»Lassen Sie doch Frau Schmitz mal ausreden«, fiel die Gruppenleiterin ihm ins Wort. »Was wollten Sie vorschlagen?«
»Ähm …«, setzte Fridi an.
»Sie stellt sich quasi als Scheidungskind-Quoten-Haken zur Verfügung, den man einfach weglassen kann«, sagte Lea und blickte zu Fridi. »Richtig?«
»So ungefähr.« Fridi räusperte sich. »Jedenfalls würde ich gerne zum nächsten Thema kommen, ich müsste …«
»Das verstehe ich, Frau Schmitz«, unterbrach die Gruppenleiterin sie. »Aber wir alle wissen doch vom Umgang mit Kindern. Unter Zeitdruck entstehen nicht unbedingt die besten Lösungen.«
»Herrgott noch eins, können wir nicht einfach ’nen Scheißhaken in die Wand dübeln, damit der Papa vom Leon seine Ruhe hat?« Die Dame auf dem Entenstuhl hatte mittlerweile einen hochroten Kopf. »Von mir aus mach ich das gleich morgen früh selbst, aber lassen Sie uns jetzt bitte zu den wichtigen Themen kommen!«
»Ach, der Groll ist gar nicht der Vater von der Fiona, sondern vom Leon?«, flüsterte Lea. »Nee, der Leon ist nicht vom Dietmar.«
»Dann kommt wohl der gute alte Postbote ins Spiel«, raunte Fridi.
»Vermutlich.« Lea schlug die Beine übereinander. »Milchmänner gibt’s ja kaum noch.«
»Schauen Sie.« Harald Groll strich sich die graue Stoffhose glatt. »Ich bin mir nicht sicher, ob man da versicherungstechnisch auf der sicheren Seite ist, wenn Eltern selbst Handwerksarbeiten in der städtischen Kita ausführen. Man sollte bedenken, dass …«
»Ich krieg die Krise!« Die Dame auf dem Entenstuhl blickte Harald Groll an, als würde sie ihn mit dem sagenumwobenen Zusatzhaken am liebsten persönlich aufknüpfen.
Die Gruppenleiterin seufzte und blickte hilfesuchend zu Fridi. »Frau Schmitz, was meinen Sie denn dazu?«
Fridi hob die Schultern. »Ich sagte ja, man muss das Thema sehr sensibel angehen.«
»Und, bereust du es schon, dich fortgepflanzt zu haben?«
»Was machst du denn hier?« Fridi hielt einen Kleiderbügel zwischen den Zähnen, an dem eine weiße Bluse hing.
Caroline schlängelte sich an ihrer Schwester vorbei in die Wohnung. »Hätte ich gewusst, dass du dich so freust, wäre ich eher mal vorbeigekommen.«
Fridi schloss die Wohnungstür und nahm den Kleiderbügel aus dem Mund. »Du hörst auch nur, was du hören willst.«
»O ja, ’nen Kaffee nehm ich gerne«, antwortete Caroline.
»Mamaaaaaaa, wo ist die Schüssel?«, rief eine Kinderstimme aus dem Flur. Fridi warf den Kleiderbügel mitsamt der Bluse auf den Boden und rannte los, auf dem Weg schnappte sie nach einer Plastikschüssel. Im Kinderzimmer waren die Rollläden noch unten, und Hanna streckte den Kopf aus dem Bett hervor.
»Ich glaub, ich muss doch nicht mehr brechen«, sagte Hanna, als Fridi sich mit der Schüssel in der Hand zu ihr setzte.
Fridi hielt die Hand an ihre Stirn. »Geht’s dir besser?«
Hanna schüttelte den Kopf. »Müssen wir schon losfahren?«
Fridi blickte auf die Uhr. »Bald, ruh dich noch ein bisschen aus.«
»War das Hanna?«, fragte Caro, als Fridi wieder aus dem Flur kam.
»Nein, das Mädchen, das wir letzte Woche auf dem Marktplatz geklaut haben. Bisher hat sich keiner gemeldet. Wir nennen sie Trixie.« Fridi schnappte nach der Bluse auf dem Boden, riss sie vom Bügel und warf sie sich über.
»Ernsthaft, was ist denn los bei euch?« Caroline holte eine Flasche Saft aus ihrer Tasche und stellte sie auf der Kommode ab.
Fridi streifte Caros Blick und seufzte. »Nichts woraus eine x-beliebige Hobby-Schriftstellerin nicht gleich ’nen ganzen Roman basteln könnte.«
Caroline sah Fridi dabei zu, wie sie auf dem Weg in die Küche zwei Knöpfe ihrer Bluse schloss. »Du hast meine Frage von vorhin noch nicht beantwortet.«
»Was?« Fridi nahm die Flasche mit dem Fiebersaft von der Küchenplatte, klemmte sie unter ihr Kinn, schüttete Wasser in die Kaffeemaschine und blickte erneut auf ihre Armbanduhr. »Welche Frage?«
»Wie du die Entscheidung zur Fortpflanzung rückblickend bewerten würdest.«
»Was ist das denn bitte für ’ne Frage?« Fridi schaltete dabei die Kaffeemaschine ein. Abrupt drehte sie sich zu Caroline um. »O Gott, hast du’s wieder mit der …? Also wegen … du weißt schon?«
»Du willst wissen, ob ich’s wieder mit der Psyche habe, wegen unserer bescheuerten Mutter«, vollendete Caroline die Sätze. »Sag’s ruhig.«
Fridi schluckte. Alle Eltern machten Dinge falsch, das war ein Naturgesetz. Aber die meisten gaben sich immerhin Mühe, zumindest die gröbsten Dinge nicht zu vermasseln. Nicht so Annemarie, die ihren Töchtern bereits im Kleinkindalter mit Vorliebe erzählt hatte, dass es ihr größter Fehler gewesen war, Kinder zu bekommen. Caroline und Fridi waren in ihren Zwanzigern beide jahrelang in Therapie gewesen. Caroline hatte es so oft mit verschiedenen Substanzen zum konzentrierten Lernen übertrieben, dass sie mehrmals in der Notaufnahme gelandet war. In einer Therapie hatte sich herausgestellt, dass sie ihre vermeintlich fehlende Daseinsberechtigung mit der Suche nach Anerkennung über Leistung zu kompensieren versuchte. Fridi hingegen hatte bei ihrem Psychologen erfahren, dass sie sich unbewusst immer Partner aussuchte, die sie ebenso behandelten wie ihre Mutter – also sie im Grunde gar nicht wollten. Eine Lösung hatte der Therapeut nicht parat gehabt, stattdessen wurden er und Fridi ein Paar. Und paradoxerweise hatte das Problem mit ihm sogar seinen Rekordstand erreicht. Da Fridi mittlerweile als Alleinerziehende weder die Zeit noch die Energie für eine neue Beziehung aufbringen konnte, betrachtete sie sich notgedrungen als geheilt.
»Bist du wieder in Therapie? – Auaaaaaaa, verdammt noch mal! O neiiiiin!« Fridi hatte statt der Glaskanne die Fiebersaftflasche unter den Filter der Kaffeemaschine geschoben, und heißer Kaffee war ihr über das Handgelenk gelaufen. Ruckartig hatte sie die Hand zurückgezogen und ein neonorangefarbener Fiebersaft-Spritzer war auf ihrem Ärmel gelandet. Fridi donnerte die Flasche auf die Küchenplatte und schnappte sich einen Spüllappen. »Das war die einzige weiße Bluse …« Sie rubbelte mit dem Lappen an ihrem Blusenärmel, dann hielt sie inne. »Ach Mist, ich muss ja auch noch … Caro, weißt du was? Wenn du schon hier rumsitzt, hilf mir wenigstens und pack Hannas Spielzeugtasche!«
»Bist du irgendwie gestresst?« Caro stand in aller Seelenruhe auf. »Du musst dir einfach mal mehr Zeit für dich nehmen, das sage ich aber schon lange.«
Fridi stöhnte auf und verdrehte die Augen. Aus Carolines privilegierter Situation heraus ließ es sich komfortabel klugscheißen. Sie hatte sich in den letzten Jahren zur gefragtesten kosmetischen Chirurgin der Region entwickelt. Sämtliche reiche Damen aus dem Naheinzugsgebiet vertrauten ausschließlich ihr, wenn es darum ging, Fettdepots aus den Hinterteilen in die Halsfalten zu verlegen. Als wäre es nicht genug, dass sich Fridi als handelsübliche Bauzeichnerin neben der jüngsten Chirurgin mit Auszeichnung, die das Bundesland je gesehen hatte zu neunzig Prozent der Zeit wie ein berufsbiographischer Blindgänger fühlte, bezahlte Caroline Haushälterin, Luxuskarosse und Karibikreisen aus der Portokasse, während sich Fridi noch nicht einmal einen Kaffeevollautomaten leisten konnte. Fridi gab auf, der Blusenärmel war nicht sauber zu bekommen. Sie warf den Lappen zurück in die Spüle und rannte, während sie die Bluse auszog, in ihr Schlafzimmer.
»Das kannst du nicht machen«, sagte Caroline, als Fridi mit einer dunkelblauen Bluse in der Hand zurückkam. »Nicht zum schwarzen Jackett.«
»Sei einfach ruhig.« Fridi drückte Caroline eine Umhängetasche in die Hand, die sie für Hanna packen sollte. »Einfach vollmachen bitte. Mit irgendwas.« Auf dem Weg in die Küche zog sie hastig ihre frische Bluse über den Kopf, blieb aber stecken, weil der obere Knopf geschlossen war.
»Warst du mal in dem Yogastudio, für das ich dir den Gutschein geschenkt habe?« Caroline räumte ein Bilderbuch und ein Würfelspiel in Hannas Tasche. Dann beäugte sie ein Set aus Filzstiften, bei dem manche Stifte den farblich falschen Kappen trugen. »Ich sag dir, da kommst du raus und bist ein neuer Mensch, du musst …«
»Auuuaaaaa, shit, was war das denn?« Fridi steckte noch immer mit dem Kopf in der Bluse fest und hüpfte auf einem Bein im Kreis. Mit einem Ruck zog sie die Bluse wieder aus und blickte auf den Boden. Sie war barfuß in einen von Hannas Duplosteinen getreten. Sie jaulte auf und rieb sich den Fuß.
»Weißt du eigentlich, dass du grade ’ne ziemlich ausgefeilte One-Woman-Show ablieferst?«, fragte Caroline, während sie die Kappen zweier Stifte austauschte.
»Caro, lass mich mit diesem Yogakram in Ruhe. Wenn ich Zeit hätte, würde ich mich von mir aus verbiegen, bis ich von meiner eigenen Gleichgültigkeit genervt bin.« Fridi riss den oberen Blusenknopf auf. »Aber ich hab einen Job, und wenn ich dort nicht bin, hab ich ein kleines Kind. Mein Gott, ich weiß noch nicht mal, wann ich zum Friseur gehen soll!«
»Du übertreibst wieder«, murmelte Caroline. »Noch nicht mal, wenn Besuch kommt, kannst du dich für fünf Minuten hinsetzen.«
»Caro!« Fridi riss den Kopf herum, während sie die Bluse überzog und zuknöpfte. »Es dreht sich nicht die ganze Welt immer nur um dich! Du kannst doch nicht wie selbstverständlich davon ausgehen, dass ich morgens um acht Zeit habe, nur weil du mit ’ner Flasche O-Saft reinschneist!«
»Multivitamin-Direktsaft.« Caroline schloss die Büchse mit den frisch sortierten Stiften und drehte sich zu ihrer Schwester um. »Weißt du, Fridi, vielleicht musst du dich einfach mal ein bisschen besser organisieren. Ich hab grade letztens beim Friseur so ’ne Eltern-Kind-Zeitschrift in die Finger gekriegt und …«
»Bitte?«, funkte Fridi dazwischen. »Niemand hasst Kinder so inbrünstig wie du.«
»Ich weiß, aber die Celebrity-Heftchen waren alle«, antwortete Caroline. »Jedenfalls hab ich was darüber gelesen, wie berufstätige Eltern den Alltag mit Kindern völlig frei von Stress gestalten können.«
»Und diese Erkenntnisse wolltest du jetzt mit mir teilen?« Fridi verdrehte die Augen, während sie das Jackett über die Bluse zog und sich im Spiegel über dem Küchentisch beäugte. »Ich bin gerührt. So viel Edelmut.«
»Nein, ich will gar nichts mit dir teilen.« Caroline spitzte die Lippen. »Dein Sarkasmus zeigt mir, dass du nicht aufgeschlossen dafür bist.«
Fridi seufzte, während sie Jackett und Bluse wieder auszog. »Völlig frei von Stress? Falls diese Tipps nicht auf Zaubersprüchen und Feenstaub basieren, darf ich zumindest skeptisch sein.«
Caroline stellte Hannas fertig gepackte Tasche auf der Kommode ab und kam zu Fridi in die Küche. »Es geht schon damit los, dass man abends frühzeitig ins Bett gehen sollte, um den Wecker eine Stunde eher stellen zu können als nötig. So kann man den Morgen, an dem es sonst immer wieder zu hektischen Situationen kommen kann, schon dazu nutzen, um wertvolle gemeinsame Zeit voller Harmonie miteinander zu verbringen. Außerdem ist es wichtig, ausgeruht und frei von Zeitdruck ein gesundes Vitalfrühstück mit reichlich Früchten und Ballaststoffen zu sich zu nehmen. Im Anschluss kommen die Eltern innerlich ruhig am Arbeitsplatz und die Kinder fröhlich in der Kita an. Alle starten beschwingt und voller Freude in den Tag.«
»Wer schreibt denn bitte so einen Mist?« Fridi drehte sich zu ihrer Schwester um, während sie wieder die weiße Bluse anzog und den verschmutzten Ärmel umschlug. »Ernsthaft, das ist viel zu weit von der Realität berufstätiger Eltern entfernt, um hilfreich zu sein. Soll ich dir mal sagen, wie es wirklich abläuft?«
»Das sehe ich doch«, erwiderte Caroline und setzte sich an den Küchentisch.
»Es geht schon damit los, dass früher ins Bett gehen keine Option ist«, begann Fridi. »Abends ist die einzige Zeit am Tag, in der niemand was von einem will – kein Chef, kein Kind, kein DHL-Mann, kein Telefon und keine Zeugen Jehovas. Man saugt die Ruhephase auf, bis man erschrickt, weil es schon wieder viel zu spät geworden ist. Um die fehlende Schlafenszeit zu kompensieren, stellt man den Wecker später – nicht früher! –, und selbst wenn man vorher todmüde war, ist man im Bett wieder hellwach, weil einem tausend Dinge einfallen. Also wälzt man sich ein bis zwei Stunden hin und her, um danach die Weckzeit noch einmal zu korrigieren, und zwar auf eine Aufstehzeit, bei der es nur noch theoretisch möglich ist, rechtzeitig ins Büro zu kommen. Morgens wird man aus dem Koma gerissen, das Kind fängt an zu schreien, weil die Lieblingshose in der Wäsche ist, man sprüht sich Haarspray ins Auge und findet den Autoschlüssel nicht. Und was das Vitalfrühstück betrifft, ist man schon froh, wenn das Toastbrot nicht schon wieder alle ist. Am Ende landet man nicht nur zu spät im Büro, sondern bereits in der Kita, wo der Morgenkreis schon begonnen hat. Und während man sich den strengen Blick der Erzieherin einfängt, wischt man dem Kind noch schnell mit Spucke die Zahnpasta-Reste aus dem Gesicht, woraufhin es anfängt zu weinen, weil es schon zehn Mal gesagt hat, dass es keinen fremden Speichel im Gesicht will.«
»Aber …«, setzte Caroline an.
»Und das sind die normalen Tage!« Fridi wurde lauter. »Dann gibt es noch die anderen, nämlich Tage wie heute. Glaub mir eins: Für heute war ich organisiert. Aber wenn man so etwas Wichtiges vorhat, dass man alles bis ins tausendste Detail durchplant, weiß jede Mutter auf diesem Planeten, was als Nächstes passieren wird: eine biblische Menge an Katastrophen! Ich schätze, das Universum fühlt sich von einem perfekten Plan herausgefordert. Es sind Tage, an denen ein Prinzip am Werk ist, das Murphys Gesetz mit Anlauf in den Hintern tritt, weil längst nicht nur alles schiefgeht, was schiefgehen kann, sondern auch noch Dinge, die es eigentlich nicht können.«
»Sagst du mir jetzt vielleicht mal, was bei euch los ist?«
Fridi ließ sich auf einen Küchenstuhl neben Caroline fallen. »Gestern ist bei Hanna das Vierundzwanzig-Stunden-Brechvirus ausgebrochen, das gerade in der Kita die Runde macht. Die Brechanfälle sind seit zwei Stunden vorbei, aber in die Kita kann sie auf keinen Fall. Also schlage ich mich mit dem inneren Zielkonflikt herum, dass ich entweder eine kranke Vierjährige mit ins Büro schleppen muss oder wir zu Hause bleiben und ich damit die wichtigste Präsentation meiner beruflichen Karriere nicht halten kann! – Nein, was sage ich, es ist die Präsentation, die erst darüber entscheiden wird, ob überhaupt jemals eine berufliche Karriere vorliegen wird! Seit Wochen denke ich an nichts anderes, und ausgerechnet heute Nacht habe ich keine Minute geschlafen. Noch dazu wird vielleicht ab Montag in Hannas Kita gestreikt, dann wüsste ich nicht mal, wie ich das Projekt bewältigen sollte, falls ich es bekäme. Vielleicht ist das aber auch nur ein Zeichen, dass ich das Projekt gar nicht verdient habe. Wie du siehst, ist bei mir ja schon eine saubere Bluse für einen Präsentationstermin zu viel verlangt.«
Fridi vergrub den Kopf in den Händen.
»Damit hast du meine Frage ausreichend beantwortet.«
»Welche Frage?«
»Immer noch die gleiche.«
»Was? Nein! Ich habe es noch nie bereut. Und das werde ich auch nicht.«
»Wieso nicht? Denk mal nach, offensichtlich beschert es dir einen Haufen Nachteile.«
»So kann man das aber nicht sehen, Caro. Ganz und gar nicht.«
»Also ist alles immer nur toll?«
»Das kann man auch nicht sagen, wie bei allem, aber im Grunde …«
»Was kann man denn dann sagen?«
Fridi stand auf. »Herrgott noch mal, Caro, warum willst du das ausgerechnet heute Morgen von mir wissen?«
»Weil ich einen positiven Schwangerschaftstest in meiner Handtasche habe.«
Fridi riss die Augen auf. »Aber … du wolltest doch gar keine Kinder?«
»Da haben wir den Salat.«
»… jetzt wünsche ich Ihnen gute Unterhaltung bei ›Mein Garten, mein Zuhause‹, und im Anschluss hat Philipp Weidmann die Nachrichten für Sie. Bis morgen, wir sehen uns!« Zusammen mit dem roten Lämpchen an der Kamera erlosch auch Leas Lächeln. »Schon wieder viel zu heiß hier drin«, murmelte sie, riss das Mikrofon von ihrem Blusenkragen, zog das Kabel unter ihrer Bluse hervor und pfefferte es auf das Moderationspult. Als ein Scheinwerfer aufleuchtete und Lea blendete, hielt sie einen Arm vor ihre Augen. »Maaaannn, Udo, was soll’n das?«
»Sorry, falscher Knopf«, rief jemand aus dem hinteren Bereich des Fernsehstudios. Dann polterte etwas auf den Boden. Der Scheinwerfer ging aus.
»Lea, kann ich dich kurz was fragen?« Volontär Eric tauchte wie aus dem Nichts vor Leas Moderationspult auf.
»Worum geht’s denn?« Lea versuchte, einen Knoten aus dem Mikrofonkabel zu lösen.
»Das Wetter.«
»Was?« Sie blickte auf.
»Das Wetter.«
»Und was ist mit dem Wetter, Eric?« Lea wandte sich wieder dem Kabel zu. Durch ihr ungeduldiges Ziehen war der Knoten noch fester geworden.
»Laut wetter.com gibt es morgen Regen, und wetter.de sagt was anderes. Aber vom Gefühl her tendiere ich zu ersterem. Ich hab nämlich auch noch eine App, die kennt das Biowetter und sagt, morgen kriegen alle Kopfweh. Bei mir geht so was immer früher los, und ich hatte grade einen richtigen Migräneanfall. Von daher bin ich mir relativ sicher, dass …«
»Eric! Was interessiert mich dein Schädel?«
»Na, der vielleicht nicht, aber das Wetter.«
Lea schloss die Augen und zwang sich, einmal ein- und auszuatmen. »Gut.« Sie blickte auf. »Und warum interessiert mich das Wetter?«
»Wir hatten überlegt, die Talkrunde morgen Abend nach draußen zu verlegen. Aber das ist mir jetzt zu unsicher. Kannst du Philipp bitte sagen, dass wir höchstwahrscheinlich doch im Studio sind?«
»Ich leg ihm ’nen Zettel hin.« Lea donnerte das verknotete Mikrofonkabel in den Mülleimer unter ihrem Moderationspult. Dann ging sie mit riesigen Schritten zum Masken- und Garderobenraum und ließ sich auf ihren Hocker vor dem Schminkspiegel fallen. Hinter ihr sortierte Ilona, die Maskenbildnerin, ihre Puderquasten.
»Du, Lea, ich warte seit einer Viertelstunde auf Philipp, er ist in zwanzig Minuten auf Sendung. Hast du eine Ahnung, wo er …«, begann Ilona.
»Illi, ich glaube, ich muss hier im Kollegenkreis langsam mal was klarstellen!« Lea drehte sich zu Ilona um. »Nur weil Philipp und ich ein Paar sind, zusammen wohnen und Kinder haben, heißt das noch lange nicht, dass wir uns ständig sehen. Dem ist nicht so! Ich musste gestern die Abendnachrichten einschalten, um nach drei Tagen endlich mal seine neue Frisur zu sehen!«
»Echt?« Ilona richtete sich auf und blickte Lea an. »Gut geworden, oder?«
Lea nickte. »Ich meine, überleg doch mal: Ich bin morgens um sieben für das Morgenmagazin hier, da schlafen Philipp und die Kinder meistens noch. Er bringt sie zur Kita, wo ich sie am Nachmittag wieder einsammle, während er in die Redaktion kommt und die Spätnachrichten hat. Wenn er heimkommt, schlafen wir. Na ja, manchmal begegnen wir uns beim Zähneputzen. Oder mal zwischendurch hier in der Maske. Und wenn wir tatsächlich mal Zeit haben, geht alles für Planungsgespräche drauf: Wann bist du diese Woche in der Redaktion? Wer geht mit den Kindern zum Arzttermin? Wer ist dran mit kochen?« Lea seufzte und blickte Ilona an. »Sorry, ich wollte mich jetzt nicht bei dir auskotzen, es überkam mich grade einfach.«
Ilona setzte sich auf ihren Drehhocker, stützte das Kinn in eine Hand und nickte. »Vielleicht musst du das Positive sehen. Immerhin könnt ihr nicht in einer Alltags- und Gewohnheitsbeziehungen versinken wie die meisten Pärchen. Ihr könnt euch auch mal vermissen und aufs Wochenende freuen. Hat doch was Romantisches.«
Lea seufzte. »Wenn du es romantisch findest, zwischen Großeinkauf, Hausputz und Wäsche hin- und herzurennen, nebenbei die Kinder zu bekochen und bespaßen, und abends vor Erschöpfung während der Tagesschau nebeneinander auf der Couch einzupennen, dann bitte.«
Die Tür des Maskenraumes flog auf. »Sorry, Illi, weiß, spät dran, Entwicklungsgespräch in der Kita.« Philipp schnappte nach Luft.
»O Gott, ich hatte völlig vergessen, dass das heute war!« Lea sprang von ihrem Hocker auf. »Wie lief’s denn?«
Philipp winkte ab. »Hallo erst mal.« Sie umarmten sich.
»Hey! Neeeee! Stopp!« Ilona ging dazwischen. »Tut mir zwar leid, aber das könnt ihr komplett vergessen. Philipp, hinsetzen, du bist in fünfzehn Minuten auf Sendung.«
»Wie war das Gespräch?«, fragte Lea, als sie wieder auf ihrem Hocker Platz genommen hatte, während Philipp von Ilona vor den großen Spiegel gegenüber geschoben wurde.
»Die Zwillinge sind beängstigend desinteressiert an Christines selbstgemachten Montessori-Spielmaterialien«, sagte Philipp.
»Und?«
»Christine findet das nicht gut.«
»Oh!« Lea begann sich mit einem Wattebausch die Augen abzuschminken.
»Außerdem können sie den Malstift noch nicht richtig halten, was in zwei Jahren zu Problemen beim Ausfüllen der Vorschulmappen führen könnte und sich in diesem Fall negativ auf das Selbstbewusstsein, die gesamte Schulzeit und das weitere Leben auswirken würde.« Philipp schloss die Augen, als Ilona ihm mit einem Schwamm Grundierung auftrug. »Aus diesem Grund sollen wir darüber nachdenken, sie zur Ergotherapie zu schicken.«
»Was?« Lea riss den Kopf herum. »Ernsthaft jetzt? Wegen ’nem Stift? Sie sind drei Jahre alt.«
Philipp hob die Schultern. »Entwicklungsgespräche sind immer Problemgespräche, du weißt ja, wie’s ist.«
»Ich weiß wie’s ist.« Lea seufzte.
»Früher gab’s so was gar nicht.« Ilona hielt Philipps Gesicht am Kinn und strich mehrmals mit dem Puderpinsel über seine Stirn. »Wenn ich mal in den Kindergarten zu ’nem Gespräch zitiert wurde, wusste ich, dass mein Sohn irgendjemanden vermöbelt hat, mehr aber auch nicht. Heute ist das völlig anders, ich krieg’s ja bei meiner Enkelin mit. Da gibt’s ständig Redebedarf. Und immer irgendein Problem.«
»Es gibt aber auch eine positive Sache bei den Zwillingen«, sagte Philipp. »Sie haben keine Läuse. Dafür fast die gesamte Eichhörnchen-Gruppe von nebenan. Ich hab zwei Säcke Wechselwäsche im Auto.«
»Schon wieder?« Lea ließ die Schultern hängen.
»Musste mindestens bei sechzig Grad waschen, weißte, ne?«, warf Ilona ein.
»Und noch was Positives«, fügte Philipp hinzu. »Ich hab mit meiner Mutter gesprochen. Sollte tatsächlich ein Kitastreik ausbrechen, könnte sie während dieser Zeit zu uns kommen.«
Lea schluckte. »Wohnt sie dann bei uns?«
»Wo sollte sie denn sonst wohnen?« Philipp runzelte die Stirn.
»Mhm.« Lea starrte auf den Boden. »Gut.«
»Ich brauch Haarspray, bin kurz im Lager.« Ilona wandte sich an Lea: »Ich weiß, ihr habt da ein, äh … Defizit, aber verschmier ihn mir bitte nicht wieder mit Lippenstift, wir sind knapp in der Zeit.«
»Du sprichst mit Illi über unsere … Defizite?«, fragte Philipp, als die Tür hinter Ilona zugefallen war.
»Nur am Rande.« Lea war bereits aufgestanden und warf sich auf Philipps Schoß.
»Heute wird’s spät. Wir haben die Vorstellungsgespräche für den neuen Regie-Posten«, sagte Philipp und schob seine Hände unter Leas Bluse. »Das sind leider ziemlich viele.«
»Wenn du auch jeden einlädst, der mal ein Thermomix-Produktvideo gedreht hat.« Lea legte ihr Gesicht an Philipps Hals.
»Jeder sollte die gleiche Chance haben.«
Sie zuckten zusammen, als die Tür des Maskenraumes aufflog. Richard, der Intendant des Senders, stand im Türrahmen.
»Guten Tag, ihr beiden.« Er schloss die Tür hinter sich.
»Morgen, Richard.« Lea sprang in einem Satz von Philipps Schoß.
»Ich hätte kurz was mit euch zu besprechen.« Richard räusperte sich. »Ihr wisst ja, dass wir ein Sommerspecial mit Beiträgen direkt aus allen deutschen Hauptstädten geplant haben.«
Philipp nickte. Lea zupfte ihre Bluse zurecht.
»Der Zeitplan steht jetzt fest«, erklärte Richard. »Ab nächster Woche geht’s los. Fehlt nur noch die Moderation. Hätte einer von euch Interesse?«
»Ich«, riefen Philipp und Lea gleichzeitig. Dann blickten sie sich an.
»Ich will Saft!«
»Moment bitte, Schatz.« Annette drehte sich halb zu ihrer Tochter um, die auf der Rückbank im Kindersitz saß.
»Ich will Sahaaaaaft!«, wiederholte Emily.
»Ich suche doch schon.« Annette fummelte in ihrer Handtasche auf dem Beifahrersitz herum. Die Ampel sprang auf Grün, und der Golf vor ihr rollte an.
»Saaaaaaaft!«, schrie Emily.
Damit es schneller ging, kippte Annette ihre Handtasche auf dem Beifahrersitz aus. Dabei fielen Kekse aus einer Tüte und landeten einzeln auf dem Sitz, dazwischen Annettes Smartphone, das drohte, in die Spalte zwischen Beifahrersitz und Mittelkonsole zu rutschen. Hinter Annette hupte ein Schulbusfahrer.
»Ja, mein Gott …« Annette fuhr mit einem Ruck an.
»Saaaaaaaft!«, rief Emily.
Annette beugte sich nach vorn, um nach dem Smartphone zu greifen, während der Golf vor ihr beim Linksabbiegen an einer Fußgängerampel stehen blieb. Es krachte.
»Jetzt hör endlich auf, ich mach mir schon genügend Vorwürfe, dass ich mit Emily im Auto nicht vorsichtiger war«, sagte Annette. »Und aus finanzieller Sicht war es ja nur ein Mini-Unfall, also kein Grund zur Aufregung.«
»Und trotzdem muss ich mich jetzt um zwei Reparaturen kümmern!« Annettes Mann Jan lief vor dem Esstisch auf und ab. »Und du wirst wahrscheinlich in der Versicherungssumme hochgestuft, ist dir das klar?«
»Setz dich doch bitte hin, das Essen wird kalt.« Annette deutete auf die Auflaufform mit überbackenen Nudeln, die auf dem Tisch über zwei Untersetzern verteilt stand.
»Ich verstehe einfach nicht, wie man an einer Fußgängerampel …«, begann Jan, während er weiter vor dem Tisch auf- und ablief.
»Mein Gott, so was kann doch mal vorkommen«, antwortete Annette und holte eine Nudelzange aus der Küche. »In der Werkstatt haben sie gesagt, das Wichtigste sei, dass keinem was passiert ist. So sehe ich das auch.«
»Natürlich sagen die das!« Jan blieb abrupt stehen und fixierte Annette. »Die leben ja auch davon, dass Leute wie du ständig irgendwo dagegendonnern!«
»Was soll das denn jetzt heißen?« Annette fuchtelte mit der Nudelzange in der Luft herum. »Wieso ständig?«
»Darf ich dich mal daran erinnern, dass du letztes Jahr ein geparktes Müllauto angefahren hast? Und letzten Monat die Sache mit der Außenwand vom Indoor-Spielpark!«
»Das war ein klitzekleiner Kratzer am Auto, das hätte man gar nicht reparieren lassen müssen.«
»Ich bitte dich, wie sieht das denn aus?« Jan winkte ab. »Die Frage ist doch, warum du nicht mit dem Kopf bei der Sache bist, wenn du im Auto sitzt.«
»Weil ich ständig tausend Sachen im Kopf habe, Jan.« Annette verteilte Nudeln auf den Tellern, während Jan endlich Platz nahm. »Und ich mach und tu, und trotzdem wird alles immer mehr statt weniger, ich komm zu nix! Manchmal ist es mir einfach zu viel, dann werde ich hektisch.«
»Du arbeitest doch nur Teilzeit, und ansonsten bist du zu Hause. Wo bitte ist denn jetzt dein Problem?«
Annette ließ sich auf ihren Platz am Esstisch fallen, seufzte und schüttelte den Kopf. »Unsere Beziehung funktioniert wirklich gar nicht mehr.«
»Wie meinst du das denn jetzt?« Jan setzte sich gerader hin. »Sie funktioniert prima! Wir haben das Haus bald abbezahlt und können sogar noch Rücklagen bilden.«
»Siehst du?« Annette streckte eine Hand in Jans Richtung aus. »Du hast gerade erklärt, dass sich unsere finanzielle Situation verbessert hat, Jan. Ich habe von unserer Ehe gesprochen.«
»Das hängt doch miteinander zusammen«, gab Jan zurück. »Wir wollten innerhalb von zehn Jahren umziehen und schuldenfrei sein. Und hier sind wir! Das war doch unser Plan.«
»Nein, Jan.« Annette fing an zu essen. »Das war dein Plan.«
»Ach ja? Und was war deiner?«
»Es war ganz sicher nicht mein Plan, von morgens bis abends nur hin und her zu hetzen und an jeder Kleinigkeit im Haushalt und mit den Kindern alleine zu hängen! Wenn wir uns ab und zu unterhalten würden, wüsstest du das«, sagte Annette. »Da liegt auch das Kernproblem. Wir führen keine Gespräche mehr.«
»Das liegt aber auch an dir«, erwiderte Jan. »Früher hast du dich viel mehr bemüht. Da hast du einen Wein geöffnet, wenn ich nach Hause kam, oder es brannten Kerzen. Und du hattest dich hübsch zurechtgemacht. Jetzt bist du doch immer nur schlecht gelaunt.«
Annette ließ die Gabel fallen. »Nur damit ich dich richtig verstehe: tagsüber versorge ich zwei Kinder, gehe arbeiten und einkaufen, ich putze, wasche, koche und pflege den Garten. Aber abends soll ich so ausgeglichen sein, als hätte ich den ganzen Tag auf einer Beautyfarm entspannt, und dich mit bester Laune in Strapsen bei einem Candle-Light-Dinner empfangen und dir ins Ohr säuseln, dass ich das Diaphragma schon eingesetzt habe?«
»Wieso Diaphragma? Als wir uns kennengelernt haben, hatten wir doch beschlossen, drei Kinder zu bekommen.«
»Jan, du kannst mich mal.«
»Ich liebe Personal, das mitdenkt«, rief Frau Dr. Urmeyer und eilte Fridi auf dem Büroflur entgegen. »Es soll ja nichts geben, was Motivation und Leistung der Mitarbeiter mehr steigert als ausreichend Zeit mit der Familie, nicht wahr? Also wie umsichtig und engagiert von Ihnen, gerade am Präsentationstag Ihr Kind mit zur Arbeit zu bringen!«
Fridi seufzte. Ihre Vorgesetzte hatte die Angewohnheit, Kritik so geschickt in einem Wust aus Höflichkeiten zu verstecken, dass selbst fachkundige Urmeyer-Kenner bisweilen nicht wussten, was sie wirklich meinte.
»Guten Morgen«, sagte Fridi, als ihre Chefin vor ihr stehen blieb. Mit ihrer spitzen Nase und dem rundlichen Gesicht erinnerte sie Fridi immer an die singende Kaffeekanne aus Disneys Die Schöne und das Biest, nur eben nicht so freundlich.
»Hallo, mein Kind, kennst du mich noch?« Frau Dr. Urmeyer beugte sich zu Hanna hinunter, die ein Fläschlein Tee unter dem Arm trug. »Wie geht es dir denn, mein kleiner Engel?«