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Als Lance Coburne den Mann aus der Postkutsche steigen sieht, weiß er sofort Bescheid - obwohl der Mann eigentlich nicht besonders imposant oder beachtlich wirkt - und schon gar nicht großartig oder gewaltig.
Aber ein Wolf erkennt sofort den Artgenossen. Schon der Instinkt gibt ihm ein untrügliches Zeichen.
Aber es gibt noch andere Anhaltspunkte.
Der Mann saß am Fenster und dem nun offenen Wagenschlag am nächsten. Aber er steigt als letzter Passagier aus, schiebt sich recht unauffällig durch das Durcheinander der anderen Fahrgäste und deren Gepäck. Er bewegt sich mit unauffälliger Leichtigkeit - aber es ist die Leichtigkeit eines hageren Wüstenwolfes, der bereit ist, blitzschnell einer Klapperschlange das Genick zu brechen. Lance Coburne entgeht auch nicht der scharfe, wachsame Blick des Mannes. Es ist ein schneller Rundblick, und er weiß, dass dieser Mann bei diesem schnellen Rundblick Dutzende von Einzelheiten registriert ...
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Seitenzahl: 158
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Das unsichtbare Zeichen
Vorschau
Impressum
Das unsichtbareZeichen
Als Lance Coburne den Mann aus der Postkutsche steigen sieht, weiß er sofort Bescheid – obwohl der Mann eigentlich nicht besonders imposant oder beachtlich wirkt – und schon gar nicht großartig oder gewaltig.
Aber ein Wolf erkennt sofort den Artgenossen. Schon der Instinkt gibt ihm ein untrügliches Zeichen.
Aber es gibt noch andere Anhaltspunkte.
Der Mann saß am Fenster und dem nun offenen Wagenschlag am nächsten. Aber er steigt als letzter Passagier aus, schiebt sich recht unauffällig durch das Durcheinander der anderen Fahrgäste und deren Gepäck. Er bewegt sich mit unauffälliger Leichtigkeit – aber es ist die Leichtigkeit eines hageren Wüstenwolfes, der bereit ist, blitzschnell einer Klapperschlange das Genick zu brechen. Lance Coburne entgeht auch nicht der scharfe, wachsame Blick des Mannes. Es ist ein schneller Rundblick, und er weiß, dass dieser Mann bei diesem schnellen Rundblick Dutzende von Einzelheiten registriert ...
Der Mann trägt eine Reisetasche in der Rechten. Denn die Linke hängt dicht neben dem Revolver. Die offene Jacke ist wie zufällig hinter das Holster mit der Waffe geschoben worden.
So geht der Mann im dunklen Cordanzug unauffällig davon, überquert die Straße, welche staubig die Häuserreihen trennt, und verschwindet im Fairplay Saloon.
Er ist da. Starbucks Mann ist gekommen, denkt Lance Coburne und erhebt sich von seinem bequemen Sessel auf der Hotelveranda. An ihm vorbei drängen die Fahrgäste ins Restaurant. Lance Coburne aber geht durch die kleine Halle zur Treppe, verschwindet nach oben und klopft an eine Tür.
Ein Mann öffnet.
Als Lance Coburne eintritt, beachtet er den Mann kaum. Sein Blick ist auf die Frau gerichtet, welche am Fenster steht, sich jedoch nach ihm umgewandt hat und nun seinen Blick erwidert.
Die Frau ist reizvoll, und sie wirkt sehr energisch und voller Feuer. Ihr rotes Haar hat sie mit einem schwarzen Samtband hinter dem Nacken zusammengebunden. Ihre grünen Augen funkeln.
»Das war die letzte Kutsche von Süden her«, sagt sie mit einer Stimme, deren Timbre etwas rauchig ist. Irgendwie geht diese Stimme jedem Mann unter die Haut.
»Das war die letzte Kutsche, mit der jemand kommen konnte, den mein Vater schickte«, wiederholt sie ihre ersten Worte noch einmal und bringt den Satz zu Ende. Und dann kommt die Frage: »Ist einer dabei, der ...?« Sie verstummt.
Lance Coburne nickt. »Ja, es kam einer.«
»Wer?« Der Mann und die Frau fragen es gleichzeitig. Und dann setzt der Mann hinzu: »Es stiegen alle neun Fahrgäste aus der Kutsche. Wir sahen aus dem Fenster auf sie nieder. Welcher war es, der es sein könnte – welcher der Fahrgäste?«
»Der Letzte«, erwidert Lance Coburne knapp.
Und dann betrachtet er Johnny Mahoun ernst. Denn Johnny Mahoun, so heißt der Mann bei Belinda Starbuck hier im Hotelzimmer.
Johnny Mahoun erwidert seinen Blick mit Trotz und Härte. Denn auch Johnny Mahoun ist ein harter Bursche, ein Mann auf jeden Fall, der sich zu helfen weiß, wenn es um die Verfolgung und das Erreichen von Zielen geht.
Eine Weile betrachten sich die beiden Männer wortlos.
Und eines ist sicher: Sie mögen sich gewiss nicht, wenn auch aus verschiedenen Gründen.
Schließlich wendet sich Lance Coburne zu Belinda Starbuck um.
»Und Sie wollen Johnny Mahoun immer noch heiraten?« So fragt er ernst.
Ihre grünen Augen funkeln nun noch mehr als zuvor. Sie stampft sogar mit einem Fuß auf.
»Wäre ich sonst mit ihm durchgebrannt? Hätte ich sonst meinen Vater verlassen, den großen Thor Starbuck? Morgen werden wir hier in der Missionskirche heiraten. Da beißt keine Maus mehr einen Faden von ab. Oder können wir uns nicht mehr auf Sie verlassen, Mister Coburne? Haben Sie vielleicht Angst bekommen?«
Sie ist ein hitzköpfiges, starrsinniges Biest, das ist klar. Wahrscheinlich hat sie bisher stets ihren Willen durchgesetzt. Erst als sie Johnny Mahoun heiraten wollte, machte ihr Vater nicht mehr mit.
Sie stampft wieder mit dem Fuß auf.
»Ja, ich will Jonny Mahoun heiraten! Wir lieben uns! Und niemand hat das Recht, uns mit Gewalt daran zu hindern – auch der große Thor Starbuck nicht. Denn ich bin alt genug. Ich bin mündig! Selbst mein Vater darf meine Rechte nicht vergewaltigen. Also, Mister Coburne, was jetzt?«
Lance Coburne blickt noch einmal zur Seite auf Johnny Mahoun.
Dieser sagt: »Ich bin nicht feige, Coburne. Bisher habe ich meine Angelegenheiten stets selbst erledigt. Doch der alte Starbuck wird einen Revolvermann geschickt haben, dem ich wahrscheinlich nicht gewachsen bin. Ich könnte ihn wahrscheinlich nur aus dem Hinterhalt erledigen. Und das will ich nicht. Im fairen Duell schießt er mich sicherlich von den Beinen. Was bleibt mir übrig? Einen toten Mann kann Belinda nicht heiraten. Wollen Sie Ihr Honorar erhöhen?«
Lance Coburne schüttelt den Kopf.
»Nein«, sagt er. »Ich möchte nur sicher sein, dass es euch auch wirklich ernst ist. Johnny, wenn es Nacht ist, gehen Sie hinüber in den Saloon. Feiern Sie Abschied vom Junggesellenleben. Geben Sie einige Runden aus. Spielen Sie ein paar Runden Poker. Und nach Mitternacht treten Sie ziemlich betrunken den Heimweg ins Hotel zu Ihrer Braut an. Der Mann, den Thor Starbuck schickte, um die Heirat zu verhindern, wird Ihnen wahrscheinlich auflauern. Er wird Sie entführen wollen. Aber wenn Sie ein Duell möchten, wird er darauf eingehen. Ich werde ihn unschädlich machen. Er wird eure Heirat nicht verhindern können.«
Er richtet seinen Blick noch einmal auf Belinda Starbuck.
»Viel Glück«, sagt er.
Dann geht er davon.
Als er die Tür öffnen will, holt ihre Stimme ihn ein.
»Lance Coburne ...«
Er hält inne und blickt über die Schulter zurück.
»Danke«, sagt sie weich. »Oh, ich weiß genau, dass Sie sich wegen uns einige Feinde machen. Mit dem Honorar kann man das nicht bezahlen. Deshalb danke ich Ihnen besonders. Sie sind ein Gentleman, der nicht zulässt, dass man die Rechte eines sich liebenden Paares vergewaltigt. Danke, Lance. Ist der vollständige Name Lancelot?«
Er nickt nur und geht hinaus.
Und in ihm sind sehr gemischte Gefühle.
Diese verwöhnte und starrsinnige Belinda Starbuck ist schon etwas, was ein Mann so schnell nicht vergessen kann.
Aber da sind auch noch die anderen Gedanken.
Er sah einen Burschen aus der Kutsche steigen, den sich nur ein Narr zum Feinde machen würde. Fünfhundert Dollar sind da wirklich nur ein Entgelt. Aber er gehört nun mal ebenfalls zu der Gilde, deren Colt und Hilfe man sich kaufen kann. Auch er ist ein Angehöriger jener Kaste, dessen unsichtbares Zeichen deutlich genug ist für jeden, der dazugehört.
Er geht zur Hotelbar und kauft sich eine Flasche Whisky. Mit dieser Flasche unter dem Arm geht er in den Abend hinaus. Denn inzwischen fand im Westen der Sonnenuntergang statt. Die Schatten der Nacht kommen herangekrochen. In der kleinen Stadt am Wagenweg zwischen El Paso und Santa Fe gehen die Lampen an.
Lance Coburne setzt sich wieder auf die Hotelveranda.
Er wartet. Der Saloon befindet sich schräg gegenüber.
Für Lance Coburne ist das alles wie ein Spiel mit festen Regeln. Und fast alles ist für ihn genau voraussehbar.
Er weiß, dass der Ankömmling, den Thor Starbuck hinter seiner Tochter hergeschickt hat, inzwischen im Saloon bei einigen Drinks eine Menge erfahren konnte über diese Stadt, ihre Bürger – und über die Gäste im Hotel, die mit der vorherigen Postkutsche kamen.
Der Mann müsste eigentlich bald aus dem Saloon zum Vorschein kommen, um hier in der Hoteldiele im Gästebuch nachzusehen.
Neben Coburne tritt nun Johnny Mahoun aus dem Hotel. Er verlässt sofort die Veranda, überquert die staubige Fahrbahn und verschwindet im Saloon.
Die Dämmerung geht nun in die Dunkelheit über.
Lance Coburne grinst in der Dunkelheit.
Jener Revolvermann, den Thor Starbuck schickte, wird nicht mehr zum Hotel herüberkommen, sondern vorerst im Saloon bleiben und einen sehr bescheidenen und unauffälligen Gast spielen.
Er hat sein Wild ja gefunden.
Wenn er es nicht nach der Beschreibung erkannt hat, dann wird sich Johnny Mahoun ihm dadurch verraten, dass er zum Vorabend seiner Hochzeit im Saloon eine Runde Drinks spendiert.
Lance Coburne braucht nur zu warten.
✰
Der Mann, den Thor Starbuck schickte, heißt Jeff Cade, und er ist wahrhaftig ein gefährlicher Bursche. Diesmal erscheint ihm sein Auftrag sehr leicht, fast zu leicht. Schon immer war er misstrauisch, wenn etwas auf den ersten Blick zu einfach erschien. Es gab dann zumeist die größten Komplikationen.
Aber er kann nichts erkennen, was ihm Sorgen machen könnte. Da sitzt ein großmäulig-glücklicher Bräutigam, der morgen heiraten will und wildfremden Leuten an der Theke Drinks spendiert, sich dabei auch selbst tüchtig beschlaucht und immer betrunkener wird. Auch zu ihm, Jeff Cade, werden mehrmals Freidrinks an den Tisch gebracht. Er prostet dem Spender höflich zu wie alle anderen Gäste.
Und er wartet geduldig.
Hunger hat er nicht mehr. Denn an der Theke gibt es einen Freiimbisstisch, an dem er sich versorgte. Und überdies ist er ein genügsamer, asketisch wirkender und lebender Mann.
Und immer noch scheint alles so leicht, als kurz nach Mitternacht der glückliche Bräutigam und Freidrink-Spender aufbricht, um hinüber ins Hotel zu seiner Braut zu gehen.
»Ich – ich – la-la-lade euch alle zu mei-mei-meiner Hoch-hoch-hochzeit ein«, sagt er trunken. »Aber – aber Trauzeugen haben wir schon! He, jetzt gehe ich!«
Er schwankt hinaus.
Und Jeff Cade erhebt sich, ganz und gar ein bescheiden wirkender Mann mit sandfarbenen Haaren und wasserhellen Augen, welcher nun ebenfalls genug hat und ins Bett möchte oder mit der Postkutsche weiterfahren wird.
Für Jeff Cade scheint immer noch alles so leicht.
Denn er wird diesen betrunkenen Johnny Mahoun, auf den sein Auftraggeber ihn ansetzte, noch vor dem Hotel einholen können.
Aber dann kommt der Moment, vor dem er sich immer fürchtet, wenn er aus einem erhellten Raum in die dunkle Nacht treten muss und für Sekundenbruchteile fast blind ist, weil sich kein menschliches Auge sofort an plötzliche Dunkelheit gewöhnen kann, nicht jedenfalls von einem Augenblick zum anderen.
Doch es hilft ihm nichts. Er muss hinaus.
Indes noch die Schwingtür hinter ihm zuschlägt, gleitet er zur Seite, hinaus aus dem Lichtschein des Saloons in die Dunkelheit. Zwei oder drei Atemzüge lang wird er dann verharren.
Dann wird er wieder sehen können, nicht mehr blind sein in der Nacht.
Als er verharrt, darauf wartet, dass sich seine Augen an die veränderten Sichtverhältnisse gewöhnen, da spürt er plötzlich, dass er nicht allein ist. Jemand steht etwas seitlich hinter ihm und drückt ihm die Revolvermündung gegen die Nierengegend.
»Gehen wir ein Stück zur Seite, mein Freund«, spricht die ruhig-lässige Stimme des Mannes hinter ihm. »Was wir zu regeln haben, erledigen wir unter uns. Wenn ich bitten darf, mein Bester.«
Jeff Cade gehorcht.
Sein Instinkt warnt ihn. Es ist etwas in der Stimme des Fremden, das ihn diesen sofort richtig einschätzen lässt. Er weiß mit untrüglicher Sicherheit, dass er es mit einem Angehörigen seiner Gilde oder Kaste zu tun hat.
Deshalb gehorcht er dem Druck der Revolvermündung, lässt sich von diesem Druck gewissermaßen leiten.
Sie erreichen eine Gassenmündung und biegen in die Gasse ein.
Als sie verharren, reicht ihm der Mann über die Schulter einen Gegenstand.
»Hier, mein Freund«, sagt er zu Jeff Cade. »Dies ist guter Whisky. Der Korken ist nur leicht aufgesetzt. Trink die Flasche in einem Zug leer.«
»Und wenn nicht?« So fragt Jeff Cade heiser.
»Ich kann dir auch was auf den Hut geben, dass du eine Weile schläfst, dich dann fesseln, knebeln und irgendwohin legen, wo man dich vielleicht erst in zwei Tagen finden wird. Ist es nicht netter, wenn ich dich mit gutem Whisky für eine Weile ins Himmelreich schicke? Es dauert keine zehn Stunden mehr, dann ist das Paar verheiratet. Dann kannst du das nicht mehr verhindern. Und so weit wird Thor Starbuck wohl nicht gehen, dass er seine Tochter zur Witwe machen lässt. Da müsstest du doch wohl erst neue Instruktionen einholen – oder? Und der Vorsprung des Paares würde groß genug sein. Na, nun trink endlich, mein Freund. Besauf dich auf meine Kosten. Das ist nobel und human. Nicht wahr?«
Jeff Cade versucht erst gar nicht, zu widersprechen. Über das, was er vorhin nur instinktiv spürte, ist er sich jetzt völlig klar: Hinter ihm steht ein ebenbürtiger Mann, ein Angehöriger seiner Gilde. Und obwohl seine Gedanken tausend Meilen in der Sekunde eilen und er nach einem Ausweg sucht, findet er keine Lösung.
Er sitzt in der Falle.
Einen Moment verspürt er den wilden Wunsch, sich durch verwegene Kühnheit zu behaupten, alle Chips auf eine Karte zu setzen.
Er hat immer noch einen Colt im Holster.
In der Innentasche seiner Jacke befindet sich ein zweischüssiger Colt-Derringer. Vielleicht könnte er mit einer unauffälligen Bewegung diese Waffe in die Hand bekommen.
Denn über eines ist er sich völlig sicher: Der Mann hinter ihm würde ihn gewiss nicht in den Rücken schießen. Denn das gehört nicht zu den Regeln ihrer Kaste.
Deshalb versucht er jetzt etwas anderes. Er sagt: »Gehen wir aus der Stadt und tragen wir es dann aus, Mister Unbekannt. Gib mir die Chance von Mann zu Mann. Oder bist du zu feige?«
Die letzten Worte kommen mit beißender Schärfe.
Aber der Mann hinter Jeff Cade lacht nur leise.
»Es lohnt sich nicht«, erklärt er. »Warum sollen wir uns für ein paar Dollar gegenseitig totschießen? Nein, es gibt keinen Grund, dass wir uns duellieren.«
»Doch, den gibt es«, knirscht Jeff Cade. »Ich verliere nicht gern. Und wenn ich diese Flasche austrinken muss, so ist das eine Schmach, wie sie mir noch niemals von einem anderen Mann zugefügt werden konnte. Es gibt also Gründe. Willst du mir wirklich keine Chance geben? Bist du am Ende gar keiner von meiner Sorte, die das unsichtbare Zeichen trägt?«
»Ich habe dich an diesem unsichtbaren Zeichen sofort erkannt«, erwidert Lance Coburne sanft, denn natürlich ist er der Mann, der sich Jeff Cade schnappte. »Und nun trink endlich. Wir haben genug geredet.«
In Coburnes Stimme kam zuletzt eine endgültig klingende Kühle.
Und da seufzt Jeff Cade.
Er entkorkt die Flasche, hebt ihren Boden gegen den noch dunklen Himmel der Nacht und beginnt zu schlucken.
Da er im Saloon schon einige Drinks nahm, wird er bald mehr als nur eine volle Flasche Feuerwasser in sich haben.
Er fürchtet sich vor der Übelkeit und wird alles als schlimme Schmach empfinden. Doch er sitzt in der Falle. Der Mann hinter ihm, dessen Coltmündung er ständig spürt, ist zu sehr im Vorteil und wahrscheinlich ihm auch körperlich überlegen.
Jeff Cade leert die Flasche. Er erstickt fast dabei. Und als er sie fallen lässt und schon die beginnende Trunkenheit spürt, welche bald eine Vollbetäubung sein wird, fragt er heiser: »Deinen Namen – he, deinen Namen? Oder bist du auch zu feige, mir deinen Namen zu nennen? Ich bin Jeff Cade. Wer bist du? Sag es mir. Dieses Recht habe ich, wenn du deine Ehre nicht verlieren möchtest. Dein Name, damit ich dich suchen und diese Schmach revidieren kann. Dein Name, Mister!«
»Ich bin Lance Coburne«, erwidert dieser. Denn auch er lebt nach den Regeln jener Männer, die das unsichtbare Zeichen tragen.
Sie stehen dann noch eine Welle in der dunklen Gasse – bis Jeff Cade auf die Knie sinkt, einen Seufzer ausstößt und sich sachte schlafen legt.
Lance Coburne steht noch einen Moment bei ihm, lauscht auf die Schnarchtöne.
Und er denkt: Ich wollte nicht mehr mit dem Colt kämpfen, nicht für solch eine Sache. Ich habe mir jetzt einen Feind gemacht, der das alles als schlimmere Schmach empfindet. Verdammt, warum ist mir nichts Besseres eingefallen?
Er bückt sich, dreht den Mann auf den Rücken und fasst ihn von unten unter die Achseln. Er schleift ihn einige Schritte – selbst dabei rückwärtsgehend – bis in eine Hofeinfahrt. Gleich rechts steht ein Schuppen. Dagegen lehnt er ihn mit dem Rücken, sodass Jeff Cade halb sitzt und halb liegt. Nein, er kann ihn nicht einfach dort in dem Staub der engen Gasse liegen lassen.
Langsam geht er davon – ein Mann, der diesmal nicht mit dem Colt kämpfen wollte, weil sich dies seiner Meinung nach nicht lohnte.
Aber er hat sich einen Feind gemacht – einen neuen Feind auf dieser Erde. Und auf all seinen Wegen wird er auch an diesen Feind denken müssen. Denn vielleicht hat er nun einen neuen Schatten auf seiner Fährte, wohin er auch reiten mag.
✰
Nach dem Frühstück geht er noch einmal in die Gasse und sieht nach Jeff Cade. Dieser sitzt nicht mehr halb liegend an der Wand des Holzschuppens. Jetzt liegt er zusammengekrümmt am Boden und trägt an seinem asketischen Körper nur noch das Unterzeug.
Denn irgendwelche Fledderer haben diesen Revolvermann bis auf das Unterzeug ausgeraubt. Vielleicht hörte ihn jemand schnarchen.
In dieser Stadt hier gibt es wie überall auch jene Ratten, die von solcher Beute leben.
Aber Lance Coburne fühlt sich verantwortlich.
Als er so verharrt und den immer noch alkoholisierten Mann betrachtet, kommt jemand aus dem nahen Haus auf den Hof. Es ist eine alte Frau, die mit zwei Eimern zum Brunnen will.
Nun aber ändert sie ihre Richtung und kommt zu Lance Coburne, betrachtet wie dieser den Bewusstlosen.
»Der hat sich aber fein beschlaucht«, sagt sie schließlich sachverständig.
Lance Coburne fragt: »Wer kann ihn gefleddert haben?«
»Ach, wir haben immer ein paar Strolche hier«, erwidert sie.
Er überlegt noch und fragt sich, wo Jeff Cade seine Reisetasche haben könnte, mit der er aus der Kutsche stieg. Aber wenn er sie irgendwo in einem Winkel abstellte oder im Saloon ließ, so wird sie wahrscheinlich ebenfalls weg sein.
Er verspürt ein Gefühl der Kameradschaft in sich.
Solch eine beschämende Niederlage hat dieser Jeff Cade wahrscheinlich wirklich nicht verdient. Gewiss, sie sind hier Gegner, stehen auf zwei verschiedenen Seiten. Aber ...
Lance Coburne greift in seine Tasche und holt ein Zwanzigdollarstück hervor.
»Werden Sie ihm das geben, Ma'am?« So fragt er ernst.
Sie sieht ihm fest in die Augen, und sie ist zwei Köpfe kleiner als er, alt und verhutzelt. Aber sie hat immer noch zwei gute blaue, ehrliche Augen. Gewiss war sie einmal eine Schönheit.
Als sie lächelt, sieht er, dass sie nur noch einen einzigen Zahn hat.
»Ich werde es ihm geben«, sagt sie ruhig, »damit er sich Stiefel, eine Hose und ein Hemd kaufen kann.«
Er glaubt ihr.
Eine Stunde später, als sie aus der Missionskirche gehen, sagt er zu Johnny und Belinda Mahoun: »Die Postkutsche fährt bald ab – nein, nicht die, mit der Jeff Cade kam. Die ist schon im Morgengrauen weiter. Es ist die Kutsche der Querlinie. Sie fährt nach Osten. Nehmt sie.«
Sie nicken heftig.
Und sie fragen nicht, was er mit dem Revolvermann gemacht hat, den Belindas Vater hinter ihnen herschickte, um die Heirat zu verhindern. Nein, sie fragen nicht nach ihm, wollen nichts wissen.
Er sieht ihnen nach.
Und er fragt sich, ob diese Belinda Starbuck, die nun Mahoun heißt, mit diesem Johnny Mahoun glücklich werden wird. Er glaubt nicht, dass sie sich noch einmal wiedersehen werden.
✰
Es dauert etwa vier Monate, bis Lance Coburne erfährt, dass Jeff Cade auf seiner Fährte sitzt mit der sturen Beharrlichkeit eines Wüstenwolfs, welcher sich auf eine bestimmte Beute konzentriert hat und kein anderes Wild mehr jagen will.
Auf seiner Zickzackfährte trifft Lance Coburne auf Ringo Lane, mit dem er schon einige Male auf der gleichen Seite kämpfte für irgendwelche Auftraggeber.