Für dich bricht meine Welt zusammen - Kai Bischof - E-Book

Für dich bricht meine Welt zusammen E-Book

Kai Bischof

0,0

Beschreibung

Weihnachten 1984: Florian ist 15, beliebt und mit sich und seinem Leben im Reinen. Doch das alles ändert sich mit dem Moment, in dem ihn sein Mathematiklehrer bittet, seiner Klassenkameradin Nicole im ominösen Raum 213 zu helfen. Pickel, Zahnspange, langweilige Frisur, altmodische Klamotten, übertriebene Schüchternheit: Wie viel Makel darf man als Junge haben, wenn man für Mädchen mehr sein möchte, als nur ein Freund? Gibt es einen Grund, warum man so voller Selbstzweifel ist, wo anderen doch scheinbar alles gelingt? Muss man wirklich immer stark sein, nur weil man zum angeblich starken Geschlecht gehört? Ist am Ende das Festhalten an den eigenen Gefühlen nicht einfach nur naiv und dumm? Eine stimmungsvoller Roman über das Leben als Teenager in den Achtzigern, gewürzt mit der richtigen Prise Musik und Lebensgefühl, dass die Achtziger zum Lieblingsjahrzehnt der Deutschen gemacht haben. Erleben Sie diese aufregenden Jahre noch einmal neu mit den Augen eines sensiblen Teenagers, der sich in dieser für ihn völlig neuen Welt erst zurechtfinden muss ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 322

Veröffentlichungsjahr: 2024

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Wo sich Wahrheit und Fantasie begegnen, da liegt das höchste menschliche Gefühl. Wir nennen es Liebe!

Schiller – Liebe

… Wenn ich überhaupt eine Chance bei ihr haben sollte, dann würde sie mir die früher oder später auch geben, dessen war ich mir sicher. War das naiv? Ja, das war es. Total naiv sogar. Aber es war wunderschön ...

Träume sind wie Engel, Sie halten das Böse im Zaum, Liebe ist das Licht, Das die Finsternis verscheucht!

Frankie goes to Hollywood – The Power of Love (1984)

… Ich kann nicht behaupten, dass das Weihnachtsfest 1984 eines meiner schönsten war. Aber es war das, welches mir ewig in Erinnerung bleiben sollte. Ich hatte gehofft, mein Gefühlschaos würde sich über die Ferien wieder normalisieren, was es aber nicht tat. Und andererseits … wollte ich das eigentlich wirklich? War es bei allem Schmerz nicht auch verdammt schön? Denn vollkommen egal, was ich in diesen zwei Wochen tat, – Nicole war irgendwie immer bei mir, in meinem Kopf, meinem Herz. Meine Gedanken und Gefühle wurden zunehmend von ihr beherrscht, ohne dass sie etwas dafür konnte. …

Ich komme gegen das Gefühl nicht länger an, obwohl ich nach wie vor Angst habe, es zuzulassen. Was als Freundschaft begann, ist zu etwas Tieferem geworden. Jetzt hoffe ich nur, ich bin stark genug, es auch zu zeigen. Ich sag mir, dass ich nicht ewig ausharren kann, dass meine Furcht unbegründet ist. Weil ich mich so geborgen fühle, wenn wir zusammen sind. Du gibst meinem Leben eine Richtung, machst irgendwie alles so klar.

REO Speedwagon – Can’t fight this feeling (1984)

… Am liebsten hätte ich sie ewig festgehalten, aber leider löste sie sich schnell wieder von mir, sah mir dafür aber mit einem ganz besonderen Blick in die Augen. »Ich wollte dir schon länger mal was sagen.« Sie blickte kurz nervös auf ihre Hände hinunter, um dann wieder meine Augen zu fixieren.

»Ich mag dich wirklich sehr gern. Du bist echt ein total netter Kerl.«

Ich lächelte sie an. Na ja, wahrscheinlich strahlte ich heller als die Sonne, aber es sollte eigentlich nur ein Lächeln sein.

»Danke!«, sagte ich und sah ihr dabei weiter in die Augen, in der Hoffnung, dieser Moment ginge nie vorbei. …

Für meine Eltern

Wer sonst sollte verantwortlich dafür sein, dass ich so sehr lieben kann?

Inhaltsverzeichnis

Nichts wird uns aufhalten

Radio Gaga

Liebe andert alles

Wunschtraume

Die Kraft der Liebe

Mein Herz setzt einen Schlag aus

Ich will wissen, was Liebe ist

Verruckt nach dir

Du bist alles fur mich

Opfer der Liebe

Mein Geheimnis

Wann immer du jemanden

Du verschenkst dish an ihn

Wer wird dish heimfahren heute

Hey, Kleines Madchan!

Nur getraumt

21 Monate später

Du bist die Inspiration

Wieder bei dir sein

Lass dich auf mich ein

Eine groBe Liebe

Irgendwie sowas (Heute)

Soundtrack

Nachwort

Weitere Informationen

Nichts wird uns aufhalten (Damals)

we can build this dream together, Standing strong forever, Nothing's gonna stop us now! And if this world runs out of lovers, We'll still have each other, Nothing's gonna stop us, nothing's gonna stop us now!

*

Und wir können diesen Traum zusammen aufbauen, Für immer fest zusammenhalten, Nichts wird uns jetzt aufhalten! Und wenn dieser Welt die Liebenden ausgehen, Werden wir immer noch uns haben, Nichts wird uns aufhalten, nichts kann uns jetzt stoppen!

Starship – Nothing’s gonna stop us now (1987)

Kennt ihr das Gefühl, wenn ihr ein Lied im Radio hört, und euch – völlig egal, wann ihr diesen Song zum ersten Mal gehört habt – für einen kurzen Moment in eben diese Zeit zurückversetzt fühlt?

Ich habe dieses Gefühl öfter! Und es gibt Lieder, die schon mit ihren ersten Tönen diesen Zauber bei mir hervorrufen. Wobei es gar nicht unbedingt Erinnerungen an konkrete Ereignisse sind, sondern vielmehr die kurze Auferstehung des Lebensgefühls, das ich zu der jeweiligen Zeit hatte. True Faith von New Order zum Beispiel erinnert mich an tolle Abende mit Freundinnen und Freunden als Heranwachsender, La Isla Bonita von Madonna oder Living in a Box von der gleichnamigen Band an durchtanzte Nächte in der örtlichen Diskothek und Back For Good von Take That an die erste, sowieso unvergessliche Zeit, mit meiner heutigen Ehefrau.

Doch die größten Emotionen werden vermutlich auch bei euch mit den Songs wiedererweckt, die ihr mit eurer Teenagerzeit verbindet, oder? Bei mir ist zum Beispiel Maid of Orleans von OMD so ein Lied. Höre ich die ersten Klänge dieses Songs, so bin ich für einen kurzen Moment wieder dort: Als Vierzehnjähriger auf den ersten Partykeller-Geburtstagsfeiern, oder zu Hause, mit dem Finger auf der Aufnahmetaste des Radiorekorders, um den Song endlich einmal komplett auf Kassette zu bannen. Dann zwei Jahre später Radio Gaga von Queen, oder überhaupt das ganze Album The Works aus dem Jahre 1984, das ich stets mit unserer damaligen Klassenfahrt ins noch geteilte Berlin in Verbindung bringe. I Like Chopin von Gazebo oder Dolce Vita von Ryan Paris lösen ebenfalls diffuse Partykeller- und Gartenhauserinnerungen mit Luftschlangen und Lichterketten aus.

Ganz spezielle Gefühle aber verbinde ich mit den Weihnachtsliedern, die Ende des Jahres 1984 die weltweiten Hitparaden anführten: Do They Know it’s Christmas von Band Aid und natürlich Last Christmas von Wham. Denn damals begann für mich eine Zeit, ja fast schon eine Ära, von der ich euch in diesem Buch erzählen will. Es war eine besondere Zeit damals, sicherlich weil wir Teenager waren, kaum Sorgen hatten, und positiv in die Zukunft blickten.

Aber eben auch, weil es diese spezielle Epoche der Achtziger war, in der wir erwachsen wurden. Obwohl es noch die Zeit vor Gorbatschow war, hat uns die stets präsente Angst vor einem Atomkrieg nicht daran gehindert, unsere Jugend zu genießen.

Heute, fast vierzig Jahre danach, glaube ich mehr denn je, dass es ein Privileg war, damals aufzuwachsen. Noch vor der digitalen Revolution, aber schon mit diesem aufkommenden Nichts-wird-uns-aufhalten–Gefühl.

Ich weiß nicht, ob es euch ähnlich geht, falls ihr wie ich in den Siebzigern und Achtzigern groß geworden seid. Vielleicht habt ihr auch ähnliche Erinnerungen, obwohl ihr jünger oder älter seid. Aber ich glaube schon, dass das Lebensgefühl von damals etwas Einzigartiges hatte. Niemand schwärmt so von der Jugendzeit, wie die, die diese in den späten Siebzigern und Achtzigern durchlebt haben und auch bei Umfragen nach dem schönsten Jahrzehnt landen die Achtziger regelmäßig auf dem ersten Platz. Deshalb glaube ich, wir alle, die damals groß wurden, und Erinnerungen daran in uns tragen, hatten einfach Glück. Und wie immer euer Leben seitdem verlaufen ist, was ihr heute tut, oder wer ihr seid: Die Erinnerungen an damals und die damit einhergehenden Gefühle, die kann euch keiner nehmen. Sie sind ein Teil von euch und werden es immer sein!

Ihr müsst übrigens entschuldigen, dass ich euch gleich duze, aber die Dinge, über die ich schreibe, erfordern eine gewisse persönliche Nähe zwischen Autor und Leser. Denn es wird hier, – ihr könnt es euch sicher denken, – vor allem um die erste große Liebe gehen. Und Liebe ist nun einmal etwas sehr Intimes und Persönliches, – zumindest war es für mich immer so. Letzten Endes ist Liebe das zentrale Thema in unserem Leben, wobei sich ihre Erscheinungsform im Laufe der Jahre sicher ändert, die Bedeutung aber nicht. Die größte Liebe ist dementsprechend für manche vielleicht das eigene Kind und gar nicht die Mutter oder der Vater desselben. Oder es ist immer noch der erste Freund oder die erste Freundin, die man schon seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hat, die aber für euch trotzdem immer eine besondere Bedeutung behalten wird. Aber das kann jeder für sich selbst entscheiden, wobei man das gar nicht muss. Nur, wer gar nicht fähig ist, zu lieben, verschwendet in meinen Augen sein Leben. Manchmal bin ich regelrecht erschrocken, wie viele solcher Menschen es anscheinend gibt.

Dabei ist es die Liebe, die uns Menschen erst menschlich macht.

Wenn ihr also vielleicht gerade jetzt bis über beide Ohren verknallt seid, egal ob glücklich oder unglücklich, oder wenn ihr schon seit vielen Jahren oder gar Jahrzehnten mit dem gleichen Partner zusammenlebt und ihn immer noch toll findet, oder euch immer wieder ein Lächeln über das Gesicht huscht, wenn ihr euren Kindern beim Spielen zuschaut, so habt ihr eine Berechtigung, hier zu sein.

Und ihr könnt stolz auf euch sein! Wer sich auf die Liebe zu anderen Menschen einlässt, gibt viel von sich und seinem Inneren preis, bekommt dafür aber auch so viel zurück. Das gilt sogar dann, wenn die Liebe nicht erwidert wird, davon bin ich überzeugt.

Liebeskummer ist letzten Endes etwas Wunderbares, auch wenn er fürchterlich schmerzt, uns manchmal sogar bis an den Rande des Wahnsinns treibt. Aber waren wir nicht alle schon einmal unglücklich verliebt? Was habt ihr für Erinnerungen daran? Fühlt es sich gut oder schlecht an, wenn ihr daran denkt? Es sollte sich gut anfühlen, denn ihr solltet stolz darauf sein, so intensive Gefühle für einen anderen Menschen empfunden zu haben, oder vielleicht sogar gerade jetzt zu empfinden. Für die Klassenkameradin, den Kollegen, den Jungen oder das Mädchen von nebenan, oder wen auch immer.

Wichtig ist, dass ihr euch selbst treu bleibt oder geblieben seid. Es bringt euch nicht weiter, wenn ihr euch verändert, nur um anderen zu gefallen. Jeder Mensch ist einzigartig, und auch wenn euch auf eurem Lebensweg noch der ein oder andere ganz besondere Mensch begegnen wird oder bereits begegnet ist: Eine Steigerung von Einzigartig gibt es nicht.

Ihr wollt wissen, wer ich bin? Ich heiße Florian, früher meistens, heute nur noch selten Flo genannt, habe vor Kurzem die Fünfzig erreicht, bin seit über zwanzig Jahren mit einer Klassefrau verheiratet und habe zwei ebenso tolle Kinder, die mittlerweile so alt sind, wie ich in dieser Geschichte. Ich war und bin sicher nicht das, was man im Allgemeinen als einen tollen Hecht bezeichnen würde. Aber bis auf gelegentliche Ausnahmen wollte ich das auch nie sein. Eher bin ich genau das, was ich früher vermutlich als Spießer abgestempelt hätte. Die meisten Eltern wären stolz auf mich (meine sind es übrigens auch), denn ich habe erreicht, was sich die meisten für ihre Kinder wünschen: Einen gut bezahlten Job, der mir Spaß macht, eine glückliche Familie, ein eigenes kleines Haus und sogar zwei Autos in der Garage. Ich bin sogar selbst ein bisschen stolz auf mich. Das alles hinzubekommen, scheint zumindest kein Selbstläufer zu sein, wenn ich mich unter meinen Mitmenschen so umsehe. Da mag es andere Meinungen geben, aber die interessieren mich mittlerweile nicht mehr wirklich. Versteht das bitte nicht falsch, aber mit dem Älterwerden lernt man einfach, sich nicht mehr so sehr von allen möglichen Seiten beeinflussen zu lassen. Die Jahre verändern Sichtweisen und die Art, wie man mit Dingen umgeht. Die Jahre verändern auch Menschen und Partnerschaften und damit auch die Liebe, die diese Partnerschaft trägt. Die mangelnde Akzeptanz dieser Tatsache scheint allerdings viele davon scheitern zu lassen. Dabei wird die Liebe nach meiner festen Überzeugung nicht besser oder schlechter, sie wird nur anders! Wenn man frisch verliebt ist, dann fühlt man sich im Überschwang des Glücks untrennbar miteinander verbunden. Dabei ist die Verbundenheit viel gefestigter, wenn man sich über Jahre hinweg ein gemeinsames Leben aufgebaut und viele Dinge miteinander erlebt hat. Die sich daraus ergebende Verbundenheit ist so viel tiefer als jene im ersten Hormonrausch, die man aber meist als viel intensiver in Erinnerung hat. Nur seien wir mal ehrlich: Zumindest als Teenager liebt man sowieso kein bisschen mit dem Kopf. Später dann spielt der Kopf eine kleine, allerdings hoffentlich immer noch untergeordnete Rolle, bedingt durch die Erfahrungen, die man im Laufe der Jahre gemacht hat. Aber ist nicht die flammende, völlig kopf- und bedingungslose, alles verdrängende erste Teenagerliebe die, die man nie wieder vergisst?

Ein Lied aus dieser Zeit bringt uns das damalige Gefühl manchmal für Sekunden wieder und man schmunzelt meist darüber, macht einen leisen innerlichen Seufzer. Wenn ihr schon älter seid und dieses Gefühl lange nicht hattet, solltet ihr euch ruhig mal wieder darauf einlassen. Es bedeutet keine Untreue zu eurem jetzigen Partner, falls er oder sie nicht ohnehin in dieser Erinnerung vorkommt. Es sind Teile eurer Geschichte, Dinge, die euch und euren Charakter geprägt haben. Eure Partnerin oder euer Partner wird ebenso ihre oder seine Geschichte haben. Nehmt die Gefühle von damals einfach in eurem Herzen mit, ein Leben lang. Das ist wichtig, auch für eure jetzige Partnerschaft!

Ihr werdet besser verstehen, was ich meine und warum ich so denke, wenn ihr meine Geschichte gelesen habt. Eine Geschichte, die so oder so ähnlich jedem jungen Menschen noch heute passieren könnte. Sie beginnt an einem kalten Montagmorgen im Dezember 1984 in einem Klassenzimmer eines Gymnasiums irgendwo im Westen Deutschlands. Ich bin einer von zweiunddreißig Schülern in der Klasse 9c. Eine tolle Klasse übrigens. Heute weiß ich das, – damals war es für mich selbstverständlich.

Radio Gaga

I'd sit alone and watch your light, My only friend through teenage nights. And everything I had to know, I heard it on my radio.

*

Ich saß oft allein vor deinem Licht, mein einziger Freund in Teenagernächten. Und alles, was ich wissen musste, hörte ich in meinem Radio.

Queen – Radio Gaga (1984)

Ich mochte diese vorweihnachtliche Stimmung. Ich mag sie mit Abstrichen heute noch. Vielleicht war es auch nur ein selbstgeschaffener Vorwand, um der Kälte und der andauernden Dunkelheit etwas abgewinnen zu können, und irgendwo war es als Teenager ja auch uncool, Weihnachten gut zu finden.

Aber man hatte schließlich zwei Wochen Ferien, und so hielt sich die allgemeine Unzufriedenheit darüber doch sehr in Grenzen, – zumindest in meinem Freundeskreis.

In meiner Schulklasse war ich damals nahezu perfekt integriert und fühlte mich dort einfach gut aufgehoben. Jedenfalls wüsste ich nicht, dass es in den ganzen Jahren, – mit einer Ausnahme, – mal Jemanden gegeben hätte, der mich überhaupt nicht leiden konnte. Natürlich gab es Mitschüler, mit denen man engeren Kontakt hatte und sich ab und an nach der Schule oder am Wochenende noch traf. Und auf der anderen Seite gab es welche, mit denen man praktisch kaum etwas zu tun hatte. Aber alles in allem war ich schon relativ beliebt, was vielleicht an meiner eher ruhigen und reservierten Art lag. Ich war nie jemand, der sich groß in den Mittelpunkt drängte, und auch sonst sicher kein Junge, der aus der Menge herausstach. Lange Zeit war ich zudem körperlich der Kleinste in der Klasse gewesen, das hatte sich dann aber ab dem fünfzehnten Lebensjahr radikal geändert. Mit der zunehmenden Körpergröße brach nur leider eine heftige Pubertätsakne über mich herein, die mich mit fortschreitender Zeit immer mehr belastete. Ungerecht war dabei vor allem, dass der ein oder andere Mitschüler, dem man ein paar Eiterbeulen sehr gegönnt hätte, völlig pickelfrei durch diese Zeit kam. Auch fehlte mir damals der Sinn für modische Kleidung oder so etwas wie eine Frisur (wobei man mit meinen dünnen Haaren aber ohnehin nicht viel anfangen konnte). Und als Zugabe gab es dann noch den Supergau für jeden Teenager: Die feste Zahnspange!

In der Summe der Dinge führte das dazu, dass ich damals zwar beliebt, aber alles andere als ein Mädchenschwarm war. Und das Wissen um diese Tatsache kratzte durchaus heftig an meinem Selbstbewusstsein. Während andere bereits mehrere Freundinnen gehabt hatten, bekam ich schon Schnappatmung, wenn ich nur mal in der Nähe eines netten Mädchens stand. Und je netter ich das Mädchen fand, desto schlimmer wurde das. Vielleicht hatte ich mich deshalb bis dahin noch nie ernsthaft verliebt, weil ich mir einfach die vorprogrammierte Enttäuschung ersparen wollte.

Glücklicherweise ging es den Jungs aus meiner Klasse, mit denen ich am meisten rumhing, ähnlich.

Aber man hat als Fünfzehnjähriger dann schon so eine Ahnung, dass einem irgendwann mal dieses eine Mädchen über den Weg laufen wird, bei dem plötzlich alles anders ist. Nur ahnt man ja nicht, dass sie bereits seit Jahren nur eine Reihe vor einem im Klassenraum sitzt.

An diesem Montagmorgen fielen dicke Schneeflocken vom Himmel. Draußen war es noch dunkel und der mit einer riesigen Lichterkette geschmückte Tannenbaum, den wir aus den Fenstern unserer Klasse unten auf dem menschenleeren Schulhof sehen konnten, wirkte in dieser Atmosphäre etwas allein und verlassen. Es waren nur noch wenige Tage bis Weihnachten und auf dem Lehrerpult brannten alle vier Kerzen am Adventskranz.

Ich saß auf meinem Platz, rechts neben mir mein bester Freund Janne, und beide rieben wir uns die tiefgefrorenen Hände an den eigenen Hosenbeinen warm. Trotz eines Weges von jeweils gut sechs Kilometern (aus allerdings völlig unterschiedlichen Richtungen), fuhren wir immer mit dem Fahrrad zur Schule. Wir hätten zwar auch den Bus nehmen können, taten das aber so gut wie nie. Dies war allerdings einer der Tage, an denen ich daran zweifelte, dass ich diese frühmorgendliche Entscheidung richtig getroffen hatte.

Unsere Schule, ein typischer Siebziger-Jahre-Bau, lag am Stadtrand, an dem ich zwar auch wohnte, nur leider genau auf der anderen Seite der Stadt. Mein Schulweg führte mich daher jeden Tag durch die Fußgängerzone unserer 50.000-Einwohner-Stadt. Die Polizisten, die dort Streife liefen, kannten mein Gesicht schon. Trotzdem, oder vielleicht auch deswegen, bin ich die ganzen Jahre ohne Geldstrafe davongekommen.

Als ich Janne damals mit Beginn der fünften Klasse kennengelernt hatte, wunderte ich mich zunächst über seinen exotischen Vornamen, zumal seine zwei älteren Schwestern Monika und Jasmin hießen. Dass wir schließlich beste Freunde geworden waren, war vor allem dem Umstand geschuldet, dass wir gleich am ersten Schultag von unserem Klassenlehrer nebeneinander gesetzt wurden. Aber so spielt das Leben halt manchmal. Uns hat von Anfang an geeint, dass wir während der Stunde gerne auch mal nicht dem Unterricht folgten. Aus unserer Käsekästchenstatistik dürfte Janne als klarer Sieger hervorgegangen sein, bei Vier Gewinnt könnte ich dagegen knapp vorne gelegen haben.

In dieser letzten Woche vor Weihnachten hielt sich der Schulstress in Grenzen. Laut Stundenplan hatten wir in der ersten Stunde Englisch, aber bedingt durch das Wetter und das damit verbundene Verkehrschaos, fehlten noch etliche Schüler. Unser Lehrer Herr Seifert informierte uns daher über die bevorstehende Schulweihnachtsfeier, und kümmerte sich nicht um das eigentliche Unterrichtsfach. Das Einzige, was ich früher an der Schule mochte, waren die Pausen und eben solche Stunden, in denen die Lehrer nicht auf den Lehrplan achteten. Normaler Unterricht war mir dagegen abseits der Sportstunde ein Graus. Im Unterricht war ich nämlich eine mittlere Katastrophe und konnte von Glück sagen, dass die mündliche Beteiligung damals noch nicht so stark bewertet wurde, wie das heute der Fall ist.

Nur die bloße Möglichkeit, eventuell etwas Falsches oder ungewollt Peinliches zu sagen, bereitete mir derartige Panikattacken, dass ich mich aus eigenem Antrieb praktisch nie meldete. Meine mündlichen Noten waren daher in allen Fächern miserabel, aber weil mir meine Schüchternheit bei Klausuren nicht im Weg stand, konnte ich das damit halbwegs gut kompensieren. Was trotzdem blieb, war die ständige Angst, vollkommen unvorbereitet drangenommen zu werden, verbunden mit der verräterischen Gesichtsröte, wenn es dann tatsächlich passierte. Auch ein Punkt, der sicher nicht zur Attraktivität beim weiblichen Geschlecht beigetragen hat. Aber leider auch einer, der sich nicht so einfach abstellen ließ.

Während wir uns über die Schulweihnachtsfeier unterhielten, die am Abend des folgenden Tages stattfinden sollte, trudelten nach und nach die noch fehlenden Schüler ein. Nach etwa zwanzig Minuten waren alle da und Herr Seifert begann doch noch mit dem Englischunterricht. Ich folgte seinen Ausführungen allerdings nur halbherzig, denn er hatte mich gleich bei der ersten Frage drangenommen, und da ich diese beantworten konnte, bedeutete das meist, dass ich für den Rest der Stunde Ruhe hatte. Janne war auch nicht übermäßig interessiert am Unterricht und schrieb mal wieder an irgendwelchen Fußballtabellen hinten in seinem Englischheft. Das machte er recht häufig, allerdings war er auch einer der Schüler, die das Talent besaßen, selbst bei völliger Unaufmerksamkeit unerwartete Zwischenfragen des Lehrers locker beantworten zu können. Er war der eindeutig bessere Schüler von uns und manchmal fragte ich mich, woher er seine Souveränität eigentlich nahm.

Ich sah mich in der Klasse um. Wir waren damals aufgeteilt in vier hintereinanderstehenden Tischreihen, immer vier Tische pro Reihe, an denen jeweils zwei Schüler saßen. Janne und ich saßen in der zweiten Reihe, was für Jungs schon meist die Pole Position war. Es versteht sich von selbst, dass in der ersten Reihe fast nur Mädchen saßen. Einzige Ausnahmen waren Christian und Peter, die in die erste Reihe beordert worden waren, da sie die mit Abstand leistungsschwächsten Schüler waren.

Ansonsten saßen vorne aber halt nur Mädchen: Sabine, Sonja, Anja, Nicole, Angela und Carola. Direkt vor mir saß Anja. Sie war eigentlich das einzige Mädchen, bei der ich nicht permanent einen Kloß im Hals hatte. Vielleicht lag es daran, dass wir das Schicksal teilten, die ersten beiden im Alphabet zu sein – und damit auch im Klassenbuch. Wenn die Lehrer ihre Fragestunde eröffneten, waren wir also entweder als Erste oder Letzte an der Reihe und warfen uns schon vorher gegenseitig mitleidige Blicke zu.

Direkt vor Janne saß Nicole. Die beiden kannten sich schon seit dem Kindergarten, kamen aus dem gleichen Vorort und waren fast Nachbarn. Als Kinder haben sie sich oft getroffen, ab einem gewissen Alter hatte das dann aber nachgelassen. Trotzdem merkte man nach wie vor, dass die beiden sich gut kannten und ein besonderes Verhältnis zueinander hatten, wenn sie privat auch nichts mehr miteinander unternahmen.

Nicole war ein Mädchen, das irgendwie alle mochten. Sie war nicht das, was man als perfekte Schönheit bezeichnen würde, aber sie hatte eine unheimlich sympathische, zurückhaltende Art an sich. Dazu hatte sie ein total liebes Gesicht, etwas über Schulterlänge gewachsene blonde Haare, die ihr, wenn sie sie nicht zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden hatte, unheimlich süß in Stirn und Gesicht fielen. Sie hatte fast nie schlechte Laune und, wie mir erst später als manch anderem aufgefallen war, ein unglaublich schönes Lächeln und einen Blick, der Eisberge zum Schmelzen bringen konnte, – allerdings nur, wenn sie das auch wollte. Ihre ganze Ausstrahlung war einfach positiv und übertrug sich oft genug auf die Menschen in ihrem Umkreis. Im Laufe der Jahre hatten einige meiner Klassenkameraden das schon vor mir bemerkt, denn Einträge in den damals üblichen Poesiealben, die von fast jeder Schülerin und jedem Schüler jährlich aufs Neue durch die Klasse gereicht wurden, änderten sich unter der definitiv interessantesten Rubrik »Schwarm« zunehmend von Nena oder Kim Wilde in Mädchen, die tatsächlich in unserer Klasse oder zumindest in unserem Jahrgang waren. Und Nicoles Name war häufiger darunter. Dass mein Name nie dort auftauchte, brauche ich sicher nicht extra zu erwähnen.

Nun war Nicole nicht das einzige hübsche und nette Mädchen unserer Klasse, aber sie hatte auch für mich immer schon das gewisse Etwas gehabt. Aber es war eben nie so, dass ich deshalb mehr für sie empfunden hätte. Hätte ich mir aber ein Mädchen aussuchen müssen, mit der ich eine Woche auf einer einsamen Insel verbringen musste, so hätte ich auch Nicole genommen. Doch wie das Leben gerade in diesem Alter so spielt, braucht es manchmal nur einen völlig zufälligen und unscheinbaren Auslöser, damit sich die Dinge von Grund auf ändern und die Gefühle auf eine noch nie dagewesene Achterbahnfahrt geschickt werden.

An diesem Morgen stand in der Pause nach der Englischstunde dieser unscheinbare Auslöser für mich unmittelbar bevor, doch natürlich ahnte ich davon nichts. Die Pause verlief, wie kurze Pausen zwischen zwei Unterrichtsstunden fast immer verliefen: Janne und ich hockten uns auf die Fensterbänke, unter denen die Heizkörper glühten, und unterhielten uns mit Lars, Uwe und Stefan über das TV-Programm des Vorabends, Fußball, am häufigsten aber über Musik. Da wurde von uns jedes Lied der aktuellen Charts und jede Neuveröffentlichung der Woche bis ins Kleinste seziert. Damals waren wir alle gut informiert, was aktuelle Popmusik anging, aber Stefan war ein wandelndes Musiklexikon. Was Janne über Fußball wusste, das hatte Stefan über Musik abgespeichert.

Der kannte jedes Lied von jeder Band und dazu noch alle Bandmitglieder, die in den Achtzigern jemals irgendwo in den Top 100 waren. Dabei gingen unsere Musikgeschmäcker wild durcheinander und natürlich hatte jeder von uns seine Lieblingsband.

Uwe sah man schon äußerlich an, dass er eher der Rockerfraktion angehörte. Er stand auf Iron Maiden und hatte einen großen Aufnäher ihres Albums The Number of the Beast auf seiner Jeansjacke. Jannes Favorit war David Bowie, Lars und ich konnten uns beide nur schwer zwischen ELO und Queen entscheiden, wobei er etwas mehr zu Queen, ich etwas mehr zu ELO tendierte, vor allem weil ich unheimlich auf deren Alben aus den Siebzigern stand, als ganze Symphonieorchester die Songs eingespielt hatten. Mr. Blue Sky könnte ich heute noch rauf und runter hören. Nun war ELO von all dem schon die eher poppigere Variante und unter Jungs war es natürlich eher schick, richtigen Rock zu hören.

Daher kam es ganz gut, dass Stefan in einer ganz anderen Musikrichtung unterwegs war: Er hatte nicht im eigentlichen Sinne eine Lieblingsband, stand aber total auf Italo-Disco. Viel weichgespülter ging es jenseits des Schlagers nicht mehr.

Die Mädchen schwärmten meist für die üblichen Verdächtigen wie Duran Duran, Depeche Mode, Paul Young, Culture Club und so weiter. Was uns aber alle einte war, dass wir immer auch Musik aus ganz anderen Richtungen hörten und mochten. Ich kann mich erinnern, dass Uwe einmal voll auf den Song Colour my Love von einer Italo-Combo namens Fun Fun abfuhr. Ein Iron Maiden Fan. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen! Aber was Musikrichtungen anging, waren wir damals alle sehr offen. Vielleicht lag das daran, dass wir mit der Neuen Deutschen Welle groß geworden waren, die eben nicht nur aus Nena, Markus und Geier Sturzflug, sondern auch aus DAF, den Fehlfarben, Spliff, Ideal und Extrabreit bestand. Man wurde da einfach ein Stück weit musikalisch tolerant.

Wir sprachen gerade über die aktuelle Duran Duran Single The Wild Boys, als Herr Brandauer hereinkam, bei dem wir jetzt Mathe hatten. Da ich die Diskussion mit Stefan noch zu Ende bringen wollte, war ich als letzter zurück an meinem Platz. Ich wollte mich gerade niederlassen, als Nicole verspätet ins Klassenzimmer gestürmt kam.

»Tschuldigung«, sagte sie mit leicht geducktem Kopf, und wollte schnell auf ihren Platz schleichen.

»Warte mal, Nicole«, hielt Herr Brandauer sie auf. »Ich brauche noch zwei Leute, die mir ein paar Unterlagen aus dem Lehrerzimmer holen. Florian, gehst du bitte mit? Wo du ja auch noch stehst.«

Ich antwortete nicht, sondern nickte nur und machte mich auf den Weg zur Tür.

»In meinem Fach liegt ein Stapel Kopien für die Weihnachtsfeier morgen, die lasst ihr euch bitte von einem Lehrer geben und bringt sie mit, ja?«, wies er uns an.

»Okay!«, antworteten Nicole und ich wie aus einem Mund und verließen den Klassenraum.

Nebeneinander gingen wir durch den Flur und die Treppen hinunter ins Erdgeschoß. In der Schule herrschte ungewohnte Stille, da alle Schülerinnen und Schüler schon in ihren Klassenräumen waren.

Irgendwie war es also so, dass die zwischen Stefan und mir herrschende Uneinigkeit über den Wert der Single Wild Boys letztlich der Auslöser dafür war, dass ich mit Nicole durch die menschenleere Schule unterwegs war. Ein Umstand, für den ich Stefan und der Band Duran Duran heute noch dankbar bin. Er war übrigens der Meinung, der Song wäre nur aufgrund des bis dahin teuersten Musikvideos aller Zeiten ein Hit geworden, während ich diesen Standpunkt, obwohl ich nie ein großer Fan der Band war, nicht teilen wollte.

Auf jeden Fall schoss mir durch den Kopf, dass ich in den ganzen viereinhalb Jahren, die wir uns nun schon kannten, noch nie allein mit Nicole gewesen war. Ich hatte bislang auch kein besonderes Verlangen danach gehabt. In dem Wissen, dass der ein oder andere Junge jetzt gerne mit mir getauscht hätte, stellte ich aber plötzlich fest, dass es sich ziemlich gut anfühlte. Es war schön, dass sie für einen Moment allein an meiner Seite war. Ich genoss die Situation unbewusst und bemerkte gar nicht, dass ich Nicole die ganze Zeit anhimmelte.

Bis sie es bemerkte. »Ist irgendwas?«, fragte sie mit skeptischem Blick.

»Nö, ich freu mich nur«, antwortete ich und versuchte, meinen plötzlichen Herzaussetzer zu überspielen.

»Worüber?«

»Darüber, dass morgen die Weihnachtsfeier ist«, log ich, obwohl das nicht wirklich gelogen war, denn ich freute mich tatsächlich darauf.

»Ja, mal sehen, wie es dieses Jahr wird.« Nicole stieß die gläserne Schwingtür auf, die zum Verwaltungstrakt der Schule führte und klopfte an die Lehrerzimmertür.

Unsere Deutschlehrerin Frau Urban öffnete uns.

Nachdem wir ihr den Grund unseres Kommens erklärt hatten, drückte sie uns jeweils einen Stapel Kopien in die Hand, wobei meiner etwas größer ausfiel. Wir machten uns auf den Weg zurück zu unserem Klassenzimmer im ersten Stock, warfen währenddessen aber natürlich einen Blick auf die Kopien.

»Das ist ja blöd«, bemerkte Nicole, die schneller lesen konnte als ich.

»Wieso? Was ist denn?«

Sie blieb am Fuß der Treppe abrupt stehen. »Hier, halt mal.« Sie legte ihren Stapel Kopien unvermittelt auf meinen drauf und ich musste mein Kinn auf die oberste Seite legen, damit mir nicht alles herunterfiel.

Ein zusammengeheftetes Bündel Kopien hatte sie in der Hand behalten. »Hier steht, dass die neunten und die zehnten Klassen bei Auf- und Abbau helfen und außerdem noch die Getränkeausgabe besetzen sollen. Mussten das im letzten Jahr nicht nur die zehnten Klassen machen?«

»Hm, ich glaube, du hast recht«, gab ich zurück, »aber das war auch ein ziemliches Chaos, wenn ich mich recht erinnere.«

»Stimmt, es sah schon ziemlich verwüstet aus am nächsten Tag«

»Du könntest dich nicht vielleicht dazu entschließen, mir wieder etwas abzunehmen?« Ich sah sie hilfesuchend an und hatte Mühe, den Kopienstapel im Gleichgewicht zu halten.

»Oh, entschuldige«, stieß Nicole hervor und nahm mir knapp die Hälfte wieder ab. Dabei berührten sich unsere Hände leicht und ein diffuses, angenehmes Kribbeln durchzog meine Magengegend. Ein Gefühl, das mir bis dahin unbekannt war, dem ich aber auch keine größere Bedeutung beimaß. Wir gingen zurück in den Klassenraum, legten die Kopien auf dem Lehrerpult ab, und setzten uns auf unsere Plätze.

»Nachdem es letztes Jahr bei der Organisation der Weihnachtsfeier einige Probleme gab, hat das Kollegium sich dazu entschlossen, dieses Jahr auch die neunten Klassen zur Arbeit heranzuziehen«, erklärte Herr Brandauer, während er die Kopien in der Klasse verteilte.

Es gab Gegrummel und ein paar leise Buh-Rufe, aber Herr Brandauer lächelte nur milde: »Ich habe euch für die Getränkeausgabe und die Aufbauarbeiten einteilen lassen. Mit dem Aufräumen nach der Feier habt ihr also nichts zu tun.«

Die Stimmung beruhigte sich augenblicklich. Nicht den Dreck der anderen wegmachen zu müssen, war wenigstens etwas.

»Den Aufbau sollten wir gemeinsam erledigen, dann dauert das auch nicht lange.« Herr Brandauer legte Andrea die letzte Kopie auf den Tisch und ging zu seinem Pult zurück. »Die 9a ist für die gleichen Arbeiten eingeteilt. Was die Getränkeausgabe angeht, machen wir einen festen Dienstplan. Nach den Erfahrungen vom letzten Jahr immer vier Leute zusammen für jeweils eine Stunde, würde ich vorschlagen.«

In der Klasse regte sich kein Widerspruch.

»Irgendjemand, der morgen Abend keine Zeit hat oder später kommt und deshalb nicht helfen kann?«, fragte Herr Brandauer in die Klasse hinein, doch niemand meldete sich. Bei der Weihnachtsfeier, die in den Jahren zuvor mehr eine Jugenddisco war, fehlte man nur ungern. »Gut, dann teile ich euch mal eben ein. Immer die zwei Tische hintereinander.« Herr Brandauer blickte zu Britta, Sonja, Ralf und Jörg, die links von mir saßen. »Ihr fangt an.«

»Und wann?«, fragte Jörg.

»Sechs Uhr. Fünf Minuten eher da sein schadet aber nicht. Um sieben lösen euch dann Anja, Nicole, Florian und Janne ab.«

Wir nickten zustimmend. Herr Brandauer teilte noch den Rest der Klasse ein, dann sagte er: »Zum Aufbau treffen wir uns dann morgen in der fünften Stunde unten in der Aula.«

»In der fünften und sechsten Stunde haben wir morgen noch Latein!«, rief unser Klassensprecher Klaus dazwischen.

»Ach ja, das hatte ich ganz vergessen: Die letzten zwei Stunden fallen für euch morgen wegen des Aufbaus natürlich aus.«

Tosender Jubel brach in der Klasse aus. Was konnte Besseres passieren, als wenn eine Doppelstunde Latein ausfiel!?

In der großen Pause kamen Olaf und Klassensprecher Klaus zu Janne und mir, um sich zu erkundigen, ob sie nicht den Thekendienst mit uns tauschen könnten. Als Janne sie nach dem Grund fragte, konnten sie uns keinen plausiblen nennen, doch vermutlich lag der darin, dass wir mit Nicole in einer Gruppe waren. Wir lehnten ab, wenn auch weniger wegen Nicole oder Anja, als vielmehr, um den Dienst möglichst früh hinter uns zu haben. Für einen kurzen Moment fragte ich mich aber, ob Nicole nicht doch auch ein triftiger Grund für meine Ablehnung war. Allerdings hatte Janne den beiden schon einen Vogel gezeigt, bevor ich überhaupt richtig darüber nachdenken konnte.

Liebe andert alles

I was only seventeen, when she looked atme that way, Seems like yesterday. I was only foolin' round, but she stole my heart away, I’ve never been the same!

*

Ich war erst 17, als sie mich auf diese Art ansah. Es kommt mir vor, als wäre es erst gestern gewesen. Ich war jung und unbekümmert, aber sie stahl mir mein Herz. Ab da war ich nicht mehr derselbe!

Climie Fisher – Love Changes Everything (1987)

Am nächsten Tag brach nach der vierten Stunde große Unruhe aus. Wir versammelten uns in der Aula und Herr Brandauer teilte uns für verschiedene Aufgaben ein. Es gab einiges zu tun, mir machte dass aber eigentlich immer Spaß, wenn wir mit der ganzen Klasse etwas erledigen mussten.

Ich befreite gerade die zusammenhängenden Stühle in der Aula aus ihren seitlichen Verankerungen, als Herr Brandauer zu mir kam: »Florian, wenn du hier fertig bist, holst du dann bitte mit Nicole die Kartons mit den Dekorationssachen aus dem Lager im zweiten Stock? Zwei Stück müssten das sein, Raum 213.«

»Ja, sofort«, ächzte ich, während ich zwei Stühle voneinander trennte, deren Verankerungen sich verklemmt hatten.

»Du findest uns da vorne an der Bühne.« Herr Brandauer zeigte hinter mich.

»Ich komme dann gleich«, bestätigte ich nickend und er verschwand wieder.

»Wieso eigentlich immer Florian?«, beschwerte sich Olaf unvermittelt, der nicht weit von mir am Thekenaufbau werkelte. »Man könnte meinen, der will die beiden verkuppeln.«

»Was?«, fragte Birgit, die mit ihm an der Theke arbeitete und auf dem Rücken liegend eine Schraube festzog. »Wer will wen verkuppeln?«

»Der Brandauer Nicole und Florian.«

»Na ja, warum eigentlich nicht?« Birgit legte den Schraubendreher beiseite und richtete sich auf. »Die beiden wären doch ein schönes Paar.«

Olaf entwich nur ein echauffiertes »Pfffft!«, begleitet von ungläubigem Kopfschütteln.

»Ja, oder? Das denk’ ich schon länger«, schaltete sich überraschend Lisa ein. »Die würden richtig gut zusammenpassen. Ein echtes Traumpaar.«

Olaf drehte genervt die Augen zur Decke. »Das können sich wirklich nur Frauen ausdenken«, stöhnte er und schraubte weiter an der Thekenplatte.

Ich selbst war vollkommen perplex und sah Lisa fragend an, die nur vor sich hin grinste. »Kannst du mir mal sagen, wie du auf so was kommst?« Ich war schon neugierig, ob sie das ernst meinte, oder Olaf nur ärgern wollte.

»Na ja, find’ ich halt«, antwortete sie schulterzuckend. »Laura sieht das übrigens genauso.«

»Was sehe ich genauso?« Lisas Zwillingsschwester Laura kam gerade mit der Werkzeugkiste unseres Hausmeisters um die Ecke und stellte sie vor ihrer Schwester ab.

»Dass Florian und Nicole ein schönes Paar wären.«

Laura musterte mich amüsiert. »Ja, stimmt«, sagte sie und lachte, vermutlich über meinen vollkommen bescheuerten Gesichtsausdruck.

»Nun hört doch mal auf, den Olaf zu ärgern, sonst beißt er gleich noch in die Thekenplatte«, feixte Olafs bester Kumpel Mario, der direkt neben ihm hockte.

Lisa zog ihren Kopf ein. »Oh, entschuldigt. Ich hatte vergessen, dass er ein Auge auf Nicole geworfen hat.«

»Habt ihr’s bald?«, schrie Olaf und sah angestrengt auf die Holzplatte, die er in der Hand hielt.

Mario, Lisa, Laura und Birgit kicherten leise, ließen es dann aber dabei bewenden.

Und ich? Ich fühlte mich komischerweise geschmeichelt und wusste nicht mal so recht, warum. Wie man aber auch ausgerechnet auf Nicole und mich als Traumpaar kam, war mir schleierhaft. Ich war zu der Zeit in meiner ganzen Erscheinung so weit von Nicole entfernt, wie Nigeria vom Weltmeistertitel im Eishockey, – zumindest nach meiner Selbstwahrnehmung. Ich traute mich aber auch nicht, weiter nachzufragen, hakte die letzten zwei Stühle auseinander und ging dann zu Nicole, um mit ihr die Kartons zu holen, wie Herr Brandauer es gewünscht hatte.

Raum 213 war früher einmal ein richtiger Klassenraum, mittlerweile standen aber keine Tische und Stühle mehr darin. Stattdessen wurde hier so ziemlich alles hingebracht, was in der Schule selten gebraucht wurde, aber eben noch nicht weggeschmissen werden konnte. Jeder, der schon mal das Privileg hatte, diesen Raum betreten zu dürfen, konnte lustige Geschichten darüber erzählen.

Ich hatte schon mal das Vergnügen und Nicole auch, wie ich mich erinnerte. Sie hatte eine schon seit Jahren nicht mehr angetastete alte Leinwand aus diesem Raum holen müssen und sah anschließend aus, wie ein zugestaubter Pudel. Die Schüler nannten Raum 213 spätestens seitdem nur Die Staubgrotte.

Nicole öffnete mit Herrn Brandauers Schlüssel die Tür. Wir gingen hinein und suchten in dem Chaos nach den Kartons, die Herr Brandauer Nicole beschrieben hatte. Unglücklicherweise befanden sich aber verdammt viele Kartons in diesem Raum, von denen die Hälfte gar nicht beschriftet oder die Beschriftung nicht mehr lesbar war, also mussten wir in viele hineinsehen.

»Was ist das denn?«, rief Nicole plötzlich, während sie in einem dieser Kartons herumwühlte.

Sie zog einen Totenkopfschädel daraus hervor, vermutlich von dem alten Skelett, das früher im Biologieraum stand. Ich musste lachen.

»Jetzt weiß ich endlich, was die mit Schülern machen, die ihnen zu unbequem werden«, scherzte Nicole.

»Sieht aber eher aus wie ein Lehrerschädel«, meinte ich.

»Wieso?«

«Ich kann kein Gehirn sehen.«

Nicole kicherte. »Der Rest von ihm liegt auch noch hier drin.«

»Wieso ihm? Vielleicht war’s ja auch ne Lehrerin.«

»Glaub ich nicht«, entgegnete Nicole.

»Warum?«

»Hast du schon mal so ne schlanke Lehrerin gesehen?«

»Nein«, stimmte ich lachend zu, »allerdings nicht.«

Nicole warf den Schädel wieder in den Karton und wir suchten weiter. Wir drangen weiter nach hinten in den Raum vor, wo die Kartons in immer höheren Stapeln standen.

»Kannst du mir den da mal runterholen«, fragte Nicole, als sie vor einem dieser Türme stand.

Ich stellte mich auf Zehenspitzen und wollte den Karton runterheben, doch er war zu schwer. Deshalb suchte ich nach einer Leiter oder nach etwas, das man als Tritt benutzen konnte.

»Ey, nun brich dir doch hier keinen ab«, stöhnte Nicole, allerdings lächelte sie dabei.

»Ja wie? Fliegen kann ich noch nicht«, entgegnete ich.

Sie breitete ihre Arme aus. »Heb’ mich halt ein Stück hoch, dann guck‘ ich mal rein.«

Ich musste kurz schlucken, stellte mich dann aber zwischen sie und den Kartonstapel, ging in die Hocke, umschloss ihre Oberschenkel mit meinen Armen und hob sie an, sodass sie den Inhalt des obersten Kartons in Augenschein nehmen konnte.

Ich war beileibe nicht muskulös, aber Nicole dafür federleicht. Dass mein Kopf nur knapp unterhalb ihrer Brüste lag, ließ meine Knie trotzdem weich werden.