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Es ist still geworden in Sedalia. Die letzte brüllende Longhorn-Herde wurde verladen, und die letzten Treiber verließen die Stadt. Die Straßen der Stadt wirken plötzlich wie ausgestorben. Denn auch die Angehörigen der »Schmutzigen Gilde«, die Spieler, Barkeeper und Rauswerfer, die Mädchen in den Tanzhallen, Saloons und Freudenhäusern packten ihre Siebensachen und verschwanden aus der Stadt.
Sedalia wird nun fast tot sein bis zum nächsten Jahr. Erst dann werden neue Herden kommen. In den Verladecorrals werden wieder die Longhorns brüllen und die Viehzüge die brüllende Fracht nicht schnell genug nach Osten zu den Fleischfabriken schaffen können.
Hier in Sedalia wird sich alles wiederholen. Der Dollar wird rollen, die Glücksritter, Townwölfe, Tanzgirls und Spieler werden kommen. Und die Stadt wird abermals alle Sünden begehen und sich aufs Neue in ein Babylon der Kansas-Prärie verwandeln. Es wird neue Verbrechen, neue Ausschweifungen und neue Tote geben, denn die Hölle selbst wird dort erneut ihren Einzug halten ...
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Seitenzahl: 158
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Taggards Stern
Vorschau
Impressum
Taggards Stern
Es ist still geworden in Sedalia. Die letzte brüllende Longhorn-Herde wurde verladen, und die letzten Treiber verließen die Stadt. Die Straßen wirken plötzlich wie ausgestorben. Denn auch die Angehörigen der »Schmutzigen Gilde«, die Spieler, Barkeeper und Rauswerfer, die Mädchen in den Tanzhallen, Saloons und Freudenhäusern packten ihre Siebensachen und verschwanden aus der Stadt.
Sedalia wird nun fast tot sein bis zum nächsten Jahr. Erst dann werden neue Herden kommen. In den Verladecorrals werden wieder die Longhorns brüllen und die Viehzüge die brüllende Fracht nicht schnell genug nach Osten zu den Fleischfabriken schaffen können.
Hier in Sedalia wird sich alles wiederholen. Der Dollar wird rollen, die Glücksritter, Townwölfe, Tanzgirls und Spieler werden kommen. Und die Stadt wird abermals alle Sünden begehen und sich aufs Neue in ein Babylon der Kansas-Prärie verwandeln. Es wird neue Verbrechen, neue Ausschweifungen und neue Tote geben, denn die Hölle selbst wird dort erneut ihren Einzug halten ...
Als Marshal Jim Taggard von seinem Rundgang in die kleine Wohnung im ersten Stock des City House zurückkommt, fröstelt er. Der kalte Wind von der Kansasprärie brachte bereits den ersten Schneegeruch aus dem Norden mit. Dort ist der Winter gewissermaßen schon auf dem Sprung, und bald werden aus dem Powder-River-Land die ersten Blizzards kommen.
Als Jim Taggard die Wohnung betritt, ruft er begierig: »Hoi, Elisa, ich rieche keinen Kaffeeduft! Hast du das Frühstück noch nicht fertig?«
Er erhält keine Antwort, doch als er durch die offene Tür des Schlafzimmers tritt, da sieht er seine Frau Elisa beim Packen.
Sie hält inne und sieht ihn vom Kleiderschrank aus über die Betten hinweg an. Elisa Taggard ist mehr als nur hübsch.
Sie wirft mit einer Kopfbewegung ihr goldfarbenes Haar über die Schultern nach hinten. Ihre schwarzen Augen und dunklen Brauen bilden zu ihrem Goldhaar einen beeindruckenden Kontrast.
Als sie spricht, klingt ihre Stimme kehlig. Sie sagt mit einem Klang von Bedauern: »Du siehst, ich packe, Jim. Denn ich will mit dem letzten Zug weg von hier. Ich will nach Saint Louis. Dort wird der Winter leichter zu ertragen sein – und wenn nicht, dann fahre ich den Strom abwärts bis New Orleans. Es war ein Fehler von mir, all meine Chips auf dich zu setzen. Hier in dieser Stadt wird es bis zum Frühsommer verdammt tot, leer und einsam sein. Aber wenn du willst, dann kannst du mitkommen. Dann bleiben wir ein Paar. In einer Stunde geht der letzte Zug. Es sind nur drei Wagen. Kommst du also mit oder willst du bleiben – mit deinem Stern?«
Als sie die letzten Worte spricht, da ist ihre ganze Bitterkeit in ihrer Stimme hörbar.
Jim Taggard verharrt einige Atemzüge lang stumm. Dann bewegt er sich, tritt zum Fenster und blickt auf die fast leere Straße hinunter. Und er denkt dabei: Ja, sie hat recht, es wird hier bis zum Frühsommer verdammt tot, leer und einsam sein. Ich habe mir das nicht so vorgestellt. Aber das ist nun mal nur eine Treibherdenstadt mitten auf der Kansasprärie.
Er wendet sich um, setzt sich auf die Fensterbank und sieht Elisa an.
»Sie gaben mir hier den Stern«, spricht er. »Und ich gab ihnen mein Wort. Zuvor war ich nur ein harter Bursche mit einem schnellen Colt, der mit einer der Herden von Texas heraufkam. Hier wurde ich der Marshal, der Boss in dieser Stadt, der Mann, der bestimmt, was sein darf und was nicht. Das gefällt mir. Und es gefiel auch dir, denn du wurdest meine Frau. Eines Tages wird Sedalia keine wilde Treibherdenstadt mehr sein, sondern eine Countyhauptstadt. Ich werde dann mehr sein als nur ein Town Marshal. Elisa, man muss warten können.«
»Nein«, widerspricht sie. »Ich fand in den vier Monaten unserer Ehe eines heraus: Du bist nicht genug auf deinen Vorteil bedacht. Du bist zu ehrlich. Du begnügst dich mit deinem Gehalt von hundert Dollar und dieser freien Wohnung. Doch du könntest überall kassieren, überall: in jedem Saloon und in jedem Tingeltangel, in den Spielhallen und in den Freudenhäusern. Sie alle würden dich schmieren, damit du ihnen als Marshal keine Schwierigkeiten bereitest. Und jeder Spieler würde dich an seinen Gewinnen beteiligen, damit du ihn nicht aus der Stadt jagst. Jim, du bist zu ehrlich. Das aber ist in dieser Stadt, in der sie alle nach dem Dollar jagen, ganz einfach Dummheit. Ich dachte immer, ich könnte dich umstimmen, dir die Augen öffnen – aber dieser Stern ...«
Sie bricht ab und sucht offensichtlich nach Worten.
Dann spricht sie hart: »Deine Treue zu diesem Stern macht dich zu einem Narren. Du könntest jeden Monat leicht tausend Dollar nebenbei machen, aber du willst ein Edelmann sein. Dieser Stern wurde für dich so etwas wie eine Religion. Du musst früher ein verdammt armer Wicht gewesen sein, dass du dich jetzt an diesen Stern klammerst und ihn mit deiner Ehre gleichsetzt.«
Sie verstummt hart und bitter.
Und er sitzt immer noch auf der Fensterbank und denkt mit gesenktem Kopf nach.
Ja, er war die ganze Zeit ein ehrlicher Marshal. Das war sein Stolz. Sie gaben ihm hier den Stern und bekamen dafür sein Wort. Er wurde der Boss dieser Stadt, und das machte ihn stolz.
Dann kam Elisa als Sängerin in die Stadt, und bald wurde sie seine Frau. Jetzt verlässt sie ihn, weil er aus seiner Macht, die ihm der Stern verleiht, kein Geschäft gemacht hat.
Er verspürt in dieser Minute, da er auf der Fensterbank sitzt, ein bitteres Bedauern. Noch nie hat er eine Frau in den Armen gehalten wie Elisa, noch nie erhielt er von einer Frau ein solches Paradies bereitet. Er weiß, dass er die Stunden und Nächte in ihren Armen niemals vergessen wird. Ja, sie ergänzten sich auf wunderbare Weise. Doch jetzt verlässt sie ihn.
Er erhebt sich von der Fensterbank und spricht, indes er aus dem Zimmer geht: »Ich werde dein Gepäck von Murphy zur Bahn schaffen lassen. Viel Glück, Elisa. Wenn du die Scheidung möchtest ...«
»Die würde ich nicht wollen, wenn du mit mir kommst oder wenn du hier endlich deinen Stern dazu benutzt, um Geld zu machen. Sie alle machen hier auf irgendeine mehr oder weniger schlaue und gnadenlose Art Geld. Du ...«
Er hört nicht länger zu, sondern geht hinaus, die Treppe hinunter, und betritt sein Office, in dem sein Deputy – der aber eigentlich nur Gefängniswärter und Hausmeister ist – den Kanonenofen angemacht hat, um sich Kaffee zu kochen. Murphy, dessen anderen Namen niemand kennt, schläft in einer kleinen Kammer neben dem Zellenraum. Statt seiner linken Hand hat er einen Stahlhaken, und auf seinem Kopf ist kein einziges Haar.
Murphy kam als Koch einer Treibherdenmannschaft nach Sedalia und erhielt dann von Taggard diesen Job.
Er starrt Taggard seltsam lauernd an. Der Marshal sagt zu ihm: »Du kannst das Gepäck von meiner Frau zum Bahnhof schaffen. Sie will mit dem letzten Zug weg. Ich gehe ins City Hotel frühstücken.«
Nach diesen Worten geht Taggard wieder hinaus. Und draußen wird er sich erneut bewusst, wie leer und still die Stadt wurde. Ja, Sedalia ist ein totes Nest auf der Kansasprärie geworden. Und er wird allein sein.
Als er in den Speiseraum kommt, sind dort fast alle Tische besetzt. Alle Blicke richten sich auf ihn. Er hält inne und sieht sich um.
Einige der hier noch frühstückenden Gäste haben sich schon von ihm verabschiedet und ihn gebeten, doch besonders gut auf ihre Häuser, Saloons und Geschäfte zu achten, bis sie im Frühjahr wieder in die Stadt zurückkämen. Er hatte jedem gesagt, dass dies ja seine Pflicht als Marshal sei und sie sich darauf verlassen könnten.
Er geht zu einem noch freien Tisch und setzt sich.
Jessica Cumberland, die Hotelbesitzerin, bedient selbst, denn wahrscheinlich verlässt auch ihr Personal mit dem letzten Zug die Stadt.
Als sie an Taggards Tisch tritt, ist ein wissender Ausdruck in ihren Augen. Sie fragt lächelnd: »Eier mit Speck, Brot und Kaffee?«
Er nickt nur, sieht dabei zu ihr auf und fragt sich, ob auch sie abreisen wird.
Wenig später bekommt er das Frühstück, und indes er es vertilgt, leert sich der Speiseraum. Fast alle nicken ihm zu und sprechen einige Worte.
Arch Parker, der Besitzer des großen General Store, sagt zu ihm: »Taggard, ich bin sehr froh, dass ich mich auf Sie verlassen kann. In meinem Magazin lagern noch viele Waren. Passen Sie nur gut auf, ja?«
Er nickt kauend und sieht ihnen nach, als sie nacheinander nach draußen verschwinden – all die Saloonbesitzer, die Eigentümer der Spielhallen und deren Kartenausteiler, die Rauswerfer und Hauspolizisten, die Handwerker und Ladenbesitzer.
Zuletzt ist er allein.
Jessica Cumberland bringt ihm nochmals Kaffee. Er sieht zu ihr hoch und fragt: »Und Sie bleiben hier, Jessica?«
Sie nickt und streicht sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Ihr Haar ist rabenschwarz, aber sie hat leuchtend blaue Augen. Auf ihrer Nase sind ein paar Sommersprossen.
»Auch Sie bleiben ja hier, Jim«, sagt sie. »Und noch knapp ein Dutzend anderer Menschen. Die Ruhe nach all dem wilden Trubel wird uns gewiss gut bekommen.«
Sie geht wieder in die Küche zurück. Er sieht ihr nach und bewundert ihren Gang. Doch dann denkt er bitter: Vielleicht taugt sie auch nicht mehr als Elisa. Vielleicht taugen die meisten schönen Frauen nichts, weil sie glauben, dass ein Mann ihre Schönheit und ihre Reize reich belohnen müsste. Verdammt, ich hätte wahrhaftig hier in dieser Stadt jeden Monat tausend Dollar machen können, wenn ich meinen Stern verraten hätte. War ich ein Dummkopf, dass ich es nicht tun konnte?
Vom Verladebahnhof her tönt das schrille Pfeifen einer Lok. Sie wird in Abständen von wenigen Minuten noch zweimal pfeifen und dann mit den letzten drei Personenwagen abfahren.
Und Elisa wird mitfahren.
Er erhebt sich mit einem Ruck und geht hinaus.
Ja, er möchte sehen, ob Elisa ihn wirklich verlässt, ob sie es fertig bringt, in den Zug zu steigen, ohne sich noch einmal umzusehen.
Als er auf die nun so stille und leere Straße tritt und den Plankengehsteig verlässt, um durch den Staub der Fahrbahn hinüber zur Gassenmündung zu gehen und durch die Gasse den Weg zum Bahnhof abzukürzen, da kommt er nur bis zur Fahrbahnmitte.
Aus der Gassenmündung, zu der er will, tritt ein Mann.
Auch rechts von ihm taucht plötzlich ein Mann auf.
Und links hinter ihm kam ein dritter Mann um eine Hausecke.
Jim Taggard hält inne. Er weiß, dass sie ihn eingekeilt haben. Es sind die drei Jennison-Brüder, denen er die Spielhalle schloss, weil in ihr schon mehrmals mit gezinkten Karten betrogen wurde. Nach der dritten Verwarnung und auch Strafe machte er ihnen die Spielhalle dicht.
Die drei Brüder sind Spieler und Revolvermänner, richtig gnadenlose Kartenhaie.
Er hat ihnen auch Stadtverbot erteilt und sie in einen der Viehzüge steigen lassen.
Nun sind sie wieder da. Und sie haben ihn eingekeilt.
Einer der Jennison-Brüder sagt nun laut genug, sodass es auf der leeren Straße zwischen den Häusern hallt: »Als du uns aus der Stadt jagtest, Marshal, hattest du eine ganze Treibmannschaft, von der einige Burschen sich betrogen fühlten, auf deiner Seite. Du hast uns eine Menge Schaden zugefügt, Taggard. Jetzt bist du allein und wirst bezahlen.«
Taggard lässt sich in den Staub fallen. Dabei scheint der schwere Revolver wie durch Zauberei in seine Hand zu springen.
Und dann krachen die Schüsse.
Einer gegen drei.
Aber er rollt durch den Staub, liegt nicht still, feuert immer wieder dabei. Kugeln treffen ihn schmerzvoll wie Peitschenhiebe. Doch er vermag weiterzukämpfen, muss nicht aufgeben.
Als er die letzte Kugel aus seinem Colt gefeuert hat, bleibt es still.
Er kommt auf die Füße, sieht sich um, den leer geschossenen Colt noch in der Faust. Aber die Jennisons liegen bewegungslos dort, wo sie hinfielen, nachdem sein heißes Blei sie traf.
Er seufzt erleichtert. Denn wenn jetzt noch einer der Jennisons auf den Beinen wäre und noch eine einzige Kugel abfeuern könnte, dann ...
Vom Bahnhof her tönt zum zweiten Male der Pfiff einer Lok.
In wenigen Minuten wird der kleine Zug abfahren.
Und Elisa?
Indes er die Schmerzen seiner Wunden stärker zu spüren beginnt und auch das Blut stärker aus ihnen rinnt, verharrt er und fragt sich, ob Elisa vom Bahnhof her zurückgelaufen kommen wird.
Denn die Schüsse sind dort gewiss zu hören gewesen.
Aber sie kommt nicht. Eine ganze Weile verharrt er so.
Dann überwältigt ihn die Schwäche. Er fällt auf die Knie und legt sich schließlich seufzend in den Staub, in den schon sein Blut tropfte, wo es sich zu kleinen dunkelroten Kügelchen formte.
O verdammt, denkt er noch, dies ist heute kein guter Tag für mich.
✰
Man könnte Sedalia fast für eine verlassene Stadt – eine Geisterstadt – halten, obwohl doch etwa zwei Dutzend Menschen in ihr geblieben sind und hier ausharren wollen bis zum nächsten Frühjahr.
Aber es fegt ständig ein kalter und bösartiger Wind von Norden her, der die wenigen Bürger von Sedalia in ihren Häusern hält. Und da auch der Marshal böse angeschossen in einem Zimmer von Jessica Cumberlands Hotel liegt – einen Transport in seine Wohnung wagte man nicht –, geht auch niemand die Runde.
Murphy, der ehemalige Treibherdenkoch und jetzige Deputy des Marshals, ist mit einem Wagen in der näheren Umgebung der Stadt unterwegs und sammelt die getrockneten Kuhfladen ein. Als er seinen Wagen voller Dungscheite hat und zur Stadt zurück will, da sieht er einige Reiter kommen.
Es sind fünf. Sie haben zwei Packpferde bei sich, deren Lasten jedoch nicht groß sind. Murphy kennt sich aus mit Reitern dieser Sorte. Er schätzt die fünf auch sofort richtig ein.
Und so denkt er: Oha, da kommen ein paar böse Pilger, die ein warmes Plätzchen für den Winter suchen. Sie werden sich bei uns einnisten und ausprobieren, wie weit sie bei uns hier kommen können. Vielleicht ist es ein Glück für Taggard, dass er angeschossen im Bett liegt. Denn sonst ...
Die Reiter sind nun bei ihm. Er sieht in stoppelbärtige, harte Gesichter und in funkelnde Augen.
Ihr Anführer fragt mit einem unduldsamen Klang in der Stimme: »He, Alter, ist der Bahnhof noch besetzt? Kann man noch Telegramme absenden?«
Murphy schüttelt den Kopf, denn er weiß, dass es keinen Sinn hätte, die fünf Hartgesottenen anzulügen. Sie würden die Wahrheit schnell herausfinden.
Und so erwidert er: »Sedalia hat den Winterschlaf begonnen. Der Schienenstrang ist tot – und damit auch die Telegrafenverbindung. Sedalia ist bis zum Frühjahr der Arsch der Welt. Wenn ihr Spaß haben wollt, dann müsst ihr weiter bis nach Missouri, am besten nach Saint Louis. Das ist eine tolle Stadt.«
Sie beginnen zu grinsen, und Murphy kommt es fast so vor, als zeigten ihm fünf gierige Wölfe ihre Fänge.
Wieder denkt er bitter: Die haben uns noch gefehlt. O Himmel, sei gnädig mit uns, und lass sie weiterziehen.
Doch abermals denkt er nicht weiter, denn der Anführer sagt trocken: »Oh, Alter, so eine ruhige und stille Stadt passt uns sehr. Gibt es einen Sheriff oder Marshal?«
Murphy macht in dieser Sekunde keinen Fehler. Er mag zwar ziemlich alt, verbraucht und mit dem Stahlhaken statt der linken Hand ein Krüppel sein, aber dumm ist er gewiss nicht.
Und so erwidert er: »Wir hatten einen Marshal hier. Doch jetzt wird er nicht benötigt. Es sind ja keine wilden Herdentreiber mehr hier.«
Nun grinsen sie alle. Und dann reiten sie an. Ja, sie geben ihren erschöpften und struppigen Pferden noch einmal gnadenlos und ungeduldig die Sporen. Denn sie haben begriffen, dass die Stadt ihnen gehören wird.
Larkin, ihr Anführer, hat ihnen solch eine Stadt versprochen für einen langen Winter, und Larkin kennt sich aus.
Murphy folgt ihnen mit dem Wagen voller Dungfladen, und er weiß, er wird nichts tun können, gar nichts. Niemand wird etwas tun können gegen diese fünf Pilger.
Murphy beeilt sich dennoch, denn eines wird er tun können. Er wird den wenigen noch in der Stadt verbliebenen Bürgern sagen, dass keiner verrät, wer der angeschossene Mann im Hotel ist. Denn das allein wird Taggards Rettung sein.
Murphy sieht die fünf Reiter dann zwischen den ersten Häusern der Stadt verschwinden. Er treibt die beiden Pferde heftig an und hat Sorge, dass er zu spät kommen könnte.
✰
Als sie vor dem großen General Store ihre Pferde zurückreißen und aufbäumen lassen, da lachen und johlen sie, als wären auch sie Herdentreiber, die nach einem harten Vier-Monate-Treiben endlich am Ziel sind bei den Whiskytränken und den käuflichen Mädchen.
Aber sie haben einfach nur Hunger wie Wölfe nach einem wochenlangen Blizzard. Sie brauchen auch Kleidung, Munition und sie konnten sich schon lange nicht mehr betrinken. Sie sind lange auf der Flucht. Jeder von ihnen wird steckbrieflich gesucht. Sie fanden sich zusammen und sind nun eine üble Bande.
Als sie gegen die Eingangstür des Store hämmern, tritt der Sattler aus dem gegenüberliegenden Geschäft. Er ist einer der wenigen Bürger, die blieben. In diesem Jahr hat er einige wertvolle Sättel verkaufen können und gut verdient. Nun will er bis zum Frühjahr einige weitere kostbare Sättel anfertigen. Dazu braucht er Ruhe und Zeit. Denn es sind Dreihundert-Dollar-Sättel.
Er tritt also aus seinem Laden, hinter dem sich die Werkstatt befindet, und ruft hinüber: »Hoii, Jungs, der Store ist geschlossen! Hier in Sedalia ist alles dichtgemacht! Erst im Frühsommer ist alles wieder in Betrieb! Reitet weiter bis Medicine Lodge oder Arkansas City! Das schafft ihr glatt in drei bis fünf Tagen!«
Als sie es hören, lachen sie johlend. Dann treten zwei von ihnen die Tür des Store ein.
Und nun wird dem Sattler klar, wer da gekommen ist.
Bald wird es auch allen anderen noch verbliebenen Bürgern von Sedalia klar sein.
✰
An diesem Morgen erwacht Jim Taggard zum ersten Mal mit einigermaßen klarem Kopf und fast fieberfrei. Jessica Cumberland sitzt an seinem Bett und lächelt ihn an.
»Jetzt wird es Ihnen mit jedem neuen Tag etwas besser gehen«, sagt sie ruhig und lässt ihn aus einer Schnabeltasse Tee trinken.
»Die Jennisons ...«, beginnt er.
»Wir haben sie beerdigt«, unterbricht sie ihn schnell, so als wollte sie nicht, dass er sich beim Sprechen zu sehr anstrengt. »Sie haben ziemlich viel Blut verloren aus drei Wunden«, spricht sie weiter. »Doch diese Wunden haben sich nicht entzündet. Sie werden wieder gesund, Jim Taggard. Ich habe Sie im Hotel behalten, weil es hier für mich einfacher mit Ihrer Pflege ist. Murphy wäre keine gute Krankenschwester, nicht wahr?«
»Nein«, erwidert er und blickt in ihre so leuchtend blauen Augen.
Sie lächelt wieder und lässt ihn abermals trinken, Dann erhebt sie sich und wendet sich zur Tür. »Ich mache in der Küche die Suppe warm. Nicht wahr, Jim, Sie haben nun Hunger? Spüren Sie es?«
»O ja.« Er grinst. »Mich beißt ein Wolf, jetzt spüre ich es.«
Sie will aus der offenen Tür in den Gang treten. Aber er fragt: »Jessica, warum tun Sie das für mich?«
Sie wendet sich wieder zu ihm zurück.
»Oh, Jim Taggard, Sie hatten vor drei Tagen einen verdammt schlechten Tag. Ihre Frau lief Ihnen weg – und dann kamen die Jennisons. Vielleicht habe auch ich mal einen schlechten Tag. Dann werden Sie mein Freund sein.«
»Bestimmt«, erwidert er. Und bevor er noch etwas sagen kann, eilt sie hinaus.