Es war schon immer ziemlich kalt - Ela Meyer - E-Book

Es war schon immer ziemlich kalt E-Book

Ela Meyer

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Beschreibung

Drei Freunde Ende zwanzig: Insa, Hannes und Nico sind gemeinsam in einem friesischen Kaff aufgewachsen und auch nach ihrer Flucht aus der Provinz beste Freunde geblieben. Sie sind unzertrennlich und erzählen sich alles - eigentlich. Doch plötzlich häufen sich die Geheimnisse voreinander. Ihre Zukunftspläne scheinen nicht mehr zusammenzupassen: Hannes will zurück ins Dorf und die Werkstatt seines Opas übernehmen, Nico hat sich in eine Frau verliebt, die ein Kind erwartet, und Insa treibt weiter orientierungslos vor sich hin. Ihre einst unzertrennliche Gemeinschaft droht, auseinanderzubrechen. So unternehmen sie eine letzte große gemeinsame Reise. Zum Soundtrack von Django Reinhardt über ...But Alive bis Team Dresch fahren die drei Freunde unaufhaltsam auf die Weggabelung des Erwachsenwerdens zu, die ihre Leben in verschiedene Richtungen führen wird. Eine Roman über den aufwühlenden Wandel einer Jugendfreundschaft und das Ende einer gemeinsam verbrachten Lebensphase. Ela Meyer erzählt ebenso unterhaltsam wie berührend.

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Seitenzahl: 398

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Ela Meyer

Es war schon immer ziemlich kalt

Roman

ELA MEYER kam 1973 zur Welt und wuchs in der Abgeschiedenheit Frieslands auf. Sie hat in zwei Oldenburger Riot-Grrrl-Bands Gitarre gespielt und einige der Songs gedichtet. Als Kind hat sie vor allem Pferdegeschichten geschrieben. Inzwischen richtet sich ihr Interesse auf Geschichten über Freundschaften und verschiedene Lebens- und Beziehungsmodelle. Zurzeit lebt sie in der Nähe von Barcelona auf einem Boot. Ihre literarischen Texte sind in verschiedenen Anthologien und Zeitschriften erschienen. Es war schon immer ziemlich kalt ist ihr erster Roman.

Für meine Mutter

1

Hannes und ich saßen am ersten milden Frühlingsabend auf der Hafentreppe und starrten schweigend aufs Wasser. Unter uns wälzte sich die Elbe vorbei, die Lichter vom Freihafen und den Industrieanlagen spiegelten sich auf der schwarzen Wasseroberfläche. Hannes öffnete den Mund nur, um Bier zu trinken, und ich störte ihn nicht in seinen Gedanken, war schläfrig und dankbar, nicht sprechen zu müssen. Ich empfand die Stille zwischen uns wie einen Gleitflug, frei von Anstrengung. Erst auf dem Weg nach Hause redete er mit mir.

»Ich zieh nach Friesland zurück. In unser Dorf«, sagte er, ohne mich anzusehen.

»Schon klar.« Ich grinste und wartete darauf, dass auch er grinsen würde, aber sein Gesicht blieb ernst.

»In zwei Monaten.«

»Du spinnst!«

Hannes schüttelte den Kopf.

Vor Jahren stand ich einmal auf einem abgeernteten Maisfeld, gleich hinter unserem Dorf. Eine riesige Fläche, die abgemähten Stoppeln ragten wie Stacheln aus der Erde. Von hinten näherte sich ein Rauschen, das ich nicht einordnen konnte. Ich drehte mich um und sah eine Wand aus Regen auf mich zurasen. Mir blieb gerade noch Zeit, die Kapuze aufzusetzen, da hatte sie mich schon erreicht. Kaltes Wasser trommelte auf meinen Kopf, umschloss mich, drang durch meine Jacke. Innerhalb von Sekunden war ich durchnässt, hatte das Gefühl, zu schrumpfen, und ich hockte mich auf den Boden, umschloss meine Beine mit den Armen, um mich vor dem Regen und der Kälte zu schützen.

Jetzt, nach Hannes’ Ankündigung, kam es mir vor, als würde ich wieder auf diesem Feld stehen. Er räusperte sich, als wollte er etwas sagen, aber es kam nichts. Ich beschleunigte meine Schritte, und wir bogen in unsere Straße ein. Die Laternen versprühten weißes Licht, das uns aber nicht erreichte. Alles viel zu dunkel: der Spielplatz, die Büsche, die vollgesprayten Hauseingänge und Toreinfahrten. Unter einem geparkten Auto schoss eine Katze hervor und flitzte vor unseren Füßen über den Weg. Für einen kurzen Moment wurde mir schwindelig. Ob vom Alkohol, von der Müdigkeit oder von Hannes’ Ankündigung – schwer zu sagen.

»Aber warum? Was willst du da?«, fragte ich und wühlte in meiner Umhängetasche nach dem Schlüssel.

»Die Autowerkstatt von meinem Opa wieder aufmachen.«

»Das heißt, du bleibst länger?«

»Ich zieh da hin.«

»Nach Friesland? Aufs Dorf?«

»Ja, hab ich doch eben gesagt.«

Wir stapften die Treppe hoch, ich vorweg, Hannes hinter mir her. Durch die Fenster in den Eingangstüren der anderen Wohnungen schien kein Licht. Es war nach ein Uhr nachts, und ich spürte die Müdigkeit in mir hochkriechen, war seit sechs Uhr morgens auf den Beinen. Kein Wunder, dass mir Hannes’ Ansage die Sprache verschlug. Er hatte den Moment günstig gewählt, spekulierte vermutlich darauf, dass ich zu fertig wäre, um mit ihm zu diskutieren.

Oben angekommen, steuerten wir ohne Umwege die Küche an. Ich schnitt dicke Scheiben Brot ab, die Hannes mit Käse belegte und in den Sandwichtoaster schob. Ganz das eingespielte Team, das wir waren. Er holte zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank, und wir stießen an.

»Insa?«

»Hm?«

»Bist du sauer?«, fragte er.

Sauer, verwirrt, ich wusste es nicht. Hatte nicht vergessen, welche Befreiung es gewesen war, als wir Friesland hinter uns gelassen hatten, damals vor acht Jahren. Jedes Mal, wenn ich an unser Dorf dachte, war dort Winter. Um zu den anderen Jahreszeiten vorzudringen, musste ich tiefer in meinem Gedächtnis schürfen. Als erstes Bild tauchte immer das letzte Stück meines Heimweges vor mir auf. Es war die Abkürzung, die ich jeden Tag mit dem Rad nahm. Die Erinnerung endete stets fünfhundert Meter vor unserer Haustür, die ich nie erreichte. Wie ein Standbild, ich am Ende des Hohlwegs, Pfützen, in denen sich schmierig-braun das Wasser sammelte, Nieselregen, meine Hände am Lenker wie festgefroren, die Bäume kahl, die Rinde schwarz von der Feuchtigkeit. Das Grau des Himmels und die kurzen Tage, die die Sonne an den Rand der Welt verdrängt hatten. Stillstand, die Stille so still, dass sie in den Ohren dröhnte. Nicht nachvollziehbar, dass er dorthin zurückwollte.

Hannes stapelte die fertigen Brote auf einem Schneidebrett und stellte es auf den Tisch. Wir hockten uns nebeneinander aufs Küchensofa, ich breitete die Wolldecke über uns aus, und wir schnappten uns jeder einen Käsetoast. Seit wir zusammenwohnten, hatte ich mir das Schlingen angewöhnt. Hannes war ein schneller Esser, wenn es darum ging, zu teilen, musste ich dafür sorgen, nicht zu kurz zu kommen. Er behauptete, ich würde mindestens so ein Tempo vorlegen wie er, weshalb er aufpassen müsse, nicht abgehängt zu werden, wollte mir nicht glauben, dass er mit dem Wettfuttern angefangen hatte. Gierig riss ich mit den Zähnen große Stücke vom Toast ab, wobei ich mir den Gaumen verbrannte.

»Mir wäre es auch lieber gewesen, noch zu warten«, sagte Hannes. »Aber meine Oma macht Druck.«

Ich formte ein O mit den Lippen, sog kühle Luft ein und nickte fragend in Hannes Richtung.

»Der Bauer, der seine Maschinen in der Werkstatt unterstellt, braucht den Platz bald nicht mehr, weil er sich eine eigene Scheune baut. Meine Oma meint, wenn ich jetzt nicht zusage, dass ich die Autowerkstatt wiedereröffne, verkauft sie. Das ist meine letzte Chance.«

Schon als Kind hatte Hannes immer nur Automechaniker werden wollen, hatte sich jede freie Minute bei seinem Opa in der Werkstatt herumgedrückt und davon geträumt, sie eines Tages zu übernehmen. Wir waren fünfzehn Jahre alt, als er Nico und mir vorschwärmte, wie er später die Wände neu kalken und in dem angrenzenden Raum eine Teeküche einbauen würde.

»Mit Sofas zum Abhängen und immer einer Kanne Tee mit Rumkluntjes.« Rumkluntjes waren damals voll angesagt bei uns.

»Und dann veranstalte ich Konzerte, Heavy Metal auf der Hebebühne.«

»Keinen Punk?«, hatte Nico gefragt.

»Doch auch, aber Metal wegen Metall, Autowerkstatt.«

»Jaja, schon kapiert.«

»Und in die Werkstattgrube projizieren wir Horrorfilme. Oder ich spann draußen am Tor eine Leinwand, und davor parken die Leute. Frieslands erstes Autokino!« Hannes wurde immer lauter, klang mittlerweile wie ein Jahrmarktschreier.

»Willst du dann trotzdem noch Autos schrauben? Ich meine, trotz Autokino und Konzerten?«, fragte ich.

»Na klar, ist doch das Wichtigste!«

Hannes’ Ambitionen waren also nicht neu. Aber wie ernst es ihm tatsächlich damit war, hatte ich unterschätzt, obwohl er seinem Ziel Jahr für Jahr wie ein Aufziehauto entgegengetuckert war. Lehre, Gesellenzeit, Meisterschule, immer am Schrauben und noch immer nicht genug davon.

»Ich sollte nicht so überrascht sein, oder?«, fragte ich.

»Nee, ich hab immer gesagt, dass ich das irgendwann machen will.«

»Eben, irgendwann. Ich dachte, wenn wir älter sind. Aber doch nicht jetzt. Und was wird dann aus deiner Band, deinen Freunden, deinen Lovern und … was wird aus mir?«

Ich hatte geglaubt, die Werkstatt gehörte zu der Sorte von Träumen, die man ein Leben lang hegt, aber nie verwirklicht. Weil der Traum dann kein Traum mehr wäre, weil er irgendwann so groß geworden war, dass seine Verwirklichung niemals den an ihn gerichteten Erwartungen gerecht werden konnte. Vielleicht hatte ich das auch nur glauben wollen. Ich ballte die linke Hand, die auf meinem Oberschenkel lag, zur Faust, hob sie auf Schulterhöhe und ließ sie knapp neben Hannes’ Hand auf die Tischplatte fallen. Ich fühlte mich völlig überrumpelt, bisher hatte er mich immer in seine Planungen einbezogen und mich nicht vor vollendete Tatsachen gestellt. Unsere Blicke trafen sich, und an der Art, wie er den Mund seitlich verzog, erkannte ich sein Unbehagen. Seine Finger schoben sich die wenigen Zentimeter bis zu meiner Faust, die wie ein toter Vogel zum Liegen gekommen war. Er machte Anstalten, seine Hand auf meine zu legen, aber ich zog sie weg und versteckte sie unter der Achsel.

»Du könntest mitkommen«, sagte er.

»Zurück nach Friesland?«

»Ja, warum nicht?«

»Aufs Dorf?«

Er nickte, und ich schüttelte den Kopf. Hannes lachte. »Was denn? Wenn ich zurückgehe, kannst du das auch.«

»Eine Woche würde ich mir geben, höchstens. Nach einem Tag mit meiner Mutter krieg ich schon die Krise.«

»Das liegt aber nicht am Dorf.«

»Na und? Ich will hier nicht weg.«

Unsere Wohnung war klein, die Küche mit dem Sofa der größte Raum. Hannes hatte sich ein Hochbett in sein Zimmer gebaut. Darunter staute sich sein auf Flohmärkten und vom Sperrmüll zusammengetragener Krempel. Fahrrad- und Mofateile, rostige Werkzeuge, seine Sammlung altertümlicher Trockenhauben, die wie Lampenschirme an den Wänden hingen und die er als Kleiderständer benutzte. Nach und nach waren aus seinem Zimmer immer mehr Sachen in die restliche Wohnung geschwemmt. Mein Blick fiel auf den Topfuntersetzer in Katzenform, die Spielesammlung, mit der wir nie spielten, den vor Jahren angefangenen und immer noch nicht fertigen Fliegenvorhang aus Kronkorken. Unvorstellbar der Gedanke, dass all das verschwände, wenn er auszog.

»Leicht fällt es mir auch nicht, hier abzuhauen, das kannst du mir glauben. Aber ich bin ja nicht aus der Welt. Hab lange genug davon geträumt, nun ist auch mal gut. Du weißt schon: jetzt oder nie! Außerdem ist es meiner Oma nur recht, wenn sie nicht mehr länger allein in dem großen Haus leben muss.«

»Du ziehst bei ihr ein?«

»In die obere Etage, in die Wohnung, die seit Jahren leer steht, da wo früher die alte Wilken gelebt hat. So haben wir beide unseren eigenen Bereich, und ich bin bei ihr, wenn mal was ist. Sie wird langsam ’n beten tüdelig. Aber keine Sorge, ich werde auch dauernd hier sein und dich besuchen und proben und Großstadtluft tanken.«

Auf dem Brett lag noch ein Toast, ich schnitt es in der Mitte durch. Der Käse zog sich wie Kaugummi zwischen den beiden Hälften. Ich wickelte mir die Fäden um den Zeigefinger und lutschte sie ab.

»Weißt du, was komisch ist?«, fragte Hannes und biss in sein Stück. »Mit jedem Jahr, das ich nicht mehr dort wohne, erscheint mir das Dorf idyllischer. Ich weiß nicht mal mehr, warum wir es da so scheiße fanden.«

»Soll ich es dir erzählen?«

»Nee, lass mal.«

Das Dorf bestand aus einer Ansammlung von Höfen und Einfamilienhäusern inmitten riesiger Monokulturflächen, auf denen vor allem Mais wuchs. Wenn es nicht nach Gülle stank, wurden Pestizide gespritzt. Hinter den Feldern erstreckte sich nichts als Wiesen, im Sommer grün, den Rest des Jahres braun oder gelb, und vereinzelt vom Wind gekrümmte Bäume. Dann kam irgendwann der Deich, und dahinter lagen die Nordsee und das Watt. Kilometerweit graubraune Matsche, bis zum Horizont, ab und an vom Meer unter Wasser gesetzt. Ich habe die Nordsee fast nie wirklich gesehen, meistens ist sie abwesend und streckt der Welt das nackte Wattenmeer entgegen. Der ewige Wind, die einsamen dunklen Winter, die Eintönigkeit der Landschaft und die Abgeschiedenheit waren nur einige Gründe, weshalb ich froh war, nicht mehr dort leben zu müssen.

Der Kühlschrank sprang an, zwei Gläser klirrten aneinander, schienen direkt in meinem Kopf zu klirren. Ich stand auf und rüttelte am Kühlschrank, bis er verstummte. Dann zog ich meinen Tabak aus der Tasche und drehte mir eine. Meine linke Hand fühlte sich seit zwei Tagen taub an, als wäre sie eingeschlafen, und obwohl ich dauernd an ihr herumdrückte und sie schüttelte, wurde es eher schlimmer als besser. Die Kippe hatte die Form eines Regenwurms.

»Solange du nicht von mir erwartest, dass ich mich für dich freue«, sagte ich zwischen zwei Zügen.

Hannes nuckelte an seinem Bier und duckte den Kopf. Ich kannte das von ihm, dieses Halseinziehen, als wäre er aus Gummi. Das hatte er zu Hause bei seinen despotischen Eltern gelernt, vor denen er sich auch immer wegducken musste.

»Was ist mit deinen Alten? Hast du ihnen schon die frohe Kunde überbracht, dass ihr bald Nachbarn sein werdet?«

»Oma hat es ihnen erzählt.«

»Und? Freuen sie sich?«

Hannes antwortete nicht, vermied meinen Blick, sah stattdessen zur Uhr, die in Form eines Apfels über der Spüle hing. Ein Rankgewächs, das ich von meiner Mutter geschenkt bekommen hatte, schmiegte sich um das Ziffernblatt, es sah aus, als würde der Apfel eine grüne Perücke tragen. Inzwischen war es zwei Uhr morgens, und ich war seit über zwanzig Stunden wach.

»Macht bestimmt Spaß, sie jeden Tag zu sehen.«

Er antwortete nicht.

»Kannst sonntags immer schön mit ihnen essen.«

»Ist gut, ich hab verstanden. Du findest die Idee zum Kotzen. Aber denk auch mal an meine Oma.«

»Okay, nur mal angenommen, deine Oma wäre noch fit oder schon tot. Würdest du dann auch zurückgehen?«

»Sag so was nicht!« Es entging mir nicht, wie Hannes reflexartig mit der rechten Hand ans hölzerne Tischbein klopfte. Er glaubte, damit Unheil und Pech abzuwenden.

»Stell dich nicht so an. Würdest du? Ja oder nein.«

»Ja.«

»Also, dann komm mir nicht mit der Samariternummer.«

Hannes wurde rot, der Kühlschrank sprang wieder an, und die Gläser klirrten erneut. Ich trat dagegen, und er verstummte. Viel lieber hätte ich Hannes getreten. Ich schluckte die Tränen hinunter, die sich ihren Weg hinausbahnen wollten, legte den Kopf in den Nacken und sah an die Decke, damit sie wieder zurückrollten, dorthin, von wo sie gekommen waren. Über mir schaukelten Spinnweben und Staubfäden im Luftzug, der durch die undichten Fenster drang.

Hannes war seit dem Kindergarten mein bester Freund, war wie ein drittes Bein, an das ich mich gewöhnt hatte und das mir Stabilität und Standhaftigkeit gab. Wir benutzten dieselbe Gesichtscreme, hatten Magendarmgrippen, Herpes und Läuse miteinander geteilt, und die Vorstellung, ohne ihn auf Konzerte, in die Kneipe oder ins Kino zu gehen, ohne ihn zu kochen und zu essen, Fernsehen zu glotzen und herumzuhängen, verursachte mir Übelkeit. Es war, als hätte er mir die Decke weggerissen, unter der wir beide eben noch nebeneinandergesessen hatten.

»Ich wollte nie wirklich weg aus Friesland.« Hannes’ Stimme hatte einen trotzigen Ton angenommen. »Du warst die, die dauernd rumgejammert hat, wie schrecklich sie da alles findet. Mir gefällt es dort, die Ruhe, die frische Luft, die Weite.«

Der Stillstand, die Gülle, die dörfliche Enge hätte ich dagegensetzen können. Aber er hatte recht. Nico und ich waren es, die die Tage gezählt hatten, bis wir dem Ganzen endlich den Rücken kehren konnten. Hannes war zufrieden gewesen mit dem Geschraube bei seinem Opa, seiner improvisierten Mofawerkstatt, unserem Schuppen und der Band. Wenn er nicht so viel Stress mit seinen Eltern gehabt hätte, die weder seine Berufswahl akzeptierten – sie hatten den Plan gehabt, dass er mal ihre Apotheke übernahm – noch dass er schwul war, wer weiß, vielleicht wäre er sogar geblieben.

»Dann sei doch froh, dass du das alles bald wiederhast«, sagte ich.

»Bin ich auch.«

»Dann ist ja gut. Seit wann steht dein Plan?«

»Als ich nach Neujahr meine Oma besucht habe, kam das Thema auf, aber fest ist es erst seit gestern. Da hab ich mit der Bank geredet, wegen Kredit und so.«

Das Lachen tat mir im Hals weh. Hannes auf der Bank wegen Kredit und so. Ich erinnerte mich an die riesige Dose Neujahrskuchen, die seine Oma ihm mitgegeben hatte und die, inzwischen leer, oben auf dem Regal stand. Mit keinem Wort hatte er die Werkstatt erwähnt, weder am Abend seiner Rückkehr, als wir die Dose erst bei Tee und später bei Grog fast geleert hatten, noch in den folgenden Tagen.

»Warum hast du mir nicht früher was gesagt? Das war vor drei Monaten!«

»Ich hatte Angst, dass du sauer wirst, und ich wusste ja auch nicht, ob es klappt.«

Da war sie wieder, Hannes’ Angst vor Konflikten. Mir war klar, wie schwer es ihm fiel, mich in seine Zukunftspläne einzuweihen. Er musste gewusst haben, dass ich nicht begeistert sein würde, da ich nicht in ihnen vorkam. Wie es aussah, wäre er am liebsten in der Sofaritze verschwunden. Zog immer schnell den langen, dünnen Hals ein und machte sich klein, wenn es mal ungemütlich wurde. So wie jetzt, die schlaksigen Arme und Beine unter der Decke zusammengeklappt, die dünnen blonden Haare vom langen Tag an den Kopf geklebt, die Brille schief auf der Nase, die er zu klobig fand, ich aber genau richtig. Manchmal beneidete ich ihn um diese Nase, die ohne Hemmung groß und krumm zwischen seinen hohlen Wangen thronte. Ohne diesen Zinken würde er vermutlich belanglos aussehen. Jetzt wirkte Hannes traurig, müde und ein bisschen betrunken. Alles in seinem Gesicht hing schlaff nach unten. Vermutlich sah ich ähnlich aus.

»Los, lass uns schlafen gehen«, sagte ich, nahm meine Tasche vom Stuhl, die ich vorhin daraufgeworfen hatte, und verließ die Küche. Erst als ich die Tür zu meinem Zimmer geschlossen hatte, hörte ich, wie Hannes vom Sofa aufstand und ins Bad schlurfte. Mein Körper sank tonnenschwer auf die Matratze. Eine Wohltat, dieser Schmerz der Entspannung. Ich angelte nach dem Kuli, der neben meinem Bett auf dem Boden lag, und markierte, bis wohin die Taubheit meiner linken Hand reichte. Die zweite Linie verlief mehr als einen Zentimeter über der ersten von heute Morgen. Mit der Rechten knipste ich die Nachttischlampe aus. Wäre ich weniger müde gewesen, hätte ich mir vielleicht mehr Sorgen gemacht, aber so schloss ich einfach die Augen, und der Schlaf überfiel mich wie ein ausgehungertes Tier.

2

Am nächsten Morgen erwachte ich vom Zuknallen der Wohnungstür. Hannes’ Schritte polterten die Treppe hinunter. Mein Wecker zeigte fast halb zwölf an. Durch das Fenster drangen das Gekreische der Nachbarkinder und das monotone Gurren der Tauben. Im Zimmer war es kalt, da das Fenster die Nacht über gekippt gewesen war. Heute war mein einziger freier Tag in der Woche, und Hannes und ich hatten verabredet, zusammen auf den Flohmarkt zu gehen, danach wollten wir in der Frühlingssonne Kaffee trinken und ein paar Freunde zum Essen einladen. Nach dem gestrigen Abend war ich mir nicht mehr sicher, ob wir den Tag gemeinsam verbringen würden. Wie ich ihn kannte, hatte Hannes sich verkrümelt, um mir und eventuellen Diskussionen aus dem Weg zu gehen.

Wäre er zu Hause und zwischen uns alles im Reinen, hätte ich ihn gefragt, ob er mir einen Kaffee brächte. Das war unser Ritual, uns an freien Tagen gegenseitig Heißgetränke ans Bett zu bringen. Dann kuschelten wir uns unter die Decke, quatschten, tranken Kaffee und Tee und überlegten, was wir an dem Tag unternehmen wollten. Aber Hannes war nicht da, mit uns war nicht alles im Reinen, und ich würde meinen Kaffee selbst kochen müssen.

In der Küche hing noch der Wachsgeruch des ausgeblasenen Teelichts, das im Stövchen unter Hannes’ Morgentee gebrannt hatte. Seine Zimmertür stand offen, genau wie das Badezimmerfenster, und es zog kalt herein. Im Flur klingelte das Telefon.

»Hallo.«

»Hi, ich bin’s.«

Nicos Stimme war mir fast so vertraut wie meine eigene, auch wenn wir uns nur noch alle zwei oder drei Monate sahen. Er wohnte in Hannover, hatte dort studiert und arbeitete nun als Musikpädagoge. Den Hörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, drehte ich die Espressokanne auf und befüllte sie mit Wasser und Pulver. Nico klang beschwingt, er kam gerade vom Joggen, war schon immer ein ehrgeiziger Läufer gewesen und bei jedem Wetter den Fluss im Dorf entlanggeprescht. Selten hatte ich ihn so gelöst gesehen wie nach einem ausgiebigen Sprint, wenn er sich ins Gras fallen ließ, die Kiefer entspannt, das schweißige Gesicht und der Blick weich von den Endorphinen, die beim Laufen durch seinen Körper gespült wurden. In solchen Momenten wollte ich mich ganz nah neben ihn ins Gras legen.

Während ich darauf wartete, dass der Kaffee nach oben blubberte, schloss und öffnete ich meine linke Hand. Das Kribbeln war bereits über die gestern gezogene Linie hinausgewachsen.

»Wie lange geht dein Job noch?«, fragte er.

»Zwei Wochen.«

»Perfekt! Und danach?«

»Keine Ahnung. Warum?«

Ich arbeitete als Aushilfsbriefträgerin. Gute Bezahlung und viel Bewegung. Mit dem schwer beladenen Rad gelangte ich in Ecken Hamburgs, die mir so fremd waren, als wäre ich in einer anderen Stadt. Angenehmer war die Arbeit im Sommer, da die Tour bei Regen und Kälte schnell zur Qual wurde. Mit rot gefrorenen Fingern die Post heraussuchen, die Umschläge und Zeitschriften, die von der Feuchtigkeit aneinanderklebten. Morgens vor Sonnenaufgang aufstehen, auch samstags. Die Temperaturen waren zwar in den letzten Tagen gestiegen. Trotzdem hatte ich nichts dagegen, dass mein Vertrag bald auslief und ich wieder Arbeitslosengeld beantragen konnte.

»Hast du Lust, mitzukommen, meine Mutter besuchen?«, fragte Nico.

»Deine Mutter?« Seine Frage überraschte mich. Immerhin hatte er seine Mutter seit seinem siebzehnten Lebensjahr, also seit über zehn Jahren, nicht mehr gesehen. Er hatte ihr nie verziehen, dass sie damals, ohne Vorankündigung oder Erklärung, eines Nachmittags ihre Sachen gepackt hatte und abgehauen war.

Nur zu gut erinnerte ich mich an den Morgen nach ihrem Verschwinden. Nico war kurz nach Sonnenaufgang bei mir zu Hause aufgetaucht, die Schatten unter seinen Augen so dunkel, dass ich im ersten Moment gedacht hatte, er wäre verprügelt worden. Seine Lederjacke war ihm von den Schultern gerutscht, die Schnürsenkel seiner Doc Martens flatterten um seine Knöchel, und die braunen Locken hingen wirr um seinen Kopf und verliehen ihm das Aussehen eines Welpen, der sich im Sturm verlaufen hatte. An diesem Morgen sah ich Nico das erste Mal weinen. Sein rostiges Schluchzen bohrte sich tief in meine Brust.

»Wann denn?«, fragte ich jetzt, schloss erst das Badezimmerfenster und dann Hannes’ Zimmertür.

»In zweieinhalb Wochen. Einmal nach Spanien und wieder zurück.« Nico erzählte, dass Robert, sein Vater, zu Hause ausgemistet hatte und die letzten Sachen seiner Ex-Frau loswerden wollte. Nico habe ihm angeboten, ihr den Kram vorbeizubringen, vorausgesetzt, Hannes und ich hätten Zeit und Lust, mitzukommen. Er schlug vor, mit dem alten, hundertfach geschweißten Mercedesbus von Hannes und mir zu fahren. Erst quer durch Frankreich, dann ein paar Tage nach Spanien, zu seiner Mutter und wieder zurück, insgesamt drei bis vier Wochen.

Da ich mein Leben nicht weiter geplant hatte als bis zur Beantragung des Arbeitslosengeldes, kam mir der Vorschlag gelegen. Der Urlaub würde mir Aufschub geben, und mit etwas Abstand kam hoffentlich die nötige Klarheit, um zu entscheiden, was ich als Nächstes tun wollte.

»Warum nicht«, sagte ich.

»Cool, dann muss ich nicht alleine mit ihr sein.«

»Ist Leo denn nicht da?«

»Interessiert mich nicht, ob der da ist oder nicht!«

Leo war Nicos leiblicher Vater. Bisher waren sie sich weder begegnet, noch hatten sie jemals den Versuch unternommen, Kontakt miteinander aufzunehmen. Beide schienen so tun zu wollen, als ob der jeweils andere nicht existierte. Nico aus Solidarität mit Robert, wie ich vermutete. Über Leos Motive würde ich in wenigen Wochen vielleicht mehr erfahren. Mir war klar, dass das Leo-Thema, genau wie das Mutter-Thema, tabu war. Doch da er das eine aufgemacht hatte, war ich davon ausgegangen, dass das andere nun auch diskutiert werden durfte.

»Jaja, sorry, war nur eine Frage. Aber du bist schon sicher, dass du deine Mutter sehen willst?«

»Klar, aber ich hab auch Schiss. Ist doch normal.«

»Vermutlich.«

Seine Mutter war mir immer verdächtig vorgekommen. Alleine schon, wie sie jeden Morgen nach allen Seiten grüßend und lächelnd mit dem Rad durchs Dorf zur Arbeit gefahren war und am Nachmittag, die Fahrradkörbe vollgestopft mit Blumen, Obst und üppigen Salatköpfen, zurückgeradelt kam. Als wäre sie direkt aus der Rama-Werbung gefallen. Viel zu positiv erschien mir das alles, um echt zu sein. Und recht hatte ich behalten.

»Keiner zwingt dich, hinzufahren. Sie kann sich ihren Kram doch auch selbst abholen«, sagte ich, setzte mich mit dem inzwischen fertig gekochten Kaffee aufs Küchensofa und wickelte die Decke um mich. Ich nahm einen großen Schluck, drehte mir eine Kippe und inhalierte den Rauch. Prompt musste ich husten. Der erste Zug am Morgen war immer hart.

»Aber ich kann auch nicht ewig vor ihr wegrennen.«

»Können kannst du schon.« Ich verstand, dass Nico vor dem bevorstehenden Besuch mulmig war. Was ich nicht verstand, war, warum er sie auf einmal so unbedingt sehen wollte. Bestimmt nicht wegen der Kisten.

»Ich glaube, ich bin nie drüber weggekommen, dass sie einfach abgehauen ist. Nicht dass ich ständig daran denke, aber das alles kann nicht spurlos an mir vorbeigegangen sein. Ich hab dir doch mal davon erzählt, dass ich nachts, wenn es still ist, so ein Summen im Kopf hab. Das kommt bestimmt von dem Trauma.«

Nico hatte vor vier Monaten eine Therapie begonnen, und ich vermutete, dass sein Therapeut ihn nötigte, in den alten Geschichten herumzuwühlen.

»Du meinst deinen Tinnitus.«

»Genau. Und weißt du, was krass ist? Manchmal erinnere ich mich nicht mal mehr genau daran, wie sie aussieht. Ich hab Angst, dass ich es bereue, wenn ich ihr nicht noch mal eine Chance gebe.«

Ich hoffte, seine Mutter würde die Chance zu nutzen wissen. Wie ich Nico einschätzte, würde sie so schnell keine weitere bekommen.

Wenige Monate, nachdem sie sich davongemacht hatte, hatten Nico, Hannes und ich schon einmal zu ihr nach Spanien fahren wollen. Nico und ich waren erst siebzehn gewesen. Hannes war schon achtzehn. Er hatte gerade seinen Führerschein gemacht, das Abi ein Jahr vor den Prüfungen geschmissen und war einige Wochen zuvor von zu Hause abgehauen. Einen so radikalen Schnitt hatte ich ihm bis dahin niemals zugetraut. In der Nacht unserer Abreise hatte Hannes seinen Eltern einen letzten Besuch abgestattet. Das Auto parkte er mit der Motorhaube Richtung Straße vor dem Haus. Nico auf der Rückbank, ich auf dem Beifahrersitz, im Kofferraum unser Gepäck. Hannes war zur Haustür gerannt, hatte den Finger auf die Klingel gedrückt, die wie ein Alarm schrillte, bis sie herausgekommen waren, sein Vater und seine Mutter, beide in Bademänteln.

»Übrigens, ich bin schwul und fahr jetzt nach Spanien!« Seine Stimme hallte durch die Nacht, Nico und ich johlten und klatschten Applaus. Ohne ihnen Gelegenheit zu geben, darauf zu reagieren, war er ins Auto gesprungen und mit quietschenden Reifen losgerast. Weiter als bis nach Holland waren wir allerdings nicht gekommen, weil das Auto unter uns zusammengebrochen war. Hannes und ich wären auch bereit gewesen, bis nach Spanien zu trampen, aber Nico hatte seine Meinung geändert, sodass wir mit dem nächsten Zug zurück nach Hause fuhren.

»Schon das Neueste gehört?«, fragte ich. »Hannes will zurück nach Friesland.«

»Ich weiß. Er hat mich vor zwei Wochen oder so angerufen.«

Asche fiel von meiner Zigarette auf die Wolldecke, und als ich darüberwischte, blieb ein gräulicher Schatten auf dem orangefarbenen Stoff zurück. Hannes hatte Nico vor mir von seinen Plänen erzählt. Ich schluckte. In meinem Mund der bittere Geschmack von Eifersucht. Sie hatten ohne mich darüber geredet und dann offensichtlich beschlossen, mir nichts zu verraten.

»Der Arsch! Ihr beide! Wieso habt ihr mir nichts gesagt?«

»Er hatte Angst, dass du es ihm ausreden willst«, antwortete Nico.

»Natürlich will ich das, was sonst?«

»Siehste! Genau darum hat er dir nicht früher davon erzählt. Ich glaube, eigentlich wollte er nie wirklich weg aus Friesland. So oft, wie er seine Oma besucht, hatte er die ganze Zeit Heimweh, wenn du mich fragst. Für ihn ist das bestimmt das Richtige.«

»Aber für mich nicht.«

»Es geht aber nicht immer nur um dich. Und außerdem, wer weiß? Tut euch bestimmt ganz gut.«

Ich hatte gehofft, Nico würde auf meiner Seite sein. Er hatte Einfluss auf Hannes, konnte überzeugend argumentieren und schien immer besser als andere zu wissen, was richtig oder falsch war. Als hätte er eine Art moralischen Kompass eingebaut. Wenn er seine Meinung sagte, war es, als würde er eine Wahrheit aussprechen.

Die erste Zeit unserer Freundschaft hatte er mich gleichermaßen fasziniert und eingeschüchtert. Ich war gerade aufs Gymnasium gekommen und saß neben einem Mädchen aus dem Nachbardorf, das ständig in der Nase bohrte und die Popel danach aufaß. Niemand wollte mit ihr befreundet sein. Mir war das Gepopel egal, und wir taten uns zusammen. Zu zweit waren wir nicht länger allein. Doch die Popelfresserin wollte nicht, dass ich meine Pausen mit Hannes verbrachte, der einen Jahrgang über uns war. Sie forderte ungeteilte Aufmerksamkeit, wozu ich nicht bereit war, also wechselte ich meinen Sitzplatz. Von da an saß ich neben einem schmächtigen Jungen, der finster aus grün-braunen Katzenauen blickte und nie etwas sagte. Hannes hatte mir erzählt, dass er ihn vom Sehen kannte, er sei gerade erst bei ihm gegenüber eingezogen, sie hätten aber noch kein Wort miteinander gewechselt. In den Pausen kauerte er allein auf einem Hügel, der mit alten, halb eingebuddelten Autoreifen bedeckt war. Die Schulhofausstattung bestand aus Autoreifen, Asphalt und Bänken aus Beton, sie hatte die Stadt nicht viel gekostet. Der Neue hockte oben auf dem Autoreifenhügel, mümmelte sein Brot, hatte Kopfhörer auf seinen Ohren und nickte zum Takt einer Musik, die wir nicht hören konnten.

Hannes fand, wir sollten ihm eine Chance geben. Meine erste Frage an Nico war, ob er eine Klasse übersprungen habe. Das lag nahe, denn er reichte mir nur bis zum Kinn. Ich erfuhr, dass sein finsterer Blick noch eine Steigerung kannte, und schloss daraus, dass die Antwort Nein war. Meine zweite Frage lautete, wie es ihm hier gefalle. »Scheiße«, sagte er, und Hannes und ich klopften ihm auf die Schulter. Nico war zwar gerade erst zu uns aufs Dorf gezogen, aber hatte die begrenzten Möglichkeiten der friesischen Einöde bereits erkannt. Sein finsterer Blick beeindruckte mich. Wenn die Lehrer ihn etwas fragten, er angepöbelt oder geschubst wurde, starrte er sein Gegenüber einfach an, regungslos, und kein Muskel bewegte sich in seinem Gesicht. Schon bald stand er in dem Ruf, irgendwie gestört zu sein, was ihn in unseren Augen erst recht interessant machte.

Seitdem waren wir zu dritt, und ich wusste, ich konnte mich auf die beiden verlassen. War mich sicher, müsste ich auf einem Seil über einen Abgrund balancieren, würde Hannes seine Höhenangst überwinden, sich fest an meine Hand klammern und mich begleiten, nur um mich nicht alleinzulassen. Nico würde unten aufpassen, um uns aufzufangen, oder er würde ein Netz organisieren oder was auch immer nötig wäre, damit uns nichts passierte, falls wir abstürzten.

»Warum solltest du über einen Abgrund balancieren?«, hatte meine Mutter gefragt, als ich ihr zu erklären versuchte, wie sehr ich mich auf meine Freunde verlassen konnte. »Wenn sie wirklich wollten, dass dir nichts zustößt, würden sie dich gar nicht erst auf das Seil steigen lassen.«

»Und du, was würdest du machen?« Herausfordernd sah ich sie an.

»Mir die Augen zuhalten. Hab ich früher auch immer gemacht, wenn du ganz oben auf dem Klettergerüst rumgeturnt bist. Ich war mir sicher, dass dir am wenigsten passiert, wenn ich nicht hinsehe. Und wenn du abgestürzt wärst, hätte ich den Aufprall ja gehört.«

 

Meine Tasse war leer. Ich wischte mit dem Finger den restlichen Milchschaum vom Rand und leckte ihn ab.

»Gib mir mal Hannes. Ich will ihn fragen, ob er auch mitkommt«, sagte Nico.

»Der ist nicht da, und außerdem glaube ich kaum, dass er Zeit hat, zu verreisen.«

Ich musste ihm versprechen, Hannes auszurichten, dass er ihn zurückrufen sollte, legte auf und kochte mir einen zweiten Kaffee. Die Dielen unter meinen nackten Füßen waren kalt. Krümel drückten sich in meine Sohlen. Es war an der Zeit, mal wieder zu fegen, dachte ich, als ich Hannes’ Schritte auf der Treppe hallen hörte. Immer stampfte er, als würde er die Stufen zertreten wollen.

»Wo warst du?«, fragte ich.

Er hielt seinen mit Motoröl verschmierten Rucksack in die Höhe, aus dem ein Lauch ragte. »Einkaufen. War ja nichts mehr da.«

»Siehst du, das gibt es in Friesland nicht, Supermärkte, die sonntags geöffnet haben.«

»Das stimmt doch gar nicht. Für die Touris ist auch am Sonntag alles auf.« Sein schnippischer Ton nervte mich.

»Aber nur während der Saison, oder? Egal. Du sollst Nico zurückrufen. Übrigens, ich wollte ihm von deinem Umzug erzählen, aber er wusste es schon. Seit zwei Wochen.«

Hannes packte Lauch, Käse, Toastbrot, Äpfel und Tomaten aus.

»Und wenn er es nicht gewusst hätte, hätte ich es ihm gern selbst gesagt«, erwiderte er.

»Na, ein Glück, dass du ihn schon eingeweiht hast, und zwar lange vor mir.«

Als Hannes die Einkäufe verstaut hatte, verließ er die Küche und schnappte sich auf dem Weg in sein Zimmer das Telefon. Durch die geschlossene Tür konnte ich nicht verstehen, worüber er mit Nico redete. Nervös drückte ich an meiner linken Hand herum. War mir nicht sicher, ob sie eher kribbelte, taub war oder beides zugleich. Ich wusste nur, dass mich das Gefühl nervte und wünschte mir, dass es aufhörte. Bisher hatte ich mir eingeredet, es läge an meiner Verspannung. Mein Trapezmuskel war hart wie ein Lederfußball, und meine Rückenmuskulatur stellte ich mir wie diese fies quietschenden Bettgestelle vor, dunkel angelaufene Metallfedern, die bei jeder Bewegung brutal knarzten. Sehnen und Fasern, die durch Widerhaken miteinander verbunden waren. Dehnte ich eine Seite, knirschte der Rest gleich mit. Wenn ich den Arm hob, zog es in der Lendenwirbelsäule. Das konnte nicht normal sein für eine Siebenundzwanzigjährige. Ich zeichnete eine dritte Linie auf meinen Arm. Wenn das Ganze nicht bald besser wurde, würde ich zu meiner Ärztin gehen müssen. Als Hannes aus seinem Zimmer getänzelt kam, ließ ich den Stift schnell zurück auf die Tischplatte fallen.

»Urlaub, yeah!« Er trommelte mit den Fingern auf meinem Kopf herum, und ich schubste ihn weg.

»Aua, lass mich! Wundert mich ja, dass du für so was noch abkömmlich bist und die Werkstatt so lange warten kann.«

Ich für meinen Teil wäre auch allein mit Nico gefahren. Aber das sagte ich nicht.

»Solange der Bauer die Scheune nicht fertig hat und seine Geräte noch in der Werkstatt stehen, kann ich nicht anfangen. Wird das eine Tattoo-Vorlage, oder was?«, fragte er und zeigte auf die Striche auf meinem Handgelenk.

»So was Ähnliches.« Ich zog den Ärmel meines Pullis hinunter. Hannes schnappte sich einen Apfel, wusch ihn ab und biss hinein.

»Kommst du mit auf den Flohmarkt?«, fragte er.

Nachdem ich mich angezogen hatte, lief ich hinter ihm die Treppe hinunter. Die drei Straßen bis zu dem Platz, wo die Stände aufgebaut waren, schwiegen wir. Erst als er in einer Kiste mit T-Shirts für einen Euro wühlte, quasselte er los. Über den Urlaub, den Bus, der vorher noch einen Ölwechsel bräuchte, und die Gasflasche vom Campingkocher, die fast leer sei. Wir könnten im Mittelmeer baden, meinen Ex Klas besuchen und Quiche essen. Ich nickte zu allem, hatte keine Lust, jetzt über Klas zu reden. Mir war es am liebsten, wenn man ihn überhaupt nicht erwähnte. Als ich einwarf, dass wir kaum alle drei ins Bett im Bus passen würden und er und Nico abwechselnd auf dem Boden schlafen müssten, zuckte er bloß mit den Schultern. Das musste sein schlechtes Gewissen sein, dachte ich, dass er nicht mal versuchte, darüber zu diskutieren.

3

Einige Tage später fühlte sich nicht nur meine Hand, sondern fast mein kompletter Arm taub an. Er kribbelte, und gleichzeitig war es, als würde er in warmem Wasser hängen. Mir wurde die Sache immer unheimlicher, ich schaffte es nicht, länger so zu tun, als käme das alles nur von der Verspannung, und ich ließ mir schnellstmöglich einen Termin bei meiner Hausärztin geben. Ich hatte gehofft, sie würde mir etwas Beruhigendes sagen. So etwas wie: Das ist nichts, das geht von allein wieder weg. Doch schon an ihrem Blick erkannte ich, dass sie mir die Angst, die mit jedem Zentimeter zunahm, den die Taubheit sich in meinem Arm ausbreitete, nicht würde nehmen können.

»Das kann viele Ursachen haben. Ich überweise Sie ins Krankenhaus. Da werden dann Tests gemacht, um auszuschließen, dass es sich zum Beispiel um Multiple Sklerose handelt«, sagte sie.

Ohne eine Ahnung zu haben, was Multiple Sklerose überhaupt war, bekam ich sofort Panik. Wie auf Knopfdruck raste mein Blut in die Füße, und der Boden unter mir schien seine Festigkeit einzubüßen. Als ob die Krankheit sich durch die bloße Erwähnung schon meines Körpers bemächtigt hätte. Wie betäubt saß ich danach zu Hause auf dem Sofa. Hannes war nicht da, das Telefon lag vor mir auf dem Tisch. Ich hätte jemanden anrufen können, der mich tröstete oder beruhigte. Aber ich befand mich in einer dicken Kruste aus zerkratztem Glas, das langsam in mich hineinwuchs, mich nach und nach von innen ausfüllte, raues Glas wie zu oft im Geschirrspüler gewaschen, unangenehm anzufassen. Ich rauchte fast ein ganzes Paket Tabak. Mein Kopf dröhnte vor Anspannung, und ich biss ins Sofakissen, bis meine Zähne schmerzten. Nachdem ich mich unter die eiskalte Dusche gestellt hatte, war ich endlich in der Lage, mich bei der Arbeit krankzumelden und meine Tasche für das Krankenhaus zu packen.

Es kam mir gelegen, dass Hannes mehrere Tage in Friesland war, um seine neue Wohnung zu renovieren. Wäre er in Hamburg gewesen, hätte er mich mit seinem Hang zur Dramatik nur noch mehr in die Panik getrieben.

Im Krankenhaus erwartete mich ein strammes Programm. Ich ließ die Untersuchungen über mich ergehen, fühlte mich seltsam losgelöst von meinem Körper, als würde er jemand anderem gehören, während ich auf Bildschirme mit herumirrenden Punkten starrte, mein Hirn gescannt wurde und man mir Blut und Rückenmarksflüssigkeit abzapfte. Obwohl es keinen eindeutigen Befund gab, bekam ich hochdosiertes Kortison. Die ersten beiden Tage waren ein Höhenflug. Ein Energieschub, wie ich ihn selten erlebt hatte. Ich rannte die Flure rauf und runter, und wenn ich nicht rannte, zeichnete ich, ohne müde zu werden. Dann, am dritten Tag, folgte der Absturz. Nach einem Höhenflug kam immer ein Absturz.

»Es ist möglich, dass das ein erster Multiple-Sklerose-Schub war. Genau wissen wir es noch nicht«, teilte mir ein Arzt am Ende des Krankenhausaufenthalts mit, und ich wurde entlassen. Mir blieb nichts anderes übrig, als den MRT-Termin in drei Monaten abzuwarten und darauf zu hoffen, dass sich bis dahin kein weiterer Schub einstellte.

Ich belauerte meinen Körper, als wäre er ein unberechenbares Tier, das mich jeden Moment angreifen und zerfetzen könnte. Jedes Kribbeln, Zwicken und Ziepen, jeder leichte Schwindel und jedes kleinste Flackern vor den Augen konnte ein Symptom sein und ließ die Sirenen in meinem Kopf schrillen. Meine Angst schob sich wie eine Nebelwand zwischen mich und alle anderen, verdeckte alle weiteren Gefühle. Mir war stärker bewusst als je zuvor, welch wackeliges Konstrukt, welch zerbrechliches Gefäß der Körper für so ein zartes Leben war und wie schnell alles aus dem Gleichgewicht geraten und auseinanderfallen konnte. Inzwischen wusste ich, dass es mitunter ewig dauerte, bis eine Diagnose gestellt werden konnte, und dass trotz der gestellten Diagnose manchmal für längere Zeit nichts mehr passierte, bis die Krankheit dann wieder zuschlug. Oder sie legte von Anfang an gleich richtig los. Nichts war vorhersehbar. Es war diese Ungewissheit, die mich wahnsinnig machte.

Am Abend nach meiner Entlassung kam Hannes aus Friesland wieder nach Hause. Während des Abendessens zählte er auf, was er vor dem Urlaub alles noch erledigen musste und was er schon geschafft hatte.

»Der Ölwechsel, die Scheibenwischer, die Innenbeleuchtung, alles fertig. In meiner neuen Wohnung stehen die Regale, der alte Teppich ist raus. Roch voll nach der alten Wilken, haha. Und morgen wird hier der Sperrmüll abgeholt. Hast du auch noch was?«

»Nein.«

Ich sehnte mich nach jemandem, an dem ich mich festhalten konnte, der mir Mut machte und mich aus dem Nebel zog, der mich einhüllte und zu verschlucken drohte. Auf Hannes brauchte ich nicht zu hoffen. Die Planung seiner Zukunft nahm ihn völlig in Anspruch, während ich mir meine Zukunft weniger denn je vorstellen konnte. Er driftete von mir fort. Es war, als ob wir bisher in einem Zug zusammen auf demselben Gleis gefahren wären, doch nun waren die Wagen entkoppelt worden, und wir rollten in entgegengesetzte Richtungen. Hannes’ Hauptinteresse galt seinem Umzug und seiner neuen Firma, für die er bei einer Werkstattauflösung Schnäppchen gejagt hatte.

»Da hätte ich sonst das Dreifache für geblecht!«

»Glückwunsch.«

»Bist du immer noch sauer?«, fragte er.

»Nee, warum sollte ich?«

»Weil ich ausziehe. Außerdem klingst du so.«

»Bin ich aber nicht.«

Ich lag auf meinem Bett und starrte auf die Flecken an der Decke, Zeugnisse erschlagener Mücken aus vergangenen Sommern. Meine Zeit als Briefträgerin war Vergangenheit. Die letzten verbliebenen Tage war ich krankgeschrieben, obwohl ich es vorgezogen hätte, zu arbeiten, da mich die leeren Stunden aushöhlten. Aus den Boxen, die auf dem Boden standen, dröhnte EA80. Die Bässe vibrierten durch die Matratze.

»Was machen wir denn nun mit meinem Zimmer?«, fragte Hannes mich später am Tag. Er saß, verschwitzt vom Ausmisten, auf meinem Schreibtischstuhl und trank aus einer Coladose.

»Keine Ahnung, hab ich mir noch nicht überlegt.«

»Wenn wir aus Spanien wiederkommen, bin ich nur noch eine Woche oder so hier, und ich hab gedacht, vielleicht könnten wir auch vorher schon jemanden suchen, der das Zimmer übernimmt. Dann spare ich mir den Monat Miete. Aber nur, wenn das für dich okay ist.«

»Mir egal.«

Er sah mich an, das schmale Gesicht angestrengt in Falten gelegt. Ich sprang auf und riss das Fenster auf. Unter meiner Haut krabbelten Millionen von Ameisen. Die Panik überrollte mich. Tief atmen, redete ich mir zu. Los, atme. Luft holen. Und ganz langsam wieder raus damit.

»Du siehst nicht wirklich so aus, als ob es dir egal wäre.« Ich hörte, wie er aufstand, von seiner Cola trank und rülpste. Er schob sich neben mich ans Fenster und legte mir den Arm um die Schulter. »Ich kann auch noch warten. Aber gestern hat Jochen mir bei der Bandprobe erzählt, dass seine Schwester ein Praktikum beim NDR macht und eine Zwischenmiete für drei Monate sucht. Dann musst du dich nicht gleich fest für jemanden entscheiden«, sagte er.

»Wenn sie nett ist.«

»Ich kenne sie nicht, aber Jochen meint Ja.«

»Sehr witzig.«

Er grinste. »Hier, die Telefonnummer.« Er reichte mir einen Zettel, den ich in meine Hosentasche stopfte. Hannes zog die Augenbrauen zusammen, und ich schüttelte seinen Arm ab.

»Ich ruf sie an, versprochen.«

Er seufzte. Einer dieser typischen Hannes-Seufzer, die von tief unten aus der Lunge kamen. Genau wie bei seinem Vater. Ich war froh, diese Seufzer, in denen immer ein subtiler Vorwurf mitschwang, bald nicht mehr hören zu müssen. War froh, mich nicht mehr aufregen zu müssen, weil er nie Klopapier einkaufte und den Käse aushöhlte, ohne vorher die Rinde abzuschneiden. Er säbelte einfach die Mitte heraus, bis der Käse aussah wie die Kufe eines misshandelten Schaukelpferdes. Ganz zu schweigen von den Teepfützen, die er in seiner Tasse stehen ließ. Der letzte Schluck, den er nie trank. Überhaupt, sein Spleen mit den Teetassen. Es gab nur zwei, aus denen er trank. Alle anderen waren ihm zu dickwandig, zu groß, oder sie hatten die falsche Form.

Hannes zog los, um die Bananenkartons abzuholen, die der Gemüsehändler an der Ecke für seinen Umzug aufbewahrt hatte. Die Tür knallte ins Schloss, und ich schmiss mich wieder aufs Bett. Mehr und mehr Nebelfelder breiteten sich in mir aus und nahmen mir die Sicht. Ich hatte keine Ahnung, wohin ich trieb, wohin es mich trieb.

Um mich nicht völlig zu verlieren, zeichnete ich. Insekten. Schon als Kind hatte ich tote Käfer, Motten und Spinnen gesammelt, sie untersucht, in ihre Einzelteile zerlegt und Skizzen von ihnen angefertigt, ihre Form mit spitzem Strich aufs Papier übertragen. Auf meinen Bildern krabbelten sie aus Ohren, Nasen und Augen, krochen zu Tausenden durch Blutgefäße, legten ihre Eier ins Fleisch, zersetzten und zerkauten es und trieben so die organische Auflösung voran. Wenn ich die Augen schloss und lange genug die Luft anhielt, spürte ich, wie sich die Insekten unter meiner Haut wanden, wie sie an mir nagten und mich zerstören wollten. Ich kratzte, bis meine Arme mit Striemen überzogen waren, was das Brennen und Kribbeln nur noch verstärkte. Am liebsten hätte ich wie mit einem Reißverschluss meine Haut aufgezogen, um die drängelnde und wuselnde Masse herauszuschmeißen.

Meine Finger fuhren über die Narben, die von den Schnitten zurückgeblieben waren. Sie waren längst verheilt. Ich war stolz, mir seit Jahren keine neuen Verletzungen zugefügt zu haben. Aber der Druck nahm zu, und ich befürchtete, ich würde dem Tosen und Reißen in mir nicht mehr lange standhalten können. Ich wusste, mir war nicht zu trauen. Bald schon würde meine Hand die Klinge in meine Haut drücken, und wenn sie eindrang, würden die ersten Tropfen Blut fließen, und mit dem Blut würde die wimmelnde Masse endlich hinausgeschwemmt werden. Mein Herz würde schlagen, und erst käme der Schwindel, danach die Erleichterung und dann, später, auch die Reue.

 

In den letzten Tagen vor unserer Abreise landete ich fast jede Nacht bei Renate am Tresen, trank Bier und hörte der Musik zu.

»Was ist los, Lütte?«, fragte sie mich. »Du vertreibst mir noch die Gäste mit deiner miesen Laune.«

»Nichts ist los.«

»Red keinen Quatsch!« Ihre Pranke fiel auf meine Schulter und massierte an meinen harten Muskeln herum. »Ist es wegen ’nem Kerl?«

Ich schüttelte den Kopf. »Kein Kerl, ich selbst.«

»Das heißt?«

»Das heißt, dass ich keine Ahnung hab, wie es weitergeht mit mir.« Ich trank das Bier aus und erhob mich, bevor ich ihren Tresen mit meinen Tränen volltropfen konnte. Renate hielt mich am Arm fest.

»Falls es dir weiterhilft, mein Angebot wegen der Küche steht noch. Fang an, wann du willst.«

»Ich denk drüber nach, sobald ich den Kopf frei hab.«

»Tu das, nur kein Stress.«

Würde Renate zu den Personen gehören, die sich umarmen ließen, wäre jetzt ein guter Moment dafür gewesen.

 

Den Verdacht der Ärzte auf Multiple Sklerose behielt ich erst mal für mich. Hannes würde ohne Frage in Panik geraten, wenn ich ihm davon erzählte, und das Letzte, was ich gebrauchen konnte, war, dass wir uns gegenseitig in unserer Angst hochschaukeln würden und sie sich so ins Unendliche multiplizierte. Außerdem war ich von dem absurden Gedanken besessen, dass es wahr werden würde, wenn ich es erst einmal ausgesprochen hätte. Ich erwähnte lediglich, dass ich einige Untersuchungen hatte durchführen lassen, weil ich so ein komisches Gefühl im Arm hatte, behauptete aber, dass alles in Ordnung sei.

Hannes gab sich Mühe und kochte abends meine Lieblingsgerichte: Linsensuppe, Ofengemüse und mit Grünkern gefüllte Paprika. Er erinnerte mich an einen Hund, der Wurst geklaut hatte und sich wegen seines schlechten Gewissens unauffällig, aber zuvorkommend verhielt. Aus seinen Äußerungen schloss ich, dass er dachte, meine schlechte Stimmung hinge ausschließlich mit seinem Auszug zusammen, und ich ließ ihn in dem Glauben. Am letzten Tag vor unserer Abreise lud er Freunde ein.

»Lasagne und Wein, das wird fein!«, reimte er und grinste verlegen.

»Ich kann die Lasagne machen.«

Kochen hatte mich schon immer beruhigt. Mich an einem Rezept entlangzuhangeln, das mir Schritt für Schritt erklärte, was als Nächstes kam. Ich hatte zwei Jahre in der Küche eines Bistros gejobbt und das anfangs eher übersichtliche Angebot um einige ausgefallene Gerichte erweitert. Und seit Jahren war ich Teil einer Küche-für-alle-Gruppe, die jeden Dienstag in einem sozialen Zentrum für alle kochte, die Lust auf günstiges, leckeres Essen in netter Gesellschaft hatten. Es war die einzige Gruppe, die mir nicht nach kürzester Zeit zu viel war.

»Schreib auf, was du brauchst, ich kauf ein. Heut geht alles auf mich!«, sagte Hannes und knuffte mich gegen die Schulter.

Als seine Schritte im Treppenhaus verklangen, kramte ich meinen Rucksack aus dem Kabuff neben der Haustür. Es war keiner dieser bunten Plastikrucksäcke, sondern ein ausgeblichener Armeerucksack, der meinem Vater gehört hatte. Nach seinem Tod bewahrte meine Mutter den Rucksack in einer Truhe mit anderen Erinnerungsstücken auf. Seitdem ich vierzehn war, begleitete er mich auf meinen Reisen. Ich stopfte alles hinein, was ich mit nach Spanien nehmen wollte.

Meine Symptome waren dank des Kortisons, das ich im Krankenhaus verabreicht bekommen hatte, fast verschwunden. T-Shirts, Regenjacke, kurze Hose. Ich wollte daran glauben, dass die Taubheit im Arm nicht wiederkäme, war entschlossen, meine Gedanken und Gefühle so weit zu kontrollieren, dass kein Platz blieb für Paranoia. Socken, Unterhosen, Sonnencreme. Doch wie sich mein Körper in Zukunft verhalten würde, wann und wie die Krankheit, die vielleicht in mir lauerte, wieder zuschlagen würde, war nicht absehbar. Zum Schluss packte ich meine Zeichensachen und den Schlafsack ein und duschte das erste Mal seit Tagen.

 

Es war einige Monate her, seit ich das letzte Mal meine Familie besucht hatte. Meine Mutter wohnte noch immer gemeinsam mit meiner zehn Jahre jüngeren Halbschwester in dem Haus, in dem ich aufgewachsen war. Ich war zwei gewesen, als meine Mutter mit mir aufs Dorf gezogen war und die alte Dorfschule