Fuck the Reiswaffel - Barbara Ruscher - E-Book

Fuck the Reiswaffel E-Book

Barbara Ruscher

3,8

Beschreibung

„Babymund tut Wahrheit kund – und das auch noch sehr komisch.“ Horst Evers.

Gerade ist Mia eins geworden, hat gelernt, wie man aus Bio-Essen Kunstwerke schafft und Eltern wachhält, da beschließen Mama und Papa, dass ihnen einmal Babyhölle nicht reicht. Sie holen allen Ernstes noch ein Kind ins Haus – einen Jungen, igitti! –, und dann will Mama wieder arbeiten. Und während Papa gezwungenermaßen mit Brüderchen Fritz zu Hause bleibt, soll Mia tatsächlich in die Kita gehen. Abschiebung – nicht mit Mia! Da haben die lieben Eltern die Rechnung ohne das Kind gemacht …

Aus der Sicht eines frühgeförderten Kleinkindes gibt die preisgekrönte Kabarettistin Barbara Ruscher hoch amüsante Einblicke in die biologisch korrekte Familienwelt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 359

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
3,8 (12 Bewertungen)
5
2
3
2
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über Barbara Ruscher

Barbara Ruscher, geboren 1969 in der Nähe von Bonn, hat ein Lehramtsstudium und Referendariat in Musik und Germanistik absolviert, was ihr die Grundausbildung für die Bühne lieferte – schaffst du das, schaffst du alles. Seit 1998 ist sie auf den deutschsprachigen Kabarettbühnen unterwegs. »Fuck the Möhrchen« ist ihr erster Roman. www.barbara-ruscher.de

Informationen zum Buch

»Babymund tut Wahrheit kund – und das auch noch sehr komisch.« Horst Evers zum Vorgängerroman »Fuck the Möhrchen«

Gerade ist Mia eins geworden, hat gelernt, wie man aus Bio-Essen Kunstwerke schafft und Eltern wachhält, da beschließen Mama und Papa, dass ihnen einmal Babyhölle nicht reicht. Sie holen allen Ernstes noch ein Kind ins Haus – einen Jungen, igitti! –, und dann will Mama wieder arbeiten. Und während Papa gezwungenermaßen mit Brüderchen Fritz zu Hause bleibt, soll Mia tatsächlich in die Kita gehen. Abschiebung – nicht mit Mia! Da haben die lieben Eltern die Rechnung ohne das Kind gemacht …

Aus der Sicht eines frühgeförderten Kleinkindes gibt die preisgekrönte Kabarettistin Barbara Ruscher hoch amüsante Einblicke in die biologisch korrekte Familienwelt.

ABONNIEREN SIE DEN NEWSLETTERDER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehr

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlag.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Barbara Ruscher

Fuck the Reiswaffel

Ein Kleinkind packt aus

Roman

Inhaltsübersicht

Über Barbara Ruscher

Informationen zum Buch

Newsletter

Kapitel 1: Schnuller, die im Dunkeln leuchten

Kapitel 2: Prenzlauer-Berg-Periode

Kapitel 3: Gleichgesinntinnen und Gleichgesinnte

Kapitel 4: Jedes Kind kann schlafen lernen. Außer mir.

Kapitel 5: Alles Sahne, oder was

Kapitel 6: Leberwurst-Paintings

Kapitel 7: Elke-Carmen und der Rotzwurm

Kapitel 8: Ultraschall und Austern — Glibber überall

Kapitel 9: Mumps und Motorikschleife

Kapitel 10: Heterosexuelle Eichhörnchen

Kapitel 11: Kita-Speed-Dating

Kapitel 12: Die Vöglein zwitschern im Walde

Kapitel 13: Trockenpflaumen vs. Wolle-Maulbeerseide-Bodys

Kapitel 14: Brustwarzen in Herzchenform

Kapitel 15: Männerfreundschaft

Kapitel 16: Black Is The New Orange

Kapitel 17: Hemmungslose Bügellosigkeit

Kapitel 18: Die Reiswaffel ist blond

Kapitel 19: Das Grauen hat einen Namen: Fritz

Kapitel 20: Vier gewinnt

Kapitel 21: Nüsse und Küsse

Kapitel 22: Selbstlaufende Autos — mein erstes Bobby Car

Kapitel 23: Töpfchentraining für jedes intellektuelle Niveau

Kapitel 24: Eingewöhnung in die harte Realität des Kinderlebens

Kapitel 25: Frettchen mit Migrationshintergrund

Kapitel 26: Auf Entzug

Kapitel 27: Klettern verboten

Kapitel 28: Online

Kapitel 29: Fritz robbt, Oma mobbt

Kapitel 30: Youtube und Salamibrote

Kapitel 31: Anthroposophen lieben Kautschukschnuller

Kapitel 32: Haustiere auf dem Kopf

Kapitel 33: Die Bienen sterben aus — aber nicht auf Strumpfhosen

Kapitel 34: Leckmuscheln

Kapitel 35: Heiße Milf mit Honig

Kapitel 36: Gerhard Richter und die Gurke

Kapitel 37: Mädchentag

Kapitel 38: Die Wende

Kapitel 39: Arsen und Nutellahäubchen

Kapitel 40: Drei

Epilog: Chris-Dad, der Blog

Anmerkung

Impressum

Für meine Kinder

Kapitel 1 Schnuller, die im Dunkeln leuchten

Ich wache auf.

Um mich herum herrscht Dunkelheit.

Nur in meinem Mund leuchtet es.

Neonpink.

So wird man heutzutage als Kind also in die Welt hineingeschubst. Oral gut versorgt, aber richtig mies gegendert.

Ganz ehrlich. Es gibt herrliche Schnuller, runde, symmetrische und kiefergerechte, mit Kirschkernform, aus Kautschuk, Silikon oder Latex, Bisphenol-A-freie Schnuller und sogar Schnuller aus in Mondlicht geschnitztem Ahornholz mit schamanisch besprochenen Poren.

Wäre mir alles recht. Nur PINK soll er bitte nicht sein.

Schaue in den Spiegel des gegenüberliegenden Wandschranks. O mein Gott. Es ist noch schlimmer, als ich dachte. Den Leuchteschnulli ziert ein Einhorn.

In den Akademikerkreisen, in denen sich Mama und Papa zu meinem Leidwesen bewegen, hat sich offensichtlich noch nicht rumgesprochen, dass ein kitschiges Fabelwesen mitnichten die richtige Vorbereitung auf das Leben im dritten Jahrtausend ist. Das Einhorn soll zwar das edelste und reinste aller Fabeltiere sein, da es für Anmut und Eleganz und Freiheit steht, aber jedes Kind kennt doch die schreckliche Wahrheit über das Tier mit dem langen Kegel auf der Nase: Einhörner pupsen Regenbögen in allen Farben.

Schlimmer geht es nicht.

Ich spucke das Ding aus, vermisse es jedoch sofort, diesen gummierten Brustwarzenersatz, dieses unvergleichlich befriedigende Gefühl im oralen Bereich. Einhorn hin oder her. Ich taste nach dem Schnuller, doch er fällt durch die Stäbe meines Gitterbettchens – und rollt fort, in unerreichbare Ferne. Ich gerate in Panik. Mein Gehirn gibt ein Signal an die Stimmbänder, und sie gehen in Stellung. Ich schreie mit all der Kraft, die meine zwölf Monate alten Lungen zu bieten haben, und gebe wirklich alles, um meinen Beruhigungssauger zurückzuordern. Doch nichts passiert. Noch nicht einmal das Fürsorgepersonal erscheint.

Ich schreie weiter.

Endlich hastet Mama herein und beginnt sofort, hektisch den Schnuller zu suchen. Sie hat ihre Brille nicht auf, also geht sie auf die Knie und tastet sich vorwärts, ihre dunklen langen Haare fallen in ihr bleiches Gesicht.

»Da!«, schreie ich.

»Wo?«, fragt sie.

»Da!«

»Wo?«

»Dadada!«

Mama holt Papa.

»Ja, wo ist denn unser kleiner Dadaist?« Papa fährt sich durch seinen Hipster-Bart, wie ihn heutzutage alle Väter haben, die modisch was auf sich halten. Was ich über das Gestrüpp an seinem Kinn denke, habe ich ihm noch nie gesagt, denn ich habe ihn lieb und will ihn nicht verletzen. Da muss er schon selbst drauf kommen. Außerdem: Mode kommt, Mode geht.

Bei der Schnullersuche bemüht er sich jedenfalls redlich und lacht gequält unter meinem Bettchen hervor. Doch Humor dieser Art ist mitten in der Nacht nicht meine Sache. Ich schreie noch lauter, um meinen Punkt klarzumachen. Papa fragt: »Mia, wollen wir uns nicht lieber beruhigen?«

Du vielleicht, denke ich. Ich nicht. Erst brauche ich mein Einhorn zurück.

Ich schreie weiter, denn er hat meinen wunden Punkt getroffen. Das Einzige, was ich sagen kann, ist »Mama«. Und vielleicht noch »Da.« Gut, ich bin erst ein Jahr alt, aber durch die monatelange Frühförderung bereits im Mutterleib meiner sprachlichen Kompetenz geistig weit voraus. Ein unangenehmer Zustand, und ich trainiere hart, um meinen Wortschatz zu erweitern. Kurz: Ich rede den ganzen Tag, selbst wenn mich so gut wie niemand von den Erwachsenen versteht. Bloß meine Mama scheint manchmal zu spüren, worum es mir geht. Auf die ist Verlass.

Meinen besten Freund Teddy, der jede Nacht bei mir schläft, nervt mein Gebrabbel, aber ich lasse mich nicht vom Üben abhalten, immerhin möchte ich später in der Lage sein, souveräner als ehemalige bayrische Ministerpräsidenten beschreiben zu können, wie man vom Bahnhof zum Flughafen kommt.

»DAAAAA!«

Obwohl mein Redefluss Teddy oft zu viel wird, bin ich erleichtert, dass wenigstens er mich versteht. Ebenso wie meine gleichaltrigen Freunde Sören-Wotan und Levke-Fee – auch wenn sie die Einzigen sind.

»DAAAAA!«

Mama sagt, ihr Rücken mache ihr schon wieder Probleme, sie müsse sich sofort hinlegen, Papa solle weitersuchen und um Himmels willen endlich dafür sorgen, dass Mia sich beruhige.

Ist klar.

»Du brüllst wie Carmen Geiss nach ihrem Mann«, sagt Teddy.

»Ooooooh neeeeee«, rufe ich, und er äfft mich nach und schreit: »Rooooobert!«

Ich sehe das einfach nicht ein. Seit Mama wieder schwanger ist, geht es immer nur um dieses Baby, das doch realistisch betrachtet noch gar nicht da ist. Um mich kümmert sich überhaupt niemand mehr. Ich werde ignoriert und könnte kotzen. Wie Mama, sie macht das oft, seit ihr Bauch dicker wird. Hat wohl auch keinen Bock auf Fritz, den Fötus.

Statt mich – wie früher – selig lächelnd anzustrahlen und mir ununterbrochen zu sagen, wie lieb sie mich habe und dass ich ihr allerliebster Schnurzipurz sei – ein Kosewort, das seinesgleichen sucht –, gibt es nun immer etwas, worüber sie sich beschwert. Fritz mache Streifen auf ihren Bauch, sie habe Sodbrennen und könne nicht mehr mit mir toben. Ich frage mich ernsthaft, warum sie Fritz nicht einfach aus ihrem Bauch rausschmeißt. Zu nichts nütze, dieser Zwerg, einfach nur ein Störfaktor. Ein Kind reicht doch.

Vor kurzem noch hat sie immer mit mir »Hoppe, hoppe Reiter« gespielt, ein wirklich dämliches Spiel, bei dem sie irgendwann so tut, als ließe sie mich fallen, was sie aber sowieso nicht macht, immerhin ist sie meine Mama. Trotzdem hat mir dieser Quatsch mit ihr immer Spaß gemacht. Habe mich ihr zuliebe bei jedem Hops ahnungslos gestellt und dann gejuchzt, wenn sie mich im Fallen ganz überraschend aufgefangen hat. Zugegebenermaßen eine sehr schlichte Form der Unterhaltung, aber es war schön, sie glücklich zu machen.

Jetzt hat sie Angst, dass ich beim Hopsen gegen ihren Bauch stoße und Fritz dann anfängt zu boxen. Wo soll das noch enden? Wird sie mich irgendwann gar nicht mehr auf den Arm nehmen, wenn ihr Bauch so weiterwächst? Das einzig Gute an dem Bauch sind die Streifen darauf. Ich stelle mir immer vor, das seien Straßen und fahre mit meinem Spielzeugauto darauf entlang. Manchmal nehme ich auch ein Flugzeug, dann sind es die Landebahnen des Berliner Flughafens. Papa hat mal gesagt, da sei jetzt sehr viel Platz.

Wo bleibt eigentlich mein Schnuller? Die waren auch schon mal flotter.

Ich schreie lauter.

Papa redet nun irgendetwas vor sich hin, was sich ehrlich gesagt kaum von meiner Brabbelei unterscheidet, rennt in die Küche, kramt wie ein wildgewordener Minion in den Schubladen, kommt zurück und stopft mir ein unbekanntes Objekt in den Mund. Was ist das? Auf jeden Fall nicht mein Schnuller.

Mit mir kann man es ja machen.

In meiner Not wünsche ich mir zum ersten Mal in meinem Leben meine Hebamme Gudrun Rudolf-Steiner-Wiebkötter herbei und will von neuem schreien, doch mein Mund ist versiegelt. Fühle mich wie ein mittelalterlicher Brief, dessen Siegel nur der Papst aufbrechen kann. Unerwarteterweise schmeckt es aber plötzlich wunderbar nach Traube, ein bisschen vergoren vielleicht, aber das ist eindeutig Traube.

Papst, du kannst zu Hause bleiben.

Teddy wacht auf. Bestimmt hilft er mir und erklärt mir, was das alles zu bedeuten hat. Teddy, mein Buddy, mein brother in brain. Und in Braun. Der Einzige in meiner Umgebung, der einen tiefen Schlaf hat und der mich versteht wie kein anderer. Immer und überall. Mit ihm kann ich über alles reden, wirklich alles. Und er hat viel Erfahrung, denn er macht den Job als kuschliger Kinderbeistand schon lange. Sogar Oma hat er schon begleitet, als sie klein war, und dass er das überlebt hat, zeigt, wie robust, willensstark und gutmütig er ist.

Teddy sieht das Ding in meinem Gesicht und fängt an zu schnuppern. »Mmh, Merlot von 2013, fruchtig und mit leicht holzigem Geschmack«, murmelt er und will mir den Korken aus dem Mund ziehen, doch ich beiße zu.

»So was Gutes kriegt Fritz nicht, da kann er es im Bauch noch so schön haben«, triumphiere ich, »Merlot, aha, das merke ich mir! Danke für die Information, Teddy-Buddy, aber das ist jetzt meiner.«

Doch inzwischen hat Papa den Bling-Bling-Schnuller gefunden und tauscht die beiden aus.

»Ich will den Merlot-Nucki zurück«, schreie ich erbost, doch heraus kommt nur: »Da, da, da.«

»Ja genau, da ist dein Leuchteschnulli«, freut sich Papa.

Ich gebe auf.

Teddy dreht sich auf den Bauch, um weiterzuschlafen, vielleicht auch aus Frust, weil er nicht an dem Korken lecken durfte, denn Teddy liebt guten Wein. Doch Papa hebt ihn hoch, drückt ihn mir in den Arm und verlässt seufzend das Zimmer.

»Auch gut«, murmelt Teddy und widmet sich genüsslich einer lautstarken Flatulenz. »Das musste noch raus«, kommentiert er und kuschelt sich behaglich in meinen Arm.

Wenn mein braunhaariger Freund aufgeregt ist, muss er immer pupsen, was viele mit dem »Bööööh« verwechseln, das Teddys manchmal machen, wenn man sie auf den Bauch dreht.

Kurze Zeit später ist er eingeschlafen und schnarcht wie ein Holzfäller.

Ich liege wach, warte darauf, dass die Feinstaubwerte wieder sinken, und denke über einen neuen Geschäftszweig nach. Es muss doch möglich sein, Schnuller mit Aroma zu erfinden. Erdbeere, Schokolade, von mir aus auch Pastinake. Für die ganz Harten. Gleich morgen werde ich die Sache angehen, denn ich brauche dringend Geld.

Und Teddy eine Polypenverkleinerung.

* * *

Am nächsten Morgen haben Papa und Mama eine Gesichtsfarbe wie zwei einsame Vampire. Sie hocken in unserem Reihenhaus-Wohnzimmer auf der braunen Sitzgarnitur und trinken starken Kaffee. Fairtrade natürlich. Ich kratze ein bisschen an der Retro-Tapete. Konzentrische Kreise in Ockergelb und Umbra, das halte ich auf Dauer nicht aus. Irgendwie muss man das Ding doch abkriegen.

»Das kann man nur mit Drogen ertragen«, sagt Teddy und bastelt sich einen länglichen weißen Stab mit Kräuterkrümeln darin. »Lass die Tapete an der Wand, gleich geht’s ab.«

Finde es nicht gut, dass er Mamas Tee zum Basteln benutzt. Kraft und Harmonie ist ihre Lieblingssorte, gleich nach Nicht-schon-wieder-Montag-Tee, und ich wette, wenn Fritz erst einmal rausgekommen ist, braucht sie die doppelte Portion.

Teddy interessiert das nicht, er bastelt weiter.

Komisch, dass man Teesorten so benennt. Biersorten heißen ja auch nicht Morgen-hab-ich-garantiert-nen-Kater oder Ich-will-vergessen-einfach-nur-vergessen oder Wenn-ich-trinke-muss-ich-nicht-reden. Und wann um Himmels willen soll man einen Wach-auf-Tee trinken?

Papa nimmt einen weiteren Schluck aus seiner Kaffeetasse und starrt auf einen der Kreise. Der Kaffee scheint ihm plötzlich Schwung zu geben, vielleicht war es auch der Kreis, jedenfalls knallt er plötzlich seine Tasse auf den Tisch, sieht Mama an und sagt: »Heike, so geht das nicht weiter. Was hast du eigentlich beim Abstillen falsch gemacht, dass Mia nach einem Jahr immer noch nicht durchschläft?«

»Ich?« Mamas Augen werden groß.

Teddy guckt sich hektisch nach seiner Bastelarbeit um und atmet erleichtert auf, als er das Ding hinter seinem Ohr entdeckt.

»Was hat das denn mit dem Abstillen zu tun?«

»Mia hat sich viel zu lange dran gewöhnt, nachts dauernd die Brust zu kriegen!« Papa ist richtig in Rage. »Mich hast du nie so häufig rangelassen.«

Mama schnappt nach Luft. »Ach daher weht der Wind! Weil DU sexuell frustriert bist, bin ICH schuld an Mias Schlafverhalten.« Ungläubig schüttelt sie den Kopf. »Du warst es doch, der das Stillen so wichtig fand. Wegen deiner Allergien, hast du gesagt. Weil sich das aufs Kind übertragen kann, und Stillen der beste Schutz sei. Und ich hab mitgemacht, obwohl mir die Brustwarzen dabei so wehgetan haben, als würde eine vom Pflegenotstand frustrierte Krankenschwester ein Dutzend großflächiger nicht-sensitiver Pflaster mit einem Ruck abreißen. Ich habe die Zähne zusammengebissen und weitergemacht. Und jetzt bin ICH schuld?«

Ja, Mama, du bist schuld. Zum Glück. Muttermilch ist das Beste, was es gibt, und ich kann es immer noch nicht fassen, dass das Stillen für immer vorbei sein soll. Aber, lieber Papa, deshalb nicht durchzuschlafen, würde der Sache doch ein bisschen zu viel Bedeutung beimessen. Immerhin bin ich inzwischen ein Kleinkind. Und für Kleinkinder gibt es Süßigkeiten.

Papa fährt sich nervös durch die Haare. »Natürlich bleibe ich dabei, dass Stillen wichtig ist. Aber wenn du früher abgestillt hättest, hätte Mia sich früher ans Durchschlafen gewöhnen können.«

»Dann zeig doch mal, dass du Erziehung besser drauf hast, und mach ein Durchschlaftraining mit Mia!«

Durchschlaftraining. Das Wort kenne ich noch nicht. Wie soll das gehen? Entweder wache ich auf, weil ich Papa schnarchen höre, oder ich träume was Doofes. Und jeden Dienstag kommt Teddy nachts betrunken aus der Kneipe und weckt mich. Das alles abzutrainieren erfordert Sinn und Verstand und scheint mir ein ziemlich komplexes Projekt, aber ehrlich gesagt erweckt Papa in seiner jetzigen Verfassung, mit all dem Schlafmangel, über den er ständig klagt, nicht gerade den Anschein, als sei er mit zahllosen innovativen, spritzigen Ideen gesegnet.

* * *

Seit Tagen reden Mama und Papa darüber, dass es so nicht weitergehen könne, dass sich etwas ändern müsse, dass sie das nicht länger durchhielten. So was höre ich schon seit einem Jahr immer mal wieder, aber irgendwie sind sie plötzlich so ernst dabei. Und nun diskutieren sie auch noch über meine Unterbringung in einer Anstalt.

Ich ahne Schlimmes.

Sie lieben mich nicht mehr.

»Ungeliebte Menschen in eine Anstalt einpferchen, das ist schon lange verboten«, schreie ich. »Das durften Männer früher mit Frauen machen, die es gewagt haben, eine eigene Meinung zu haben. Aber das ist vorbei! Und jetzt sollen da stattdessen wir Kinder rein?«

Doch sie sagen nur: »Mia, jetzt nicht, dududu«, und drücken mir den Schnuller in den Mund.

Ich soll in eine Anstalt. Eine Anstalt für Kinder. »Kita« nennen sie das. Hm, wofür steht das wohl? Kinder-Terror-Akademie? Oder nein, sicher bilingual. Englisch-Deutsch. Kids-Terrorism-Akademie.

Vielleicht lieben sie mich ja doch noch und sind nur radikal geworden. Werden ja viele momentan. Ich soll eine Ausbildung in einer Akademie machen und dann in den heiligen Krieg ziehen, um Kinderlose durch ohrenbetäubendes Gebrüll fertigzumachen. Die sollen aufhören, stundenlang gemütlich Bücher zu lesen und Kinoabende zu planen und miteinander zu reden, ohne dass einer dazwischenblökt oder das Möhrchenglas umkippt. Die sollen sich endlich der Realität stellen, Kinder zeugen und die Rente sichern und es auf sich nehmen, sich monatelang übermüdet in Bionade-Cafés mit laktosefreiem Latte macchiato und frischem Minz-Ingwer-Tee rumzutreiben.

Igitt.

Meine Eltern schauen mich an. Die hecken irgendwas Schlimmes aus, das sehe ich doch.

»Es ist so schön dort, Mia«, flötet Mama.

»Da findest du Freunde«, lächelt Papa.

Verarschen kann ich mich alleine. Habe genug Außenkontakt. Da ist zuallererst Sören-Wotan, der Sohn von Marlon und Bettina. Die sind zwar getrennt, aber Eltern bleibt man ein Leben lang, aus der Nummer kommt man nie wieder raus. Bettina ist Mamas alte Schulfreundin, wobei das Wort »Freundin« ihrer nicht spannungsfreien Beziehung vielleicht nicht immer gerecht wird. Bettina ist in Bezug auf Sören-Wotan ein wenig überambitioniert, um nicht zu sagen: ehrgeizig wie zehn Eckart von Hirschhausens. Seit sie aber ihre Neigung zu Frauen entdeckt hat und mit Gudrun Rudolf-Steiner-Wiebkötter zusammen ist, wirkt sie entspannter. Marlon ist Creative Director, von sich selbst überzeugter Dubadoo-S1-Kinderwagen-Experte mit gegelten Haaren und ein ziemlicher Schnösel, aber Mama mag ihn trotzdem. Solange er die Finger von ihr lässt, soll es mir recht sein.

Erstaunlich ist jedoch, dass diese beiden narzisstisch leicht gestörten Personen einen so wunderbaren Sohn haben: Sören-Wotan, mein rothaariger Lover. Gut, so weit sind wir noch nicht, bis jetzt sind wir erst einmal Freunde. Aber ich sehe der Zukunft positiv gestimmt entgegen. Außer was die Schwiegereltern betrifft. Bettina hat Sören-Wotan das Kinderzimmer mit Bob der Baumeister tapeziert, der Können wir das schaffen? Ja, wir schaffen das! in sieben verschiedenen Sprachen sagt.

Gut, dass Sören-Wotan jetzt mich hat. Das bringt ihn auf den Boden der Tatsachen zurück. Außerdem hat Gudrun Rudolf-Steiner-Wiebkötter einen guten Einfluss auf Sörens Mutter, und auch sie selbst ist viel gelassener, seit sie »gleichgeschlechtlich liebt«, wie sie es nennt. Sogar gegen meinen Schnulli hat sie nichts mehr gesagt, obwohl das mit ihrer anthroposophischen Angst vor Stillverwirrung eigentlich nicht vereinbar ist. Das rechne ich Bettina hoch an.

Außerdem spiele ich oft mit der Nichte unserer Nachbarin Wiebke. Sie heißt Levke-Fee und ist ein allergiegestrafter Hypochonder, aber sonst ganz in Ordnung. Zwar hat sie ein Auge auf meinen Sören-Wotan geworfen, doch das kriege ich in den Griff. Habe für den Notfall ein paar Haselnüsse und Birkenpollen gesammelt und hoffe, dass sie mich nicht zum Äußersten treibt.

Von Teddy lerne ich alles, was ein Mädchen wie ich fürs Leben wissen muss, vor Eltern jedoch geheim gehalten wird. Und schließlich ist da noch der Mops von Wiebke. Mittlerweile sind wir Freunde. Na ja, zumindest haben wir eine Abmachung. Ich werfe ihm Stöckchen zum Schnappen und schiebe ihm unterm Tisch meinen Pastinaken-Hähnchen-Brei zu, dafür darf er als Belohnung mein Gesicht abschlecken. Mich ekelt das ja ein bisschen an, aber der Deal ergibt im kulinarischen Bereich für mich wirklich Sinn. Meine Mutter und Wiebke finden den feuchten Liebesbeweis des Mopses erstaunlicherweise süß, aber die finden ja auch Tom Cruise süß, einen Mann, der zwar einigermaßen gut aussieht, aber mit voller Überzeugung einer inakzeptablen Sekte angehört. Furchtbar, wozu eine geringe Körpergröße einen Mann treiben kann. Porsche oder Sekte, eins von beiden muss die Sache in diesen Fällen immer kompensieren.

In der Zwischenzeit diskutieren meine Eltern noch über meine Unterbringung während ihrer Arbeitszeit.

»Oder Oma muss ran«, schlägt Papa vor.

»Das macht die nie«, winkt Mama ab. »Außerdem erwirbt unser süßes Scheißerchen dann keine Sozialkompetenz, überleg doch mal, ohne andere Kinder wird sie mit Sicherheit zum Nerd, wird drogenabhängig oder was weiß ich … Und Oma füttert sie immer mit Sahne.«

»Mark Zuckerberg war auch ein Nerd«, gibt Papa zu bedenken.

»Trotzdem«, sagt Mama.

»Der hat Facebook erfunden und ist jetzt einer der reichsten Männer der Welt«, lächelt Papa, »immerhin.«

»Siehst du! Deshalb ist Facebook gut beim Sammeln von Daten, aber schlecht bei der schnellen Vernichtung von Hass-Posts, Nazi-Statements und Katzenbildern.«

Papa seufzt.

Das nenn ich eine gute Argumentation – ich bin stolz auf sie.

Es klingelt an der Tür. Nachbarin Wiebke fragt, was denn letzte Nacht los gewesen sei, sie habe sich ernsthaft Sorgen gemacht, ich habe ja gebrüllt wie vögelnde Katzen. Sie schmeißt sich müde auf einen Küchenstuhl und packt einen Stapel selbstgemachte Buchweizen-Pfannekuchen aus.

»Vögelnde Katzen? Was ist das denn? Gibt es auch katzelnde Vögel?«, frage ich Teddy.

»Das ist noch nichts für dich«, antwortet er gleichgültig und versucht weiter, sich ein Piercing in den Bauchnabel zu hämmern.

Mama sagt: »Mia hatte ihren Schnuller verloren, und Chris hat nachts einen Durchblick wie Donald Trump politisch.«

Papa seufzt, verdreht die Augen und zwinkert mir müde zu.

Wiebke gähnt.

Mama fährt fort: »Wir wollen Mia in einer Kita anmelden …«

Wiebke ist schlagartig wach.

Die also auch.

»Waaaas, das habt ihr noch gar nicht gemacht?«

Papa spielt mit Essstäbchen Schlagzeug auf zwei Pfannkuchen.

»Wieso?«, sagt Mama. »Sie soll doch erst mit zwei Jahren gehen.«

»Das ist doch nur noch EIN JAHR hin!«, krächzt Wiebke entsetzt und nimmt Papa das Schlagzeug weg. »Da kriegt ihr doch jetzt KEINEN PLATZ MEHR!«

Prima, denke ich, Problem gelöst.

Der Mops röchelt beifällig, und Mama fragt: »Wieso? Es gibt doch zig Kitas in unserem Viertel in Köln.«

Wiebke guckt sie an. »Aber auch zig Kinder. Und ihr wollt doch eine GUTE Kita für euren Schnurzipurz.«

Schnurzipurz. Mir wird übel.

Papa tätschelt mir liebevoll den Kopf, als wäre ich eine Bulldogge. Ich glaube, er hat momentan wirklich keinen Durchblick, und ich sabbere hundemäßig, um ihn nicht zu verstören.

Wiebke hakt nach.

»Aber wenigstens das Baby habt ihr doch schon angemeldet, oder?«

Mama und Papa gucken sich an.

»Neeeei-ein«, sagt Mama, »das ist doch noch gar nicht geboren.«

»O Gott, du hast ja wirklich keine Ahnung!« Wiebke sackt in sich zusammen.

Papa tätschelt nun Mamas Bein.

»Keine Sorge, Schatz, ich habe mich da natürlich lange vor der Zeugung abgesichert, wir haben die Zusage für einen Platz in einer Kita, die heißen Die glutenfreien Gnocchis«, sagt Papa und stellt den Ahornsirup auf den Tisch.

»Echt? Kenn ich gar nicht, aber super!«, freut sich Wiebke. Erleichtert prüft sie, ob der Ahornsirup das Bio-Siegel hat oder zumindest Fairtrade ist. Sie schüttelt den Kopf, enttäuscht über so viel Ignoranz des gesellschaftlichen Ernährungsfortschritts, holt aus ihrer Handtasche ein Weckglas mit Zimt und Kokosblütenzucker, bestreut ihren Pfannekuchen damit und beißt hinein.

Mama und Papa lachen, und auch ich muss gestehen, dass mein Vater sehr überzeugend gewirkt hat.

Wiebke ist sauer.

Der Mops kotzt meine Buchweizenpfannkuchenreste aus.

»Iiiih«, sagt Papa und wird grün im Gesicht. »Ist das eklig.«

Wiebke guckt betroffen, was Mama offenbar leid tut.

»Wiebkes Mops kotzt. Das ist nicht eklig, Chris, das ist Poesie. Denk nur an Ernst Jandl«, sagt Mama und lächelt Wiebke an.

Es ist erschreckend, wie sehr sich Frauen in der Schwangerschaft verändern.

Draußen verdunkeln sich die Wolken, und Wind kommt auf. Wolken, Wind und Wiebke – für meinen Geschmack zu viel Alliteration.

Ich befeuchte meinen Zeigefinger und male mit der Zimt-Kokosblütenzucker-Mischung ein Anti-Atomkraft-Tattoo auf Mopsis Fell.

»Ihr werdet schon noch sehen, wie schwierig es ist, einen Platz zu bekommen«, murmelt Wiebke beleidigt und wischt mein Kunstwerk ab.

Bin enttäuscht. Noch nicht mal Wiebke hat Verständnis für meine gesellschaftskritische Kunst.

Papa sagt beschwichtigend, er sei ihr dankbar für den Tipp und werde umgehend bei der Stadt anrufen.

Er verlässt die Küche.

Sie machen wirklich ernst. Bin völlig verzweifelt und vertraue mich Teddy an.

Er fängt an zu lachen und schlägt sich auf die Schenkel.

Ich haue ihn.

»Aua«, sagt er entrüstet und dann: »Entschuldige, Mia, aber Kita, das ist kein Terrorcamp … obwohl, eigentlich schon, nur anders.« Er kichert von neuem und schlägt sich schuldbewusst die Pfoten vor den Mund.

»Kita – da treffen sich Kinder und spielen zusammen. Es sind mehrere Betreuerinnen da, die für euch sorgen und mit euch spielen.«

Oha.

Er ergänzt: »Da wird Musik gemacht und gemalt und gerutscht, einfach herrlich.«

Ich bin sprachlos. Anscheinend sind meine Eltern eigentlich doch ganz in Ordnung.

Ich klettere auf Mamas Schoß und lullere ein bisschen an ihrer Kette rum, doch Mama sagt: »Nicht, Mia, ich habe keine Zeit«, setzt mich auf den Tripp-Trapp-Hochstuhl und legt mir bunte Plastiklöffel vor die Nase.

Was soll ich denn damit? Ohne Glockenspiel. Ohne dass sie mir jemand wieder aufhebt.

Mama seufzt wie Bert, wenn Ernie wieder Regenschirm, Taschenlampe und Fußball mit in die Badewanne nehmen will, und schaltet ihren Laptop an. »Wenn man nicht alles selbst macht.«

Unbemerkt stelle ich mich auf den Tripp Trapp und luge über ihre Schulter.

Es poppt eine Site mit dem Namen Still-Bill, der Mami-Chat auf, und Mama beginnt zu schreiben. Offensichtlich ist es ihr peinlich, sich diesem Forum anzuschließen, deshalb benutzt sie ein Pseudonym.

Schlaue Mama.

Kunstabzugshaube: Liebe Mütter, wisst ihr, wie man einen U3-Kita-Platz bekommt? Unsere Tochter Mia ist schon ein Jahr alt, und wir suchen einen Betreuungsplatz. Bin für jede Hilfe dankbar.

Thermomixfee: Wie bitte? Du willst dein Kind schon so früh weggeben? Die passen in diesen Läden doch gar nicht auf. Und wenn deine Zuckermaus da zum Beispiel eine Nuss verschluckt, und keiner kriegt’s mit? Das ist lebensgefährlich in dem Alter! MUSST du wirklich arbeiten? Was macht denn dein Mann?

Einlauf-Mutter: Kinder gehen einem doch sowieso nur auf den Sack.

Eiskunstläuferin: Ist wirklich schwer, einen Platz zu finden, deshalb habe ich eine Nanny eingestellt. Die hat unseren Konstantin-Levan immer im Auge und bringt ihm sogar Fremdsprachen bei.

MissKatze7: Ja, aber ich dachte, in der Kita lernen die doch auch Sozialverhalten, das ist doch supi.

Eiskunstläuferin: Sozialverhalten hat meine Nanny auch.

Thermomixfee: Das Sozialverhalten der Kinder hängt doch am meisten vom Sozialverhalten der Eltern ab. Aber vielleicht ist Mias Vater ja arbeitslos, und Kunstabzugshaube MUSS arbeiten?

Amaranth-Stute: Hauptsache, die kochen da gut. Du musst unbedingt eine Kita mit Bio-Essen finden. Am besten mit eigenem Gemüseanbau, wo die Kinder mitgärtnern können.

Kunstabzugshaube: Mein Mann ist nicht arbeitslos.

Amaranth-Stute: Erdbeeren, Tomaten, Artischocken.

ThermomixFee: Und dann in den Thermomix, der kann ja auch Smoothies.

Amaranth-Stute: Wir sind bei Schabernack, kann ich nur empfehlen. Die erziehen anthroposophisch und frei von jeglichem konsumistischen Terror. Neulich haben sie Blockflötenhüllen selbst gefilzt.

ThermomixFee: Smoothies, da merken die Kinder gar nicht, was da alles an gesunden Sachen drin ist.

Einlauf-Mutter: Dann brauchst du es auch nicht selber anbauen. Kinder haben da eh keinen Bock drauf. Nimm ne Fanta, da sind Orangen drin.

Gute Idee. Klettere vom Tripp Trapp und öffne den Kühlschrank auf der Suche nach Fanta. Finde keine. Stattdessen stehen da zwei Pappkartons mit Eiern drin. Sehen aus wie große elliptische Flummis. Frage mich, ob die titschen können und werfe eins auf den Boden. Fehlanzeige. Sage der Einfachheit halber »Da!«, um Mama das Ergebnis meines Experiments zu zeigen. Doch Mama ist so vertieft in ihren Chat, dass sie nicht im Stande ist, meine physikalischen Studien zu würdigen.

Also mache ich allein weiter.

Um auszuschließen, dass das erste Ergebnis ein Zufall war, werfe ich das zweite Ei auf den Boden. Gelber und durchsichtiger Glibber fließen nun durcheinander, was mich künstlerisch ungemein inspiriert. Nacheinander werfe ich nun alle Eier auf verschiedene Stellen auf den Boden.

Betrachte begeistert mein Werk.

Sah nicht schon Franz Marc seinerzeit im Gelb das »Sanfte, Heitere, Sinnliche«? Ich hoffe, die trübe Stimmung meiner Mutter damit aufhellen zu können.

Stupse sie an, doch sie sagt nur: »Mia, ich KANN jetzt NICHT!«

»Du meinst, du willst nicht«, sage ich. »Von diesem Anblick bekommt man aber garantiert gute Laune. Du willst lieber wieder zum Therapeuten rennen, für etwas, das du hier bei mir gratis haben könntest.«

Natürlich versteht sie mich nicht. Frustriert betrachte ich das Ergebnis meiner Arbeit. Irgendetwas fehlt noch.

Ich öffne den Kühlschrank und angele mir die Ketchupflasche. Umrande jedes einzelne Werk mit einem kräftigen Rot. Das ist nicht einfach, aber die Glibberhaufen machen nun einen durchaus ästhetischen Eindruck und sehen fast aus wie Turners »Licht und Farbe. Der Morgen nach der Sintflut«.

Teddy lacht und meint, es erinnere ihn eher an einen dieser naiven Tetsche-Cartoons aus dem Stern, nur dass die Eier nicht gebraten wären.

Pah.

Betrachte mein Werk als vollendet und klettere wieder auf den Tripp Trapp, um zu sehen, wie weit Mama inzwischen gekommen ist.

MissKatze7: Schabernack, das ist doch dieser ehemalige sozialistische Kinderladen, die laufen doch immer alle in Jute rum, da würde ich mein Kind nie hingeben.

Amaranth-Stute: Besser als Polyester. Du bist doch im Fitness-Studio, oder? Gibt’s da eigentlich auch Faszien-Yoga?

Kunstabzugshaube: Hätten die denn noch einen Platz?

MissKatze7: Im Fitness-Studio?

Kunstabzugshaube: Nein, in der Jute-Kita.

Amaranth-Stute: Ich frag mal nach, aber ich glaube nicht. Bist du denn Anthroposophin?

Thermomixfee: Anthroposophin? Ist doch unwichtig, Hauptsache, man wäscht das Gemüse.

MissKatze7: Im Fitness-Studio sind noch jede Menge Plätze.

Kunstabzugshaube: Was kostet denn eine Nanny?

Eiskunstläuferin: Unsere kostet 3000 Euro, aber sie hat auch mehrere Zertifikate und war vorher in verschiedenen adeligen Häusern.

Kunstabzugshaube: Amaranth-Stute, sag bitte Bescheid, ob bei den Jute-Leuten ein Platz zu haben wäre. Und letzte Frage: Wie bekommt man es hin, dass Buchweizenpfannkuchen lecker schmecken?

Einlauf-Mutter: Mit Zucker.

Mama klappt den Laptop zu und seufzt. Dann sieht sie mein Werk und beginnt zu schreien.

»MIA!«

»Ja! Das war ich!«, sage ich und erwarte Lob und das Bereitstellen weiterer Materialien.

Doch sie schreit: »Was für eine Sauerei!«, holt den Wischmopp und wischt alles weg. Wirklich ALLES.

Das erzürnt mich sehr. Jetzt weiß ich, warum sie mich in eine Einrichtung stecken will. Die künstlerische Konkurrenz ist ihr zu groß.

Bin nun richtig sauer und beschließe, meine Kunst ab jetzt heimlich auszuüben.

Und Eier esse ich auch nicht mehr.

Kapitel 2 Prenzlauer-Berg-Periode

Papa und Mama vernachlässigen mich.

Will das Jugendamt anrufen, doch sie legen das Telefon nie aus der Hand. Die ganze Woche über telefonieren sie mit Kitas. Vermutlich ist die Sintflut nahe und das Überleben nur in integrativen bilingualen Kitas mit alternativen Veggie-Hack-Frikadellen gesichert.

»Keine Sorge«, rufe ich, um etwas Spannung aus der Luft zu nehmen, »falls es wirklich dazu kommt, werden erst mal nur die Tiere eingesammelt, immer zwei pro Gattung, und dann irgendwann vielleicht noch ein paar Menschen, da haben wir gar keinen Einfluss drauf.« Das mit den Tieren hat Oma mir erklärt, die wohnen dann in der Arche Noah, und die steht im Kölner Zoo, da hab ich auch schon drin gespielt.

Meine Eltern machen »psst« und stecken mir den Schnulli in den Mund. Habe Geduld mit ihnen, denn sie sind offensichtlich nicht bibelfest.

Teddy guckt mich an und schüttelt den Kopf. Natürlich fehlt er in der Aufzählung, schon allein, weil er keinen Partner hat. Aber er braucht keine Angst zu haben, ich werde ihn mit reinschmuggeln. Tröstend nehme ich ihn in den Arm.

Papa und Mama wirken jedoch zunehmend verzweifelt, und ich möchte sie beruhigen und ihnen sagen, dass ich schon ganz gut auf mich selbst aufpassen kann und auch die soziale Interaktion mit anderen durch Teddy, Sören-Wotan und Levke-Fee ausreichend gewährleistet sei. Sage »Mama«, »Da« und »Pffffffheßßß«, doch sie beachten mich nicht.

Nur die Yucca-Palme lässt ihre Blätter in meine Richtung sinken.

Draußen scheint die Sonne, und ich wünschte mir, Mama würde wieder mit mir »Hoppe, hoppe Reiter« spielen.

Erschöpft lässt Papa jetzt den Hörer sinken. »Die Stadt sagt, sie habe keinen einzigen Platz frei für Fritz. Und für Mia schon gar nicht, was mir denn einfiele, so kurzfristig.«

Fritz, Mia. Die Reihenfolge gefällt mir gar nicht.

Zornig pupse ich. Geruchsintensiv.

»Gut gemacht«, lacht Papa und ahmt mich nach. Ha.

Ich weiß, wie man ihn auf meine Seite ziehen kann, und lege noch ein Lüftchen nach. Papa kontert. Mama verzieht angewidert das Gesicht und sagt: »Aber die müssen doch …«

»Nein«, erwidert Papa, »die müssen erst ab drei Jahre. Für Kinder unter drei sind die zu nichts verpflichtet.«

»Was machen wir denn nur?«

Papa platzt vor Stolz.

»Ich habe Termine bei sieben verschiedenen Elterninitiativen.«

»Termine?«

»Ja, da muss man sich vorstellen. Im Grunde wie bei einem Bewerbungsgespräch.«

Mama zwinkert ihm zu und gluckst: »Is klar, und dann muss man seinen Namen tanzen und veganes Bio-Essen nach Attila-Hildmann-Richtlinien vorkochen, haha …«

Papa schweigt.

»Du meinst das doch nicht ernst, oder?«

Papa schweigt.

Mama reckt stolz den Kopf.

»Da geh ich nicht hin.«

»Wir müssen«, sagt Papa. »Es sei denn, du bleibst mit den beiden in den nächsten Jahren zu Hause.«

»Wieso ich?«, braust Mama auf. »Du bist doch genauso verantwortlich, oder hab ich die Kinder allein gezeugt?«

»Wo ist bloß der Heilige Geist, wenn man ihn mal braucht«, sagt Papa und lächelt Mama an.

Jetzt wird es interessant. Vielleicht ist mein Papa nicht Papa, sondern der Heilige Geist. Maria hat zum Kinderzeugen ja auch lieber auf den Geist zurückgegriffen.

Mama wird sarkastisch.

»Ach, der Typ im Bett warst gar nicht du? Deswegen also …« Sie lacht, aber es klingt nicht fröhlich.

Papa verzieht das Gesicht.

Ich verstehe nur Bahnhof. Natürlich ist Papa gut im Bett. Wir sind alle gut im Bett. Ich auch, ich schlafe schon fast durch. Also.

»Ach Heike, einer muss zu Hause bleiben, und von irgendetwas müssen wir auch leben.«

Mama schmollt.

»Du vertraust meiner Kunst nicht«, sagt sie schließlich und streicht sich enttäuscht über den Babybauch.

»Doch«, versucht Papa sie zu beruhigen, »aber überleg mal, wie lange du jetzt schon darauf wartest, deine Bilder über Die familiäre Verbundenheit und das Wunder der Geburt in rosafarbenen Kreissälen loszuwerden. Und von deinem Zyklus Dickes Blut hat noch keiner auch nur ein Bild gekauft.«

»Der Galerist ist schlecht.«

Mama starrt wütend auf ihre Rhabarbersaftschorle, was ich verstehen kann. Wer will denn so was trinken? Die bloße Existenz von Rhabarber ist eine Strafe Gottes. Ein völlig unnötiges Staudengewächs, eigens dazu erdacht, die Menschheit zur Demut zu züchtigen. Kann mir richtig vorstellen, wie Gott in einem Anflug von schaffensmäßigem Burn-out dasaß und dachte: So, Zeit für eine schöne kleine Menschenschinderei, warum soll es denen besser gehen als mir, also einfach einen Schuss Oxalsäure in das Gemüse rein, fertig.

Oma ist hörige Christin und bringt das purpurne Zeug oft in Kuchenform mit, und mein Gaumen zieht sich schon beim bloßen Anblick zusammen, bis er sich so anfühlt wie Omis Ellenbogen aussieht.

»Ich weiß«, seufzt Papa, »der Galerist ist schlecht, und deine Bilder sind gut, aber die traurige Wahrheit ist, dass wir nicht davon leben können, nicht zu viert.«

»Noch sind wir ja nur drei«, sagt Mama.

Papa guckt erschrocken.

»Dreieinhalb«, korrigiert Mama.

So, denke ich, das sitzt, du bist eben nur eine halbe Portion, Fritz.

»Außerdem heißt der Zyklus Dickes Blut in Divergenz zur Ein-Kind-Politik Chinas«, sagt sie trotzig.

»Eben«, sagt Papa leise.

Mama braust auf. »Was soll das heißen?«

»Ein-Kind-Politik Chinas, das ist doch gar nicht mehr aktuell. Die dürfen doch jetzt mit staatlicher Erlaubnis zwei Kinder bekommen.«

Mama ist sprachlos. Sie nippt an ihrer Schorle und denkt nach.

»Na und? Dann benenne ich das halt um und ändere den Titel. Aber wir wollten doch bei Job, Kindern und Haushalt immer fifty-fifty machen …«, braust Mama auf, »und ich hab doch jetzt diesen Job im Museum …«

»Zum Bilder-Abstauben.«

»Aber ich habe ein Einkommen! Und Van Gogh.«

O Gott. Jetzt auch noch Van Gogh. Den hab ich gefressen. Sich ein Ohr abschneiden und dann schon mit siebenunddreißig sterben – gibt bessere Marketingideen. Und dann immer Sonnenblumen, als ob sonst nichts in der Welt los sei.

Mama fährt fort. »Der hat zu Lebzeiten auch so wenige Bilder verkauft. Und war dennoch ein wahnsinnig guter Künstler. Und ist jetzt einer der Berühmtesten.«

»Jetzt«, erwidert Papa und sieht Mama ernst an.

Nein, Mama, bitte nicht, ich mag deine Ohren.

»Wenn ich zusätzlich zu dem Job im Museum noch ein paar meiner eigenen Bilder verkaufe, dann wäre das doch schon ganz ordentlich.« Mama überlegt. »Besonders berühmt ist ja Van Goghs holländische Periode.«

Puh.

Papa guckt irritiert.

»Da hat er Bauern bei der Arbeit gemalt und ihre ärmlichen Hütten und als Sinnbild dafür die Kartoffel. Vielleicht sollte ich eine Prenzlauer-Berg-Periode machen: Ich könnte Akademikereltern und kinderreiche Ärzte mit Zusatzausbildung in Homöopathie malen und die Pastinake als Sinnbild dafür. Oder Grünkohl-Smoothies. Aus regionalem Anbau. Und daneben zehn SUVs.«

Papa seufzt.

»Die Idee ist schön, aber das dauert doch alles viel zu lange, und auf den finanziellen Durchbruch können wir uns leider nicht verlassen.«

Er will sie in den Arm nehmen, doch Mama ist sauer und verschränkt die Arme.

»Nicht dickes Blut– dicke Luft«, flüstert Teddy mir zu, und ich gebe ihm traurig recht. Meine Eltern sollen sich nicht streiten. Ich kann ja weniger essen. Vielleicht kann ich auch bald schon aufs Töpfchen. Dann brauchen wir kein Geld mehr für Windeln. Doch noch während ich darüber nachdenke, landet ein ordentliches Drückerchen in meinen Pampers. Furchtbar. Ich hab das einfach nicht unter Kontrolle. Aber ich werde daran arbeiten. Hart. Denn ich habe meine Eltern lieb.

Mama murmelt: »So viel verdienst du auch nicht mit deinem Tonstudio.«

»Aber immer noch mehr als du und genug, um eine Familie zu ernähren.«

Jetzt reicht es. Zeit zu handeln.

Ich kippe die Schorle um, greife mir einen Löffel und male damit auf das selbstgefilzte grüne Stuhlkissen, ein Geschenk von Wiebke. Es entstehen frühgeförderte Kinder, die auf Chinesisch die Bedeutung des Bruttoinlandprodukts unter Berücksichtigung der Waffenverkäufe in Dritte-Welt-Länder erklären. Zufrieden halte ich mich am Stuhl fest und betrachte mein Werk. Prenzlauer-Berg-Periode? Der Anfang ist gemacht.

Stolz sehe ich Mama an, doch sie fängt an zu schimpfen und wischt mit einem Geschirrtuch das ganze Œuvre weg.

Erst die Eier, nun die Schorle. Ich bin ein verkanntes Genie. Von den eigenen Eltern künstlerisch verstoßen. Diese bittere Erkenntnis lässt mich entsetzt aufschreien.

Papa stopft mir den Schnulli in den Mund.

Was für eine Demütigung. Doch ich muss mich nur kurz konzentrieren, und kurze Zeit später ziert ein Schwall Erbrochenes den Tisch mitsamt Rhabarbersaftschorle.

Kapitel 3 Gleichgesinntinnen und Gleichgesinnte

Eine Woche später sitzen meine Eltern mit mir vor einer Gruppe lächelnder Frauen mit bunten Ohrringen in einem farbenfrohen und konsequent nach Feng-Shui gestalteten Raum. Zwei weitere Elternpaare mit jeweils einem Kind sitzen kampfbereit neben uns.

Mama deutet auf die Frauen mit den bunten Ohrringen und erklärt mir, das seien die Erzieherinnen der Kita, die ganz lieb seien und sich hoffentlich bald um mich kümmern würden.

Ich glaube ihr nicht.

Die patent wirkenden Frauen wollen sich gerade vorstellen, da kommt Marlon mit Sören-Wotan rein.

»Entschuldigung«, keucht er, »unser Sören-Wotan hat noch einen hübschen Haufen in die Windel gemacht, das hat uns aufgehalten.«

Mein Freund Sören-Wotan wird rot und guckt verlegen zur Seite.

Meine Eltern lachen, und Papa haut Marlon freundschaftlich auf die Schulter.

Die Erzieherinnen lächeln Marlon verständnisvoll an, und die jüngste von ihnen sagt, das sei doch kein Problem, es sei ja toll, dass ER als VATER sich so gut um seinen Sohn kümmere und sogar vor dem Säubern eines sicherlich süßen Pos nicht zurückschrecken würde.

Marlon lacht und zwinkert der blonden Pädagogin zu, dann nehmen sie neben uns Platz. Sören-Wotan schämt sich immer noch. Ich zwinkere ihm zu.

»So geht das also«, raunt Papa Marlon zu, »na warte, mein Freund, das kann ich besser.«

Mama nickt ermunternd, und Papa zeigt einige seiner besten Zaubertricks, um mich öffentlich zum Lachen zu bringen, doch die Kita-Leiterin beginnt nun mit der Begrüßung.

»Ich freue mich sehr, dass Sie den Weg in unsere Erziehungsinitiative Kleine Rackere.V. gefunden haben. Mein Name ist Birgit Heckler-Koch, und ich bin hier die Leiterin. Wie Sie wissen, sind wir streng anthroposophisch ausgerichtet und hoffen, dass wir uns unter Gleichgesinntinnen und Gleichgesinnten befinden.«

Mama unterdrückt ein Kichern.

»Ich muss Ihnen vorab leider sagen, dass wir nur zwei Plätze frei haben«, fährt sie fort.

Durch die Elternschaft geht ein Raunen.

»Und wie viele Plätzinnen?«, frage ich Sören-Wotan, doch der scheint sich immer noch zu schämen und guckt weg.

»Wir können nur EINEN Jungen und EIN Mädchen aufnehmen.«

Entsetzen macht sich breit.

»Leider«, ergänzt sie und lächelt bedauernd.

Sören-Wotan und ich schauen uns an, ich schüttele den Kopf, und auf Kommando schubsen wir beide unsere Apfelschorle auf den unbehandelten und sicherlich fair gehandelten Holztisch.

Lektion 1 unserer Aktion: Fair gehandelt ist nicht gleich fair behandelt.

»O nein«, ruft die blonde Erzieherin, »wir haben nur für heute Abend die Plastiktischdecke abgenommen …« Bevor sie weiterreden kann, wird sie von Frau Sturmgewehr unter dem Tisch angestupst.

»Das macht doch nichts«, sagt diese, »auf ihre Umgebung achtzugeben lernen die Kinder dann hier. Sofern wir diese Kinder nehmen.«

Mama wischt hektisch die Schorle auf, und Marlon springt auf, um ihr zu helfen. Ihre Hände berühren sich für einen Moment, und plötzlich hat Mama die Gesichtsfarbe einer Tomate. Mama hat also immer noch was für Marlon übrig. Sie kennt ihn schon seit der Schulzeit, und wenn ich das richtig verstanden habe, waren sie damals ganz kurz ein Paar oder so was in der Art – unvorstellbar. Zum Glück hat sie jetzt Papa, er ist mit absoluter Sicherheit die bessere Wahl. Doch dass Mama bei der Berührung von Marlons Pranke errötet, gefällt mir nicht.

»Ist doch nicht so schlimm, das braucht Ihnen nicht peinlich zu sein«, sagt Blondie. Dann wendet sie sich an Marlon: »Und Ihnen als Vater erst recht nicht, und normalerweise haben wir hier recyclebare Plastiktischdecken drauf, ich wusste ja nicht, dass Sie …«

Die braunhaarige Kurzhaarfrisur mit den langen Beinen sagt: »Also wir haben unsere Tochter im Griff.« Sie rümpft die Nase. »Unsere Rucola-Joyce ist ganz lieb und muss unbedingt zum nächstmöglichen Termin in die Kita. Wir sind überzeugte Anthroposophen, und unser Darling selbstverständlich nicht geimpft.«

Die Erzieherinnen nicken zustimmend.

»Unser Benjamin-Purcell-Ole kann anderen Kindern schon osteopathisch helfen und wäre hier sicher bestens aufgehoben«, entgegnet ein rothaariger Pagenkopf. Der Hornbrillen-Hipster neben ihr schweigt.

Papa und Mama gucken sich an. Papa fängt sich als Erster und sagt: »Unsere Mia-Ophelia-Günther kann nicht nur laufen, sondern auch ihren Namen tanzen.«

Mama stößt ihm mit dem Arm in die Seite, verkneift sich ein Kichern und bestätigt seine Aussage durch stolzes Kopfnicken.

»Dann soll Mia-und-wie-war-das-noch? uns das doch mal zeigen!« Die braune Kurzhaarfrisur grinst hämisch und schüttelt den Kopf.

»Mia-Ophelia-Günther«, antwortet Papa, »Günther nach Günther Grass.«

Alle sehen ihn an.

Ich auch.

»Das war ein Scherz«, erklärt Papa. »Das mit dem Tanzen auch.«

Die braune Kurzhaarfrisur stockt einen Moment und erwidert dann: »Ach so, natürlich, als ob sie das schon könnte, das ist ja lächerlich.« Sie lacht gehässig und kriegt sich nicht mehr ein. Auch Rucola-Joyce gluckst gemein in meine Richtung.

Jetzt reicht es.

Zögernd rutsche ich von Papas Schoß und tanze, was das Zeug hält. »Ich werde meine Lauflernschuhe frisieren, das werden Tanzlernschuhe«, flüstere ich Sören-Wotan zu.

Er blickt mich bewundernd an. »Was du alles kannst.«

Motiviert tanze ich eine Blume, die beim ersten morgendlichen Sonnstrahl ihren Kelch öffnet.

Rucola-Joyce und die Kurzhaarfrisur hören auf zu lachen.

Ich falle hin.

Die Erzieherinnen lächeln und sagen: »Nein, ist das süß, das war zwar nicht dein Name, liebe Mia, aber du hast ein gutes Körpergefühl, du bist ein tolles Mädchen.«