Für die Familie - Katja Stenzel - E-Book

Für die Familie E-Book

Katja Stenzel

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Beschreibung

Kims Leben scheint perfekt: Sie ist rebellisch, frech und talentiert. Obendrein verhilft ihr die richtige Portion Skrupellosigkeit dazu, immer ihren Willen zu bekommen. Niemand würde ahnen, wie kaputt Kims Familie ist. Niemand weiß, dass ihre Verlustängste sie begleiten, wohin sie auch geht. Denn sie versteht es wie keine Zweite, arrogant und kühl aufzutreten. Seit Jahren jagt eine Party die nächste, und ihr Charme treibt Kim in die Arme ständig wechselnder Kerle. Sie hat vor, diesen Sommer genauso weiterzumachen. Doch ein Vorfall in ihrer Familie ändert alles, und sie wird mit ihren Gefühlen konfrontiert - auch mit denen für Dan...

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Seitenzahl: 210

Veröffentlichungsjahr: 2020

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„If a writer falls in love with you, you can never die.”

- Mik Everett

P.S.:

Ich habe versucht, das Buch zu schreiben, das ich selbst

mit 16 gern gelesen hätte: ein Jugendroman und eine Familiengeschichte zugleich. Ein Buch, in dem es mehr

Abenteuer als Seiten und mehr Liebe als Wörter gibt.

Willkommen im Sommer 2019.

Inhaltsverzeichnis

Kim

Kim

Kim

Kim

Maria

Kim

Maria

Kim

Kim

Kim

Maria

Kim

Maria

Kim

Kim

Kim

Kim

Kim

Maria

Kim

Kim

Kim

Maria

Kim

Kim

Maria

Kim

Kim

Maria

Kim

Kim

Maria

Kim

Maria

Kim

Kim

Maria

Kim

Maria

Kim

Maria

Kim

Maria

Kim

Kim

Maria

Kim

Kim

Kim

Kim

Maria

Kim

Kim

Irgendwann gab es einen Cut. Es hat damit begonnen, dass die beiden anfingen, sich zu streiten. Immer öfter. Inmitten dieser endlosen Streitigkeiten fasste Mum sich ein Herz und hatte den Mut, Dad zu sagen, dass sie sich von ihm trennen will. Damals fühlte es sich für meine Schwester Annabelle und mich an, als würde Mum unsere Familie im Stich lassen. Keine Ahnung, ob Dad sie noch geliebt hat. Er packte seine Sachen und zog innerhalb der nächsten Tage aus. Ich erinnere mich daran, wie ich im Flur unserer Wohnung stand. Wäre ich noch ein kleines Kind gewesen, dann hätte ich ihn wohl mit glasigen Augen angesehen. Aber ich war fast 14 – alt genug, um erst nachher zu heulen. Dann ging er, in der einen Hand den Koffer und in der anderen seine hässliche Reisetasche.

Nur wenige Wochen später geschah es dann: Mum war auf dem Weg irgendwohin, zu Fuß. Den Berichten zufolge muss alles ziemlich schnell passiert sein. Eine Straße. Ein Auto. Ein betrunkener Fahrer. Und sie. In den nächsten Tagen vergoss ich mehr Tränen als in den darauffolgenden vier Jahren. Und Dad musste seine Frau beerdigen. Die Frau, die ihn nicht mehr liebte, die sich von ihm trennen wollte. Und die trotzdem noch seine Ehefrau war, denn eine Scheidung hatte bis zuletzt nicht stattgefunden.

Dann ist Becca gegangen, meine beste Freundin. Schön beschissen.

Und dann Elias. Immerhin ist er nicht tot. Nur weg von uns. Annabelle hat ihn kürzlich abserviert, nachdem er jahrelang ihr persönlicher Sklave war. Ziemlich mieses Gefühl, jemanden zu verlieren, der wie ein großer Bruder war. Annabelle hat behauptet, er sei ja nicht aus der Welt. Aber er ist raus aus meiner Familie. Abgeschoben, einfach weggekickt und liegen gelassen. Und ich bin seitdem endgültig stehen geblieben, regungslos. Seit meinem fünften Lebensjahr bin ich mit ihm aufgewachsen. Jetzt ist er weg, und mit ihm meine Kindheit.

Übrig geblieben ist eine 18-jährige Furie, mehr oder weniger.

Und damit: Hi, ich bin Kim.

Kim

„Ich brauche wirklich nur fünf Minuten!“

„Vergiss es, Kleine. Werd 'n bisschen älter, nimm dein Album auf, verkauf bisschen was und dann können wir nochmal reden.“

Der Spott in seinem Blick hätte niemandem entgehen können, vor allem nicht mir.

„Ihre Entscheidung, ob Sie sich jetzt einen kleinen Einblick verschaffen oder sich später überraschen lassen wollen.“

Ich widme ihm mein Standardlächeln, wohlwissend, dass dem für gewöhnlich niemand widerstehen kann. Es ist ebenso charmant wie provokant. Einfach genial also. Es lässt alle glauben, sie seien die Einzigen, für die ich dieses gewinnende Lächeln zum Vorschein bringe. Das ist der Trick, einer von vielen.

„Hab ich's nicht deutlich genug gesagt? Du wirst hier nicht singen!“

Er sieht mich mit diesem forschenden Blick an. Innerlich muss ich grinsen.

„Ich habe Ihnen die Wahl gelassen.“

Ziemlich lässig werfe ich mir meinen Gitarrenkoffer über die Schulter, drehe mich auf dem Absatz meiner für Juli viel zu heißen, schwarz glänzenden Docs um, marschiere die Treppe hoch und aus diesem verrauchten Kellerschuppen raus. Ein filmreifer Auftritt, jedenfalls in meiner Vorstellung. Bei ihm hat das Lächeln offenbar nicht gezogen. Aber gut, auch kein Thema. Dann eben ohne Hörprobe für ihn. Als ich draußen bin, setze ich mich auf die oberste Backsteintreppenstufe, breite Papier und Tabak auf meinen Beinen aus und drehe mir eine. American Spirit natürlich. Mittlerweile ist es knapp ein Jahr her, dass ich angefangen habe. Seitdem Becca tot und hier alles endgültig beschissen ist, bin ich also offiziell Raucherin. Ich zünde sie an und inhaliere, Zug für Zug. Dabei starre ich auf meine zerrissene schwarze Feinstrumpfhose, bis mein Handy in der schwarzen Handtasche vibriert. Dad, sagt das Display. Toll.

„Was ist los?“, nehme ich ab, genervt davon, aus meinen Gedanken gerissen worden zu sein.

„Was los ist?! Du solltest dich doch melden und Bescheid geben, ob du vorbeikommst. Kimberly, ehrlich. Ich…“

An diesem Punkt versagt seine Stimme – wie so oft, wenn es eigentlich etwas zu sagen gäbe. Ich warte ab, bis er fortfährt.

„Ich weiß nicht, wie lange es noch gehen wird.“

Eine Weile lang sage ich nichts. Meine gelegentliche Wortkargheit habe ich wohl von ihm.

„Wie ist die genaue Adresse? Falls du es vergessen hast: Ich bin noch nie allein dorthin gegangen.“

Noch während ich die Frage stelle, erhebe ich mich von der unbequemen Treppenstufe, die mich vermutlich noch heruntergekommener wirken lassen hat, als ich ohnehin schon aussehe.

Kurz sagt er nichts. Dann: „Wo bist du?“

„Friedrichshain. Ich laufe zum Frankfurter Tor.“

Solange ich ihm nicht sage, was ich hier mache, ist alles okay. Er kann es nicht nachvollziehen. Er hat kein Verständnis für eine Welt, die über Business hinausgeht, schon gar nicht, wenn irgendwo das Wort Kunst erwähnt wird.

„Schönhauser 81. Bis dann.“

Ich lege auf, ohne noch etwas zu sagen, nehme genüsslich den letzten Zug von meiner Kippe, lasse sie ohne jegliche Emotionen auf den Boden fallen und trete sie aus. Keine Ahnung, ob ich auch das von ihm habe.

Ein leises, mir inzwischen kaum noch bekanntes Gefühl des Unbehagens beschleicht mich, als ich auf die Klingel drücke und anschließend die Wohnungstür öffne.

„Du bist da.“

Das ist alles, was aus seinem Mund kommt. Beinahe regungslos steht er vor mir.

„Ja“, erwidere ich und schiebe ihn leicht zur Seite, um es möglichst schnell hinter mich zu bringen. Abgedroschene Floskeln, zum Scheitern verurteilte Gespräche und die darauf folgende peinliche Stille sind das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann.

Ich bin ewig nicht mehr hier gewesen. Warum auch? An den Aufbau des kleinen Appartements kann ich mich trotzdem noch erinnern. Hinter der Tür vorne rechts verbirgt sich die kleine, schmale Küche, in der ich so gut wie nie gewesen bin. Dahinter befindet sich ein Zimmer für alles. Ich weiß nicht mehr, was genau dort alles rumsteht, aber auf jeden Fall eine alte Nintendo 64. Die ist echt Kult. Von der Konsole weiß ich, weil ich mir die Zeit mit Videospielen vertrieben habe, wenn ich früher hier war. Manchmal habe ich ganze Nachmittage damit verbracht, in diesem Zimmer Super Mario und Zelda zu zocken. Außerdem war das Zimmer auch so eine Art Atelier – Gabriel war früher Künstler, aber jetzt ist er mehr oder weniger nichts. Wohl ziemlich eindeutig nichts.

„Also, ich fahre später auch bald nach Hause, Oma übernimmt die Nachtschicht.“ Als ich auf seinen ziemlich offensichtlichen und schlechten Versuch, mich zum Lächeln zu bringen, nicht eingehe, fährt er fort, als wäre diese seltsame Äußerung ihm nie über die Lippen gekommen. „Komm, wir gehen mal zu ihm rein.“

Mit dem Kopf deutet er auf das Schlafzimmer. Gerade will ich sagen, dass ich es mir nochmal überlegen muss, aber er hat die Tür schon geöffnet und tritt an das Bett heran.

„Alter Mann, du hast Besuch, deine Enkeltochter ist hier. Erkennst du sie noch?“

Seine Worte schrecken mich ab. Bereits von hier aus sehe ich, dass Gabriel nichts als ein Häufchen Elend ist. Ein in sich zusammengefallenes Etwas, bei dessen Anblick man sich nur schwer vorstellen kann, dass es einmal ein Mann gewesen sein soll. Ich wage es und mache einen Schritt auf das Bett zu.

„Hallo.“

Das ist alles. Mehr geht nicht. Ein ziemlicher Kloß im Hals verhindert weitere Worte. Meine Spucke verklebt, mein Mund ist trocken. Ein Gefühl, dem ich schon ewig nicht mehr zum Opfer gefallen bin.

Mit scheinbar großer Mühe dreht Gabriel seinen Kopf nach links, dorthin, wo ich stehe. Verwirrt blickt er mich aus seinen eingefallenen Augenhöhlen heraus an. Ob er überhaupt den Hauch einer Ahnung hat, wer ich bin? Doch plötzlich setzt er zum Sprechen an: Ein gequältes „Na sicher“ entfährt ihm, und auf seinen schmalen, fast gänzlich verschwundenen Lippen breitet sich der Ansatz eines matten Lächelns aus.

Und ich? Ich stehe da und bin überfordert. Keine Ahnung, wie man sich in so einer Situation verhält. Ein Lächeln gelingt mir nicht. Stattdessen stehe ich einfach nur wie angewurzelt da. Großartig.

„Durst“, stößt er hilflos hervor.

Dad wirft mir einen Blick zu. Alles klar: Ihm geht es beschissen. Er ist wie ein offenes Buch. Die Sorte Mensch, der man nur für einen Sekundenbruchteil in die Augen sehen muss, um zu wissen, was Sache ist. Aber für gewöhnlich meide ich seinen Blick, weil es jedes Mal ist, als würde ich in den Spiegel schauen. Schon seit meiner Kindheit verfolgt mich dieser Gedanke. Früher habe ich gern daran gedacht, schon damals war unsere Augenpartie – neben den schwarzen Haaren – das, was uns miteinander verbunden hat. Mittlerweile denke ich nicht mehr gern daran, aus dem gleichen Grund. Abstellen kann ich den Gedanken nicht, er sitzt in meinem Kopf fest. Ich weiß, dass es ihm genauso geht. Unsere großen Augen sind von dem gleichen intensiven Dunkelbraun und werden umrahmt von dichten schwarzen Wimpern. Als Kind hatte ich auch seine buschigen Augenbrauen, aber mit 13 habe ich angefangen, sie zu zupfen. Über die Jahre haben sie zu ihrer jetzigen Form gefunden, schmal und geschwungen.

Er wendet den Blick von mir ab und reicht Gabriel ein Glas Wasser mit einem Trinkhalm. Vorsichtig versucht er, den Trinkhalm zwischen seine Lippen zu quetschen, und es funktioniert. Daran, dass seine Gesichtszüge sich leicht verändern, erkenne ich, dass Gabriel an dem Strohhalm saugt. Aber die Wassermenge im Glas wird nicht kleiner. Er trinkt sicher eine Minute lang ununterbrochen, aber es tut sich kaum etwas.

Ich will nicht laut sagen, dass ich gehen muss, aber ich will meinem Vater auch nicht die Hand auf die Schulter legen oder so. Das wäre seltsam. Also mache ich eine Bewegung, die an Awkwardness kaum zu übertreffen ist: Ich lasse meine Hand locker und schlage sie ihm versucht beiläufig gegen den Oberarm. Er sieht mich fragend an. Aus seinem Blick kann ich lesen, dass er weiß, was jetzt kommt. Mit einer Kopfbewegung deute ich zur Tür. Verletzt wendet er den Blick ab. Mir egal. Ihm ist selbst klar, dass er mich nicht hindern kann. Nicht mehr. Ich bin nicht mehr klein und schwach wie früher. Ich bin stark, schon lange.

„Kimberly muss wieder los“, sagt er, mehr zu sich selbst als zu Gabriel.

„Ja… tschüss.“

Ich setze zu einem Winken in Gabriels Richtung an, aber er sieht mich nur verwirrt an, mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen. Ehe er noch irgendetwas sagen kann, mache ich die Schlafzimmertür auf und bin aus diesem Raum verschwunden. Und kurz darauf aus der Wohnung.

Kim

Nachdem ich mir meine Gitarre umgehängt habe, klopfe ich mir den Staub von Armen und Beinen. Den muss ich mir wohl beim erneuten Herabsteigen dieser schäbigen Treppe zugezogen haben. Egal. Es ist perfekt – wie immer. Wenn es eine Sache gibt, in der ich wirklich gut bin, dann das hier. Und wenn es – neben Mum – etwas in diesem beängstigend riesigen Universum gibt, das ich wirklich liebe, dann das hier. Mein Herz pumpt ordentlich, durch jede Ader fließt Energie, viel schneller als das Blut. Obwohl ich die Akkorde meines Songs nur still im Kopf durchgehe, übertönen sie all die Geräusche, die dieser heruntergekommene Mix aus Club und Bar hergibt: das Stimmengewirr der wartenden Menschen, das Gelächter, die Musik aus den Boxen. Der eigentliche Act ist für 22 Uhr angekündigt. Jetzt ist es 21:50 Uhr und die ganze Technik ist vorbereitet. Alles, was ich brauche, befindet sich auf der kleinen Bühne, auf die ich mich in diesem Moment hochschwinge. Die ersten Male habe ich noch in die mehr oder weniger große Menschenmenge vor der Bühne geblickt, habe ihre skeptischen Gesichtsausdrücke noch wahrgenommen und sie an mich herangelassen. Mittlerweile tue ich das nicht mehr, jetzt mache ich einfach mein Ding. Möglichst schnell renne ich zu dem natürlich bereits angeschlossenen und mehrfach getesteten Mikro. Je später dieser verklemmte Clubleiter von vorhin Wind von der Sache bekommt, desto besser für mich. Dann beginne ich, spiele die ersten Noten. Grundsätzlich ist jeder Auftritt anders. Aber für mich gibt es eine Sache, die immer gleich ist, die ich noch nie anders erlebt habe: Der erste Ton, der seinen Weg von meinen Stimmbändern in den Raum findet, ist der intensivste. Das hier ist das Einzige, was ich habe. Das hier ist es, was ich liebe. Ich spiele und singe meine Lieder nie einfach nur runter. Ich will dem, was ich kreiere, einen Ausdruck verleihen, es stark machen – so stark, wie ich mich selbst über die Jahre gemacht habe. Meine Musik ist ich und ich bin meine Musik. Die Musik ist meine Liebe, und mehr brauche ich nicht.

Als ich den letzten Akkord spiele, blicke ich auf. Die Magie ist vorbei. Natürlich bekommen die Clubinhaber – mit mittlerweile 18 Jahren komme ich glücklicherweise in wirklich alle Berliner Clubs rein – immer spätestens nach ein paar Sekunden mit, dass etwas nicht nach Plan läuft. Aber wenn sie nach den ersten Tönen merken, dass es nicht furchtbar ist und durchaus als Opening Act durchgehen könnte, entspannen sie sich und versuchen nicht, irgendetwas zu unternehmen. Würde ja schließlich einen ziemlich miesen Eindruck machen, panisch auf die Bühne zu stürmen. Unorganisiert, unwissend und sonst was. Schlechte Publicity und so. Clubinhaber gehören eindeutig zu den Menschen, für die solche Dinge einen Wert haben. Das ist es, was ich kapiert habe. Und diese leicht durchschaubare Masche ist der Grund, warum ich in jeder Bar und in jedem Club spielen kann, völlig unabhängig davon, ob mir jemand die Erlaubnis gegeben hat oder nicht. Mein Trick – natürlich neben dem Lächeln. Was sollte ich nachher noch zu befürchten haben? Vorteile für den Club, Vorteile für mich. Win-win-Situation, würden sie sagen. Zum Abschluss schnappe ich mir noch einmal das Mikro und rufe: „Leute, sucht mich auf YouTube – Audrey K!“ Dann springe ich elegant von der Bühne, genauso schnell und überraschend, wie ich dort aufgetaucht bin. Ich sehe den Kerl, mit dem ich vorhin gesprochen habe. Er sitzt auf einem der Barhocker, ich grinse ihn an. Er grinst dumm zurück und raunt mir ein „Nicht so übel wie ich dachte“ zu, als ich an ihm vorbeigehe. Ich liebe es.

Draußen blitzen mich Leos Augen an. Normalerweise bevorzuge ich Braun oder Grün, aber seine sind der Wahnsinn. Es ist nicht dieses typische Blaugrau, auch kein Hellblau, sondern ein tiefes Dunkelblau. Ein aufrichtiges Blau, wie das Meer.

„Wo hast du Judy gelassen? Wolltet ihr mich nicht zusammen abholen kommen, um einen weiteren meiner zahlreichen Erfolge zu feiern?“

„Die kommt gleich“, antwortet er grinsend.

„Perfekt. Also, wo soll’s heute hingehen?“

„Prayers?“

Ich kann sehen, dass er noch etwas sagen wollte, aber er wird von der förmlich um die Ecke hüpfenden Judy unterbrochen. So nennt sie jeder, weil man ihren eigentlichen Namen – Judith – nun wirklich niemandem zumuten kann. Schließlich ist sie ja keine 70. Ihre hüftlangen Haare wippen im Takt mit, ihre hellgrünen Augen strahlen uns an. Judy hat eine unfassbare Ausstrahlung, besonders wenn ihre naturrote Mähne im Licht der auf- oder untergehenden Sonne glänzt. Beides habe ich schon unzählige Male erlebt.

Sie scheint den letzten Teil unserer Unterhaltung gehört zu haben. Lächelnd sagt sie: „Also dann, auf ins Prayers. Auf eine weitere alkoholisierte Nacht!“

Kim

Es ist kurz nach sechs, als Judy und ich das Prayers nach einer durchzechten Nacht wieder verlassen, mit zerzausten Haaren, verschmiertem Make-up, etwas höher sitzenden Röcken und mit deutlich mehr Alkohol im Blut als sieben Stunden zuvor. Leo ist schon eher gegangen, aber Judy und ich sind so gut wie immer die Letzten. Mit dem linken Arm stütze ich mich auf dem Tresen ab und warte darauf, dass der Typ von der Garderobe mir meine Gitarre wiedergibt. Als er sie mir schließlich überreicht, treten wir über die Türschwelle nach draußen.

Das ist einer der Momente, in denen Judys rote Haare in der Morgensonne glänzen; einer der Momente, in denen ihre Schönheit noch hypnotisierender ist als ohnehin schon.

„Du bist heiß, Kim!“ Sie schenkt mir einen gekonnt verführerischen Blick über ihre von Sommersprossen bedeckte Schulter, als sie stolpernd in ihre Richtung verschwindet.

Ich liebe Kreuzberg. Eigentlich liebe ich ganz Berlin.

„Du auch“, rufe ich ihr hinterher und drehe mich ebenfalls um, um zur U-Bahn-Haltestelle zu gehen. Alles um mich herum dreht sich mit mir. Ich kann gerade noch so die Umrisse der Bäume im sich vor mir erstreckenden Görlitzer Park erkennen. Ich krame in meiner Tasche, suche nach meinem Handy, finde es nicht, schiebe es auf den Alkohol. Dann fällt mir ein, dass ich es gestern auf der Kommode bei Gabriel abgelegt und dort liegen gelassen haben muss. Unfassbar. Mein nächster Gedanke ist ziemlich beängstigend: Was, wenn Dad es mitgenommen hat? Was, wenn er versucht hat, meinen PIN-Code zu knacken, an irgendwelche Daten oder Bilder oder Songs zu kommen? Ich renne zur U-Bahn-Station, komme völlig außer Atem an und steige in die nächste Bahn. Ich muss zu Gabriel. Nochmal. Ich muss das Handy holen. Normale Kinder mit normalen Eltern würden jetzt wahrscheinlich nach Hause fahren und ihren Dad fragen. Wie gesagt: normal. Aber unter meinen Umständen würde ich lieber noch 100 Mal zu Gabriel fahren, anstatt meinem Vater auch nur eine Frage zu stellen, ihn auch nur um einen Gefallen zu bitten. Also muss ich zu Gabriel und selbst nachsehen, ob Dad mein Handy mitgenommen hat. Ich kann ihn nicht nach irgendetwas fragen. Nie wieder. Ich bin auf mich allein gestellt, wie die letzten Jahre auch.

Maria

„Du musst dich waschen lassen, Gabriel.“

„Bitte,…“

Seine Stimme versagt. Wo ist der Mann, den ich vor sechzig Jahren kannte? Ist er noch irgendwo in dem in sich zusammengefallenen Körper, der hilflos auf diesem Bett liegt?

Sebastian und ich haben gemeinsam einen Platz in einem Pflegeheim beantragt, aber die Warteliste ist ellenlang, und Gabriel steht ganz unten.

Es klingelt. Der Pflegedienst sollte erst in einer Stunde kommen. Es ist sieben Uhr.

Doch es klingelt. Sekundenzeiger bewegen sich. Die Uhren der Wohnung ticken.

Es klingelt. Langsam wandert mein Blick zu der riesigen Wanduhr im Schlafzimmer. Der verschnörkelte Minutenzeiger steht starr auf dem goldenen Ziffernblatt. Wann hat Gabriel die römischen Zahlen wohl zuletzt bewusst wahrgenommen?

Es klingelt. Er hat außergewöhnlich schöne Uhren gesammelt. Diese prunkvollen Stücke aus Gold hat er immer besonders bewundert. Oder war es Messing? Barockzeitalter? War es das, was er manches Mal gesagt hat? Nicht einmal das weiß ich mehr.

Es klingelt immer noch. Wieso kommt der Pflegedienst heute weit bevor eine der Uhren acht geschlagen hat?

Klingeln.

Kim

Mir kommt ein wenig überraschtes „Lange nicht gesehen“ über die Lippen.

Maria hingegen steht die Überraschung ins Gesicht geschrieben. Auch sie hat diese Augen, genau wie Dad und ich. Der einzige, scheinbar unwichtige Unterschied besteht darin, dass ihre ein winziges Stück weiter aus den Höhlen hervortreten. In Kombination mit ihren hohen Lidern verleiht dieses kleine Detail ihr eine Anmut, die man bei den wenigsten alten Frauen findet.

„Kimberly, was für eine Überraschung. Wir haben uns ja seit Ewigkeiten nicht gesehen!“

Auch der Klang ihrer vollen Stimme ist edel. Arroganz und Eleganz in optimalem Verhältnis.

„Allerdings. Tut mir leid, falls du einen romantischeren oder spektakuläreren Grund erwartet hast, aber ich bin nur hier, um mein Handy zu holen. Hab’s gestern hier liegen lassen.“

Während ich spreche, greife ich nach meinem Handy, das scheinbar unverändert und unberührt auf der Kommode im Eingangsbereich liegt, winke damit und will mich schon wieder umdrehen, als sie mir eine Hand auf die Schulter legt.

„Junge Lady, erweist du mir die Ehre, wenigstens auf eine Kleinigkeit zum Frühstück zu bleiben? Tatsächlich haben wir uns so lange nicht gesehen, dass du fast schon gezwungen bist, zuzusagen.“

Ein verschmitztes Lächeln legt sich auf ihre Lippen. Als sie jung war, muss sie unwiderstehlich gewesen sein.

Und obwohl ich ziemlich wenig Lust auf ein aufgesetztes Gespräch à la Das-Frühstück-ist-ein-Vorwand-umdich-über-deine-Zukunftspläne-auszufragen habe, reizt mich irgendetwas an der Vorstellung, noch zu bleiben.

„Wie könnte ich deinem Charme widerstehen?“

Den Versuch, meine eigentliche Überzeugung von dieser Tatsache nicht in meiner Stimme mitschwingen zu lassen, unterstreiche ich mit einem gekonnt aufgesetzt wirkenden Knicks. Niemals durchblicken lassen, was man denkt.

Maria geht in die Küche und holt zwei Croissants. Ihre Bewegungen ähneln denen einer normalen 70-plus-Frau nicht im Entferntesten. Zwar ist auch in ihrem Gang die gewöhnliche Schwere alter Menschen zu erkennen, aber trotzdem läuft sie im Prinzip ebenso anmutig wie sie spricht. Beinahe könnte man es als Schreiten bezeichnen.

„Wenn du das Charme nennst, meine Liebe, dann hättest du mich in deinem Alter erleben sollen.“

Ist das eine Herausforderung? Falls ja: Ich nehme immer an.

„Ich bitte dich, niemand könnte mehr Charme in sich vereinen als ich. Nicht mal du, auch nicht die 18-jährige Version von dir.“

Ein engelsgleiches Lächeln huscht über meine Lippen, als ich sie ansehe.

„Vielleicht kann ich dir ein Angebot unterbreiten: Wenn du mich nicht sofort wieder verlässt, überzeuge ich dich vom Gegenteil.“

Wer bin ich, dass mir eine Wette wichtiger ist als meine sofortige Flucht von diesem Ort? Es ist mir unmöglich, Nein zu so etwas zu sagen. Seit Jahren habe ich keine Herausforderung ausgeschlagen, jedenfalls nicht bewusst.

„Du hoffst, dass ich ablehne. Es sei dir verziehen, schließlich kennen wir uns im Prinzip kaum. Du kannst nicht wissen, dass ich keine Herausforderung ablehne. Ich nehme an, wie immer.“

Ich wähle eine passende Mimik: ein stilles Lächeln, sowohl in den Augen als auch auf den Lippen. Scheinbar hat Maria nicht nur Charme, sondern auch die Gabe, Menschen zu durchschauen, denn mein Ausdruck spiegelt sich eins-zu-eins in ihrem Gesicht.

Maria

„Sieh mal hier, Kimberly. Da sind dein Opa und ich bei einer Familienfeier.“

Ich streiche über die raue Oberfläche des alten Schwarz-Weiß-Fotos. Gabriel scheint es irgendwann innerhalb der vergangenen 55 Jahre zerrissen zu haben. Augenscheinlich hat er zu späterer Zeit versucht, es durch Klebestreifen zu retten, doch der Riss ist unübersehbar. Er separiert uns voneinander. Ist es der Beginn oder das Ende unserer Trennung gewesen?

„Du sahst echt scharf aus damals. Fast so schön wie ich.“

Meine Enkeltochter hat sich zu einer jungen Frau entwickelt, die ihr Herz ohne jegliche Gnade auf der Zunge trägt.

„Damals hatte ich auch so lange schwarze Haare wie du…“

Beinahe hätte mich die Wehmut ergriffen, doch Kimberly lässt nichts dergleichen zu.

„…Und mittlerweile retten dich nur noch die Kolorationen aus dem Supermarkt. Der bedauernswerte Alterungsprozess und Absturz der einstigen Anmut in Person.“

Es ist Fluch und Segen zugleich, eine Enkeltochter zu haben, die ihre sechzig Jahre ältere Großmutter so stark an sich selbst in ihrer Jugend erinnert. Ich versuche, sie anzulächeln.

„Was ich eigentlich sagen wollte, ist, dass ich meine Haare nicht offen getragen habe. Damals haben sich alle Mädchen zwei Zöpfe geflochten.“

„Jetzt wird mir alles klar. Du warst Mitbegründerin des Schulmädchen-Looks! Heiß. Vor Britney Spears gab es dich. Eine Wegbereiterin wie sie im Buche steht.“

Erneut ringe ich mir ein Lächeln ab, ein bitteres. Kimberly glaubt, es gehe mir um diese Wette. Sie denkt, mir liege etwas daran. Und sie will gewinnen. Warum sonst sollte sie sich derart verkrampft darum bemühen, sofort eine schlagfertige Antwort parat zu haben? Dabei geht es mir doch darum, meine Enkeltochter nach langer Zeit wieder einmal für mehr als zwei Minuten in meiner Nähe zu haben. Vor Jahren ist sie mir entglitten, ebenso wie zuvor mein Sohn, der ihr Vater ist. Sebastian.

Wenn ich sie noch eine Weile halten will, muss ich den Schein der Herausforderung wahren. Um sie von meinem Charme als Jugendliche zu überzeugen, kam mir die Idee, ihr alte Fotos zu zeigen. Doch wie sich herausstellt hat, besitzt Gabriel nicht besonders viele. Ich habe sie gebeten, einen Moment zu warten, während ich mich auf die Suche nach Bildern begab. Da ich aber seit vielen Jahren nicht in dieser Wohnung war, brauchte ich eine Weile, um die Schublade zu finden, in der er alte Erinnerungen aufbewahrt. Als ich endlich Erfolg hatte, zog ich einen Stapel Bilder heraus, um dann wiederum festzustellen, dass darunter kaum welche von ihm und mir waren. Hat er sie irgendwann weggeschmissen, gar verbrannt?

„Also, war’s das?“ Gerade war Kimberly noch damit beschäftigt, einen flüchtigen Blick auf das Heiratsfoto zu werfen, doch nun gilt ihre Aufmerksamkeit dem Handy. „Sonderlich viel hast du mir nicht gezeigt. Es ist dir nicht unbedingt gelungen, mich restlos von deiner Anmut und deinem Charme zu überzeugen.“

Da war er wieder: der Versuch ihrerseits, gelassen zu wirken, obwohl für einen guten Menschenkenner offensichtlich ist, dass sie das Gegenteil dessen ausstrahlt, was sie zu verkörpern sucht.