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Fynn ist ein ganz normaler Junge, der im Alter von 14 Jahren nach der Schule von dämonenhaften Gestalten angegriffen wird. Im letzten Moment wird er von der jungen Hexe Jennica auf einem fliegenden Pegasus gerettet. Schnell stellt sich heraus, dass Fynn alles andere als ein normaler Junge ist, als er eine neue Welt voller Zauberei und Magie betritt. Gemeinsam mit Jennicas Bruder Ed, begeben die Drei sich auf waghalsige und spannende Abenteuer, um herauszufinden, wer Fynn in Wirklichkeit ist und wer es auf ihn abgesehen hat.
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Seitenzahl: 537
Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Prolog
Die Sauerbeins & Gouda
Zimmer Nr. 16
Zum Singenden Frosch
Der Ausflug in die Stadt
Der etwas andere Unterricht
Ein wilder Ritt
Die Hütte im Wald
Besenball
Das Verschwinden von Lady Linnea
Das magische Weihnachtslied
Die Hamburger Harpyien
Der kopflose Hahn
Der Speicher des Wissens
Der Angriff der Streifenhörnchen
Flüssige Luft
Der doppelte Ball
Ambrosia
Die Perle der Wahrheit
Geburtstagstorte und Geheimnisse
Impressum
T
ränen rannen ihr über das Gesicht, als sie das Kind in ihren Armen betrachtete. Das Kleine war kaum mehr als ein Jahr alt und doch musste sie sich von ihrem Kind verabschieden.
»Ich liebe dich, mein Sohn«, flüsterte sie ihm ins Ohr und drückte das Bündel noch einmal fest an ihr Herz.
Ihre Eingeweide verkrampften sich und der Kloß in ihrem Hals drohte sie zu ersticken. Sie versuchte die Gedanken an den baldigen Abschied und ihre Trauer um ihr Kind zu verdrängen und zwang sich weiterzugehen.
Der frische Wind in dieser Nacht wehte durch ihren Umhang und ließ sie erschaudern. Der Wald war in dunkles Blau gehüllt und es war so leise, dass sie jedes Blatt und jeden Ast unter ihren Füßen knacken hören konnte. Hier und da schrie eine Eule oder heulte ein Wolf in der Ferne. Ein Blick in die Sterne sagte ihr, dass sie sich beeilen musste, wenn sie es noch rechtzeitig schaffen wollte.
Nach einer Weile hatte sie ihr Ziel erreicht. An dem Fluss angekommen stieg sie die Böschung herab und kniete sich nieder, um etwas Wasser in einem Flacon aufzufangen.
Im Lichte des Mondscheins zog sie einen kleinen Beutel aus ihrem Umhang hervor und breitete die Gegenstände vor sich aus: das silberne Armband ihres Vaters, den Flacon mit dem Wasser aus dem Fluss und ein Tuch mit einem ihrer Blutstropfen.
Sie packte alle Gegenstände in eine kleine kristallene Schale auf das Moos am Boden und legte behutsam ihr schlafendes Kind daneben, schloss ihre Augen und bewegte ihre Hände in kreisenden Bewegungen darüber, während sie die Worte sprach »Velum Obscurum!«
Als sie die Augen wieder öffnete, war dort im Moos nur noch eine kleine plattgedrückte Stelle, an der eben noch die Schale und ihr Kind gelegen haben. Sie wusste nicht, was für ein Leben er führen würde, aber er würde leben.
U
nnatürlich helles Licht durchflutete den Raum als die Stimme brüllte: »Aufstehen, ihr Nichtsnutze!«,
Fynn rieb sich den Schlaf aus seinen blauen Augen und begann langsam sich auf dem Bett aufzurichten. Wie jeden Morgen musste er sich erst einmal strecken und massierte sich den Rücken. Er war gerade einmal 14 Jahre alt aber die Betten im Schlafsaal seiner Pflegefamilie waren so durchgelegen, als hätten sie in einem früheren Leben ausgewachsene Elefanten beherbergt. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es kurz nach 5 Uhr morgens war. Entnervt ließ er sich zurück aufs Bett fallen. Sie hatte es schon wieder getan! Seine Pflegemutter hatte seit einigen Monaten die grausame Angewohnheit ihn und seine fünf Pflegebrüder zu dieser Zeit zu wecken, damit sie vor der Schule noch die Hausarbeit erledigen konnten. So fanden sie jede Woche einen neuen Plan in ihrem Zimmer, wer verantwortlich war für das Frühstück, die Wäsche, Putzaufgaben oder den Hund auszuführen.
Am liebsten führte Fynn den Hund aus, einen alten schielenden Mops namens Gouda, benannt nach dem Lieblingskäse des Tieres. Das so schien ihm, war das einzige Kind, das seine Pflegeeltern wirklich liebten.
Im Alter von acht Jahren kam er zu Herrn und Frau Sauerbein, die Kinder offenbar nur wegen des Geldes aufnahmen, anders konnte Fynn es sich nicht erklären, denn von Herzlichkeit fehlte bei ihnen jede Spur. Herr und Frau Sauerbein waren ein 50 Jahre altes Ehepaar und beide sahen sich zum Verwechseln ähnlich. Beide hatten kurzes braun-graues Haar, welches sich in Locken über die Ohren kräuselte, tiefe Falten um den Mund herum welche von einem Leben in ständigem Missmut zeugten und lange spitze Nasen, die sie am liebsten in fremde Angelegenheiten steckten.
Mit aller Kraft raffte er sich auf, schlüpfte in seine Hausschuhe und schlurfte hinüber zur Tafel, um zu schauen, welche Aufgaben er diese Woche zu erledigen hatte. Er ging alle Namen durch und hatte Glück, er durfte diese Woche Gouda ausführen.
»Nicht schon wieder!«, hörte er Alex fluchen, der für den Frühstücksdienst eingeteilt war.
Diese Aufgabe hassten alle Jungs, denn die Ansprüche von Herrn und Frau Sauerbein waren schwindelerregend hoch und die zusätzliche Arbeit am Morgen bedeutete auch, dass man noch vor allen anderen aufstehen musste.
Man könnte meinen, dass das schwere Schicksal der Jungen diese enger zusammenbrachte, aber es war genau das Gegenteil. Der Junge, der die Aufgaben am besten, schnellsten und mit den wenigsten Wiederworten erledigte, erarbeitete sich Privilegien: eine Stunde am Computer spielen oder ein Stück Kuchen. Daher versuchte jeder der Jungen ganz besonders gut dazustehen, auch wenn das hieß, die anderen mit allen Mitteln in die Pfanne zu hauen. So hatte Alex in der Vergangenheit den Ofen heißer gestellt, als Fynn die Frühstücksbrötchen backen sollte, woraufhin diese verbrannten, er eine Woche Hausarrest bekam und das Geld für die Brötchen ihm vom Taschengeld abgezogen wurde.
Er zog sich an, packte seine Schultasche und ging hinunter ins Wohnzimmer. Dort saßen Herr und Frau Sauerbein bereits in ihren Sesseln, lasen Zeitung und ließen sich von Alex den morgendlichen Kaffee und ihr Frühstück bringen. Mit sehnsüchtigem Blick schaute Fynn dem Teller mit dampfenden Waffeln nach, der an ihm vorbeigetragen wurde. Die beiden blickten auf und Herr Sauerbein rieb sich die Hände.
»Ah, die sehen vorzüglich aus Alex! Sehr gut hast du das gemacht. Und zur Belohnung darfst du dir auch eine halbe Waffel nehmen«, verkündete er großzügig und verteilte Schlagsahne auf seinem Teller.
Am Tisch der Jungen brach ungehaltenes Gemurmel aus während sie neidisch auf Alex Teller schauten, denn wie jeden Morgen gab es für die anderen eine Schüssel Cornflakes. Fynn schlang seine Schale hastig hinunter und machte sich dann auf die Suche nach Gouda für seinen Spaziergang vor der Schule. Der Hund schlief auf einem Kissen, das zu Füßen von Frau Sauerbeins Sessel lag.
»Ich bin heute Nachmittag wieder bei der Mathe-Nachhilfe«, sagte Fynn, während er den Hund anleinte.
»Sehr gut und pass besser auf. Wehe dir, dass wir deinetwegen noch einmal in die Schule zitiert werden! Peinlich war das, hochgradig peinlich. Du hast unseren guten Namen besudelt du kleiner Nichtsnutz«, schnaubte sie so verächtlich, dass ihr ein paar Krümel aus dem Mund fielen.
Fynn war in Mathe nicht besonders gut und daher wurden seine Pflegeeltern vor kurzem zum Sprechtag in die Schule gebeten, um über seine Noten zu sprechen. Das hatte den Beiden gar nicht gefallen.
Zum einen sahen sie jede Minute, die sie in einen der Jungen investieren mussten, als verschwendet an und zum anderen fühlten sich nun beide in ihrer Ehre tief verletzt.
Er versuchte auch sich mehr anzustrengen, aber zur Nachhilfe ging er trotzdem nicht. Diese Ausrede hatte er sich ausdenken müssen, damit er nach der Schule noch ein paar Stunden in dem kleinen Kiosk des Viertels aushelfen konnte. Eine Sportart oder Musikgruppe konnte er nicht als Ausrede verwenden, da sie ihm diese bei jeglichem Anzeichen von Freude sofort verboten hätten. Und wüssten sie, dass er dort ein wenig Geld verdiente, hätte er es sofort abgeben müssen.
»Los Gouda, komm mit«, animierte Fynn den pummeligen Mops, der noch friedlich auf seinem Kissen döste und zog ihn an der Leine in Richtung Tür.
Draußen war es noch immer dunkel und alles war von Reif überzogen. Es fröstelte ihn, aber er musste für mindestens 15 Minuten aus dem Haus sein, sonst würde es wieder Ärger geben. Er schlug seine übliche Route ein und verlor sich mit jedem Schritt, den er sich von seinem Wohnhaus entfernte, weiter in seinen Gedanken. Vor einiger Zeit hatte er den Entschluss gefasst, dass er bald weggehen würde.
Er wusste noch nicht genau wohin oder wie er es schaffen könnte, aber er würde es probieren, denn überall war es besser als hier. An einigen Tagen trug er sein Schicksal schwerer als an anderen, so gab es Zeiten da wünschte er sich nichts sehnlicher als liebende Eltern zu haben. Menschen, die ihn so akzeptierten wie er war und für ihn da wären, wenn er sie brauchte.
Vor einigen Jahren lebte er bei einer älteren Dame namens Marina als Pflegekind und dort hatte er es viel besser. Er konnte sich nicht mehr besonders gut an sie erinnern, aber es war trotzdem die beste Zeit seines Lebens gewesen. Als Fynn acht Jahre alt wurde zog sie wegen zahlreicher Krankheiten in den Süden Frankreichs zu ihren erwachsenen Kindern.
Das abrupte Stocken an der Leine beendete sein Schwelgen in Erinnerungen und holte ihn zurück in die Gegenwart. Gouda war stehengeblieben und schnüffelte an einem kahlen Busch, als gäbe es nichts Interessanteres auf der Welt für ihn. Fynn blickte sich um und erkannte, dass er bereits die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht hatte und sich nun vor dem Haus eines Mitschülers befand. Gouda drehte sich ein paar Mal schnüffelnd im Kreis und Fynn wusste genau was nun folgen würde: der Hund würde genau hier sein großes Geschäft verrichten.
Er blickte sich um und schaute, ob jemand ihn beobachtete. Als er niemanden sah, war er ziemlich in Versuchung den Haufen dort einfach liegen zu lassen. Es war einer seiner Mitschüler, die ihn andauernd auf dem Kieker hatten und keine Gelegenheit ausließen ihn fertig zu machen. Keine Menschenseele war zu sehen und er würde rasch wieder in der Dunkelheit verschwinden. Dann blickte er in Goudas schiefes Gesicht, der ihn hechelnd und erwartungsvoll anstarrte.
»Schon gut, schon gut. Ich weiß Gouda, wir sind anständige Menschen. Schau mich nicht so an«, sagte Fynn resigniert und tat seine Pflicht.
»Weißt du, manchmal habe ich das Gefühl, dass ich nur mit dir wirklich sprechen kann. Du verstehst mich«, seufzte Fynn und die beiden liefen nun eiligen Schrittes wieder zurück zum Haus der Sauerbeins.
Dort angekommen entließ er den Hund in das warme Innere, schnappte seine Schultasche und schwang sich auf sein Fahrrad.
In der Schule herrschte bereits wildes Getümmel und Fynn ließ sich vom Strom seiner herumlaufenden Mitschüler vorantreiben.
Als erstes hatte er eine Doppelstunde Geschichte, die Zeit nutzte er meist, um Hausaufgaben zu erledigen, die er wegen seines Nebenjobs nicht mehr geschafft hatte. Er setzte sich verstohlen auf einen der hintersten Plätze und wartete darauf, dass seine Geschichtslehrerin sich wie üblich so in das Unterrichtsthema vertiefte, dass sie erst mitbekam, dass es zur Pause geläutet hat, wenn das Klassenzimmer bereits komplett leer war.
Beim Mittagessen saß er allein auf einer Bank und holte das trockene Brot aus seiner Brotdose heraus und versuchte es mit großen Schlucken Wasser herunterzuspülen. Gerade wollte er sich auf den Weg zurück ins Schulgebäude machen, da hörte er Stimmen aus einer Ecke des Hofes kommen.
»Gib das wieder her!«, piepste eine jungenhafte Stimme gefolgt von schallendem Gelächter.
Fynn ging ein paar Meter hinüber, um zu sehen, was dort vor sich ging. Diese Ecke des Schulhofs konnte man auch im Winter schlecht einsehen, da sie umringt von dichten Nadelbüschen recht abgeschieden lag. Meist trafen sich hier ein paar ältere Schüler, um heimlich Zigaretten zu rauchen oder wie jetzt, um jüngere Mitschüler zu drangsalieren.
Eine Gruppe von vier älteren Jungen umzingelte einen viel kleineren Jungen, dessen Augen nun panisch hinter seinen Brillengläsern hin und her huschten.
»So und jetzt gibst du uns brav dein Geld und deinen Laptop«, sagte einer der Jungen und streckte erwartungsvoll die Hand aus.
»Aber...aber...den Laptop habe ich gerade erst für ein Schulprojekt ausgeliehen. Der gehört mir gar nicht«, sagte der kleine Junge mit zitternder Stimme.
»Na siehst du, dann wirst du ihn auch gar nicht vermissen«, grunzte der Eine und hielt ihm weiterhin seine geöffnete Hand entgegen.
»Nun mach schon, wird’s bald!«, forderte er nun sichtlich ungeduldiger.
Fynn musste solche Szenen schon öfters beobachten doch noch nie war er so rasend vor Wut wie heute. Bevor er wusste, was er tat, schob er mit einer Hand einen Zweig der Hecke beiseite und trat zum Vorschein. Alle drehten sich zu ihm um und allen stand die Überraschung ins Gesicht geschrieben.
»Lasst ihn in Ruhe, ich meine es ernst. Vier gegen Einen, fühlt ihr euch jetzt stark, oder was?«, hörte er sich sagen aber ihm war, als würde eine andere Person aus ihm heraus das Wort ergreifen.
Der Anführer der Bande ließ den Arm des Jungen los, den er ein paar Sekunden vorher gepackt hatte. Wie eine kleine Maus, die gerade noch einmal der Falle entkommen war, rannte der Junge los und war auf und davon. Er trat nun näher an Fynn heran, die Augen zu Schlitzen verengt.
»Keine Ahnung für wen du dich hältst, aber jetzt erteile ich dir eine Lektion, die du so schnell nicht mehr vergessen wirst!«
Kaum hatten die Worte seinen Mund verlassen, wurden Fynns Arme zu beiden Seiten festgehalten und er bekam einen so heftigen Schlag auf die Nase, dass er für einen Augenblick Sterne sah. Als nächstes fiel er auf den Boden und sah vier paar Füße an ihm vorbeiziehen.
Danach war auf dem kleinen Hof Ruhe eingekehrt. Fynn sammelte sich und tastete mit den Fingern sein Gesicht ab. Ein kleines Rinnsal von Blut floss aus seinem rechten Nasenloch, aber es schien nichts gebrochen zu sein. Er setzte sich auf und war wie vom Donner gerührt, was war in ihn gefahren? Den meisten Konflikten konnte er bisher irgendwie aus dem Weg gehen. Wollte jemand sein Taschengeld haben, so hat er es ihm überlassen. Wollte jemand seine Hausaufgaben abschreiben, so hat er sie gelassen. Ein erneutes Läuten signalisierte, dass die nächste Unterrichtsstunde begonnen hatte. Er raffte sich auf, strich sich den Schlamm von seinen Kleidern und ging eiligen Schrittes zurück ins Gebäude. Wenn er Pech hatte, würde er sich für sein Zuspätkommen Nachsitzen einhandeln und das konnte er heute überhaupt nicht gebrauchen.
D
icke Regentropfen liefen Fynn an diesem Nachmittag übers Gesicht, als er sich mit dem Fahrrad auf dem Weg zum Kiosk machte und erschwerten ihm die Sicht. Das Wasser spritzte ihm bis zu den Knien, als er durch die Pfützen fuhr. In diesem Moment wünschte er sich nichts sehnlicher, als irgendwo im Warmen am Kamin zu sitzen. Wie schön es wohl wäre, sich dort die durchgefrorenen Zehen aufzuwärmen und eine heiße Schokolade zu trinken. Aber es half alles nichts, wenn er irgendwann diese Stadt verlassen wollte, musste er Geld verdienen. Bis er dort ankommt ist er nass bis auf die Knochen, dachte er sich. Wieso hatte er nochmal seinen Regenmantel nicht mitgenommen?
Er bog ab auf die Marktstraße, welche zu dieser Uhrzeit voll mit Autos auf dem Heimweg von der Arbeit waren. Hin und wieder rauschte eines besonders nah an ihm vorbei und bespritzte ihn mit einer ordentlichen Portion Wasser. Bei seiner Ankunft dämmerte es bereits und überall begannen die Lichter in den Häusern zu brennen und Straßenlaternen flackerten nacheinander auf. Die Dunkelheit legte sich an diesem verregnetem Novembertag schwer auf die kleine Stadt und hüllte alles in ein undurchdringliches grau.
Endlich war er angekommen, stellte sein Rad an der Hintertür ab, schloss es an den rostigen Fahrradständer an und ging hinein.
Er durchquerte den Laden und ging auf den Tresen zu, an dem die Ladenbesitzerin Frau Witter stand, eine untersetze Frau um die 60 Jahre alt, mit einem rundlichen Gesicht, einer viereckigen Brille und einem unvergleichlich unangenehmen Charakter. Zunächst bemerkte sie ihn nicht, blickte jedoch auf als das tröpfelnde Geräusch seiner nassen Kleidung sie aus den Gedanken riss.
»Um Himmelswillen! Wie siehst du denn aus?«, entfuhr es ihr und sie musterte ihn von oben bis unten.
Fynns blondes Haar klebte klatschnass an seinem Kopf und sein Gesicht war gerötet von der schneidenden Kälte. Mit ein paar schnellen Schritten war sie um den Tresen herumgetreten und begann ihn mit dem Kugelschreiber in ihrer Hand in Richtung Pausenraum zu drängen.
»Geh nach hinten und zieh dir deine Schürze an!«, sagte sie und deutete auf die Tür zum Hinterzimmer. »Ich bezahle dich schließlich nicht fürs Rumstehen. Und nimm dir noch einen Müsliriegel, die können wir im Laden nicht mehr verkaufen – die sind abgelaufen!«
Fynn biss sich auf die Zunge, denn von »Bezahlen« konnte bei seinem Stundenlohn kaum die Rede sein.
Er trottete hinüber zur Tür und bei jedem Schritt machten seine Turnschuhe ein schmatzendes Geräusch und kleine Schaumblasen quollen aus ihnen hervor. Er betrat das schmale Hinterzimmer, welches gleichzeitig als Pausenraum genutzt wurde aber eher die Größe einer Besenkammer hatte. Es war gerade genug Platz für einen Spind, einen Tisch mit zwei klapprigen Stühlen, einer kleinen Küchenzeile mit einem Wasserkocher und einer Kaffeemaschine. Er öffnete mit einem Seufzer die quietschende Tür des Spindes und holte einen Kleiderhaken heraus. Daran hing die ausgeleierte und schmuddelige Schürze schlaff herunter.
Die Arbeit hier machte ihm keinen Spaß, aber es war die einzige Möglichkeit, um für seine Flucht aus dieser Stadt Geld zu sparen. Vor einigen Wochen war Fynns sowohl bester als auch einziger Freund mit seiner Familie weggezogen und diese Lücke in seinem Leben spürte er nun jeden Tag schmerzlich aufs Neue. Gemeinsam hat sich die Einsamkeit gut ertragen lassen, dachte Fynn wehmütig. Doch nun war sein Freund weg und er musste sich allein den Grausamkeiten seiner Mitschüler stellen.
Das Rufen von Frau Witter riss Fynn aus seinen Gedanken und plötzlich bemerkte er seinen knurrenden Magen. Er hatte seit dem Mittag nichts mehr gegessen und nahm sich noch einen Müsliriegel aus dem Karton auf dem Tisch. Rasch zog er sich um und schlang mit hastigen Bissen den Riegel hinunter. Mit ein paar Schritten durchquerte er den Raum und schloss die Tür hinter sich. Kaum hatte er das kleine Zimmer verlassen stieß sie ihm eine Kiste mit Konserven so heftig in den Magen, dass er einen Atemzug aussetzte und anfing zu husten.
»Räum die Konserven ein, Junge«, herrschte sie ihn an. »Die Jugend von heute ist einfach nichts mehr gewohnt, empfindliche kleine Dinger sind das«, murmelte sie mit schüttelndem Kopf.
Nachdem er ein paar Atemzüge genommen hatte, begann er damit Dose um Dose einzusortieren während der Regen unermüdlich gegen die Fensterscheiben prasselte und der dunkle Abendhimmel hier und da von einem grellen Blitz erhellt wurde. Nach einer Weile blickte Fynn auf, da Frau Witter neben ihm erschienen war.
»Ich muss schnell noch etwas im Rathaus erledigen«, sagte sie und blickte ihn über ihre eckigen Brillengläser hinweg an. »Ich weiß ganz genau, wieviel Geld in der Kasse ist, ich habe es nachgezählt.
Und wenn auch nur ein Cent fehlt ziehe ich dir diesen vom Lohn ab!«, sie hob drohend den Finger und funkelte ihn an.
»Hmm ok« Fynn nickte und beobachte sie beim Gehen. Kein einziges Mal hatte er Geld aus der Kasse genommen oder etwas aus dem Laden in seine Taschen verschwinden lassen, trotzdem durfte er sich jedes Mal eine Predigt anhören, sobald sie sich auch nur mehr als ein paar Meter von ihm entfernte. Auf dem Weg nach draußen drehte sie sich noch einmal um und warf ihm einen misstrauischen Blick zu, bevor das Klingeln der Glocke an der Tür sie in die Dunkelheit entließ. Er hatte gerade erst die letzte Büchse einsortiert, da schellte die Glocke erneut.
»Haben Sie etwas vergessen?«, fragte Fynn und richtete sich auf.
»Nicht ganz«, bellte eine vertraute Stimme gefolgt von dem Gelächter einiger Jungen.
Bitte nicht. Das war alles, was Fynns Gehirn zustande brachte. Kaum konnte er über die Regale schauen sah er sie: die Jungs aus seiner Schule mit denen er nach der Mittagspause bereits aneinandergeraten war.
»Was wollt ihr hier?«, fragte Fynn und blickte die drei finster an.
»Ach, na sieh mal einer an, wen haben wir denn da?«, gluckste der Anführer und glitt mit seinen Fingern über den Tresen, während sie eintraten.
»Da Omi aus dem Haus ist, dachten wir du könntest uns ein paar von denen da spendieren!«, sagte ein anderer Junge und deutete mit dem kurzgeschorenen Kopf auf die Schachteln mit Zigaretten hinter der Kasse. Mit »Omi« meinte er offenbar Frau Witter, denn er äffte ihren typischen Blick nach, sobald Kundschaft den Laden betrat. Der Rest stimmte in zustimmendes Nicken und Gemurmel ein.
»Da muss ich euch leider enttäuschen, schon wieder«, sagte Fynn bestimmt und blickte sie scharf an.
»Hört hört!«, prustete ein anderer los. »Und wer soll uns aufhalten? Du? Hast wohl deine Lektion immer noch nicht gelernt. Willst du uns mit deiner hässlichen Schürze blind machen, oder was? Da bekommen wir aber Angst«
Die Gruppe brüllte vor Lachen, Tränen rannen ihnen über ihre verzerrten Gesichter und sie klopften sich keuchend auf ihre Schenkel. Fynn versuchte sich nichts anmerken zu lassen, doch sein Herz begann nun immer schneller zu schlagen und seine Nackenhaare stellten sich auf. Was konnte er schon ausrichten?
Sie waren immerhin zu viert und bei ihrem Anblick begann seine Nase wieder zu schmerzen. Kaum war das Gelächter verstummt, trat der Bulligste aus der Gruppe nach vorne und massierte sich die Fingerknöchel während er Fynn mit knirschenden Zähnen direkt in die Augen sah.
Er selbst war nicht besonders kräftig und fand sich auch nicht besonders mutig. Genau aus diesem Grund war er selbst erstaunt über die Worte, die er sich sagen hörte und das heute schon zum zweiten Mal. Der Schwall von Stolz, der ihn überkam, beflügelte ihn und er stellte sich mit beiden Beinen fest auf den Boden und machte sich bereit auf das, was nun folgen würde. Gerade als der eine Junge sich auf den Weg um den Tresen herum machte, ertönte draußen die Sirene eines Polizeiautos. Die Gruppe verharrte kurz und lauschte. Als die Sirenen immer näher kamen begannen sie sich langsam auf den Weg zur Tür zu begeben.
»Wir sind hier noch nicht fertig«, knurrte einer der Jungen und schlug die Ladentür hinter ihnen zu. Fynn atmete auf und ließ sich auf den Hocker hinter sich zurückfallen. Gerade noch einmal Glück gehabt. Hätte er es wirklich mit ihnen aufgenommen, wenn die Polizeisirenen sie nicht verscheucht hätten? Er schob den Gedanken beiseite und machte sich daran, den Kassentresen zu schrubben.
Wenn er sich beeilte, könnte er heute Abend vielleicht pünktlich nach Hause gehen und er hätte noch genug Zeit, um am Computer zu spielen, bevor einer seiner Pflegebrüder ihn wieder für Stunden besetzen würde.
Mit dem alten Lumpen begann er den Tresen zu schrubben, wie er es schon einige Male getan hatte. Einmal war noch etwas Erde auf der Platte liegen geblieben, nachdem ein Kunde einen Bund Karotten gekauft hatte. Kaum hatte der Kunde den Laden verlassen, rauschte auch schon Frau Witter heran: »Betreibe ich eine Zoohandlung oder warum sieht es hier aus wie im Schweinestall?! Wenn ich das noch einmal sehe, ziehe ich dir die Hälfte deines Stundenlohns ab!«
Seither achtete er stets darauf, dass er auch wirklich jeden Fleck und jeden noch so kleinen Krümel erwischte. Im Augenwinkel sah er das Flackern einer Lampe in der Nähe der Hintertür.
»So ein Mist. Das Teil habe ich allein in den letzten vier Wochen schon dreimal gewechselt!«, er griff sich eine Glühbirne aus der Schublade hinter dem Tresen und wollte sich aus dem Pausenraum alias Besenkammer noch eine Leiter holen, da begannen plötzlich alle Lampen im Laden zu flackern.
Fynn blieb verdutzt stehen und blickte sich fragend um. Und dann plötzlich, mit einem Mal gingen alle aus. Sein erster Gedanke war, dass Frau Witter vergessen haben muss die Stromrechnung zu zahlen. Das war ihr vor einiger Zeit schon einmal mit dem Wasser passiert, doch da kamen nur viele Briefe mit der Post und jemand von den Stadtwerken rief bei ihnen an. Denn dieselben Ansprüche, die sie an Fynn hatte, galten offenbar nicht für sie.
Er arbeitete noch nicht lange in dem kleinen Laden, doch er hatte einmal aufgeschnappt, wie sich zwei ältere Kundinnen flüsternd in einer Ecke unterhielten: »Die Gute Frau Witter hat auch nicht mehr dasselbe Gedächtnis wie früher.«
Fynn blickte nach draußen und sah nun, dass auch jede Straßenlaterne und die Fenster in den Häusern erloschen waren, es musste also ein Stromausfall sein. Bestimmt hat das etwas mit dem Gewitter zutun, dachte er sich. Vielleicht war ein Baum von einem Blitz getroffen und auf einen Strommasten gekippt, ja das musste es sein. Wie praktisch, dass sie im Laden auch Kerzen und Feuerzeuge verkauften. Mit ausgestreckten Händen tastete Fynn sich an den Regalen lang in Richtung Eingangstür, wo sich die Auslage mit den Feuerzeugen befand.
Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit und nachdem er ein Feuerzeug gegriffen hatte, machte er sich mit sicheren Schritten auf den Weg entlang am Schaufenster zu dem Regal mit den Kerzen.
Als er an dem Schaufenster mit Sicht zur Straße entlangging, durchzuckte ein heller Blitz den Abendhimmel und erleuchtete für einige Sekunden die Umgebung. Und was Fynn dort sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Für den Bruchteil einer Sekunde hätte er schwören können, dass er vor dem Fenster ein paar Gestalten ganz in schwarz gesehen hat. Sein erster Gedanke war, dass die Bande aus seiner Schule zurückgekommen sein musste, um ihre offene Rechnung mit ihm zu begleichen.
Es folgte ein ohrenbetäubender Donner gefolgt von einem weiteren Blitz, das Gewitter musste sich nun direkt über der Stadt befinden. Fynn kniff die Augen zusammen, um im Licht des zweiten Blitzes einen genaueren Blick auf die Szene zu erhaschen, die sich draußen vor dem Fenster abspielte. Was er dort sah, konnte er einfach nicht glauben: es waren schwarze Gestalten, vier oder fünf an der Zahl, aber es waren nicht die Jungen aus der Schule, sondern in schwarz gekleidete Ritter.
Instinktiv wich er rückwärts vom Fenster zurück und prallte dabei gegen ein Regal, aus dem scheppernd Getränkedosen fielen. Die Ritter waren groß, sehr groß – bestimmt über zwei Meter und aus den Schlitzen, wo ihre Augen hätten sein sollen, funkelte es rot-orange wie lodernde Flammen. Sein Herz begann zu rasen und seine Hände wurden eiskalt. Er wollte rennen, egal wohin aber seine Füße waren schwer wie Blei und wollten ihm einfach nicht gehorchen.
Ein Schrei voller Entsetzen entfuhr ihm, als sich die Gruppe der unheimlichen Gestalten mit schnellem Schritt direkt auf ihn zu bewegte. Lauf, schrie die Stimme in seinem Kopf, lauf um dein Leben. Eh er sich versah, lösten sich seine Füße vom Boden und er rannte so schnell er konnte zur Hintertür hinaus.
Draußen herrschte immer noch das Unwetter und der Wind trieb ihm eisige Kälte und schneidenden Regen ins Gesicht. Er rannte hinüber zu dem Fahrradständer, wo er vor einigen Stunden sein Fahrrad angeschlossen hatte. Dort angekommen riss er voller Panik an dem Lenker, aber das Fahrrad tat es seinen Füßen gleich und bewegte sich keinen Zentimeter. Panisch riss er den Kopf herum und blickte in die Richtung, aus der er gerade gekommen war.
»Verdammt!«, entfuhr es ihm.
Die Schlüssel vom Fahrradschloss hingen zusammen mit seiner anderen Jacke in dem Spind im Pausenraum. Er ließ den Lenker wieder los und im selben Augenblick sah er, dass die Gestalten sich bereits in dem Laden befanden und ihre Blicke ungebrochen auf ihm ruhten, während sie sich auf ihn zu bewegten. Als ihn nur noch wenige Meter von den unheilbringenden Kreaturen trennten, konnte er sich aus seiner Schockstarre lösen und begann zu rennen. Er rannte, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her.
Die Straßen waren stockfinster und er hatte Mühe sich zurechtzufinden, obwohl er sein ganzes Leben in der kleinen Stadt verbracht hatte, fühlte er sich jetzt wie ein Fremder. Keuchend schlitterte Fynn über die nassen Gehwegsteine um eine Ecke und versteckte sich hinter ein paar Müllcontainern. Seine Lunge brannte, aber er versuchte so ruhig wie möglich zu atmen und lauschte. Hier und da hörte er das Plätschern einer Regenrinne, aber sonst war es vollkommen still. Erst jetzt fiel ihm auf, dass es nicht mehr regnete und auch nur noch wenige Wolken am Himmel zu sehen waren. Er blickte sich um und erkannte, dass er sich zwei Straßen von Zuhause entfernt befand. Offenbar hatte er Zuflucht in der Einfahrt seines Mitschülers gesucht, wo er heute früh mit Gouda entlang spaziert war.
Jetzt musste er daran denken, wie dumm er wohl aussehen müsste, hier kauernd hinter ein paar Mülltonnen und was seine fiesen Mitschüler daraus machen würden. Wie lange müsste er ihre gehässigen Kommentare ertragen, wenn ihn jetzt jemand sehen würde. Auf einmal kam er sich blöd und kindisch vor. Er spähte über den Rand der Tonnen hinweg und konnte weit und breit niemanden sehen, es war alles wie ausgestorben.
Nach ein paar Atemzügen traute er sich sein Versteck zu verlassen und machte ein paar zögerliche Schritte in Richtung Gehweg. Wieder blickte er sich um und es war immer noch niemand zu sehen. Fynn ging weiter und versuchte das ungute Gefühl, das ihm den Rücken runterlief abzuschütteln. Nach ein paar Metern konnte er spüren, wie sich seine Muskeln entkrampften und sein Gang leichter wurde und er begann sich zu fragen, ob er sich das alles nur eingebildet hatte. Frau Witter würde ihm umbringen, wenn sie erfuhr, dass er sich während seiner Schicht aus dem Staub gemacht hatte und er könnte morgen gleich wieder mit der Jobsuche anfangen. Ein kalter Windstoß ließ ihn erschaudern und erst jetzt fiel ihm auf, dass er nichts weiter als sein T-Shirt und die Schürze trug, da begann es erneut leicht zu regnen.
Plötzlich hörte er hinter sich Geräusche, vielleicht 50 oder 100 Meter entfernt, die klangen wie das Getrappel von Pferdehufen. Er drehte sich um und was er dort sah, ließ ihn die Kälte und den Regen vergessen. Es waren vier Reiter, komplett in schwarz und mit flammenden Augen, diesmal saßen sie auf riesigen schwarzen Pferden. Eines der Pferde bäumt sich auf und wieherte laut während der Reiter auf ihm mit erhobenem Schwert erst nach oben und dann in Fynns Richtung wies. Das Schwert war von einem grauen Nebel umhüllt, als wäre es eine Mischung aus hartem Metall und grauem Dunst.
Fynn entfuhr ein spitzer Schrei und er rannte abermals los so schnell er konnte. Noch einmal drehte er sich um und sah, dass die Horde erbarmungslos zu ihm aufschloss und er wusste, dass ihm kein Ausweg mehr blieb.
Er richtete den Blick wieder nach vorne und wurde so heftig von etwas geblendet, dass er die Augen zusammenkneifen musste. In einem grellen Lichtblitz war etwas vor ihm erschienen, eine Gestalt und diese rannte auf ihn zu. Als er näherkam, erkannte er, dass es ein weißes Pferd mit einem in dunkelgrün gekleideten Reiter war und es sah fast so aus, als beugte sich die Person herunter und reiche ihm eine Hand.
»Spring auf!« rief eine Stimme und reichte ihm die ausgestreckte Hand.
Fynn stand da, wie vom Donner gerührt und blickte sich noch einmal um. Die schwarzen Reiter waren nun nur noch ein paar Meter entfernt und das Donnern ihrer Pferdehufen war ohrenbetäubend.
So schrie die Stimme nun lauter: »Spring auf, wenn du leben willst!«
Und das wollte er. Er packte den Arm und mit einem kräftigen Schwung saß er hinten auf dem Pferd auf. Das Tier wieherte laut und setzte mit einer beeindruckten Geschwindigkeit zum Sprint an, sodass Fynn fast rücklinks wieder heruntergefallen wäre.
Seine Finger krallten sich tief in den dunkelgrünen wollenen Umhang und er hielt sich mit aller Kraft fest. Es folgte eine wilde Verfolgungsjagd durch ein paar Straßen des Wohngebiets die ihren Höhepunkt an der Waldgrenze hatte, wo die vier bedrohlichen Gestalten sich auf ein paar Meter näherten und begannen ihre Hände nach Fynn auszustrecken. Er konnte bereits ein paar brennend heiße Fingerspitzen an seinem Arm spüren da drehte sich sein Retter ruckartig um.
»Es hilft alles nichts, sie sind zu schnell«, sagte er mit einem besorgten Unterton. »Paps wird mich umbringen... Flagrendare!« schrie die Person, zog einen langen dünnen Gegenstand hervor und streckte nun ebenfalls die Hand nach hinten aus.
Mit einem Mal schossen gelbe Lichtkegel hervor und begannen die umliegenden Bäume in Brand zu stecken. Die schwarzen Pferde ihrer Verfolger wichen mit einem panischen Ausdruck in den Augen zurück und begannen sich mit aller Kraft zur Wehr zu setzen. Auch die Reiter streckten nun nicht mehr ihre Hände aus, sondern verbargen mit diesen ihre Gesichter und in der weiter werdenden Entfernung hörte Fynn keuchende und schmerzverzerrte Geräusche ertönen. Ihr Pferd rannte unermüdlich weiter und hinter ihnen schien der Wald nun gänzlich in Flammen aufgegangen zu sein.
»Du brennst den ganzen Wald ab!«, schrie Fynn der sich zwar über die abgeschüttelten Verfolger freute aber der Anblick des brennenden Waldes, in dem er so oft mit Gouda spazieren gewesen war, ließ ihm das Herz schwer werden.
»Entspann dich«, entgegnete die Stimme lässig. »Das ist magisches Feuer, den Bäumen geht es gut. Magisches Feuer vertreibt Dämonen«.
Fynn glaubte seinen Ohren nicht und dachte er hätte sich verhört. Magisches Feuer? Dämonen? Wahrscheinlich war es der tosende Wind, der ihm hier einen Streich spielte.
Noch einmal erklang die Stimme und sagte nun ruhig: »Alles klar, ich glaube wir sind so weit. Volate Stella!«
Kaum waren die Worte ausgesprochen, da bemerkte Fynn an seinen Waden eine vibrierende Bewegung. Es fühlte sich an, als hätte das Pferd tausende Bienen verschluckt, die nun wild in dem Bauch des Tieres umhersummten und versuchten sich zu befreien. Gerade hatte Fynn den Gedanken beendet, begann tatsächlich etwas aus beiden Seiten des Pferdes hervorzustechen, ja herauszuwachsen. Er schaute gebannt nach unten und konnte im Dunkeln nur einen langen knochigen Auswuchs erkennen, der anscheinend mit Federn bedeckt war – es waren Flügel, große kraftvolle Flügel, die nun begannen, sich majestätisch auf und ab zubewegen.
Fynn konnte spüren, wie sie den Boden verließen und mit jedem Flügelschlag den Erdboden weiter hinter sich ließen. Das Gefühl, das ihn durchströmte, war unbeschreiblich. Er fühlte sich frei und einfach großartig, aber er war auch zutiefst verunsichert.
Er war noch nie in seinem Leben mit einem Flugzeug geflogen und seine letzte Erfahrung mit Pferden lag an die sieben Jahre zurück, als er auf einem Jahrmarkt beim Ponyreiten war.
Mit einem weiteren Blick nach unten verflog sein Hochgefühl schlagartig und er richtete sich ruckartig wieder auf als er feststellte, dass sie nun gut hundert Meter in der Luft waren.
»Noch nie auf einem Pegasus geflogen, was? Keine Sorge, man gewöhnt sich dran«, sagte seine Begleitung und blickte durch ein um den Kopf gebundenes Tuch nach hinten zu ihm. Sein Retter drehte schwungvoll eine Hand im Wind: »Ach du lieber Schmendrick! Du musst ja halb erfroren sein, das haben wir gleich. Venimo Umhang.«
Fynn hörte ein zischendes Flattern und aus der pechschwarzen Nacht flog ein wollener Mantel heran, der sich um seine Schultern legte. Sofort konnte er die durchdringende Wärme spüren, die von ihm ausging. Noch immer konnte Fynn keinen klaren Gedanken fassen. Was geschah hier, fragte er sich. Erst der Stromausfall in der ganzen Stadt, dann diese Gestalten die ihn verfolgten, magisches Feuer und jetzt ein Pegasus?
Gleich würde er in seinem Bett aufwachen und feststellen, dass das alles nur ein Traum gewesen ist. Oder vielleicht war er von dem Schlag auf die Nase ohnmächtig geworden oder der abgelaufene Müsliriegel lag ihm nun zu schwer im Magen und er halluzinierte. Etwas davon musste es sein.
»Wo fliegen wir hin?«, hörte er sich fragen noch während seine Gedanken rotierten.
»Nach Baumpfort, wir dürften auch bald da sein. Was denkst du denn?«, rief die Stimme dem peitschenden Wind entgegen.
Fynn beschloss, es vorerst dabei zu belassen, bevor er noch unbeabsichtigt eine dumme Frage stellte und kopfüber vom Pegasus geworfen würde. Er vermied den Blick nach unten und ließ seine Augen über den Horizont schweifen. Längst hatten sie die kleine Stadt hinter sich gelassen und flogen zusammen mit dem Wind über dichte dunkle Wälder, schimmernde Seen und hell erleuchtete Häuser hinweg. Staunend schaute Fynn herab auf die goldene Statue des Brandenburger Tores, als der Pegasus mit wehenden Flügeln über die Hauptstadt hinwegflog.
Von hier oben sah alles ganz klein aus, die dichten Straßen mit den vielen Autos, die sich durch den Verkehr drängten, die Menschen auf den Straßen, die wild hin und her gingen und von hier oben aussahen, wie kleine Spielzeugfiguren.
An der Spitze des Fernsehturms bogen sie so scharf ab, dass sie diese um ein Haar gerammt hätten und Fynn fast hinten runtergefallen wäre. Nachdem sie die helle Lichtkuppel verlassen hatten, die die Hauptstadt umgab, wurde der Himmel wieder dunkel und sie begannen wieder etwas tiefer zu fliegen, bis sie schließlich auf einer von großen Bäumen gesäumten Lichtung mit einem dumpfen Geräusch landeten.
Seine Begleitung spähte hin und her, als ob sie nach etwas suchen würde, nach irgendeinem Zeichen oder einem Wegweiser, bis ihr Blick einen großen bemoosten Stein traf. Sie packte Fynn am Ärmel, der mit wackeligen Beinen hinterherstolperte und blieb vor dem Stein stehen.
Dann schob sie ein kleines Stück Moos beiseite und legte ihre Hand in eine Vertiefung im Relief: »Appare.«
Der Stein begann zu rumpeln, zu wackeln und es knallte einmal laut, dass Fynn reflexartig die Augen zukniff. Als er diese wieder öffnete, sah er…nichts.
Er stand immer noch vor dem Stein auf einer kahlen dunklen Lichtung. Immer noch fest am Ärmel gepackt gingen sie ein paar Schritte in den kahlen Wald hinein und dann konnte er aus der Entfernung ein paar leuchtende Laternen erkennen, auf die sie zugingen.
Dort angekommen stellte er fest, dass dies keine gewöhnlichen Laternen waren, sondern diese waren selbst halbe Bäume, die geflochtenen Baumstämme waren der Pfahl und hinter dünnen durchsichtigen Blättern schimmerte ein schwaches Licht. Sie machten Halt zwischen einer Bank aus Felsstein und mehreren Baumstümpfen und als Fynns Begleitung seinen Ärmel losließ, plumpste dieser immer noch wackelig und erschöpft auf einen der Baumstümpfe herab. Er blickte hinauf und sah den dunkelgrünen Wollmantel nervös im Kreis gehen und vor sich hinmurmeln.
Mit einem beherzten Griff zog sein Retter sich den um den Kopf gebundenen Schal herunter und hervor kam ein Schopf mit langen dunklen Haaren: sein Retter war eine sie! Mit einem Seufzer nahm das Mädchen auf der Steinbank neben dem Baumstumpf platz, auf dem Fynn saß und sah ihn an. Obwohl das Licht nur schwach war, war er wie gebannt von ihren Augen: eines war braun und das andere schimmerte grün.
Nach einem Augenblick fiel ihm auf, dass er sie angestarrt hatte und blickte schnell zu seinen Füßen, doch sie schien so in ihre eigenen Gedanken vertieft zu sein das sie davon nichts mitbekommen hatte.
Nach einem stillen Moment fragte sie nun: »Wer bist du?« Dann schaute sie ihn erwartungsvoll an.
»Ich bin Fynn«, erwiderte er und zuckte mit den Schultern.
»Ja, aber Fynn wer? Was wollten die vier schwarzen Reiter von dir?«, fragte sie nun in einem etwas schärferem Ton. »Ich habe bei deiner Rettung sehr viel riskiert! Übrigens gern geschehen«, schloss sie etwas trotzig.
»Du hast Recht, Dankeschön. Aber ich kann dir leider nicht weiterhelfen. Ich bin Fynn, einfach nur Fynn. Wie jeden Tag war ich in der Schule, dann auf der Arbeit und dann auf einmal wurde ich von diesen übellaunigen Typen in schwarz verfolgt. Dann bist du aufgetaucht und jetzt stehen wir hier«, er seufzte und fühlte sich so schlecht wie seit langem nicht mehr.
Sie runzelte die Stirn und blickte sich hilfesuchend um. »OK, dann fangen wir ganz von vorne an. Ich bin Jennica und das ist meine Pegasus-Stute Stella«, sie zeigte auf den Pegasus den sie ein paar Meter weiter an einen Baum gebunden hatte. Das Tier scharrte mit den Hufen und riss die letzten welken Blätter von einigen Ästen ab.
Mit den Händen in die Hüften gestützt schritt sie nun auf und ab. »Die vier schwarzen Reiter erscheinen nicht ohne Grund, und vor allem nicht bei unbedeutenden Menschen in Kleinstädten. Also irgendwas muss es mit dir auf sich haben…«
»Hmm hmmm«, ertönte ein hüstelndes Räuspern. »Entschuldigung.«
Fynn schaute Jennica an und diese schaute ihn ebenfalls an, aber ihre Lippen bewegten sich nicht.
»Ich sagte ENTSCHULDIGUNG!«, tönte eine schnarrende Stimme nun etwas lauter.
Es schien jemand hinter ihm zu stehen und er drehte sich um, konnte aber niemanden sehen. Erst als sein Blick tiefer wanderte, konnte er einen kleinen Mann mit weißem langem Bart und einem spitzen rot glitzerndem Hut sehen.
»Du sitzt auf meinem Haus!«, sagte der Zwerg und wies mit der Hand auf den Baumstumpf auf dem Fynn Platz genommen hatte.
Als hätte ihm jemand eine heiße Nadel ins Gesäß gestochen, sprang er mit einem kleinen Hüpfer auf und machte dem Mann Platz. Dieser trat mit einem wackelnden Schritt näher an den Stumpf heran und kramte etwas aus seiner Tasche hervor.
In seiner Hand hielt er einen kleinen Marienkäfer, welchen er an ein Astloch hielt und dieser flott darin verschwand. Daraufhin klappte der Stumpf nach hinten und gab ein Loch im Boden preis.
»Schönen Abend!«, verabschiedete sich der Zwerg und war mit einem eleganten Schritt in dem Loch verschwunden.
Fynn hatte noch nie in seinem Leben einen anderen Zwerg als die hässlichen Teile aus Plastik im Garten der Sauerbeins gesehen und stand mit offenem Mund da. »War das…war das ein Zwerg?«, stammelte er, nachdem er seine Stimme wiedergefunden hatte.
»Ja, das war ein Zwerg«, antwortete Jennica. »Zusammen mit seinem Hausschlüssel dem Marienkäfer, die sind so einzigartig wie ein Schlüssel. Nicht alle Baumstümpfe sind Häuser der Zwerge«, sie blickte umher und zeigte auf einen der anderen neben ihr. »Hier, auf diesen kannst du dich setzen.«
Aber Fynn war nicht mehr danach sich hinzusetzen, er hatte zu viele Fragen und brauchte Antworten!
»Wo waren wir stehengeblieben? Ah, genau. Wir müssen herausfinden, was es mit dir auf sich hat und weshalb sie dich gesucht haben. Fürs erste sollten wir nach Hause gehen und ich muss wohl oder übel Mams und Paps erzählen was passiert ist«, sagte sie mit einem sorgenvollen Blick und ging hinüber zu Stella und schwang sich herauf.
Erneut reichte sie Fynn die Hand und er schwang sich hinter ihr hinauf. Während dem Ritt durch den schwach beleuchteten Wald sprachen sie kein Wort miteinander. Jennica grübelte wahrscheinlich darüber nach, was sie zuhause ihren Eltern erzählen würde, dachte Fynn. Zuhause…etwas, das Fynn seit vielen Jahren schon nicht mehr gehabt hatte und Eltern, diese hatte er noch nie. Bei den Sauerbeins konnte man wohnen, aber sein Zuhause war es nie gewesen. Würde das, was nun auf ihn zukam eventuell sogar noch schlimmer werden? Dieser Gedanke ließ ihn erschaudern und er machte sich plötzlich große Sorgen, weil er mit einer Fremden nachts quer durch einen unbekannten Wald ritt.
Er schob den Gedanken beiseite, als sie an einer großen Eiche Halt machten und abstiegen. Nun kramte auch Jennica in einer Tasche ihres Mantels herum und zog einen Gegenstand heraus, den Fynn aber nicht erkennen konnte.
Sie hielt diesen in eine kaum erkennbare Versenkung im Holz und ein Teil der Borke klappte nach hinten und er konnte eine Leiter ins Erdreich erkennen.
»OK Stella, du weißt was zu tun ist. Bis morgen früh!«, sie gab ihrem Pegasus mit einer Hand einen Klaps auf das Hinterteil und Stella galoppierte in den schwarzen Wald davon, während sie mit der anderen Hand Fynn vorantrieb in den ausgehöhlten Baumstamm zu gehen.
»Seid ihr auch Zwerge?«, fragte Fynn verwirrt.
»Sehe ich so aus?«, entgegnete Jennica etwas genervt. »Ich bin sogar größer als du. Bist du etwa einer?«
Zum Glück war das Innere des Baumes nicht gut beleuchtet, denn so konnte sie nicht sehen, wie Fynn rot anlief, als sie sich an ihm vorbeidrängelte und die Leiter hinabstieg. Ein paar Meter ging es abwärts, bis sie in eine Art Tunnel kamen, der an einigen Stellen mit Holzbalken gestützt war. Sie griff sich eine brennende Fackel aus einer eisernen Halterung an der Wand und reichte ihm auch eine, dann gingen sie ein paar hundert Meter den Tunnel entlang. Am Ende angekommen erreichten sie erneut eine Leiter, welche nach oben führte, jedoch von einer hölzernen Falltür verschlossen war.
Wieder kletterte Jennica voran die Leiter hinauf und Fynn folgte ihr hinaus aus dem dunklen modrig riechenden Tunnel in einen gemütlich beleuchteten Raum mit hölzernem Boden.
»Wo sind wir?«, fragte er und schaute sich um. Das Zimmer war gemütlich eingerichtet mit einem großen Schreibtisch aus Holz, Gemälden an der Wand und ein paar gemütlich aussehenden Ohrensesseln neben einem riesigen Bücherregal.
»Wir sind bei mir zuhause. Von nun an wirst du kein Wort mehr sagen bis ich alles erklärt habe, hast du verstanden?«, sie packte ihn an beiden Schultern und blickte ihm eindringlich ins Gesicht.
Erneut war er wie gebannt von ihren Augen, denn noch nie hatte er einen Menschen mit unterschiedlichen Augenfarben getroffen – aber vielleicht war Jennica auch gar kein Mensch? Noch bevor Fynn antworten konnte, flog die Tür des Zimmers auf und ein großer breitschultriger Mann trat ein. Er hatte dieselben haselnussbraunen Augen wie eines von Jennica, einen stoppeligen Bart und kurze braune Haare, weshalb Fynn vermutete das es ihr Vater sein musste. Mit ein paar schnellen Schritten durchquerte er das Zimmer und machte mit erhobenem Finger und wutrotem Gesicht Halt vor den beiden.
»Jennica Skady Amanda Ferenson! Bei Gandalfs Hut, wo bist du gewesen?«, presste er mit knirschenden Zähnen hervor. »Deine Mutter ist krank vor Sorge! Und wer ist das?«
Fast beiläufig deutete er auf Fynn, der reglos neben Jennica stand, während er stur auf seine Tochter blickte. Fynn öffnete den Mund zur Antwort doch dann viel ihm ein, was Jennica ihm kurz zuvor gesagt hatte und schweigend ging er einen Schritt zurück und überließ ihr das Wort.
»Es tut mir leid, dass ihr euch Sorgen gemacht habt«, antwortete sie und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. »Aber ich hatte es suuuuper eilig und ich wusste, dass ihr es mir verbieten würdet…«
»In der Tat hätten wir es verboten!«, unterbrach ihr Vater sie mit vor Wut zitternder Stimme. »Sich abends im Dunkeln herauszuschleichen, mit Stella durch die Gegend fliegen, sich ohne Schutzzauber zwischen den Menschen bewegen und dann auch noch einen Fremden mit nach Hause zu bringen. Immerhin hast du den Geheimtunnel benutzt, wenigstens so viel Verstand hattest du!«
Jennica war mittlerweile ebenfalls zornig geworden und blickte ihren Vater trotzig an. Im selben Augenblick kam eine Frau mit Leinenschürze ins Zimmer gerannt, schob den Mann beiseite und nahm Jennica beherzt in die Arme. Die Frau hatte langes schwarzes Haar, welches vereinzelt mit ein paar grauen Strähnen durchzogen war und dieselben grünen Augen die Fynn bereits mehrfach in ihren Bann gezogen haben.
»Zum Glück geht es dir gut, mein Kind«, schluchzte sie und drückte ihre Tochter an sich.
Für einen Augenblick vergaß auch Jennicas Vater seine Wut und entspannte sich sichtlich, indem er seine verkrampften Schultern lockerte. Nachdem sie die Umarmung gelöst hatte, machte die Mutter einen Schritt auf Fynn zu und schaute ihn mit fragenden Augen an. »Wer bist du mein Junge? Geht es dir gut? Hast du keine Eltern, die sich um dich sorgen? Du siehst aus, als hättest du heute Abend schreckliches erlebt.«
Diesmal antworte Fynn auf die Frage: »Ich bin Fynn aus Klein Melterstadt, dort lebe ich in einem Heim für Kinder ohne Eltern. Ich bin 14 Jahre alt und gehe zur Schule. Ihre Tochter hat mir heute Abend das Leben gerettet, aber ich habe keine Ahnung wieso.«
Jennica wurde rot und ihre Eltern tauschten verwirrte Blicke aus, in denen aber auch etwas stolz lag. Wie immer, wenn möglich, stellte Fynn sich nur mit seinem Vornamen vor. Auf dem Papier trug er den Namen seiner Pflegeeltern, aber zum einen fand er, dass Sauerbein ein selten bescheuerter Name war, der ganz und gar nicht zu ihm passte, zum anderen hatte er so wenig gemeinsam mit diesen Leuten wie überhaupt möglich.
»Wir sind Jennicas Eltern, das ist ihr Vater Orlen und ich bin Skady. Und jetzt würden wir die Geschichte gerne auch aus deinem Mund hören«, sagte Skady und deutete auf ihre Tochter.
Jennica atmete tief durch und begann zu erzählen: »Ich war oben in meinem Zimmer und lernte für die nächste Prüfung in Heilkräuter meine Vegetationskarten auswendig. Dann…dann hatte ich wieder eine Vision. Da war ein Junge, der meine Hilfe braucht, die vier schwarzen Reiter waren auf dem Weg zu ihm. Und weil ich wusste, dass ihr es mir verbieten würdet, hatte ich die Idee, dass ich mich allein auf den Weg machen könnte. Ich habe eine sehr starke Energie gespürt, so stark, dass ich der Spur bis zu Fynn folgen konnte. Also bin ich durch den Tunnel raus und bin mit Stella losgeflogen.«
»Und wieso bist du nicht auf die Idee gekommen, dass wir ihn retten könnten?«, erwiderte Orlen gereizt.
»Ihr hättet doch erst wieder das gesamte Bündnis einberufen und dann hätte es ewig gedauert!«, entgegnete Jennica und gestikulierte wild mit den Händen. Bei dem Wort Bündnis waren ihre Eltern so zusammengezuckt, als hätte sie etwas Verbotenes gesagt und die Atmosphäre im Raum war nun wieder sehr gespannt.
»Es reicht!«, polterte Orlen los. »Ich habe genug für heute Abend! Junge Hexe, auf dein Zimmer! Skady, bring unseren Gast auf sein Zimmer. Den Rest besprechen wir morgen.«
Und das Machtwort war gesprochen. Jennica rannte mit Tränen in den Augen aus dem Raum und Fynn hörte, wie ein paar Füße die Treppe hinaufrannten. Skady ging hinüber zum Bücherregal, zog eines heraus und schlug es auf. Es war kein normales Buch, denn es war hohl und diente anscheinend als ein Geheimversteck. Sie nahm einen kleinen Stein heraus und überreichte ihn Fynn.
»Dieser Stein verschleiert deine Anwesenheit hier, ich glaube ein Besuch der Reiter reicht für einen Abend«, erklärte sie mütterlich, während Fynn den Stein untersuchte. Dieser sah bis auf ein paar eingeritzte Zeichen, die er nicht kannte, völlig normal aus.
Dann legte sie einen Arm um ihn und begleitete ihn aus dem Zimmer, während Orlen sich in einen der Sessel fallen ließ, sich aus einer Karaffe mit grünlicher Flüssigkeit einschenkte und sich die Schläfen massierte.
Beim Herausgehen flüsterte sie ihm zu: »Keine Sorge, er ist nicht immer so. Wir haben uns nur schrecklich Sorgen um unsere Tochter gemacht und manchmal geht sein Temperament mit ihm durch. Du schläfst in einem unserer Gästezimmer und morgen zum Frühstück bereden wir alles Weitere.«
Zusammen gingen sie an vielen Türen vorbei einen langen Flur entlang, gingen die Treppe hinauf und blieben vor einer Tür am Ende des Ganges stehen, an der in goldenen Messingzahlen die Nr. 16 stand.
Skady stieß die Tür auf: »Das ist bis auf Weiteres dein Zimmer, schlaf gut und bis morgen. Sprich mit der Truhe, falls du noch etwas brauchst. Gute Nacht.«
Dann ging sie mit eiligen Schritten den Gang entlang und ging in die Richtung, aus der die beiden soeben gekommen waren.
Fynn betrat das geräumige Zimmer und schaute sich um. Auch hier war der Boden aus Holz und an den Wänden und der Decke waren wurmstichige Balken zu sehen.
In der Ecke stand ein Bett mit Leinenbettwäsche, daneben stand eine schmuckvoll verzierte Holztruhe und es hing ein Spiegel an der Wand. Dann gab es noch einen großen Kleiderschrank, nicht das Fynn irgendwelche Kleider hatte, die er dort verstauen könnte, ein Bücherregal und ein Bad ganz für sich allein. Zum ersten Mal an diesem Abend fühlte er sich glücklich, er hatte noch nie ein eigenes Zimmer, geschweige denn Badezimmer gehabt! Er schmiss sich aufs Bett, sank in die weiche Matratze ein und saugte den Geruch frischer Bettwäsche ein. Nach ein paar Augenblicken setze er sich auf die Bettkante und spürte, wie sein Magen an diesem Abend abermals knurrte.
»Eine warme Tomatensuppe mit Knoblauchbaguette wäre jetzt genau das richtige«, sagte er zu sich selbst und ging an der Holztruhe vorbei zu dem Kleiderhaken, um den Mantel dort anzuhängen, den er vor ein paar Stunden von Jennica bekommen hatte. Ein paar Sekunden nachdem er den Satz gesprochen hatte, schepperte und klirrte es in der Truhe so laut, dass Fynn erschrocken zusammenfuhr. Bitte nicht wieder irgendwelche Monster, bitte nicht wieder irgendwelche Monster, dachte er, während er zögerlich den Deckel der Truhe anhob.
Zu seiner Überraschung stand darin ein Tablett, auf dem ein schmuckvoller Teller mit einer dampfenden Tomatensuppe, die kunstvoll mit Sahne und Basilikum verziert war. Daneben ein goldbraunes, knuspriges Knoblauchbaguette, das hervorragend duftete. Er zögerte nicht lange, nahm das Tablett heraus, setzte sich aufs Bett und machte sich über das Essen her. Das meinte Skady also als sie meinte, er solle seine Wünsche der Truhe mitteilen. Und so wünschte Fynn sich an diesem Abend noch ein Schinkenbrot, dampfende Pommes, eine heiße Schokolade mit Sahne und Marshmallows, eine Packung Butterkekse und Karamellbonbons. Dann schlief er satt und glücklich ein, so glücklich wie er schon lange nicht mehr gewesen war.
I
mmer wieder rief eine Frauenstimme einen Satz: »Fynn, du musst vorsichtig sein. «
Er stand allein in einem Tal, das von gewaltigen Bergen umgeben war und das Echo der Stimme hallte von allen Seiten, sodass er nicht erkennen konnte, von wo sie kam.
»Fynn, du musst vorsichtig sein«, tönte sie erneut.
»Warum? Wovor muss ich mich in Acht nehmen? Wer bist du?«, schrie er, während er sich im Kreis drehte und versuchte jemanden in der Ferne zu erkennen, doch niemand war zu sehen. Mit einem Mal schüttelte es ihn am ganzen Leib und er saß kerzengerade und schweißgebadet in seinem Bett – es war nur ein Traum gewesen. Aber was für ein Traum, dachte er sich als er sich den Schweiß mit dem Ärmel von der Stirn wischte, so realistisch. Er blickte sich in dem Zimmer um und stellte fest, dass er sich nicht im Schlafsaal bei den Sauerbeins befand, sondern immer noch in Zimmer Nummer 16, wo er gestern Abend unter höchst mysteriösen Umständen angekommen war und stellte fest, dass wenigstens das kein Traum gewesen war.
Er schlüpfte in seine Hausschuhe und den Morgenmantel, dann ging er hinüber zum Fenster. Gestern Abend war alles bereits dunkel gewesen, aber heute früh konnte er im schwachen Licht des zugezogenen Himmels einen schönen großen Garten mit vielen Bäumen und einem See erkennen. In der Ferne standen ein paar weitere Häuser, aus deren Schornsteinen langsam Rauch aufstieg - dort war offenbar noch eine kleine Stadt oder ein Dorf. Er ging hinüber in das Badezimmer, auch hier hatte er bereits alles gefunden, was er benötigte. Gestern Abend lagen hier ein Pyjama, Seife und Zahnbürste bereit, heute früh fand er hier einen Stapel mit frischer Kleidung. Als er die Dusche betrat, begann er wie üblich die Sekunden zu zählen bis ihm einfiel, dass hier wahrscheinlich nicht nach drei Minuten das Wasser ausging, wie bei der Sauerbeins. Er genoss das warme Wasser, das über seinen Kopf plätscherte, denn bisher musste er immer kalt duschen, egal zu welcher Jahreszeit und fragte sich was der heutige Tag wohl noch bringen würde.
Frisch geduscht und angezogen wollte er gerade das Zimmer verlassen, da sprach jemand mit ihm: »Ich habe eine Nachricht von Frau Ferenson für dich. Magst du sie hören?«
Er blickte sich in dem kleinen Zimmer um, doch da war niemand und auch vor der Tür stand niemand.
»Ja, gern?«, antwortete Fynn zögerlich, während er suchend in den Kleiderschrank schaute.
Da erschien plötzlich ein Abbild von Frau Ferenson im Spiegel: »Guten Morgen Fynn. Ich hoffe du hast gut geschlafen, wir würden dich gerne bei unserem Frühstück dabeihaben. Bitte sei so nett und komme zu uns in den Speisesaal, eine Karte findest du in der Truhe. Bis gleich!«
So plötzlich, wie sie erschienen war, verschwand sie auch wieder. Fynn musterte interessiert den Spiegel von allen Seiten und hob ihn auch von der Wand an, dahinter konnte er nichts erkennen, keinen Bildschirm, eine Leinwand oder Ähnliches. Für ihn sah er aus, wie ein ganz normaler Spiegel. Auf so verrücktes Zeug kann ich mich hier wohl einstellen, dachte Fynn, während er das Papier auseinanderfaltete, das er in der Truhe gefunden hatte. Das Papier war eine Karte des Gebäudes und er selbst war als kleiner roter Punkt auf dieser zu erkennen. Es musste sich um ein ziemlich großes Gebäude mit mehreren Stockwerken handeln stellte er fest, als er die Karte studierte.
»Speisesaal, Speisesaal…ah da ist er ja«, sagte er zu sich selbst und zeigte mit dem Finger darauf.
Mit beschwingten Schritten machte er sich auf den Weg zur Tür raus und lief den Gang entlang und die Treppe hinunter, dabei stellte er fest, dass sich der kleine rote Punkt mit seinem Namen gleichauf mit ihm auf der Karte bewegte. Praktisch, so wusste er immer genau, wo er sich gerade befand. An der Wand hingen allerlei Gemälde von lustig aussehenden Personen, Karten von Städten die Fynn nicht kannte und Dekoration aus Holz, Steinen und diversen Pflanzen. An einem der Blumentöpfe blieb er wie gebannt stehen und betrachte die große, geballte, hellblaue Blüte, deren Geruch an Zuckerwatte erinnerte und den ganzen Flur erfüllte. Er streckte seine Hand aus, um die Pflanze zu berühren und als er mit seinen Fingerspitzen fast das weiche Innere der Blüte berühren konnte, schnellte diese nach vorne, entblößte ein paar messerscharfe Zähne und schnappte nach ihm. Gerade noch rechtzeitig konnte er seine Hand zurückziehen, um Schlimmeres zu vermeiden, stieß hinterrücks gegen die Büste einer Frau und fing diese knapp über dem Boden wieder auf.
Er rückte sie auf dem Podest gerade und setzte ihr wieder ihren pinken, flamingoförmigen Hut auf den Kopf, aber er hätte schwören können, dass ihr Gesichtsausdruck nicht mehr freundlich war wie noch ein paar Augenblicke zuvor, sondern dass sie ihn nun böse anstarrte.
Am Ende des langen Flures waren zwei große schwere, schmuckvollverzierte Holztüren aufgeschlagen und er schritt langsam hindurch. Der Speisesaal war ein geräumiger Raum, der von einigen Raumteilern aus wurmstichigem Holz durchzogen war. Zur Rückseite war eine riesige Glasfront mit Blick auf den Garten und die anschließende Terrasse am See, die er bereits aus seinem Fenster sehen konnte. An der Wand stand ein meterlanger Tisch, der über und über gedeckt war mit den köstlichsten Speisen, die man sich nur vorstellen konnte. In dem größeren Teil des Saales standen viele kleinere Tische herum, an denen vereinzelt Leute saßen, in ihren Zeitungen blätterten oder Gruppen die sich angeregt unterhielten. In dem anderen Teil stand etwas abgeschieden vom Rest eine lange Tafel, an der anscheinend die Familie Ferenson saß. Dort saßen neben Orlen und Skady auch noch ein Junge in Fynns Alter und zwei Kinder, die etwa ein Jahr alt waren.
Die beiden Kleinkinder waren Zwillinge und saßen in ihren Stühlen, während vor ihnen auf dem Tisch eine große Schüssel mit Haferbrei stand. Zwei kleine Löffel flogen aufgeregt zwischen den Kindern und der Schale umher, während sie versuchten den Brei irgendwie in die Münder der beiden zu bekommen, die aber alles andere im Sinn hatten, als ihr Frühstück zu essen. Sie wedelten wild mit den Armen umher, sodass die Löffel des Öfteren Ausweichmanöver fliegen mussten, glucksten herum und spuckten das Essen wieder heraus, sollte es doch einmal ein Löffel bis zu ihrem Mund geschafft haben. Nachdem einer der Löffel sich windend aus dem Griff einer der Kinder befreit hatte, rauschten beide zischend an Fynn vorbei zur Tür hinaus und waren verschwunden.
»Nicht schon wieder!«, rief Skady. »Das sind schon die vierten Löffel, die diesen Monat hinschmeißen!«, und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Laut seufzend setzte sie sich vor eines der Kleinkinder und begann es zu füttern, wobei auch sie einige Versuche brauchte.
Orlen war in seine Zeitung vertieft und schlürfte etwas Kaffee aus einer geblümten Porzellantasse.
An dem Titel konnte Fynn erkennen, dass es sich um eine größere Lokalzeitung handelte, die auch Herr Sauerbein morgens immer las. Es prangten verschiedene reißerische Überschriften über diversen Artikeln: »Totalausfall! Ganzes Land durch Stromausfall lahmgelegt - Experten ratlos, droht nun der Blackout?« und »UFOs über Berlin? Diverse Augenzeugen berichten von unbekanntem Flugobjekt«, waren die einzigen die er lesen konnte, bevor Orlen seine Zeitung niederlegte.
Er hatte von dem Spektakel offenbar nichts mitbekommen, bis das auffällig laute Räuspern seiner Frau ihn aufblicken ließ. Sie nickte mit ihrem Kopf zu dem leeren Stuhl, er sprang auf und machte sich daran, das andere Kind zu füttern.
Fynn machte ein paar Schritte auf den Tisch zu und holte noch einmal tief Luft: »Guten Morgen.«
Skady und Orlen schauten ihn beide gleichzeitig an und zu seiner Überraschung lächelten beide ihn an.
»Bitte, setz dich«, sagte Orlen und deutete mit seiner freien Hand auf einen der Stühle neben dem Jungen, woraufhin Fynn platznahm. Dann widmete er sich dann wieder ganz seiner Schüssel Haferbrei und dem Unterfangen, das Kleinkind zu füttern.
Der Junge streckte ihm seine Hand entgegen und er begann sie zu schütteln. »Ich bin Edmund, aber du kannst mich Ed nennen. War ja ziemlich was los gestern Abend, was? Jennica hat sich geweigert heute zum Frühstück zu kommen, aber die kriegt sich auch wieder ein«, sagte er achselzuckend.