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Ursula Poznanski

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Beschreibung

Eine Frau liegt tot auf einer Kuhweide. Ermordet. Auf ihren Fußsohlen: eintätowierte Koordinaten. An der bezeichneten Stelle wartet ein grausiger Fund: eine Hand, in Plastikfolie eingeschweißt, und ein Rätsel, dessen Lösung zu einer Box mit einem weiteren abgetrennten Körperteil führt. In einer besonders perfiden Form des Geocachings, der modernen Schnitzeljagd per GPS, jagt ein Mörder das Salzburger Ermittlerduo Beatrice Kaspary und Florin Wenninger von einem Leichenteil zum nächsten. Jeder Zeuge, den sie vernehmen, wird kurz darauf getötet, und die Morde geschehen immer schneller. Den Ermittlern läuft die Zeit davon, sie ahnen, dass erst die letzte Station ihrer Rätselreise das entscheidende Puzzleteil zutage fördern wird ...

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Ursula Poznanski

Fünf

Thriller

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Eine Frau liegt tot auf einer Kuhweide. Ermordet. Auf ihren Fußsohlen: eintätowierte Koordinaten. An der bezeichneten Stelle wartet ein grausiger Fund: eine Hand, in Plastikfolie eingeschweißt, und ein Rätsel, dessen Lösung zu einer Box mit einem weiteren abgetrennten Körperteil führt. In einer besonders perfiden Form des Geocachings, der modernen Schnitzeljagd per GPS, jagt ein Mörder das Salzburger Ermittlerduo Beatrice Kaspary und Florin Wenninger von einem Leichenteil zum nächsten. Jeder Zeuge, den sie vernehmen, wird kurz darauf getötet, und die Morde geschehen immer schneller. Den Ermittlern läuft die Zeit davon, sie ahnen, dass erst die letzte Station ihrer Rätselreise das entscheidende Puzzleteil zutage fördern wird ...

Über Ursula Poznanski

Ursula Poznanski wurde 1968 in Wien geboren, studierte sich einmal quer durch das Angebot der dortigen Universitäten und landete schließlich als Redakteurin bei einem medizinischen Fachverlag. Nach dem fulminanten Erfolg ihrer Jugendromane «Erebos» und «Saeculum» widmet sie sich nun hauptsächlich dem Schreiben. Sie lebt mit ihrer Familie im Süden von Wien.

 

Mehr zur Autorin: www.ursula-poznanski.de

Inhaltsübersicht

PrologN47°35.285 E013°17.278N47°50.738 E013°15.547N47°48.022 E013°10.910N47°26.210', E013°12.543'N47°54.067 E13°09.205N47°28.813 E013°10.983N47°28.275 E013°10.296NachwortDankQuellenLeseprobe: Blinde VögelPrologKapitel einsLeseprobe: StimmenProlog1. Kapitel2. Kapitel

Prolog

 

Die Stelle, an der sich sein linkes Ohr befunden hatte, pochte im Rhythmus seines Herzschlags. Schnell, panisch. Sein Atem ging in kurzen, lauten Stößen. Wenige Schritte von ihm entfernt beugte Nora sich über den Tisch, auf dem die Pistole und das Messer lagen. Ihr Gesicht war verzerrt, aber sie weinte nicht mehr.

«Bitte», flüsterte er heiser. «Ich will nicht. Bitte.»

Nun schluchzte sie doch auf, kurz und trocken. «Sei still.»

«Warum machst du mich nicht los? Wir haben eine Chance, oh bitte mach mich los, okay? Okay?»

Sie reagierte nicht. Ihre rechte Hand schwebte zitternd über den Waffen, die matt im Licht der nackten Glühbirne schimmerten.

Angst ließ seinen Körper verkrampfen. Er krümmte sich auf dem Stuhl, soweit die Fesseln es zuließen. Sie schnitten brennend ins Fleisch, unnachgiebig wie Stahlbänder.

Ich kann doch nichts dafür, ich kann doch nichts dafür, ich kann doch …

Er kniff die Augen zusammen, riss sie wieder auf. Er musste sehen, was passierte. Noras Hand lag jetzt auf dem Messer.

«Nein!», schrie er, glaubte er zu schreien. «Hilfe, warum hilft mir niemand?» Doch seine Stimme ließ ihn ausgerechnet jetzt im Stich. Sie war fort, und gleich würde alles fort sein, für alle Ewigkeit, sein Atem, sein Puls, jeder Gedanke, alles.

Tränen, die er nicht wegwischen konnte, verschleierten ihm den Blick auf Nora, die immer noch vor dem Tisch stand. Sie gab einen langgezogenen Klagelaut von sich, leiser als ein Schrei, lauter als ein Stöhnen. Er blinzelte.

Sie hatte die Pistole genommen, ihre rechte Hand bebte wie die einer Greisin. «Es tut mir leid», sagte sie.

Er warf sich verzweifelt nach vorne, nach hinten, brachte fast den Stuhl zum Kippen. Spürte kühles Metall an seiner Schläfe. Hielt dann still.

«Mach die Augen zu», sagte sie.

Ihre Hand auf seinem Kopf, sanft. Er fühlte ihre Angst, so groß wie seine eigene. Aber sie würde weiteratmen, weitersprechen, leben.

«Nein», flüsterte er tonlos und blickte zu Nora auf, die nun direkt vor ihm stand. Wünschte sich, ihren Namen nie gehört zu haben.

N47°35.285 E013°17.278

Morgennebel hüllte sie ein wie ein feuchtes Leichentuch. Die tote Frau lag bäuchlings da. Das Gras unter ihr war nass von Tau und Blut. Dort würden die Kühe nun nicht mehr fressen. Sie hatten die Wahl, die Weide war groß und das Ding, das im Schatten der Felswand lag, war ihnen nicht geheuer. Die Braune war knapp nach Sonnenaufgang hingetrottet, hatte den schweren Kopf gesenkt und ihre raue Zunge um die flachsfarbenen Haarsträhnen geschlungen. Dann hatte sie ihren Fund für ungenießbar befunden und war zu den anderen zurückgekehrt.

Sie hielten Abstand. Die, die dalagen, wiederkäuten und aufs Wasser starrten, ohnehin.

Aber auch die Fressenden mieden die Nähe der Felswand. Der Geruch nach totem Tier beunruhigte sie. Viel lieber grasten sie da, wo die ersten Sonnenstrahlen durch den Dunst drangen und lichte Flecken in die Wiese zeichneten.

Die Braune trabte zur Tränke, um zu saufen. Bei jedem Schritt schlug der Klöppel ihrer Glocke blechern gegen das Metall. Ihre Artgenossinnen schlenkerten nicht einmal mit den Ohren. Sie blickten stoisch auf den Fluss, mit fortwährend mahlenden Unterkiefern und peitschenden Schwänzen, die die ersten Fliegen des Tages verscheuchten.

Ein Windhauch strich über die Wiese, verwehte das Haar der Frau und legte ihr Gesicht frei. Die kurze, nach oben weisende Nase. Das Muttermal neben dem rechten Mundwinkel. Die viel zu blassen Lippen. Nur die Stirn blieb bedeckt, da, wo Haar und Haut mit Blut verklebt waren.

Langsam zerfaserte der morgendliche Nebel zu einzelnen Schleiern, die schließlich fortwehten und den Blick freigaben auf die Wiese, die Tiere und das ungebetene Geschenk, das man ihnen hinterlassen hatte. Das dumpfe Muhen der Braunen begrüßte den Tag.

 

Beatrice nahm immer zwei Stufen auf einmal. Sie schlitterte den Korridor entlang, bloß schnell an der zweiten Tür zur Linken vorbei. Sieben Schritte noch. Sechs. Da war ihr Büro, und darin war niemand außer Florin. Dem Himmel sei Dank.

«War er schon da?» Sie schleuderte ihren Rucksack auf den Drehstuhl und die Aktenmappe auf den Tisch.

«Dir auch einen guten Morgen!»

Na wie schön, da war ja jemand die Ruhe in Person. Sie warf ihre Jacke auf den Kleiderständer, traf aber nicht und fluchte.

«Jetzt setzt du dich erst mal hin und atmest tief durch.» Florin stand auf, hob die Jacke vom Boden und hängte sie sorgfältig auf einen Haken.

«Danke.» Sie schaltete den Computer an und verteilte den Inhalt der Aktenmappe hektisch auf dem Schreibtisch. «Ich wäre pünktlich gewesen, aber Jakobs Lehrerin hat mich aufgehalten.»

Florin stand mit dem Rücken zu ihr und hantierte an der Espressomaschine herum. Sie sah ihn nicken. «Was war es diesmal?»

«Er hatte einen Wutanfall. Das Klassenmaskottchen musste dran glauben.»

«Oh. Etwas Lebendiges?»

«Nein. Eine Plüscheule namens Elvira. Riesendrama, du glaubst es nicht. Mindestens zehn Kinder in Tränen aufgelöst. Ich habe der Lehrerin angeboten, ein Kriseninterventionsteam vorbeizuschicken, aber sie konnte nicht darüber lachen. Jedenfalls muss ich Elvira-Ersatz besorgen. Bis Freitag.»

«Das ist allerdings eine Herausforderung.»

Er schäumte Milch auf, drückte auf die Taste für den doppelten Espresso und krönte sein Werk mit einem Stäubchen Kakao. Seine Gelassenheit übertrug sich allmählich auf Beatrice. Sie merkte, dass sie lächelte, als Florin die dampfende Tasse vor ihr abstellte.

Er setzte sich ihr gegenüber auf seinen Platz und musterte sie mit nachdenklicher Miene. «Du siehst aus, als hättest du nicht viel Schlaf bekommen.»

Das kannst du laut sagen. «Alles bestens», murmelte sie und widmete sich ihrem Kaffee, in der Hoffnung, Florin würde sich mit dieser knappen Auskunft zufriedengeben.

«Keine nächtlichen Anrufe?»

Doch. Einer um halb zwölf, einer um drei Uhr morgens. Der zweite hatte Mina geweckt, die danach eine Stunde lang nicht mehr eingeschlafen war.

Beatrice zuckte die Schultern. «Irgendwann wird er es aufgeben.»

«Du musst endlich deine Nummer ändern, Bea. Nimm ihm die Chance, dich ständig fertigzumachen. Himmel, du bist bei der Polizei! Du kannst Schritte gegen ihn einleiten.»

Der Kaffee war perfekt. In den zwei Jahren, die sie bisher zusammenarbeiteten, hatte Florin sich schrittweise an die ideale Mischung von Bohnen, Milch und Zucker herangearbeitet. Beatrice lehnte sich zurück und schloss für einige Sekunden die Augen, sehnte sich nach einem entspannten Moment, einem einzigen wenigstens.

«Wenn ich die Nummer ändere, steht er in null Komma nichts vor der Tür. Und er ist der Vater, er hat ein Recht auf den Kontakt zu seinen Kindern.»

Sie hörte Florin seufzen. «Übrigens», sagte er, «Hoffmann war natürlich schon da.»

Scheiße. «Wirklich? Wieso klebt dann nicht mein Monitor voller Post-its?»

«Ich hab ihn beschwichtigt und behauptet, du hättest angerufen und wärst auf einem Außentermin. Er hat nichts gesagt, nur ein säuerliches Gesicht gezogen. Für heute werden wir Ruhe vor ihm haben, er steckt in Besprechungen.»

Das war phantastisch. Beatrice setzte die Tasse ab, versuchte ihre verspannten Schultermuskeln zu lockern und begann, die Akten auf ihrem Schreibtisch zu ordnen. Sie würde endlich dazu kommen, sich den Bericht über die Messerstecherei vorzunehmen, wegen dem Hoffmann ihr ständig in den Ohren lag. Sie warf einen Blick auf Florin, der konzentriert auf den Bildschirm seines Rechners starrte und dabei ziemlich ratlos wirkte. Eine Strähne seines dunklen Haares fiel ihm fast bis in die Augen. Klickklickklick. Beatrices Aufmerksamkeit richtete sich auf seine Hand, die locker auf der Maus lag. Schöne Männerhände. Ihr altes Laster.

«Schwieriges Problem?», fragte sie.

«Unlösbar».

«Kann ich dir helfen?»

Zwischen seinen Augenbrauen bildete sich eine nachdenkliche Längsfalte. «Ich weiß nicht. Antipasti sind eine Angelegenheit, die man nicht auf die leichte Schulter nehmen darf.»

Sie lachte. «Alles klar. Für wann hat sich Anneke denn angesagt?»

«Sie kommt in drei Tagen. Ich glaube, ich mache Vitello tonnato. Oder doch Bruschetta? Mist, ich wünschte ich wüsste, ob sie gerade Kohlehydrate isst.»

Über Menüzusammenstellungen zu reden war keine gute Idee. Sofort meldete sich Beatrices Magen. Sie überschlug schnell, was sie bisher heute gegessen hatte, kam auf zwei Kekse und beschloss, dass es ihr gutes Recht war, Hunger zu haben.

«Von mir eine Stimme für Vitello tonnato», sagte sie, «und eine für einen Abstecher hinunter ins Café.»

«Jetzt schon?» Er fing ihren Blick auf und lächelte milde. «In Ordnung. Ich druck nur noch schnell die Seite au…»

Das Telefon unterbrach ihn. Schon nach den ersten Sekunden erkannte Beatrice an Florins finsterer Miene, dass aus ihrem Thunfischbaguette nichts werden würde.

«Wir sind gleich da.» Er legte auf, blickte hoch. «Wir haben eine Leiche, weiblich, in der Nähe von Abtenau. Wie es aussieht, ist sie von einer Felswand abgestürzt.»

«Ach Scheiße. Klingt nach einem Kletterunfall.»

Florins Brauen bildeten einen dunklen Balken über seinen Augen. «Kaum. Es sei denn, sie wäre mit gefesselten Händen geklettert.»

 

Die Leiche war ein heller Fleck im Grün, flankiert von zwei Uniformierten. Ein großgewachsener Mann ohne Hemd, dafür in Latzhose, sah ihnen neugierig entgegen. Er stand auf der angrenzenden Wiese und hielt eine kleine Kuhherde in Schach. Kurz hob er die Hand, als ob er Beatrice und Florin winken wollte, ließ sie dann aber wieder sinken.

Eine fast senkrechte Felswand, gut zwanzig Meter hoch, ragte direkt neben der Weide auf, ein schroffer Bruch inmitten der Postkartenlandschaft.

Drasche und Ebner von der Spurensicherung waren offenbar wenige Minuten zuvor eingetroffen. Sie steckten bereits in ihren Schutzanzügen, hantierten mit ihren Utensilien und nickten knapp zur Begrüßung.

Direkt neben dem Weidezaun kniete ein Mann und füllte ein Formular aus. Seinen Arztkoffer benutzte er als Schreibunterlage. «Guten Morgen», sagte er, ohne aufzublicken. «Sie sind vom LKA?»

«Ja. Ich bin Florin Wenninger, das hier ist meine Kollegin Beatrice Kaspary. Können Sie uns schon etwas zu der Toten sagen?»

Der Arzt schob seufzend die Kappe auf seinen Kugelschreiber. «Nicht viel. Eine weibliche Leiche, circa fünfunddreißig bis vierzig Jahre alt. Meiner Meinung nach hat jemand sie letzte Nacht von der Felswand geschubst. Todesursache vermutlich Schädeltrauma oder Aortenriss, das Genick ist jedenfalls nicht gebrochen. Genaueres müssen Sie den Gerichtsmediziner fragen.»

«Todeszeit?»

Der Arzt blies die Backen auf. «Zwischen zwei und vier Uhr morgens. Aber nageln Sie mich nicht darauf fest, ich soll hier nur den Tod feststellen.»

Drasche stapfte vorbei, den Spurensicherungskoffer in der Hand. «Wer hat die Leiche angefasst?»

Einer der beiden Uniformierten meldete sich zögernd. «Der Arzt. Und ich. Aber nur um den Puls zu fühlen. Nach einem Ausweis oder einem Portemonnaie habe ich auch gesucht, aber nichts gefunden. Wir haben die Lage der Frau nicht verändert.»

«In Ordnung.» Drasche winkte Ebner zu sich, der die Kamera bereits im Anschlag hatte. Während die Spurensicherer fotografierten, Proben nahmen und sie in kleine Behältnisse verschlossen, ruhte Beatrices Blick auf der Toten. Sie versuchte alles auszublenden, die Kollegen, die Motorengeräusche der Bundesstraße, den Klang der Kuhglocken. Nur die Frau zählte.

Sie lag auf dem Bauch, den Kopf zur Seite gedreht, die Beine nach rechts angewinkelt, wie mitten in einem Laufschritt erstarrt. Ihre Hände waren auf den Rücken gefesselt, die Gelenke straff mit Kabelbinder aneinandergezurrt.

Geschlossene Augen, der Mund stand halb offen, als hätte der Tod die Frau während des Sprechens ereilt.

Unwillkürlich füllte Beatrices Kopf sich mit Bildern: Die Frau wird durchs Dunkel gezerrt. Da ist der Abgrund. Sie wehrt sich, drängt zurück, fleht um ihr Leben, doch ihr Mörder hält sie fest, schiebt sie zur Kante, wartet, bis sie die Tiefe spüren kann, die vor ihr liegt. Dann ein leichter Stoß in den Rücken.

«Alles in Ordnung?» Florins Hand berührte kurz ihren Arm.

«Sicher.»

«Ich rede mal mit den Kollegen. Du willst noch ein bisschen eintauchen, ja?»

Eintauchen, so nannte er das. Beatrice nickte.

«Tauch nicht zu tief.»

Sie sah ihm nach, wie er auf die beiden Uniformierten zuging und sie in ein Gespräch verwickelte. Atmete durch. Es roch nicht nach Tod, nur nach Kuhdung und Wiesenblumen. Sie beobachtete Drasche dabei, wie er eine Plastiktüte um die gefesselten Hände stülpte. Am liebsten wäre sie über den Zaun gestiegen, um sich die Leiche näher anzusehen, aber das sahen die Spurensicherer nicht gern, und besonders Drasche konnte da richtig biestig werden. Ohne den Blick von der toten Frau zu lassen, lief sie einen kleinen Bogen um die Umzäunung der Weide herum, suchte eine andere Perspektive. Lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Kleidung der Leiche: hellrote Seidenjacke über einer Bluse mit Blumenmuster. Teure Jeans. Keine Schuhe, die Fußsohlen sehr schmutzig und ein wenig blutig, als hätte die Frau barfuß einen weiten Weg zurückgelegt. Mitten im Schmutz dunkle Spuren auf jedem Fuß. Kleine, schwarze Markierungen. Oder …

Beatrice ging in die Hocke und kniff die Augen zusammen, doch aus der Entfernung konnte sie nichts Genaues erkennen. «He, Gerd!»

Drasche unterbrach seine Tätigkeit nicht einmal für die Dauer eines Wimpernschlags. «Was denn?»

«Kannst du für mich einen Blick auf die Füße des Opfers werfen?»

«Moment noch.» Er befestigte sorgfältig den durchsichtigen Sack mit Klebeband, bevor er das untere Ende der Leiche in Augenschein nahm.

«Ach du Scheiße.»

«Da ist etwas, nicht? Wie Schriftzeichen, habe ich recht?»

Drasche winkte Ebner zu sich, der eine Reihe von Nahaufnahmen der Füße schoss.

«Jetzt sag schon!» Sie hob den Weidezaun ein Stück und duckte sich unter dem Draht hindurch. «Was ist es?»

«Sieht aus wie Zahlen. Auf jedem Fuß eine Zahlenkombination. – Bleibst du bitte, wo du bist?»

Beatrice bremste sich mühsam. «Kann ich die Fotos sehen?»

Drasche und Ebner wechselten einen Blick, irgendwo zwischen genervt und resigniert.

«Zeig sie ihr», sagte Drasche missmutig. «Sie gibt sonst keine Ruhe.»

Ebner stellte die Kamera in den Ansichtsmodus und hielt Beatrice das Display vors Gesicht.

Zahlen. Aber nicht nur. Das erste Zeichen auf dem linken Fuß sah aus wie ein N. Mit unsicherer Hand geschrieben, der Schrägstrich war in der Mitte unterbrochen und neu angesetzt worden. Es erinnerte sie an die Buchstaben, die Mina in der Vorschule fabriziert hatte, windschief wie Hexenhäuschen. Nach dem N folgte eine Vier, eine Sieben und etwas, das wie ein nach oben verrutschtes kleines o aussah. Noch eine Vier, eine Sechs, eine weitere Sechs, eine Null und eine Fünf. Schwarze Striche, unregelmäßig.

Sie vergrößerte die Ansicht. «Ist das aufgemalt? Wasserfester Stift?»

Der andere Fuß. Wieder zuerst ein Buchstabe, dann eine Zahlenreihe. Ein E mit schiefstehenden Querstrichen, gefolgt von einem O oder einer Null, einer Eins, einer Drei. Danach erneut der hoch oben angesetzte kleine Kreis. Ein kurzer Abstand, fünf weitere Zahlen. Zwei, Eins, Sieben, Eins, Acht.

«Nein, nicht aufgemalt.» Drasche klang heiser. «Eintätowiert, denke ich.»

«Was?» Sie sah genauer hin. Jetzt, wo er es gesagt hatte, schien es plötzlich die einzig plausible Möglichkeit zu sein. Tätowiert. An dieser Stelle. Hoffentlich post mortem.

Sie schrieb die Zahlenkombinationen in ihr Notizbuch.

N47°46.605

E013°21.718

Das Muster kam ihr vertraut vor, aber woher? Es hatte nichts mit Computern zu tun, nichts mit Telefonnummern. Verdammt noch mal. «Ich sollte das erkennen», murmelte sie, mehr zu sich selbst als zu den beiden Spurensicherern.

«Allerdings», sagte Drasche durch seinen Mundschutz. «Wenn du versprichst, danach Ruhe zu geben, hole ich dich von der Leitung.»

«Einverstanden.»

«Gib die Kombi mal in dein Navigationsgerät ein. Es sind Koordinaten.»

 

Am liebsten hätte sie Florin die Neuigkeit sofort erzählt, doch sie sah, dass er eben dabei war, den Mann mit den Kühen zu vernehmen.

«Ich wollte um halb sieben die Herde zum Melken in den Stall holen, da hab ich sie entdeckt. Hab gleich gesehen, dass sie tot sein muss.»

«Waren die Kühe über Nacht auf der Weide?»

«Ja. Ich bring sie nach dem Abendmelken raus und am Morgen wieder rein. Mein Hof ist nur vierhundert Meter weit weg, da ist das kein Problem.»

Also waren die Tiere die ganze Nacht lang auf der Wiese herumgetrottet. Damit sah es schlecht aus, was verwertbare Fußabdrücke des Täters anging. Falls es welche gegeben hatte. Sie stellte sich neben Florin und hielt dem Bauern die Hand hin.

«Kaspary.»

«Freut mich. Raininger.» Er ließ ihre Hand nicht los. «Sind Sie auch von der Polizei?»

«Ja. Warum?»

Schiefes Lächeln. «Weil Sie viel zu hübsch sind für so eine hässliche Arbeit. Finden Sie nicht?»

Der letzte Satz war an Florin gerichtet.

«Ich kann Ihnen versichern, Frau Kaspary ist nicht nur sehr hübsch, sondern vor allem außergewöhnlich intelligent. Was für unsere hässliche Arbeit der entscheidende Faktor ist.» Seine Stimme war geringfügig kühler geworden. Bauer Raininger schien das nicht zu bemerken. Er strahlte Beatrice an, auch noch, als sie mit einem Ruck ihre Hand aus seinem Griff befreite.

«Ich würde jetzt gern weitermachen, wenn Sie einverstanden sind.» Florin klang wie Bourbon auf Eis, kalt-samtig-scharf. «Ist Ihnen am Abend etwas Ungewöhnliches aufgefallen?»

«Nein. War alles wie immer.»

«Verstehe. Und in der Nacht – haben Sie da möglicherweise etwas gehört? Stimmen, Schreie?»

«Nein. Sagen Sie, ist die Frau von der Wand gestürzt worden? Oder mit einem Hammer erschlagen? Es war ja richtig Blut an ihrem Kopf.» Jetzt klang er eifrig. Kein Wunder, beim nächsten Stammtisch würden sich alle um seine Geschichte reißen, da musste er Details kennen.

«Wir wissen es noch nicht. Ist die Felswand denn zugänglich?»

Der Bauer dachte kurz nach. «Ja. Von der anderen Seite kommt man leicht hin, da gibt’s sogar eine kleine Straße, fast bis hinauf.»

Beatrice sah, wie Florin Reifenspuren!!! in sein Notizbuch schrieb. In ihrem eigenen standen bisher nur die Koordinaten. Sie kritzelte stichwortartig Rainingers Informationen darunter.

«Kommt die Frau Ihnen bekannt vor?», fragte sie. «Schon irgendwann einmal hier gesehen?»

Der Bauer schüttelte vehement den Kopf. «Noch nie. Und ich habe ein gutes Gedächtnis für Gesichter. Ihres zum Beispiel werd ich mir sicher merken. Und die Haarfarbe erst! Ist die echt?» Wenn er so breit grinste wie jetzt, sah man links oben eine Zahnlücke.

«Wenn es Ihnen nichts ausmacht», sagte Beatrice betont sanft, «sind wir hier diejenigen, die die Fragen stellen.»

Doch mehr Verwertbares war von dem Mann nicht zu erfahren. Sie ließen ihn mitsamt seinen Kühen zum Hof zurückkehren, was er nur widerwillig tat, immer wieder sah er über die Schulter zurück. Beatrice wartete, bis er endlich außer Hörweite war.

«Ihre Füße», sagte sie.

«Was ist damit?»

«Sie sind tätowiert. An den … Sohlen.»

Er verstand sofort. «Du denkst, der Mörder hat ihr ein letztes Andenken verpasst?»

«Gut möglich. Aber eigentlich glaube ich, es ist eine Botschaft.» Sie zeigte ihm die beiden Zahlenreihen.

«Das hat man ihr auf die Füße tätowiert?»

«Ja. Norden auf den linken, Osten auf den rechten.»

Florin ging sofort durch die Wiese zurück zum Fundort, ohne darauf zu achten, was eine Begegnung mit Kuhfladen seinen Maßschuhen antun würde. Am Weidezaun blieb er stehen und sah mit schiefgelegtem Kopf zu der Leiche hinüber.

Beatrice war fast bei ihm, da vibrierte das Handy in ihrer Jackentasche.

«Kaspary.»

«Ich lasse mich nicht länger von dir verarschen.» Jedes Wort war geladen mit Abscheu.

«Achim. Nicht jetzt.»

«Natürlich nicht, es ist immer ungünstig, immer, nicht wahr?» Gleich würde er laut werden. «Egal ob es um die Kinder geht, oder …»

«Mit den Kindern ist alles in Ordnung, und ich lege jetzt auf.»

«Das tust du nicht, du –»

Sie trennte das Gespräch und steckte das Handy in die Tasche zurück.

Durchatmen. Auf das Wesentliche konzentrieren. Scheiße, ihre Hände zitterten, so bekam sie keinen geraden Gedanken hin. Sie verschränkte ihre Finger ineinander und trat neben Florin.

«Ich wüsste gern, wo ihre Schuhe sind», sinnierte er. «Wenn sie sie im Fallen verloren hätte, müssten sie hier herumliegen. Sagst du mir, weswegen du so nervös bist?»

Sie antwortete nicht, und er senkte wissend das Kinn. «Achim, ja?»

Florin betrachtete sie nachdenklich, und sie zog die Schultern zurück, straffte sich. «Also. Ihre Schuhe, sagtest du», nahm sie seinen Faden auf. «Die Spurensicherung wird sich sicherlich die Felswand vornehmen. Wenn sie tatsächlich von dort heruntergestürzt wurde, finden wir die Schuhe vielleicht oben.»

Er hatte seinen Blick keine Sekunde lang abgewendet. «Ich bin ein Idiot», stellte er fest.

«Wieso? Die Schuhsache ist noch nicht klar, wer weiß, ob wir am Felsen wirklich etwas fin–»

«Doch nicht deshalb. Du hast immer noch nichts gegessen, oder? Du musst kurz vorm Umkippen sein.»

«Oh.» Sie fühlte in sich hinein, fand ein schneidendes Gefühl – ja, eventuell Hunger – aber keinerlei Appetit. «Nein, Essen eilt nicht. Leichenfunde schlagen mir gewöhnlich auf den Magen.»

Bloß das Thema nicht vertiefen. Leichter Wind kam auf und ließ die dünnen Plastiksäcke an den Händen der Toten rascheln, als würde sie sie von innen kneten.

Über den Feldweg holperte der Leichenwagen heran, ein grauer Metallsarg wurde herausgehoben. Drasche nickte und gab damit grünes Licht für den Abtransport der Frau. Man hob sie hoch, der Wind verfing sich in ihrem Haar. Ein letztes Mal. Beatrice wandte sich ab.

Bevor der Wagen sich auf den Weg zur Gerichtsmedizin machte, beugte Florin sich zum Fenster des Beifahrers. «Sagt Doktor Vogt, ich möchte die ersten Ergebnisse noch heute, wenn es irgendwie möglich ist.»

Das Handy in Beatrices Jackentasche begann zu vibrieren. Wieder Achim, jede Wette. Doch diesmal würde sie einfach nicht abheben. Nur um sicherzugehen, holte sie das Telefon hervor, kontrollierte die Anzeige auf dem Display und seufzte schwer. Der Anruf kam aus der Schule.

«Er hat den gesamten Inhalt seines Milchpäckchens in die Topfblumen geschüttet. Das geht nicht, verstehen Sie? Die Pflanzen gehören der ganzen Klasse, wenn sie eingehen, müssen Sie sie ersetzen.»

«Selbstverständlich. Geben Sie mir doch Bescheid, falls es notwendig sein sollte.»

«Er ist wirklich kein einfaches Kind.» Die Lehrerin am anderen Ende der Leitung seufzte. «Reden Sie bitte auch noch einmal mit ihm. Er muss endlich lernen, dass es Regeln gibt, die für alle gelten.»

«Natürlich. Hat er gesagt, warum er es gemacht hat?»

Schnauben. «Ja, er meinte, Wasser sei zu dünn und er wollte, dass die Blumen auch einmal etwas Ordentliches zu trinken bekämen.»

Jakob, mein Schatz, mein süßer, kleiner Jakob.

«Verstehe. Dann war es immerhin nicht böse gemeint.»

«Vermutlich nicht. Aber er ist sieben, um Himmels willen. Irgendwann muss er lernen, das zu tun, was man ihm sagt, und das zu lassen, was man ihm verbietet.»

Beatrice unterdrückte das Bedürfnis, die Frau anzubrüllen.

«Ich habe verstanden. Ich spreche mit ihm.»

«Danke. Wollen wir hoffen, dass es etwas nützt.» Sie legte auf. Mit einem Gefühl allumfassenden Elends verstaute Beatrice ihr Handy wieder in der Tasche.

 

Weil Florin darauf bestand, fuhren sie nicht direkt zurück ins Büro, sondern machten halt im Ginzkeys. «Gemüsecurry hilft, die innere Ausgeglichenheit zurückzuerlangen», dozierte er und orderte zwei Portionen, obwohl Beatrice mittlerweile das Gefühl hatte, ihr Magen sei zugenäht. Erst als der Teller duftend vor ihr stand und sie den ersten Bissen in den Mund schob, meldete ihr Hunger sich brüllend zu Wort. Sie verschlang ihr gesamtes Curry und bestellte sich anschließend noch Kuchen und heiße Schokolade.

«Zuckertherapie», erklärte sie. «Erzeugt vorübergehende Glücksgefühle. Spätestens, wenn mir kotzübel ist, habe ich den ganzen anderen Mist vergessen.» Sie war dankbar, dass Florin grinste.

«Verdirbt es dir den Appetit, wenn wir über den Fall sprechen?», erkundigte er sich.

«Keine Spur. Wenn wir gleich im Büro sind, gehen wir die Vermisstenanzeigen durch. Solange wir nicht wissen, wer die Frau war, können wir nur ins Blaue ermitteln.»

«Nicht ganz. Dank deiner Entdeckung.»

«Denkst du, dass die Koordinaten etwas mit ihrem Tod zu tun haben? Die Tätowierung könnte alt sein. Wir sollten erst den Bericht der Gerichtsmedizin abwarten.»

«Sicher.» Er trank seinen Espresso in einem Zug aus. «Trotzdem werde ich die Zahlen mal in mein Navi eingeben. Man sollte keine Chance auf einen Geistesblitz vorbeiziehen lassen.»

Draußen hatte sich der Himmel bewölkt. Sie beeilten sich zurück ins Büro, wo sie eine Nachricht von Hoffmann erwartete, der über den neuen Fall informiert werden wollte. Florin machte sich auf die Suche nach dem Chef. Beatrice schaltete den Computer ein und rief die Seite mit den Vermisstenmeldungen auf.

Eine Fünfundfünfzigjährige mit kurzem grauem Haar, die aus der Landespsychiatrie verschwunden war. Nein. Eine arbeitslose Zweiundzwanzigjährige, die mit Selbstmord gedroht hatte. Ebenfalls nein.

Der dritte Eintrag versetzte ihr den kleinen, wohlbekannten Ruck, wie ein Einrasten, ein Ausschlagen ihrer inneren Wünschelrute:

Frau, neununddreißig Jahre alt, blond, grüne Augen, etwa ein Meter siebzig groß, schlank. Dunkelbraunes Muttermal über dem rechten Mundwinkel. Besondere Merkmale: keine. Also auch keine Tätowierungen.

Name: Nora Papenberg

Wohnort: Salzburg, Nesselthalerstraße.

Vermisst gemeldet war die Frau seit vier Tagen, der Ehemann hatte die Anzeige aufgegeben. Dem Foto widmete Beatrice ihre Aufmerksamkeit erst ganz zum Schluss. Es war ein Schnappschuss und als Fahndungsfoto ungeeignet, denn die Nora Papenberg auf dem Bild lachte aus vollem Hals. Ihre Augen waren halb geschlossen, in der rechten Hand hielt sie ein Sektglas.

Mund offen, Augen zu. Genau wie auf der Wiese und doch so völlig anders.

Beatrices Verstand notierte die Übereinstimmungen: das runde Kinn, die Stupsnase und das Muttermal am Mundwinkel. Ihre Leiche hatte einen Namen.

 

Sie präsentierte ihn Florin, kaum dass der von seinem Gespräch mit Hoffmann zurückgekommen war. «Nora Papenberg. Ich habe schon gegoogelt. Sie war Werbetexterin in einer kleinen Agentur. Es gibt einige Fotos von ihr im Netz, wir können ziemlich sicher sein.» Sie reichte Florin einen Stapel Ausdrucke auf seine Seite des Schreibtisches hinüber.

«Na, dann kann es ja losgehen.» Der Elan, den er in seine Stimme legte, klang falsch, und Beatrice wusste, warum. Jetzt kam der schwierigste Teil des Jobs: das Informieren der Angehörigen. Ungläubigkeit, Tränen, Zusammenbrüche. Auf keinen Fall, es ist nicht mein Mann, meine Frau, mein Kind. Sie irren sich. Bestimmt.

Schon vor der Karolinenbrücke blieben sie im Nachmittagsverkehr stecken. Beatrice sah verstohlen auf ihre Uhr. Nein, sie würde es nicht mehr pünktlich schaffen. Sie zog ihr Handy aus der Tasche.

«Mama?»

«Bea! Schön, dass du dich meldest! Hast du schon Feierabend?»

«Nein, leider, das ist es ja. Wir haben einen neuen Mordfall, und …»

Mütterliches Seufzen auf der anderen Seite der Leitung. «Und du willst, dass ich die Kinder aus der Betreuung abhole.»

«Ja. Bitte. Ich beeile mich, du musst ihnen nichts kochen, das erledige ich dann.»

«Fertigpizza. Ich weiß.»

Beatrice schloss die Augen. Als ob ihr schlechtes Gewissen noch zusätzliches Futter brauchte.

«Nein. Eigentlich wollte ich Broccoliauflauf machen, das geht auch schnell.»

Wenn Broccoliauflauf ihr nicht das Wohlwollen ihrer Mutter sicherte, half gar nichts mehr.

«Also gut. Ich hole sie, aber es wäre wirklich nett, wenn du mir das nächste Mal etwas früher Bescheid geben könntest. Ich habe schließlich noch andere Dinge zu tun.»

«Ja. Ich weiß. Danke.»

Sie bogen auf die Aigner Straße ein, hier wurde der Verkehr endlich flüssiger. «Du musst es ihm nicht sagen.» Florin blickte konzentriert auf den Audi vor ihnen. «Ich erledige das, okay? Schreib du nur mit. Außer, ich übersehe etwas Wichtiges, dann tritt mir auf die Zehen.»

Sie hätte ihn umarmen können. Er zog freiwillig den Schwarzen Peter, so wie sie das manchmal beim Kartenspielen mit den Kindern tat, weil die dann wild kichernd umherhopsten, begeistert darüber, sie ausgetrickst zu haben.

Hatte Nora Papenberg Kinder?

Während Florin dem Haus gegenüber einparkte, scannte Beatrice den dazugehörigen Garten. Keine Sandkiste, keine Kinderfahrräder, kein Trampolin. Nur eines dieser japanischen Kieselsteinfelder, in die man mit dem Rechen Muster zog.

«Wir sind zu früh, er wird noch gar nicht zu Hause sein», sagte Florin, während er den Motor abstellte.

Sie läuteten trotzdem. Fast im selben Moment wurde die Tür geöffnet, von einem Mann in Jeans und kariertem Sakko, das er über einem dunkelgrünen Poloshirt trug.

«Sind Sie Konrad Papenberg?»

«Ja.»

«Wir sind von der Polizei.»

Beatrice sah den Mann zusammenzucken, sah, wie er verzweifelt nach einem Lächeln in ihren Gesichtern suchte, nach einem Zeichen der Entwarnung. Sah, wie er begriff.

«Meine Frau?»

«Ja. Wir haben leider schlechte Nachrichten, Herr Papenberg.»

«Kommen Sie bitte herein.» Er hielt ihnen die Tür auf, das blasse Gesicht abgewandt. Die meisten sahen weg in diesem Moment, in dem noch nichts Endgültiges gesagt worden war, denn diesen Zustand galt es aufrechtzuerhalten, diese letzten Sekunden gnädiger Unwissenheit auszudehnen. Er bat sie aufs Sofa, sprang dann noch einmal auf und brachte ihnen ungefragt Wasser aus der Küche. Die Gläser in seinen Händen zitterten so stark, dass er die Hälfte verschüttete.

Florin wartete, bis er wieder saß und sie ansah. «Wir haben allen Grund zur Annahme, dass wir ihre Frau gefunden haben. Sie wurde heute Morgen auf einer Wiese in der Nähe von Abtenau entdeckt.»

«Was meinen Sie mit ‹allen Grund zur Annahme›?» Seine Stimme war überraschend fest.

«Das heißt, wir glauben sie anhand des Fahndungsfotos identifiziert zu haben. Sie hatte keine Papiere dabei.»

«Die hat sie aber immer … in ihrer Tasche.» Der Mann schluckte, knetete mit seiner rechten Hand die Finger der linken.

Tasche fehlt!, notierte Beatrice in ihren Block.

«Selbstverständlich bekommen Sie Gelegenheit, sie persönlich zu identifizieren, wenn Sie sich dazu in der Lage fühlen», fuhr Florin behutsam fort. «Es tut mir sehr leid.»

Papenberg antwortete nicht. Er fixierte einen Punkt auf dem Couchtisch, bewegte lautlos die Lippen, schüttelte in einer winzigen Bewegung den Kopf.

Zu neunzig Prozent sind die Ehemänner die Mörder, lautete Hoffmanns Regel – und meist stimmte sie. Aber dieser Mann reagierte so leise. Er glaubte es noch nicht.

«Was – also, wie … wie ist sie –»

«Wir müssen im Moment davon ausgehen, dass sie ermordet wurde.»

Zitterndes Einatmen. «Nein.» Tränen traten in die Augen des Mannes. Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Sie ließen ihm Zeit, Bea reichte ihm ein Taschentuch, das er erst nach einigen Sekunden bemerkte und zögernd entgegennahm.

«Sie haben Ihre Frau am Freitag zuletzt gesehen?», fragte Florin.

Papenberg nickte. Blinzelte. «Es gab am Abend ein Agenturessen, zu dem ist sie gefahren. Dort angekommen ist sie auch, aber um halb zehn schon wieder aufgebrochen. Ich habe mit ihren Kollegen gesprochen; sie sagen, Nora wollte nach Hause. Wegen Kopfschmerzen.»

Jetzt sah er Beatrice an, seltsam hoffnungsvoll, als könne sie aus ihren Notizen eine Gleichung erstellen, die allem einen Sinn geben würde. «Ihre Kollegin Rosa sagt, sie hätte kurz vorher noch telefoniert.»

Das war wichtig. «Wir werden mit den Kollegen Ihrer Frau sicherlich noch sprechen», sagte Beatrice. «Ein Handy haben wir bei ihr allerdings nicht gefunden. Wissen Sie, welches Modell sie benutzt hat?»

«Ein Nokia N8, das habe ich ihr … zum Geburtstag geschenkt.» Jetzt brach seine Stimme, sein Oberkörper krümmte sich vor, er bebte vor unterdrücktem Schluchzen.

Sie ließen ihm Zeit, sich wieder zu fangen.

«Geben Sie mir bitte die Nummer Ihrer Frau? Wir werden überprüfen, mit wem sie gesprochen hat.»

Konrad Papenberg nickte und zog sein eigenes Handy aus der Hosentasche. Er öffnete die Kontakte und ließ Beatrice die Telefonnummer abschreiben. «Ich habe sie in dieser Nacht mindestens dreißig Mal angerufen.» Seine Worte waren schwer zu verstehen, die Stimme vollgesogen mit Trauer. «Aber sie hatte abgeschaltet, ich bin immer nur auf die Sprachbox gekommen.»

«Als Sie die Vermisstenanzeige aufgegeben haben, sagten Sie, Ihre Frau sei mit dem Auto unterwegs gewesen. Ist das richtig?»

Er nickte, ohne aufzusehen. Knüllte das Taschentuch in seiner Hand.

«Ein roter Honda Civic?»

«Ja.»

«Eines müssten wir noch wissen, Herr Papenberg.»

«Ja?»

«Hatte Ihre Frau – hat sie besondere körperliche Merkmale?»

Nun sah er hoch. «Wie meinen Sie das?»

«Narben, auffällige Muttermale, Tätowierungen?»

Seine zitternde Hand fuhr an sein Gesicht, deutete auf eine Stelle rechts über seinem Mund. «Hier hat sie ein Muttermal. Ihr Markenzeichen.»

«Verstehe.» Florin räusperte sich. «Sonst nichts? Keine Tätowierungen?»

«Nein. Die fand sie immer geschmacklos.» Ein Schimmer von Hoffnung glomm in seinen Augen. «Vielleicht ist es ja doch nicht Nora?»

Beatrice und Florin wechselten einen Blick.

«Ich fürchte, daran besteht leider kein Zweifel», sagte Beatrice leise. «Nicht nur wegen des Muttermals.»

Fürs Erste war es genug. «Wir werden Sie dann nicht weiter stören. Können wir jemanden für Sie anrufen? Damit Sie nicht allein sind? Wenn Sie möchten, schicken wir Ihnen auch gerne jemanden vom Kriseninterventionsteam vorbei.»

«Meinen Bruder.» Papenbergs Stimme klang erstickt. «Ich rufe meinen Bruder an.»

Während er telefonierte, gingen sie aus dem Zimmer und warteten im Vorraum. Auf einer Kommode standen gerahmte Fotos: Nora Papenberg in allen Lebenslagen. Braungebrannt im Sommerkleid am Strand. In Wanderkleidung vor einem Gipfelkreuz. Mit Mütze und Daunenjacke beim Schneemannbauen, mit Freunden. Immer lachend und in Bewegung, aber unverkennbar die gleiche Frau, deren Leiche sie heute Morgen gesehen hatten.

«Zwischen ihrem Verschwinden und dem vermutlichen Todeszeitpunkt liegen fünf Tage», überlegte Beatrice laut. «Das ist lang.»

«Allerdings. Spricht dafür, dass sie vor ihrem Tod gefangen gehalten wurde. Was sagst du zu ihrem Mann? Ich denke, er spielt kein Theater.»

«Sehe ich genauso.»

«Richtig abklopfen müssen wir ihn trotzdem noch.»

«Sicher.»

Die Tür zum Wohnzimmer öffnete sich. Papenberg kam heraus, die Augen nun rot und verschwollen. «Mein Bruder wird in zwanzig Minuten hier sein. Wenn Sie keine Fragen mehr haben …»

«Natürlich. Wir lassen Sie jetzt allein.» Sie waren schon an der Haustür, als Beatrice bemerkte, dass sie noch das Bild mit dem Schneemann in der Hand hielt. Sie fühlte, wie sie rot wurde, und wollte es zurück auf die Kommode stellen, doch Papenberg nahm ihr das Foto aus der Hand.

«Das war ein so schöner Tag. Wie aus gesponnenem Zucker», flüsterte er. «Hat Nora damals gesagt. Eiskalt und klar. Sie liebt den Schnee so sehr, die Natur, alles.»

«Es tut mir leid», murmelte Beatrice und verabscheute sich für diese ausgelutschte Phrase. Doch der Mann nahm ihre Anwesenheit ohnehin kaum noch wahr. Er nickte nur geistesabwesend, den Blick unverwandt auf das Gesicht seiner Frau gerichtet, die mitten in blendendem Weiß stand und für alle Ewigkeit lachte.

 

«Das ist der Osterhase, siehst du? Und das hier ist ein Engel, der hat gerade ein Loch in die Wolken gebohrt, darum regnet es jetzt.» Jakob hielt die Zeichnung so dicht an den Broccolitopf, dass das Papier sich im Dampf zu wellen begann. Mit sanftem Druck schob Beatrice ihn Richtung Kühlschrank, wo sie das Werk mit zwei Magneten befestigte. «Wunderschön. Hast du das in der Schule gezeichnet?»

«Ja. Frau Sieber hat mir dafür ein Sternchen gegeben.» Er strahlte, und Beatrice ging in die Hocke, um ihn besser in die Arme nehmen zu können. Wenigstens er hatte heute ein Erfolgserlebnis gehabt. «Da. Schau mal.» Er machte sich los und griff sich mit zwei Fingern in den Mund. Ein Wackelzahn.

«Toll!», staunte sie und hörte im gleichen Moment ein Zischen. Kochwasser schwappte auf die Herdplatte und von dort auf den Boden. Beatrice fluchte innerlich, zog den Topf auf die Seite und drehte die Hitze herunter.

«Geh noch mit Mina spielen, ja? Ich rufe euch, wenn das Essen fertig ist.»

«Mina mag aber nicht mit mir spielen», maulte Jakob. «Immer sagt sie, ich bin ein Baby und hab keine Ahnung von nichts.» Trotzdem trollte er sich in Richtung Kinderzimmer und gab dabei laute Motorengeräusche von sich.

Beatrice wischte die Schweinerei auf Herd und Boden auf, schnippelte Schinken, schälte Kartoffeln und ließ sich erschöpft auf einen Küchenstuhl sinken, als der Auflauf endlich im Rohr war. Vor ihr auf dem Tisch lag ein Brief der Kanzlei Schubert und Kirchner. Achims Anwälte. Sie warf das Schreiben ungeöffnet auf den verhassten To-do-Stapel und kramte ihr Notizbuch heraus.

Agentur: Wer war bei der Feier? Hat jemand sie gemeinsam mit Nora Papenberg verlassen?

Anruf!!! Wie bald danach ist Papenberg aufgebrochen? Was genau hat sie gesagt? Ist es möglich, dass sie sich noch mit jemandem getroffen hat?

Nummer des Anrufers herausfinden.

Wo ist ihr Auto?

Fünf Tage bis zum Mord – wieso so lang???

Sie blätterte weiter zurück, zu den Notizen, die sie sich direkt nach dem Aufbruch vom Fundort der Leiche gemacht hatte.

Art der Tötung wie Hinrichtung. Warum stürzt jemand sein Opfer von einem Felsen?

Sie las sich die Aussage des Bauern durch – nichts gehört, nichts gesehen, alles wie immer. Darüber hatte sie die Koordinaten hingekritzelt. Beatrice schloss die Augen und rief sich das Bild zurück – die seitlich in Schrittstellung liegenden Füße, auf deren Sohlen sich eine Zahl an die nächste reihte. Es war kein professionell gestochenes Tattoo, ganz sicher nicht. Es war selbst gemacht. Vom Täter. Oder vom Opfer? Sie öffnete ihre Augen wieder, als die Eieruhr zu piepsen begann. Zeit für den Auflauf.

«Sind wir dieses Wochenende wieder bei Papa?», fragte Mina, während sie ein Broccoliröschen in mikroskopisch kleine Teile zerlegte.

«Ja, das ist so verabredet. Wieso? Willst du nicht zu ihm?»

«Doch.» Ein winziges grünes Fragment hatte Gnade vor ihren Augen gefunden und wurde mit der Gabel in den Mund befördert. «Er schenkt mir vielleicht eine Katze, hat er gesagt. Wenn die bei Papa wohnt, kann ich dann öfter zu ihm?»

Beatrice schluckte schwer an ihrem Bissen. «Das besprechen wir dann noch.» Eine Katze!

«Ja, Mama, ich auch!», nuschelte Jakob mit vollem Mund.

«Vergiss es, Monster, das ist meine Katze.»

«Blöde Kuh.»

Mina ignorierte ihn. «Wenn Papa heute Nacht wieder anruft, kann ich dann mit ihm sprechen?»

«Ich auch!», juchzte Jakob.

«Nein. In der Nacht wird nicht telefoniert. Das wird auch Papa bald einsehen.»

Sie versorgte die Kinder und steckte sie ins Bett, wo ihnen der CD-Player die Gutenachtgeschichte vorlas, für die sie heute keine Kraft mehr gehabt hatte, dann setzte sie sich mit einem Glas Rotwein auf den Balkon. Las noch einmal ihre spärlichen Notizen durch. Blieb immer wieder an den Koordinaten hängen.

Sie ließ den Wein im Mund kreisen, versuchte die Johannisbeer- und Tabaknoten herauszuschmecken, die auf dem Flaschenetikett angepriesen wurden, schaffte es nicht und trank das Glas in einem Zug leer. Müdigkeit griff mit schweren Händen nach ihr.

Sie schaltete ihr Handy aus und zog den Stecker des Festnetztelefons aus der Wand. Achim musste sich für heute Nacht ein anderes Hobby suchen.

 

Drei gelbe Post-its, vollgekritzelt mit Hoffmanns unleserlicher Schrift, erwarteten sie am Morgen auf ihrem Computermonitor. Die Berichte. Sie verdrehte die Augen.

«Wir geben Stefan die Unterlagen, der braucht sowieso Übung. Berichte schreiben festigt den Charakter. Er hat sich auch schon um die Liste mit Nora Papenbergs Handygesprächen gekümmert – und rate mal!» Florin stand in höchst untypischer Aufmachung – Cargohose, T-Shirt, Trekkingschuhe – an der Espressomaschine und vollendete soeben sein Kaffee-Milchschaum-Kakaopulver-Kunstwerk für Beatrice. «Der eingegangene Anruf, der die Frau offenbar von ihrem Essen weggelockt hat, kam aus einer Telefonzelle auf der Maxglaner Hauptstraße. Ich habe jemanden von der Spurensicherung hingeschickt, obwohl ich selbst nicht dran glaube, dass das etwas bringt.» Er sah auf. «Apropos Telefon – wie lief die letzte Nacht? Ruhe diesmal?»

«Ja, weil ich alles, was hätte läuten können, lahmgelegt habe. Dafür hatte ich heute Morgen sieben empörte Nachrichten auf der Sprachbox, er hätte sich solche Sorgen um die Kinder gemacht, weil niemand erreichbar war.» Sie nahm einen Schluck Kaffee. Er schmeckte wunderbar.

«Hauptsache, du konntest schlafen. Hör mal, der Bericht aus der Gerichtsmedizin ist noch nicht da, deshalb schlage ich vor, wir konzentrieren uns erst auf einen anderen Aspekt des Falls.»

«Die Koordinaten?»

«Genau.» Er winkte mit seinem Handy. «Ich habe eben neue Navigationssoftware installiert. Wie es aussieht, müssen wir mitten ins Grüne.» Er breitete eine Karte aus und zeigte mit dem Finger auf ein Stück Wald nahe dem Wolfgangsee.

«Da? Bist du sicher?» Beatrice wusste selbst nicht, was sie sich von der Stelle erwartet hatte, auf die die Koordinaten wiesen. Aber ganz sicher etwas Spektakuläreres als Bäume.

Sie nahmen Florins Wagen. Beatrice ließ das Fenster auf der Beifahrerseite herunter. Der Mai hatte gerade erst begonnen, doch er tat so, als wäre er ein Sommermonat. Aus dem CD-Player klang argentinischer Tango. Kurz stellte sie sich vor, sie würden einen Ausflug machen, den Picknickkoffer auf dem Rücksitz und alle Zeit der Welt im Gepäck.

Das brachte sie auf einen Gedanken. «Was, wenn der Ort, zu dem wir fahren, nur eine private Bedeutung hat? Wenn er Schauplatz eines Streits war? Oder, im Gegenteil, eines ersten Kusses, eines Versprechens, eines Liebesaktes, irgendeines Ereignisses zwischen Menschen, das keine sichtbaren Spuren hinterlassen hat? Dann ist er möglicherweise der Schlüssel zu ihrem Fall, aber wir werden das Schloss nie finden.»

Florin lächelte nur. «Schon möglich. Aber ignorieren sollten wir die Tätowierungen trotzdem nicht, oder? Ich für meinen Teil kann mir nicht vorstellen, dass sie uns gar nicht weiterhelfen.»

Natürlich, er hatte recht. Und schlimmstenfalls hätten sie einen sonnigen Maivormittag im Grünen verbracht, weitab von Hoffmann und seinen Post-its. Das war es allemal wert.

«Was denkst du, was wir finden werden?», fragte sie, als sich das Auto die Serpentinen auf den Heuberg hochschraubte.

Er zuckte die Achseln. «Lassen wir es auf uns zukommen. Wenn ich mich auf etwas Konkretes einstelle, übersehe ich gerne das, worauf es ankommt, bloß weil es anders aussieht, als ich erwartet habe. –

Übrigens habe ich mich endlich entschieden, das wird dich freuen.» Florins Augenbrauen hoben sich. Frag mich, hieß das.

«Wofür?»

«Carpaccio di Manzo.»

«Wie bitte?»

«Das Antipasto-Problem, weißt du nicht mehr? Carpaccio ist die Lösung. Der perfekte Weg. Der erste Schritt zur Vollendung. Anneke wird es lieben.»

Der Fahrtwind trug den Geruch von frischer Erde und Flieder ins Innere des Autos.

«Das wird sie.»

 

Sie parkten den Wagen gegenüber einem Gasthof. Der Weg vor ihnen führte über eine Wiese, flankiert von einzelnen Villen und einem prächtig renovierten alten Bauernhof zur Rechten. Florin trug sein Handy vor sich her wie einen Kompass. «Vierhundertdreißig Meter Luftlinie, wenn wir uns nordwestlich halten. Ich würde trotzdem sagen, wir folgen erst mal dem Weg, statt uns gleich ins Gebüsch zu schlagen.»

Bis auf ein älteres Ehepaar in Nordic-Walking-Ausrüstung war an diesem Vormittag kein Mensch im Wald unterwegs. Sie überquerten einen erstaunlich klaren Bach und bogen an einem gelben Wegweiser mit der Aufschrift Steinklüfte nach rechts ab.

«Nicht mehr weit.» Florin hielt Beatrice das Handy hin, auf dessen Display die schwarz-weiß karierte Zielflagge bereits in Sicht kam. Der Weg führte nun steiler bergauf, zwischen hohen Felsen hindurch, vorbei an abgeknickten Bäumen, aus deren Stümpfen Pilze wuchsen. Ein umgestürzter Baumstamm überspannte den Weg wie ein Torbogen.

«Wir werden bloß Landschaft zu sehen kriegen, sonst nichts», murmelte Beatrice. «Wie weit noch?»

«Hundertzwanzig Meter.»

Sie begann, nach etwas Ungewöhnlichem Ausschau zu halten, doch das war schwierig, wenn man nicht zumindest eine Ahnung davon hatte, wie dieses Etwas beschaffen sein konnte. Da waren Felsen, viele Felsen in unterschiedlicher Größe. Ein weiteres Bachbett.

«Vierzig Meter», verkündete Florin.

Überall riesige Steine, die sich gegenseitig stützten. Auf einigen der schroffen, moosüberwucherten Formationen wuchsen sogar Bäume.

«Fünfzehn Meter.» Florin blieb stehen. «Von hier aus müssten wir schon etwas sehen können.» Er verlangsamte seine Schritte, die Augen fest auf sein Handy gerichtet. Beatrice kämpfte gegen das enttäuschte Ziehen in der Magengrube an. Hier war nichts, okay, aber nur auf den ersten Blick. Das hieß noch lange nicht, dass die Koordinaten Humbug sein mussten. Sie würden sich Zeit nehmen. Genau sein. Davon ausgehen, dass mehr hinter den Tätowierungen steckte als ein Mörder mit einem ungewöhnlichen Fetisch, bei dem Füße und Zahlen eine Rolle spielten.

«Hier.» Florin blieb stehen. «Irgendwo im Umkreis von drei Metern, exakter lässt sich das mit dem Handy leider nicht bestimmen.»

Trockenes Laub knisterte unter ihren Schuhen, als sie langsam einen Fuß vor den nächsten setzten. Dieser Flecken unterschied sich in nichts von Hunderten anderen in diesem Wald. Bäume. Felsformationen. Abgestorbenes Holz.

Beatrice holte die Kamera aus ihrem Rucksack und begann Fotos zu schießen. Sie bemühte sich, nichts auszulassen. Gut möglich, dass die Bilder später mehr zeigen würden, als sie jetzt vor Ort wahrnahmen.

«Da vorne ist etwas, das sich Teufelsschlucht nennt», vermeldete Florin. «Hübscher Name, aber falsche Koordinaten.»

«Merken wir ihn uns trotzdem.» Beatrice setzte sich auf einen der kniehohen Felsen und betrachtete die Umgebung. «Bin ich hier ungefähr richtig?»

«Ja, ziemlich. Acht Meter östlich von deiner Position befindet es sich – was auch immer.»

Sie atmete tief durch, köstlich sonnengewärmte Luft voller Aromen. Harz, Laub, Erde.

Acht Meter.

Sie betrachtete den Boden rund um sich genauer. Nein. Nichts Ungewöhnliches. Nur Felsen.

Moment – möglicherweise mussten sie weiter oben nachsehen? In den Bäumen?

Beatrice hielt sich die Hand über die Augen und blinzelte gegen die Sonne in die höheren Regionen der Stämme und die Baumwipfel, doch alles, was sie sah, war Wald.

Kein Anhaltspunkt, kein Zeichen.

In Florins Miene las sie die gleiche Unzufriedenheit, die sie selbst empfand, doch seine Stimme klang munter. «Du wirst wieder mal recht gehabt haben, Bea. Wer weiß, was dieser Ort dem Tätowierer bedeutet. Was er hier erlebt, gesehen, gehört hat. Vielleicht schon vor Jahren.»

«Ja.» Sie nahm die Wasserflasche, die er ihr reichte, und trank drei große Schlucke. Aber es fühlte sich falsch an.

Da ist etwas, aber wir sehen es nicht, der Fehler liegt bei uns.

Wir sehen es nicht. Der Gedanke hakte sich fest. Wir sehen es nicht, weil wir es nicht sehen sollen? Oder weil wir uns mehr anstrengen müssten?

Ihr Blick blieb an einem der höher gelegenen Felsen hängen, an dem ein Stein lehnte. Er hob sich farblich kaum ab, war nur geringfügig heller, aber im Gegensatz zu dem Fels in seinem Rücken nicht mit Moos bewachsen.

«Oder weil es versteckt ist», sagte sie entschlossen.

«Wie bitte?»

Beatrice stand auf und ging die wenigen Schritte zu dem Felsen hinüber. Um an die Stelle zu gelangen, die ihr aufgefallen war, musste sie klettern; sie hielt sich an einem Baum fest, der seine Wurzeln um einen tiefer liegenden Brocken geschlungen hatte. Mit der anderen Hand prüfte sie den unbemoosten Stein. Wie sie vermutet hatte, war er nur angelehnt. Dahinter war eine Einhöhlung, ein dunkles Loch. Sie fotografierte den Felsen aus der Nähe, wobei sie nur mühsam die Balance hielt. Der Blitz ihrer Kamera zeigte für Bruchteile einer Sekunde etwas Helles im Inneren der kleinen Höhle.

«Sieh an.» Florin kletterte zu ihr und kramte eine Taschenlampe aus seinem Rucksack. Ihr Lichtstrahl fiel auf Erde und ein paar braune Blätter, unter denen sich eilig eine Spinne verkroch. Er glitt über die Innenseite der Höhle und traf auf etwas Weißes. Plastik.

Wortlos holten beide ihre Handschuhe heraus und streiften sie über. Florin steckte den Arm in den Hohlraum und förderte einen Behälter mit weiß-blauem Deckel zutage. Eine Frischhaltebox. «Sieht wie neu aus», bemerkte Beatrice.

«Sie fühlt sich schwer an. Voll. Hast du alles fotografiert? Gut, dann lass uns hinuntersteigen.» Sie knieten sich nebeneinander auf den weichen Waldboden, und Florin öffnete die Klappverschlüsse der Box an allen vier Seiten, dann hob er vorsichtig den Deckel ab.

Etwas Großes, das in ein Küchenhandtuch eingewickelt war. Darauf ein säuberlich zusammengelegter Zettel, keine Handschrift, ein Computerausdruck. Florin entfaltete ihn, und Beatrice rutschte dicht heran, um mitlesen zu können.

Herzlichen Glückwunsch – du bist fündig geworden!

Dieser Behälter ist Teil eines Spiels, einer Art moderner Schnitzeljagd mit GPS. Wenn du ihn zufällig gefunden hast, ist diese Jagd für dich jetzt zu Ende. Schließe ihn sofort wieder und leg ihn da hin, wo du ihn hergenommen hast. Es ist besser für dich, vertrau mir.

Hast du ihn bewusst gesucht – dann bist du offenbar weniger dumm, als es unter deinesgleichen üblich ist. Ich bin überzeugt davon, der Inhalt meiner «Schatzkiste» wird dich interessieren.

Anders, als es normalerweise gefordert wird, musst du den Behälter nicht wieder an der gleichen Stelle verstecken. Nimm ihn mit, untersuche ihn auf Fingerspuren. In gewisser Weise wirst du sicher welche finden.

TFTH

«Klingt ganz, als hätte er das hier extra für uns versteckt», sagte Florin langsam. Er faltete den Zettel zusammen und ließ ihn in eine Plastiktüte gleiten. Beide starrten auf die Frischhaltebox und das Ding, das darin auf sie wartete, eingeschlagen in das Küchenhandtuch. Dann griff Florin zu. Irgendein unvernünftiger Teil in Beatrice hoffte noch, er würde es nicht tun, aber dann glitt das Tuch zur Seite.

Eine Fälschung, dachte sie im ersten Moment. Eine Halloween-Attrappe, in Originalverpackung. Ihr Magen war schneller als ihr Kopf, er bescherte ihr leichte Übelkeit, noch bevor sie alle Details registriert hatte.

«Scheiße», flüsterte Florin.

«Ist die wirklich echt?»

Er atmete tief und schluckte. «Ja. Siehst du die ausgefransten Wundränder? Ich bin kein Gerichtsmediziner, aber … das sieht mir nach den Spuren einer Säge aus.»

In einem lang trainierten Reflex unterdrückte Beatrice ihre Phantasie und bemühte sich um einen nüchternen Blick.

Eine Hand. Männlich. Abgetrennt knapp unterhalb des Knöchels. In dicke Folie eingeschweißt. Wie vakuumverpacktes Fleisch und ebenso weiß, mit bläulichen Verfärbungen an den Fingerspitzen und rund um die Nägel.

Sie zwang sich, die Amputationswunde genauer zu betrachten. Da waren Knochen, eine Arterie, die ein Stück herausragte.

«Das heißt, wir haben eine zweite Leiche», hörte sie Florins matte Stimme wie aus der Ferne.

«Oder ein Opfer mit nur noch einer Hand.»

Er nickte. «Vielleicht hat sich auch bloß jemand an Krankenhausabfällen bedient. Wir müssen Drasche anrufen.»

Hastig brachte Beatrice die Kamera zwischen sich und ihren Fund, drückte mehrmals ab und schoss Detailaufnahmen. Dann hielt sie inne. «Florin! Da ist noch etwas in der Box. Unter der Hand.» Sie legte den Fotoapparat beiseite, zog mit spitzen Fingern ein weiteres Stück Papier heraus und entfaltete es vorsichtig. Florin steckte sein Handy ein und trat zu ihr, um mitlesen zu können.

Im Gegensatz zur ersten Botschaft waren die Sätze auf diesem Zettel mit Tinte geschrieben, in einer Schrift mit großen Bögen und Schlingen.

Stage 2

Du suchst einen Sänger, einen Mann, dessen Vorname Christoph lautet, der blaue Augen hat und ein Muttermal auf dem Rücken seiner linken Hand. Vor einiger Zeit – mögen es fünf Jahre sein oder sechs – war er Mitglied eines Salzburger Chors, mit dem er Schuberts Messe in As-Dur sang, worauf er sehr stolz war. Die beiden letzten Zahlen seines Geburtsjahres seien A. Nun nimm A zum Quadrat, rechne 37 hinzu und addiere die Zahl zu deinen nördlichen Koordinaten.

Nimm die Quersumme von A mal 10, dann multipliziere A mit dieser Zahl. Ziehe 229 ab und subtrahiere die entstandene Zahl von deinen östlichen Koordinaten. Willkommen bei Stage 2. Dort sehen wir uns wieder.

Für lange Zeit war das Singen der Vögel rundum das einzige Geräusch. Beatrice las den Text ein zweites, ein drittes Mal. Ein Mann namens Christoph? Schuberts Messe in As-Dur?

Nein, nicht nachdenken. Den ersten Eindruck speichern. Eine Frauenschrift. Sie selbst schrieb ähnlich – flacher, etwas weniger verspielt, aber mit vergleichbarem Schwung. Sie wandte sich zu Florin um.

«Verstehst du, was das soll?»

«Nicht mal ansatzweise.» Er schüttelte den Kopf, ohne die Augen von der Nachricht zu lassen. «Die Box liegt an der Stelle, die den Koordinaten an der Leiche entspricht.» Er kniff die Augen zusammen, als würde jeder Lichtstrahl ihn bei seinen Schlussfolgerungen stören. «Wir finden einen Hinweis, mit dessen Hilfe wir neue Koordinaten erstellen können. Und eine abgetrennte Hand. Wieso? Was soll das bringen? Wieso schiebt er uns seine Opfer so plakativ unter die Nase, statt sie zu verstecken?»

«Weil er uns für dumm hält. Schreibt er doch. Oder sie.»

«Aber warum? Will er geschnappt werden? Oder hält er sich für so überlegen, dass er denkt, das sei nicht riskant?»

Beatrice setzte den Objektivdeckel sorgfältig vor die Linse ihrer Kamera. «Wer weiß, vielleicht will er uns auf eine falsche Spur locken.»

«Mit Leichenteilen?»

Sie betrachtete die tote Hand. Es war die rechte. An ihrem Ringfinger hatte sich eine Rille eingegraben, ungefähr drei Millimeter breit.

«Mit Leichenteilen», sagte sie langsam, «geht er sicher, dass wir seiner Spur auch wirklich folgen.»

 

Eine knappe Stunde später erschien Drasche, der ein säuerliches Gesicht zog, wie immer, wenn jemand anders seine Finger als Erstes an einem Spurenträger gehabt hatte.

«Wir waren vorsichtig», versicherte Beatrice. «Gibt es Neuigkeiten von Nora Papenberg?»

«Sie wurde nicht vergewaltigt und hatte kein fremdes Gewebe unter den Fingernägeln. Wir haben einige Reifenspuren in der Nähe des Tatorts und vor allem auf dem Weg zur Felswand erfasst, aber noch keine Ergebnisse. Fußspuren des Täters – bisher leider auch negativ. Wir halten euch auf dem Laufenden. Wo genau habt ihr den Behälter gefunden?»

Beatrice zeigte ihm die Höhle im Felsen. «Wir haben Fotos vom Fundort in situ gemacht.»

«Besser als nichts», grollte Drasche, während er sich Handschuhe überzog. «Immerhin hat der Täter mir den Gefallen getan, den abgetrennten Körperteil einzuschweißen. Konservierte Spuren, wann hat man das schon mal?»

 

Im Büro verband Beatrice die Kamera mit ihrem Computer. Kurz darauf erschienen die Fotos auf dem Bildschirm, eines nach dem anderen. Die abgeschnittene Hand in ihrer Frühstücksbox. Während Beatrice sich durch die Bilder klickte, rief Florin Stefan Gerlach an.

«Sogar Hoffmann wird einsehen, dass du jetzt keine Zeit zum Berichtetippen hast», erklärte er und rollte auf seinem Bürostuhl an ihre Seite des Schreibtischs.

«Die Box ist eine IsI Lock&Lock. Massenware.» Mit einem Bleistift deutete Beatrice auf die eben aufgerufene Internetseite. «Das hier müsste das gleiche Modell sein wie die, die wir gefunden haben. Der Deckel mit dem blauen Rand, siehst du? Und der doppelte Verschluss an den Längsseiten. ‹100% luft- und wasserdicht›, versprechen sie in der Beschreibung. ‹Flüssigkeiten können gefahrlos transportiert, intensiv riechende Speisen wie Fisch oder Käse ohne störende Gerüche aufbewahrt werden.›»

«Perfekt für Leichenteile. Aber unser Täter ist auf Nummer sicher gegangen und hat die Hand zusätzlich eingeschweißt.»

Beatrice wechselte wieder zu den Fotos von der geöffneten Plastikdose. «Er wollte nicht, dass jemand sie zufällig findet», überlegte sie. «Auch kein Hund. Und da er nicht viel von der Intelligenz der Polizei zu halten scheint, ist er davon ausgegangen, dass es länger dauern würde, bis wir sie finden.»

Es klopfte an der Tür. Stefan steckte den Kopf herein. «Es gibt langweilige Tipparbeit für mich, ja? Immer her damit.»

«Du bist ein Schatz.» Beatrice raffte die Unterlagen zu einem mehr oder minder ordentlichen Stapel zusammen, um ihn dem jungen Kollegen in die Hand zu drücken, doch dessen ganze Aufmerksamkeit war bereits von den Fotos auf dem Bildschirm in Beschlag belegt.

«Oh. Übel. Was habt ihr denn da?»

«Wüssten wir selbst gern.»

«Eine Hand? Lag die einfach so herum, verpackt wie frisch aus dem Kühlregal? Bizarr.»

Bizarr traf die Sache ziemlich genau. «Nein, sie war in einer Plastikbox. Da rechts im Bild steht sie, siehst du?» Beatrice versetzte ihm einen freundschaftlichen Knuff mit dem Ellenbogen. «Und jetzt Abmarsch, Süßer. Das hier ist nicht dein Problem. Sei froh.»

Doch Stefan konnte seinen Blick nicht losreißen. «Das kommt mir extrem seltsam vor. Erinnert es euch nicht auch an etwas?»

«Nein. Sollte es?»

Stefan beugte sich vor und deutete mit dem Finger auf den Hohlraum, aus dem sie die Box gezogen hatten. «War sie dadrin?»

«Erraten.»

Er zog scharf die Luft ein. «Dann ist das der perverseste Trade, den ich je gesehen habe.» Er sprach das Wort englisch aus.

«Der perverseste – was?»

«Ein Trade. Du nimmst was aus der Dose raus und tust etwas anderes rein. Das ist so üblich.»

Beatrice sah an Florins schiefgelegtem Kopf und den verengten Augen, dass er ebenso wenig von Stefans Bemerkung verstand wie sie selbst.

«Oh. Sorry. Ihr wart noch nie geocachen, oder?»

«Was soll das sein?»

Stefan sah von ihr zu Florin und zog sich einen Stuhl heran. «Eine Art Suchspiel. Jemand versteckt etwas, und viele andere versuchen es zu finden. Das, was versteckt wird, nennt man Cache, und diese Plastikdose auf dem Bild sieht aus wie ein typischer Cache-Behälter. Darf ich mal?»

Beatrice überließ ihm die Maus und rückte ein Stück zur Seite, damit er seinen Stuhl zwischen sie und Florin schieben konnte.

«Wie nennst du das noch mal – Cash?», fragte sie. «Wie Bargeld?»

«Spricht sich exakt so aus, schreibt sich aber anders», dozierte Stefan. «C-a-c-h-e. Geld wirst du in den Behältern bestimmt keines finden, aber sonst so ziemlich alles.»

«Also ein Suchspiel», stellte sie fest. «Klingt vielversprechend. Arbeitet man da mit GPS?»

«Och, ihr kennt es doch schon», rief Stefan enttäuscht.

«Nein, keine Sorge. Das war bloß geraten. Erzähl weiter.»

«Okay. Also, zuerst meldet man sich auf einer Seite im Internet an, die heißt geocaching.com. Dort sind alle Caches verzeichnet, rund um die Welt.»

«Sieh an», meinte Florin. «Und das ist eine verbreitete Sache?»

«Absolut», erklärte Stefan eifrig. «Das machen Millionen Leute, vor allem in den USA, aber bei uns wird es auch immer beliebter. Gut, also man meldet sich an, unter einem Nickname – ich bin zum Beispiel Undercoverkeks.»

Beatrice musste grinsen. «Sehr hübsch. Der Name wird dir von nun an bleiben, fürchte ich.»

Stefan ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. «Dann wählt man einen Cache in der Umgebung aus, speichert die Koordinaten in einem dafür geeigneten Gerät und läuft los. Meistens findet man am Zielort eine Dose, eine Schachtel, irgendetwas Wasserdichtes, in dem sich ein Logbuch befindet, in das man sich einträgt. In den größeren Caches gibt es oft auch Gegenstände, die man mitnehmen kann, wenn man etwas anderes dafür eintauscht. Und das, meine Damen und Herren, nennt man dann Trade.»

Koordinaten und wasserdichte Behälter. Das passte alles. Beatrice klickte das Foto mit der ersten Botschaft an und vergrößerte es so weit, dass man den Text lesen konnte. «Sind solche Nachrichtenzettel auch üblich?»

«Ja. Das ist eine Cachenote.» Er strahlte erst Beatrice, dann Florin an, sichtlich stolz. «Eine Erklärung, die man praktisch in jedem Cache findet. Ist für Leute gedacht, die noch nichts vom Geocachen gehört haben und aus Zufall auf eines der Verstecke stoßen. Zufällige Finder hat der Owner hier ja auch erwähnt.»

«Stopp, kein Fachvokabular. Der Owner ist derjenige, der versteckt?»

«Genau.» Stefan sah Beatrice entschuldigend an. «Beim Geocachen werden ständig Abkürzungen und Fachbegriffe benutzt.» Der Mauszeiger wanderte über das Foto mit der Cachenote. «Sagt mal, wenn er zu den Fingerabdrücken schreibt ‹In gewisser Weise wirst du sicher welche finden› – dann meint er damit die der Hand, oder?», mutmaßte er.

«Das ist anzunehmen.» Fast wie von selbst hatte Beatrice sich einen Schreibblock gegriffen und begonnen, sich Stefans Erklärungen zu notieren. «Der- oder diejenige hat offenbar einen etwas gewöhnungsbedürftigen Humor.»

«Allerdings.» Mit dem Bleistift wies Stefan auf die vier Großbuchstaben, mit denen die Cachenote unterzeichnet war. TFTH.

«Und wofür steht das?», erkundigte sich Florin. «Theodor Friedrich Thomas Heinrich? Nein, schon klar, ist sicher schon wieder ein Rätsel.»

«Diesmal nicht, es ist nur ein übliches Kürzel. Er bedankt sich. TFTH steht für ‹Thanks for the hunt›. Du hast recht, sein Humor ist merkwürdig.»

«Oder ihrer.» Beatrice klickte auf eines der anderen Fotos. Das in Frauenschrift beschriebene Blatt, das sie auf eine weitere Suche schickte. «Kannst du damit auch etwas anfangen? Stage 2 – was heißt das? Zweites Stadium? Zweite Bühne?»

«Zweiter Abschnitt.» Stefan griff nach der Maus und vergrößerte die Ansicht. «Wir haben hier offensichtlich einen Multi-Cache. Das bedeutet, es gibt mehrere Stationen. Du findest Station eins, dort gibt es Hinweise auf Station zwei, wo du neue Hinweise auf Station drei bekommst – und so weiter und so fort, bis zum endgültigen Ziel. Wobei man normalerweise nur ganz am Ende eine Dose findet.»

«Von ‹normalerweise› müssen wir uns in diesem Fall wohl verabschieden», bemerkte Florin. «Sonst noch etwas, das wir wissen sollten?»

«Es ist nicht nur ein Multi-Cache», erklärte Stefan nach kurzem Nachdenken. «Da reicht es eigentlich, etwas zu zählen – Treppen, Bäume, Grabsteine –, um auf die nächsten Koordinaten zu kommen. Aber hier müsst ihr auch noch ein Rätsel lösen. Das macht es zu einem Mystery-Cache.»

Mystery-Cache, notierte Beatrice sich. «Danke, Stefan. Du hast uns enorm weitergeholfen. TFTH. Thanks for the help.»

Aber Stefan wollte noch nicht gehen. «Erzählt ihr mir mehr über den Fall? Wie habt ihr die Dose gefunden? Ach wartet mal, das hat mit der Frau von gestern zu tun, oder? Der Toten von der Kuhweide?» Mit treuherzigem Blick schaute er erst Beatrice, dann Florin an. «Könnt ihr nicht einen dritten Mann für die Ermittlungen brauchen?»

«Ich rede mit Hoffmann. Wenn wir mehr Leute kriegen, bist du hundertprozentig unsere erste Wahl.»

Damit gab Stefan sich zufrieden. Mit seinem Papierstapel unter dem Arm zog er ab.

Beatrice schnappte sich einen neongelben Marker aus dem Stifthalter und begann, ihre Notizen zu strukturieren.

«Unterbrich mich, wenn ich Blödsinn rede, aber wäre es nicht vernünftig, nach jemandem aus der Cacherszene Ausschau zu halten? Offensichtlich kennt unser Mann sich dort aus – oder unsere Frau. Oder ist es besser, erst einmal die Koordinaten für Stage zwei zu enträtseln? Wenn Stefan richtigliegt, müssten wir am Ende – nach Stage acht oder fünfunddreißig oder zweiundneunzig – auf das stoßen, was wir eigentlich suchen.»