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Weil man vor nichts ewig davonlaufen kann: Der Tod ihres exzentrischen Großvaters bringt Chris' Leben ordentlich durcheinander. Um Abschied zu nehmen, kehrt sie in die Kleinstadt zurück, in der sie aufgewachsen ist, aus der sie jedoch vor über sechs Jahren Hals über Kopf geflohen ist. Sie schlittert wieder in das Leben von damals, mit Doro, Rafa und Antonia, die vor sieben Jahren entschieden haben, als Wahlfamilie gemeinsam ein Kind großzuziehen. Zusammen mit Chris, eigentlich. Stück für Stück realisiert sie, wieso sie damals vor der Verantwortung weggelaufen ist und was das alles mit ihrem Großvater zu tun hatte. Ihr wird bewusst, was für einen Einfluss ihr Großvater auf sie gehabt hat, der Mann, der sich sofort auf jeden vermeintlichen Fehler gestürzt hat. Es waren seine Augen, die immer über sie gewacht haben und ihren Blick gelenkt haben. Ein Großvater, ein Kind und eine steinalte Hündin: Ela Meyer erzählt in Furchen und Dellen die Geschichte von alten Freund*innen, von einer Rückkehr und vom Aufwühlen tiefsitzender Emotionen einfühlsam, authentisch und mit genau der richtigen Prise Humor. Dabei nennt die Autorin die Dinge beim Namen und widmet sich wichtigen Themen wie gesellschaftliche Erwartungen an Frauen, Kinderwunsch und gewollte Kinderlosigkeit, unterschiedliche Familienmodelle und Feminismus. So befreiend kann das Ende eines Lebensabschnitts sein! Das gleichnamige Hörbuch, gesprochen von Marion Elskis, erscheint als digital only bei GOYALiT.
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Seitenzahl: 311
Veröffentlichungsjahr: 2024
Ela Meyer
Roman
Für Stefan
du fehlst
Meine Turnschuhe waren auf dem Pflaster kaum zu hören. Abendvögel sangen, der Feierabendverkehr war abgeflaut. In den Gärten blühten die letzten Tulpen und der erste Flieder und ich spazierte vorbei an weiß gestrichenen Altbauten mit hohen Decken und verzierten Fassaden. Mit ihren Zäunen und Hecken glichen sie kleinen Festungen. Es dämmerte bereits, und in einigen Häusern brannte Licht. Durch die Fenster konnte ich beobachten, wie die Leute an Abendbrottischen saßen und aßen, sich auf Sofas fläzten und fernsahen, wie sie ihre Kinder ins Bett brachten oder mit ihren Kindern diskutierten, wenn die nicht ins Bett gebracht werden wollten.
Mein Opa könnte in dieser Stunde sterben, während ich hier durch die Straßen lief. Er konnte bereits tot sein. Die Welt ohne ihn würde weniger wiegen für mich, würde leichter sein.
Zu sagen, dass sein schlechter Zustand ein willkommener Anlass war, mag makaber klingen. Aber ja, er bot den perfekte Vorwand, das zu tun, was ich schon die ganze Zeit hatte tun wollen: meine Sachen packen und in die Stadt zurückkehren, in der ich aufgewachsen war.
Vor sechseinhalb Jahren war ich von dort aufgebrochen und tourte seitdem als Theatertechnikerin mit unterschiedlichen Kompanien durch Europa. Sosehr mich das viele Reisen, das mein Job mit sich brachte, anfangs begeisterte, sosehr ich die Abwechslung, die Stunden im Zug mit Kopfhörern auf den Ohren und der vorbeigleitenden Landschaft neben mir immer genossen hatte, so sehr sehnte ich mich inzwischen nach Ruhe. Nach Menschen, die mir nahestanden, nach einem gewohnten Ort, an dem ich mich zurechtfand und zugehörig fühlte.
Die Stadt war mir vertraut wie ein Körper, neben dem man jahrelang die Nächte verbracht hatte. Ihr Geruch von Erde, Abgasen, Blüten und Asphalt, das Brummen der Autos von der Autobahn, die sich einmal rund um die Stadt wand, das schöne dunkelrote Pflaster mit den abgesunkenen Steinen. Die geharkten Streifen vor den Zäunen, parallele Striche, die sagten: Hier kümmert sich wer, hier ist kein Hundeklo, hier wohnen ordentliche Leute.
Gleich nachdem ich vom Zustand meines Opas erfahren hatte, suchte ich mir eine Vertretung für die nächsten Wochen, stieg in den Zug und erreichte noch bei Einbruch der Nacht die Stadt. Ein überschaubarer Ort, trotz Uni, diverser Theater und belebter Fußgängerzone. Schwer, sich dort zu verlaufen. Seit knapp zwei Tagen war ich also wieder im Land, saß die meiste Zeit auf einem Stuhl im Schlafzimmer meines Opas und konnte nicht glauben, wie still er in seinem Bett lag. Kein mieser Spruch, kein Scherz und nur ein einziges Mal ein kurzer Blick, bei dem er nichts von seiner Umgebung wahrzunehmen schien.
Die Stimme meines Großvaters, die mein Leben lang ungefragt alles kommentiert hatte, war verstummt. Er hatte immer ein Gespür für jene Eigenschaften oder Äußerlichkeiten gehabt, die er als Schwachpunkte titulierte und auf die er eine Person reduzierte: der mit der Nase, die Dicke, der Stinker, der Schreihals, die mit dem Mopp auf dem Kopf. Seit ich denken konnte, krochen Echos seiner Bemerkungen wie Maden durch mein Gehirn, wo sie sich vermehrten. Sie würden auch weiterhin jederzeit abrufbar bleiben, selbst wenn uns Hunderte Kilometer voneinander trennten, selbst wenn er nicht mehr lebte.
Die letzten zwei Tage hatte ich neben meiner Mutter und meinem Bruder Timo am Sterbebett ausgeharrt. Die alte Besetzung. Nachdem unsere Eltern sich getrennt hatten – ich war drei und mein Bruder eins –, hatten wir Geschwister mit unserer Mutter und unserem Opa gemeinsam in dessen Haus gelebt. Timos und mein Vater wurde zu einer Randfigur, zu jemandem, mit dem wir in einem Nebel aus Süßigkeiten und Fernsehen ein- oder zweimal im Monat das Wochenende verbrachten.
Die Luft im Schlafzimmer meines Opas roch abgestanden. Die Müdigkeit zerrte an mir. Immer wieder ließ ich die Schultern kreisen und streckte meinen Rücken. Immer wieder stand ich auf, holte etwas aus der Küche, kochte einen Kaffee – ein kurzes Entkommen, nur um nach einer Weile wieder auf meinem Stuhl zu landen und gemeinsam mit den anderen auf den rasselnden Atem meines Opas zu horchen. Das viele Sitzen, das Warten, die gedrückte Stimmung und das Lauschen zermürbten mich, und so machte ich mich am zweiten Abend zu einem Spaziergang auf.
Es war das dritte Mal in den letzten sechseinhalb Jahren, dass ich hier in der Stadt war. Die anderen beiden Besuche fanden anlässlich des sechzigsten Geburtstags meiner Mutter und zur Geburt meines Neffen statt. Linus kam nur wenige Tage vor dem Neunzigsten meines Opas zur Welt, was dieser als persönlichen Affront gegen sich wertete, da sein Enkel ihm mit seiner Geburt die Show stahl.
Ich hatte nicht vorgehabt, in die Straße zu biegen, in der ich über zwanzig Jahre lang gewohnt hatte. Gemeinsam mit meiner ehemals besten Freundin Doro, unserer liebsten Mitbewohnerin Antonia und unserem Freund Rafa als Nachbarn eine Treppe unter uns, hatte ich im dritten Stock in einem Zimmer mit Blick auf den Garten gelebt. Wie auf Autopilot lenkten mich meine Füße in diese Richtung, ein ausgetretener Pfad, als würden sie die gefürchtete Begegnung mit Doro, Antonia, Rafa und ihrem Kind provozieren wollen.
Emotional aufgeweicht vom Zustand meines Opas, von seinem zu erwartenden Tod und der Tatsache, dass er und ich unsere Kämpfe nicht mehr beilegen würden, die uns unser Leben lang begleiteten, vermisste ich meine ehemals engsten Bezugspersonen stärker, als ich es seit Jahren getan hatte. Vielleicht auch infolge der vertrauten Umgebung, sehnte ich mehr als sonst eine Versöhnung mit ihnen herbei.
Aus dem Augenwinkel nahm ich ein Huschen wahr. Ein Igel kreuzte eilig meinen Weg, und ich hielt an, um ihn nicht zu erschrecken. Keuchend verschwand er unter einer Hecke. Nachdem das Rascheln verklungen war, bog ich links ab, wieder links, noch einmal links, schlug dabei einen Bogen um mein ehemaliges Zuhause, um mich schließlich mit klopfendem Herzen, bum bum, in meiner alten Straße wiederzufinden.
Vertraute Häuser zu beiden Seiten, alte Kasernengebäude aus rotem Backstein, nach Ende des Kalten Krieges zu Wohnungen umgebaut. Die Bäume wirkten höher als früher, die Sträucher dichter, Hecken wie Wände, über die ich vor sechs Jahren noch hatte hinwegsehen können.
Einen Block entfernt von dem Haus blieb ich stehen. Hier war die Grenze, bis hierher und nicht weiter. Ich ballte die Hände in den Hosentaschen und lauschte auf meinen Puls, der dafür, dass ich nur geschlendert war, viel zu schnell durch meinen Körper galoppierte.
In den letzten Jahren hatte ich mir die Straße, die Gärten und mein altes Zuhause unzählige Male vergegenwärtigt. In einer kindlichen Vorstellung erschien mir der Gedanke abwegig, dass diese Welt trotz meiner Abwesenheit weiter existierte. Die Straßenlaternen warfen Spots aufs Pflaster. Ich hielt die Luft an und lauschte. Unter das abendliche Gezwitscher, das Brummen der Autobahn und das leise Rauschen des Windes in den Bäumen mischte sich ein schlurfendes Tapsen. Als ich mich umdrehte, war es, als würde mir Eiswasser durchs Rückenmark fließen.
Pepper, die am Ende der Straße auftauchte, an einem Strauch stehen blieb und schnupperte. Deren ehemals dunkle Schnauze fast weiß war, ihr Rücken durchgebogen vom Alter. Sie schnüffelte, hockte sich hin und verlor beim Aufrichten beinahe das Gleichgewicht.
Pepper hatte das erste halbe Jahr ihres Lebens bei den Nachbarn von Doros Eltern verbracht. Da die älteste Tochter jedoch plötzlich eine Hundehaarallergie entwickelte, suchten sie notgedrungen ein neues Zuhause für die Hündin. Damals, als Doro mir davon erzählte, zögerte ich keine Sekunde. Pepper lebte sich schnell bei uns ein, und Doro und ich teilten uns die Kosten für Steuern, Futter und Versicherung. Wir ergänzten uns, waren ein Team. Kurze Absprachen am Morgen, kleine Zettel à la: »Kannst du heute mit P. raus?«, oder »Sie hat schon gefressen.«
Antonia, die es nicht so mit Hunden hatte, sprang nur ein, wenn Doro und ich verhindert waren. Ich kümmerte mich, weil ich Pepper liebte, weil sie mir eine Freundin geworden war, und bereute meine Entscheidung kein einziges Mal. Doch eine Hündin war kein Kind, so viel war mir auch klar. Die Ansprüche waren andere, und sie würde vermutlich nicht älter als fünfzehn werden, wenn überhaupt. In dem Alter kämpfte sich ein Kind gerade erst durch die Pubertät. Peppers wohliges Schnarchen und die Wärme ihres Körpers hatten mir während der einsamen Nächte in den ersten Monaten nach meinem Auszug gefehlt. Ich vermisste ihre Euphorie, ihre Nähe und ihre Zuneigung und projizierte all mein Sehnen auf sie. Ich hätte es nicht ertragen, Doro, Antonia und Rafa im gleichen Maße zu vermissen.
Da es unwahrscheinlich schien, dass Pepper allein unterwegs war, hockte ich mich hinter eine Hecke, um von Peppers Begleitung, sei es nun Doro, Rafa oder Antonia, nicht entdeckt zu werden. Zu meinen Füßen Gänseblümchen, die ihre Blütenkelche bereits für die Nacht geschlossen hatten. Nur zu gern hätte auch ich meinen Kopf unter Blütenblättern verborgen. Mein Blick huschte die Straße entlang, von Lichtkegel zu Lichtkegel. Durch ein Loch in der Hecke hatte ich gute Sicht auf den gegenüberliegenden Gehweg. Meine Hände schwitzten, und ich wischte sie an der Hose ab, erwartete jeden Moment, Doro, Antonia oder Rafa zu sehen. Ich fühlte mich nicht vorbereitet auf eine Begegnung, war viel zu müde und zermürbt vom Sterben meines Opas.
Angestrengt starrte ich durch das Loch und beobachtete, wie Pepper sich näherte, wie eine ihrer Hinterpfoten mit schabendem Geräusch über das Pflaster schleifte. Als ich schon dachte, die Anspannung nicht mehr ertragen zu können, entdeckte ich sie. Doro. Sie bog nur wenige Meter von mir entfernt um die Ecke und latschte in ihrem charakteristischen Schlendergang hinter Pepper her. Mein Puls dröhnte in meinen Ohren, und ich roch den Schweiß, der mein T-Shirt durchweichte. Der mir den Rücken hinablief bis in die Hose hinein.
Absurde Vorstellung, dass es Doro hier die ganze Zeit gegeben hatte, sie auch nach meinem Wegzug durch diese Straßen gewandert war. Sie ohne mich gegessen, geschlafen, verdaut und ein Kind geboren hatte, das sie nun gemeinsam mit Antonia und Rafa großzog. Wie war es uns möglich gewesen, all die Jahre nebeneinander zu existieren, ohne uns zu berühren?
Ein schepperndes Rattern näherte sich, kleine Kunststoffräder auf unebenem Pflaster. Doro überholte Pepper, und erst da entdeckte ich das Kind. Es sauste auf einem Tretroller an Doro vorbei, und bevor sich in meinem Kopf ein Gedanke formen konnte, füllte mein Herz den kompletten Brustkorb aus. Für die Lungen blieb kaum noch Platz. Ich krallte die Hände ins Gras und hielt mich daran fest. Etwas stach mich, ein winziger Stachel, der sich durch meine Haut bohrte und mir in die Handfläche drang, vielleicht eine Distel. Der zarte Schmerz, der mich festhielt und mich verankerte.
Der Roller vom Kind war blau, mit kräftigen Tritten stieß es sich vom Boden ab. Ich kannte seinen Namen. Antonia hatte mir damals, vor über fünf Jahren, eine Mail geschrieben, auf die ich nie geantwortet hatte: »Ich hoffe, es geht dir gut.« Im Anhang das Foto eines Neugeborenen. Faltiges Gesicht, Schorf auf dem Kopf. »Vivien« hieß die Datei. Mir gefiel der Name.
Viviens Haare waren seitdem gewachsen und hingen glatt hinunter. Dünne Strähnen, durch die sich beidseitig die Ohren drängten. Genau wie bei Doro als Kind, zu der Zeit, als wir uns kennenlernten.
»Was passiert eigentlich, wenn ich nicht mitmache?«, hatte ich Doro kurz vor meinem Wegzug vor über sechs Jahren gefragt. Statt zu antworten, stopfte sie sich eine Handvoll Chips in den Mund. Ihre Kaubewegungen dauerten viel zu lange. Zeit schinden wollte sie.
»Gibt es für mich überhaupt die Option, Nein zu sagen?«, hakte ich nach.
Doro nickte, kaute weiter, schluckte und antwortete dann endlich: »Natürlich gibt es die. Aber ich befürchte, wenn ich ein Kind bekomme, hängst du mit drin, schließlich wohnen wir zusammen. Für mich als lesbische Single-Frau ist das die einzige Chance, mein Kind in einer Gemeinschaft aufzuziehen. Überleg mal, wie toll das wäre: wir vier alle zusammen!«
Mit jedem Wort erhöhte sich der Druck in meiner Brust, ich fühlte mich vor vollendete Tatsachen gestellt. »Hmm«, brummte ich, um Doro zu verstehen zu geben, dass ich sie gehört hatte. Nach einer Weile stand sie auf und öffnete eine Flasche Wein. Wir tranken, ohne anzustoßen, tranken aneinander vorbei und sahen uns nicht an.
Doro und ich waren seit der Grundschule miteinander befreundet, seit wir beide der Theater-AG beigetreten waren und beim Krippenspiel einen Engel dargestellt hatten. Im Gegensatz zu Doro, die beleidigt war, nicht die Rolle der Maria spielen zu dürfen, übte ich so obsessiv mit Fred, bis ich – und auch Fred, wie er beteuerte – meine zwei Sätze nie wieder würde vergessen können. Fred war der beste Freund meines Opas, war unser aller Freund. Als Kinder hatten Timo und ich mehr Zeit mit ihm verbracht als mit unserem Großvater, der gern seine Ruhe vor uns hatte.
Der große Tag der Aufführung kam, Doro schmollte noch immer und sabotierte aus Trotz ihren Einsatz. Mit vor der Brust gekreuzten Armen und zusammengepressten Lippen starrte sie ins Publikum, das unruhig mit Schuhen und Stühlen scharrte. Geflüster unter den Eltern und Gezische unter den Kindern auf der Bühne. Der Lehrer, versteckt hinter dem verblichenen Vorhang, raunte Doro die richtigen Sätze zu, die sie ignorierte. Die Stille zog sich, bis ich es schließlich nicht länger aushielt und meine gut geübten Sätze erneut zum Besten gab: »Die Hirten eilen schon herbei, das Jesuskind zu grüßen. Auch Ochs und Esel sind dabei, und wir zu seinen Füßen.«
Doro drehte sich zu mir um, das linke Auge zugekniffen, mit dem anderen visierte sie mich wie durch ein Fernglas an, und dann entfuhr mir vor lauter Aufregung ein Rülpser. Zu leise, als dass man es im Zuschauerraum hätte hören können, doch laut genug, dass die anderen Kinder es mitbekamen. Doro presste sich die Hand auf den Mund, um ihr Kichern zu dämpfen, was es nur noch schlimmer machte. Sie steckte mich an, und je mehr wir unser Lachen zu unterdrücken versuchten, desto heftiger sprudelte es an die Oberfläche. Zum Glück sang der Chor nun ein Lied, das gab uns Zeit, uns zu beruhigen. Von dem Tag an hingen Doro und ich in den Pausen gemeinsam in der Ecke zwischen Zaun und Fahrradständer herum und bewarfen uns und vorbeikommende Kinder mit weißen Beeren, die wir von den Büschen rupften.
Aus den circa sieben Metern Entfernung, die uns jetzt trennten, sah Doro aus wie immer. Im Laufe der Jahre hatte ich sie mit unzähligen Frisuren gesehen, bis sie irgendwann in den Nullerjahren bei einem durchgesträhnten Vokuhila hängen geblieben war, der ihr das Aussehen eines Achtzigerjahre-Rockstars verlieh. Dem Schnitt war sie offensichtlich bis heute treu geblieben. Viviens Haare waren so glatt wie die von Doro, doch die dunkle Haarfarbe hatte Vivien, soweit ich es im Schein der Straßenlaternen erkennen konnte, von Rafa geerbt.
Rafa zog damals nur zwei Monate nach uns in die Wohnung direkt unter uns. Da er im Messebau arbeitete, war er viel unterwegs. Wenn er nach Wochen wieder nach Hause kam, klingelte er bei uns, und wir tranken Tee. Spätestens bei der zweiten Tasse rollte er sich dann auf unserem Sofa ein, zu müde, um noch die Treppe hinunter in seine eigene Wohnung zu steigen. Vielleicht war es ihm auch zu einsam dort. Vor seiner Küche befand sich ein stattlicher Balkon, auf dem wir an den Wochenenden gemeinsam frühstückten. Andersrum rekelte er sich häufig in unserer Badewanne und futterte sich hinterher durch den Inhalt unseres Kühlschranks, nur um später alles wieder aufzufüllen und uns mehrgängig zu bekochen. Wochenlange Abwesenheiten, in denen er auf Montage war, wechselten mit Phasen intensivsten Kontakts, woraufhin er wieder für Wochen aus unserem Leben verschwand. Seit ich ihn kannte, führte er keine auf längere Sicht angelegten romantischen Beziehungen. Doch im Gegensatz zu Doro, die weder an Monogamie noch an glückliche Langzeitbeziehungen glaubte, wünschte sich Rafa, wie er mit leichter Verlegenheitsröte auf den Wangen gestand, eines Tages die Frau fürs Leben zu finden.
»Rafa ist nicht bekannt für seine Bindungsfähigkeit«, sagte ich zu Doro, nachdem sie uns von Rafas Teilhabe an ihren Kinderplänen erzählt hatte. Die Bemerkung war gemein. In dem Moment, wo ich sie aussprach, wo der Satz in die Welt unseres Wohnzimmers platzte, hätte ich ihn am liebsten gleich wieder eingesaugt. Doro ließ sich davon nicht beeindrucken: »Ich auch nicht. Und du auch nicht, und trotzdem frage ich dich, ob du mitmachst.«
Nur einen Monat zuvor hatte ich mich von meinem Freund getrennt. Zwei Jahre waren wir zusammen gewesen, mein persönlicher Rekord. Doch ich traute mich nicht, mit Doro darüber zu diskutieren, wo ich in Sachen Bindungsfähigkeit stand.
»Immerhin sind wir vier schon ewig miteinander befreundet«, sagte sie. »Länger und dazu harmonischer als die meisten Paare, die ich kenne.«
Sie hatte recht. Ich bereute meine erbärmliche Stimmungsmache gegen Rafa. Er war mein Freund. Mein Kommentar hätte von meinem Opa kommen können. Kein gutes Haar.
Doro blieb nun auf Höhe meines Verstecks stehen, sah über die Schulter und rief nach Pepper, die an einem Zaun schnüffelte. Immer schon hatte Pepper dieses Vertrauen, nicht von uns zurückgelassen zu werden, wusste, dass wir immer auf sie warten würden. Auf Doros Ruf hin hob sie nicht einmal den Kopf. Für einen schrecklichen Moment glaubte ich, Doro hätte mich entdeckt, als ihr Blick an der Hecke hängen blieb, doch dann drehte sie sich um und setzte ihren Weg fort.
Viviens Roller holperte über die unebenen Pflastersteine. Sie war auf einer Höhe mit Doro, da setzte ein Auto direkt vor ihnen rückwärts aus einer Einfahrt. Ich wollte rufen, wollte sie warnen, aber wie in einem Traum drang nur ein Krächzen aus meiner Kehle. Doch auch ohne mein Eingreifen behielt Doro alles im Griff. Sie brauchte mich nicht. Gleich einer Verkehrspolizistin streckte sie seitlich den Arm aus und Vivien bremste, stützte die Füße rechts und links auf dem Boden ab, und gemeinsam warteten sie, bis der Fahrer ohne Rücksicht auf die beiden sein Auto auf die Straße gelenkt hatte.
Seit meinem Wegzug hatten Doro und ich uns nur einmal gesehen. Eine ungewollte Begegnung, bei der wir wie auf zwei Eisschollen aneinander vorbeitrieben. Selbst mit ausgestreckter Hand hätten wir uns nicht berühren können. Vor drei Jahren war das, in einem Kino. Ich kam gerade aus dem Saal und sie von draußen. Entgegengesetzte Richtungen. Doro war in Begleitung einer Frau, die ich nicht kannte, ich mit meinem Bruder unterwegs. Mir wurde schlecht, und ich bohrte Timo meine Finger in den Arm.
Doros und mein Unvermögen, aufeinander zuzugehen, miteinander zu reden, zerrte an uns wie ein Gummiband, das hinten an unseren Gürtelschlaufen hing und uns immer wieder nach hinten riss. Hätte mir jemand vor zehn, fünfzehn Jahren von unserer Entfremdung erzählt, ich hätte es nicht geglaubt.
Dort, im Foyer des Kinos, waren wir beide rot geworden, hatten ein kaum hörbares Hallo ausgestoßen, das auf halbem Wege wieder zerfiel. Blicke, haarscharf an den Augen der anderen vorbei, Fahrstuhl in den Keller, Magenschlingern kurz vorm Kotzen. Eine Sehnsucht, die blieb, tief vergraben in einem Organ, dessen Namen ich nicht kannte.
Zu gern wäre ich jetzt imstande gewesen, aufzustehen und über die Straße zu rennen, den ersten Schritt zu machen. Doch mein Stolz versperrte mir mit ausgestreckten Armen den Weg, so wie Doro den von Vivien.
Erst als das Auto vollständig auf der Straße war, senkte Doro den Arm, und Vivien rollerte weiter. Pepper, endlich fertig mit Schnuppern, eierte mit wiegendem Schritt hinter ihnen her. Es juckte mich, nach Pepper zu rufen, sie anzulocken und mein Gesicht in ihrem Fell zu vergraben. Wenn es eine Möglichkeit gegeben hätte, unbemerkt an sie heranzukommen, ich hätte keine Sekunde gezögert.
Wieder erstarb das Rattern des Rollers. Vivien winkte Doro zu sich heran und zeigte auf etwas, das sie auf dem Gehweg entdeckt hatte. Von meinem Versteck aus konnte ich nicht erkennen, worum es sich handelte, obwohl mein Kopf nun fast auf der anderen Seite der Hecke herausguckte. Wenn Doro sich jetzt umdrehte, würde sie mich sofort entdecken. Nebeneinander beugten sie sich runter, ein großer und ein kleiner Rücken. Eine Welle der Zärtlichkeit durchdrang mich, zog mir in den Knochen wie Gliederschmerzen.
Doro hatte dieses Kind geboren, nachdem sie es monatelang in ihrem Bauch mit sich herumgetragen hatte. Schwangerschaft und Geburt, Vorgänge, die mir unvorstellbar erschienen. Genauso unvorstellbar wie die Tatsache, dass Menschen bereit waren, sich diesem Abenteuer auszusetzen. Eine Geburt war lebensgefährlich. Dazu die Schmerzen und Hormonschwankungen, die nicht auszuschließenden Wochenbettdepressionen, Brustentzündungen und Dammrisse. Das Brennen beim Pinkeln, die Blasensenkungen, Haarausfall, Zahnprobleme, Krampfadern und Hämorrhoiden. Eine endlose Liste möglicher Gefahren, und Doro hatte sich darauf eingelassen. Ihr Wunsch nach diesem Kind war größer als die Angst vor den Folgen, war größer als unsere Freundschaft.
Manchmal fragte ich mich, warum ich keinen Kinderwunsch in mir trug. Als wäre etwas bei mir gerissen, eine Schnur, die vom Herzen zum Hirn zum Unterleib führte. Verbindung getrennt, weil zu große Erwartungen daran zerrten, weil nicht alle Menschen, die die biologischen Voraussetzungen zur Schwangerschaft und Geburt erfüllten, diese auch nutzen wollten.
Vivien verschwand als Erste um die Ecke. Ihre linke grüne Schuhsohle, die sich abstieß, war das Letzte, was ich von ihr sah. Doro folgte ihr, nur Pepper schnupperte noch einmal an einem Busch, um die Urinnoten zu decodieren, bevor auch sie sich aus meinem Blickfeld stahl. Zurück blieb ein hohles Gefühl. Doro zu sehen, die Gewissheit, dass es sie noch gab und sie ihren Alltag, in welcher Form auch immer, mit Antonia, Rafa, Pepper und Vivien teilte – mit allen, außer mit mir –, war, wie den Finger in die Wunde in meinem Brustraum hineinzutauchen, um die ich mich seit Jahren herumbog, um die mein Herz sich wand, um sie nicht zu berühren.
Und dann war da Vivien. Ihr Umriss hatte sich in mein Hirn gebrannt, ein tiefer Abdruck in der Sehrinde. Ein Scherenschnitt vor dem Abendhimmel. Sie hatte einen Namen, einen Roller, grüne Schuhsohlen und Rafas Haarfarbe. Sie bewegte sich alleine fort, hielt an, um auf Dinge zu zeigen und sich dann wieder abzustoßen. Sie hatte ein Leben, das fast keinerlei Schnittmenge mit meinem aufwies. Hätte ich mich anders entschieden, hätte sie auch zu mir gehören können und ich zu ihr.
Die Möglichkeiten meines Lebens waberten um mich herum. Nur, weil ich immer wieder Entscheidungen fällen musste, hieß das nicht, dass sich die ausgeschlagenen Optionen in Luft auflösten. Sie hinterließen Spuren wie Risse in der Haut.
Ein besonders lauter Schnarcher meines Bruders riss mich aus meinen Gedanken, die immer wieder zu Doro und Vivien wanderten. Mein Großvater atmete von Stunde zu Stunde schwerer. Der Arzt hatte seine Überraschung nicht verbergen können, als er am Morgen vorbeigekommen war und mein Opa noch immer unter uns weilte. »Zäher alter Hund«, hatte er gesagt und dabei selbst wie einer ausgesehen: klapperdürr, gelbe Zähne und ein so weit fortgeschrittenes Alter, dass ich ihm ohne Weiteres abgenommen hätte, wenn er behauptet hätte, meinem über neunzigjährigen Großvater eigenhändig auf die Welt geholfen zu haben. Mein Opa war über doppelt so alt wie ich.
Sein Zimmer war das kleinste im Haus. Spartanisch eingerichtet, bis auf die zwei Augen, die er an die Wand gegenüber von seinem Bett gemalt hatte. Unheimlich und real sahen sie aus und glichen seinen eigenen Augen – Stellvertreteraugen. Es war, als würde er uns durch die Wand anstarren.
»Voll psycho«, war Doros Kommentar dazu gewesen. Eigentlich war sein Zimmer eine No-Go-Area für uns, aber ich musste ihr die Augen unbedingt zeigen. Wir waren dreizehn Jahre alt, Doro stand halb in der Tür, halb auf dem Flur, bereit, jeden Moment zurück in mein Zimmer nebenan zu rennen. Ludwig, wie sie meinen Opa nennen durfte, flößte ihr Respekt ein. Vermutlich hätte sie selbst nicht sagen können, zu wie viel Teilen dieser Respekt aus Angst und zu wie vielen aus Bewunderung oder Faszination bestand.
Mein Bruder schlief schnarchend in seinem Sessel mir gegenüber. Neben ihm saß unsere Mutter, deren Lider von der Müdigkeit geschwollen waren. Die dunklen Ränder unter ihren Augen hoben sich von der hellen Haut ab, ihr graublondes Haar hing schlaff herunter. Sie riss den Mund auf und gähnte, ein stummer Schrei.
Alle zwei oder drei Stunden nickte sie ein, nur um nach wenigen Minuten wieder aufzuschrecken. Mein übermüdetes Gehirn produzierte Horrorszenarien. Meine Mutter, die seitlich gen Boden rutschte. Ich, wie ich aufsprang, aber zu spät, denn sie war bereits mit dem Kopf auf die Ecke der Kommode geknallt. Blut spritzte, durchtränkte ihr Haar und gerann zu dunklen Klumpen. Der imaginierte Knall ihres Schädels auf dem Holz ging mir durch und durch. Als könnte ich dadurch ein Unheil abwenden, behielt ich gleichzeitig sie und meinen Großvater im Auge. Timo schien nicht mit solch sorgenvollen Gedanken zu kämpfen. Am liebsten hätte ich ihn geweckt. In mir der missgünstige Gedanke, dass er unserem Großvater nicht den gebührenden Respekt in den letzten Stunden seines Lebens entgegenbrachte.
Ich reckte mich, lehnte mich zurück und ließ den Kopf nach hinten über die Stuhllehne baumeln. Von meinem Platz aus sah ich auf die gemusterten Glasscheiben der Haustür. Sie filterten das Tageslicht und färbten das Licht im Flur. Die rechte Scheibe war gelb, die linke gräulich getönt. Letztere hatte ich im Alter von vier Jahren mit einem Stein zerschmissen. »Damit wir uns immer daran erinnern, wer die Scheibe zerschlagen hat«, hatte mein Opa gesagt, als er das andersfarbige Glas, das graue, eigenhändig eingesetzt hatte. Schuldgefühle bis heute, wenn ich die Tür ansah, wenn ich Timo ansah, die Narbe unter seinem Auge, die sich in den Sommermonaten hell abzeichnete.
Ich setzte mich wieder gerade hin und beobachtete meinen Opa in seinem Bett. Sein schwerer Kopf bewegte sich nicht. Die weißen Locken erinnerten an eine Wolke, so wie Kinder sie malten. Mit der Faust um den Stift, energische Kringel. Darunter, in seinem Schädel, lauerte jede Menge angesammeltes Wissen, das er bei passender und unpassender Gelegenheit herausließ. Nun nützte ihm seine Sammlung an Fakten, die ganze Datenbank, nichts mehr, all das würde mit seinem Tod einfach verpuffen. Der beunruhigende Gedanke: »Wozu dann das alles«, schlich sich heran, und ich stand auf und ging in den Garten, um etwas Luft zu schnappen.
Das Donnerwetter, das auf die zerschmissene Scheibe gefolgt war, war in den Wänden des Hauses gespeichert. Die Ohrfeige, der Hausarrest, das Schreien, der fliegende Speichel und das Schweigen. Das Reißen an meinem Arm, seine Hand wie eine Schlauchklemme, sein Geruch. Der Körper meines Opas roch immer nach fermentiertem Gras, das mehrere Tage feucht im Schatten gelegen hatte, roch nach Leder, nach Salz und nach Schweiß, wenn er die Nacht durchgearbeitet hatte.
Der Auslöser für den Steinwurf war der Fernseher gewesen, den ich ohne Erlaubnis eingeschaltet hatte. Vor dem ich es mir mit Timo und Keksen aus dem Küchenschrank gemütlich machte, auch die ohne Erlaubnis.
Als Strafe schleifte mich unser Opa am Arm hinter sich her, Tür auf und hinaus in den Regen. Stundenlang harrte ich draußen auf der Eingangsstufe aus und Timo drinnen im Flur, zwischen uns nur die Haustür. Aussperren, Ausschließen, Ignorieren. Bauchschmerzen, Schuld, Angst. Als ich den Stein schmiss, war mir nicht klar, dass Timo hinter der Tür kauerte. »Das hätte ins Auge gehen können!« – wieder und wieder dieser Satz, wie Schläge auf meine Ohren. Das Blut im Gesicht meines kleinen Bruders, das grellweiße Pflaster, die vier Stiche, die Narbe, die Schuld. Nach dem Steinwurf ignorierte mich mein Opa tagelang, und ich hörte auf zu existieren, löste mich auf.
Wieder zurück auf meinem Stuhl, dröhnte die Stille im Haus, als würde ich in einer monströsen Muschel sitzen. Mein Opa war Maler, doch seit dem ersten Schlaganfall vor einem Jahr war die Motorik seiner rechten Körperseite beeinträchtigt, war das Malen zu einem wütenden Kampf mit der Leinwand geworden, wie Timo, meine Mutter und Fred mir in den letzten Monaten während unserer Telefonate berichtetet hatten. Der Verlust der Selbstständigkeit meines Opas glich in seinen Augen einem persönlichen Versagen, das er sich nicht verzeihen konnte. Sein Stolz ließ keine Hilfe zu, und wenn er sie doch benötigte, verbrannte er mit seinem Zorn seine Umgebung wie bei einem Flächenbrand.
Früher, meine gesamte Kindheit und Jugend hindurch, war es hier im Haus fast nie so still gewesen. Opas Freund Fred hatte oft auf Timo und mich aufgepasst. Er war fast täglich gekommen, um mit uns zu spielen, um uns bei den Hausaufgaben zu helfen oder kleine Ausflüge zu unternehmen. Spielplatz, Regenspaziergang, Picknick. Bis zum ersten Schlaganfall meines Großvaters waren ständig Leute gekommen, Verwandte, Studierende, Schüler*innen und Künstlerkolleg*innen meines Opas. Sie hatten an den Wochenenden und auch unter der Woche mit ihm oder uns gegessen, im Wohnzimmer auf dem Sofa übernachtet und sich wie zu Hause gefühlt. Doch seit es Ludwig schlecht ging, blieben die Gäste aus, hatte mir Timo erzählt. Sie wollten wohl nicht stören. Dabei wäre ich jetzt liebend gern von ihnen gestört worden, empfand ihr Ausbleiben als größere Störung, als ihr Besuch es hätte sein können.
Vor allem Freds Abwesenheit verwirrte mich. Ich hatte ihn nur kurz am ersten Abend gesehen. Nachdem er mich vom Bahnhof abgeholt hatte, blieb er in der Tür zu Ludwigs Zimmer stehen. Nicht einmal die Jacke zog er aus in der halben Stunde, die er sich auf der Schwelle herumdrückte. Die knochigen Schultern bis zu den Ohren hochgezogen, fragte er in die Runde, ob noch wer ein Bier wolle. Ich nickte und folgte ihm in die Küche, wo wir uns an die Spüle lehnten wie an den Tresen einer Kneipe, und in großen Schlucken aus unseren Flaschen tranken.
Er war es gewesen, der meinen Opa nach dessen zweitem Schlaganfall vor wenigen Tagen gefunden hatte. Sie hatten den Morgen gemeinsam im Atelier verbracht, das sich in einem kleinen Holzhaus am Ende des Gartens befand. Mein Großvater schickte Fred zum Kaffeekochen ins Haus, und da die Milch sauer war, lief Fred zum Laden. »Keine zehn Minuten war ich weg!« Mehrmals sagte Fred am Telefon diesen Satz, als er mich vom Krankenhaus aus anrief, und auch jetzt in der Küche wiederholte er ihn: »Keine zehn Minuten war ich weg!«
Er schilderte mir, wie er Ludwig geschüttelt, und, als keine Reaktion gekommen war, die 110 gewählt hatte.
»112«, sagte ich.
»Was?«
»Nichts, schon gut. Aber du weißt, dass Ludwig der zweite Schlag auch getroffen hätte, wenn du bei ihm gewesen wärst? Du bist doch kein Blitzableiter.« Ich trank von meinem Bier.
Er nickte, zupfte sich am Ohrläppchen, seine Schultern hingen herab. So wie er uns früher das Leben leichter gemacht hatte, wünschte ich mir, ihm nun etwas von seiner Last abnehmen zu können.
Wenn ich bei Doros Wahlfamilie mitgemacht hätte, dann hätte ich für Vivien ein Fred sein wollen, auch wenn mir klar war, dass er ein unerreichbares Ideal darstellte. Ich hoffte, dass Vivien ein Pendant zu unserem Fred in ihrem Leben hatte. Vielleicht Antonia. Die war ebenso geduldig und zugewandt wie er. Rafa hingegen, mit seinem Messebaujob und seinen langen Abwesenheiten, würde für das Kind vermutlich das sein, was Timos und mein Vater für uns gewesen war: ein netter Bekannter, freundlich und unnahbar, der weder wusste, wovor wir uns fürchteten, noch, was wir gern aßen. Als ich schon erwachsen war, behauptete unser Vater mir gegenüber, dass er sich mehr eingebracht hätte, wenn das Gericht anders entschieden und wenn meine Mutter nicht, angestachelt von meinem Opa, so starr an der Regelung festgehalten hätte. Ich wusste nicht, ob ich ihm glauben sollte, dafür kannte ich ihn zu wenig.
Unsere Mutter arbeitete Vollzeit. Wenn sie abends nach Hause kam, wartete der Haushalt. Timo und ich hatten schon früh Aufgaben übernommen, doch das Gros der Arbeit lastete auf ihr. Unser Opa half nur sporadisch. Wenn er kochte, verwüstete er die Küche, Putzen fiel nicht in sein Ressort. Ansonsten widmete er sich seiner Kunst und wollte nur gestört werden, wenn er Lust hatte, sich mit uns zu beschäftigen, was selten vorkam und schwer vorherzusagen war. Es war Fred, der es meiner Mutter ermöglichte, unbesorgt zur Arbeit zu gehen, meinem Opa, sich nicht von uns stören zu lassen, und uns, trotzdem nicht dauernd allein zu sein. Fred brachte das Altglas weg und räumte die Küche auf, er kaufte Klopapier, wenn keins mehr da war, und ging mit uns in die Schlittschuhdisco, bevor wir alt genug waren, uns für den Erwachsenen an unserer Seite zu schämen. Er weinte mit Timo und mir gemeinsam um unsere überfahrene Katze, und an den Abenden, an denen meine Mutter und mein Opa unterwegs waren, machte er es sich mit uns auf einem Deckenberg vor dem Fernseher bequem, um »Mist« zu glotzen, wie unser Opa jegliche Art seichter Unterhaltung bezeichnete. Häufig lud ich Doro zu unseren Fred-Abenden ein, und dann übernachtete sie auf der Matratze neben meinem Bett.
Ich beobachtete, wie Timos Kopf immer wieder zur Seite fiel, er ihn hochschob, ohne aufzuwachen, und die Position hielt, bis sein Kopf erneut wegrutschte. Meine Mutter wehrte sich nach wie vor gegen den Schlaf, so wie mein Opa sich gegen den Tod wehrte. So wie er versuchte, der letzten unausweichlichen Niederlage zu entkommen. Er war einer, der immer die Oberhand behalten musste.
Wie er die letzten Tage unbeweglich in unserer Mitte lag und mühsam nach Luft rang, hatte wenig gemein mit dem Hitzkopf, den ich mein Leben lang gekannt hatte. Timo hatte mir am Telefon erzählt, wie die üble Laune unseres Großvaters in den letzten Monaten heftiger denn je durchs Haus gefegt war. »Wir verstecken uns jedes Mal, wenn es wieder losgeht«, sagte er und schilderte, wie unser Opa brüllte und mit Büchern, Bürsten, Bimssteinen und allem, was ihm in die Hände geriet, um sich warf, weil er seine Schuhe nicht alleine schnüren konnte, weil er sich beim Essen bekleckerte oder ein Bild misslang, woraufhin er es von der Staffelei riss und auf den Boden schleuderte, wo es wie ein totes Tier zum Liegen kam. Timo sagte, am liebsten würde er bei seinen Besuchen einen Bauhelm tragen. »Und die Kids nehme ich gar nicht mehr mit, die sollen das nicht mitbekommen. Sie haben sowieso beide Angst vor ihm.«
Seine Kids waren die fünfzehnjährige Mascha und ihr vierjähriger Bruder Linus. Auf Mascha hatte ich aufgepasst, als sie klein war, damals, als ich noch hier gelebt hatte. Ich ging mit ihr auf den Spielplatz, wir bauten uns Höhlen unter dem Küchentisch, und ich begleitete sie zum Kinderturnen, wo sie mit anderen Kindern auf den Matten herumpurzelte. Seit ich weggezogen war, sahen wir uns kaum noch, was ich bedauerte. Wir hatten uns immer gut verstanden, bis auf das eine Mal, als sie mit ihrem Ball unser Picknick zerschossen hatte.
Nur wenige Stunden nach meinem Eintreffen hatte mein Opa zum letzten Mal die Augen geöffnet. Für zwei oder drei Sekunden sah er mich an, und ich griff nach seiner Hand, hielt sie so vorsichtig, als handele es sich um altes Laub, das bei zu viel Druck zerkrümelte. Ich drückte einmal, zweimal, dreimal, nur ganz leicht. Doch er reagierte nicht, schloss die Lider mit einer würdevoll langsamen Bewegung und dämmerte erneut weg. Sein Blick war schon nicht mehr von dieser Welt, starrte durch uns hindurch in die Ferne, auf etwas, das wir nicht erkennen konnten.
Mit dem Rücken des Zeigefingers fuhr ich ihm über die Wange, die sich wie Marzipan anfühlte. Es war Jahre her, seit wir uns das letzte Mal berührt hatten. Sein Sterben machte mir Angst. Ein Flattern in meiner Brust, wie von einem Schmetterling, gefangen hinter einer Fensterscheibe auf der Suche nach einem Ausgang. Mein Opa war immer da gewesen. Die Angst verdrängte meine Traurigkeit, das war meine Erklärung, denn warum sonst fühlte ich sie nicht?
Wie mein Opa neigte auch ich zu Jähzorn und Unausgeglichenheit. Als Kind hatte ich gegen ihn und alle, die mir meinen Willen nicht ließen, angebrüllt. Wenn er mich aus- oder einsperrte, hämmerte ich mit Fäusten gegen die Tür, bis ich mir einmal den linken Mittelfinger verstauchte. Ich knirschte mit den Zähnen, bis sie rundgeschliffen waren, und versteckte mich im Garten, im Abstellraum, in der Garage, bis es zu spät war, um mich im Kindergarten abzuliefern, einem Ort, der mir Angst bereitete. Wenn ich sauer war, warf ich mich auf den Boden und schrie, schmiss mit Gegenständen, verlor die Kontrolle, Schlieren vor den Augen, ein Dröhnen in den Ohren. Mein Opa sowie alle anderen Familienmitglieder beteuerten so häufig seine und meine Ähnlichkeit, dass ihre Worte Rillen in meinem Gehörgang hinterließen.
Du bist wie ich.
Du bist genau wie dein Opa.
Meine hohe Stirn und meine Hände, die lange Statur und das schmale Gesicht, das alles hatte ich von ihm. »Wie langgezogen«, sagte mein Vater gern über mich und meinen Opa. Mein Vater war, genau wie Timo, klein und kompakt, mit Muskeln, die sich wie Beulen um den Körper wanden.
Es kam mir vor, als hätte ich kaum etwas Eigenes mitgebracht, als wäre mein Opa mein einziger Verwandter. Unser beider Finger feingliedrig, unsere Nägel perfekte Ovale. Mein Großvater wies mich und andere gern darauf hin und dann hielten er und ich unsere Hände aneinander, sodass unsere Handflächen sich berührten, und lächelten uns an. An manchen Tagen freute ich mich über unsere Ähnlichkeit, verschaffte sie mir doch ein Gefühl der Zugehörigkeit. Aber häufiger wünschte ich mir, als unbeschriebenes Blatt auf die Welt getrudelt zu sein, frei von Vorfahren und Vorgeschichten, von Vergleichen, Prägungen und Familienmuff.
Plötzlich flatterten bei meinem Opa die Augen, meine Mutter und ich beugten uns vor, und als nichts passierte, strich meine Mutter ihm durch die Haare. Wie Drahtwolle standen sie ihm vom Kopf ab. Früher waren sie rotbraun gewesen und bildeten einen schönen