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Er mag fast sechs Fuß messen, doch jetzt, da er auf dem Boden liegt, wirkt er noch länger. Er trinkt aus dem Wasserloch mit der Zufriedenheit eines Mannes, dessen Wasserflasche schon seit vielen Stunden leer ist. Neben ihm säuft der riesige Schwarzfalbe, und er tut es mit der vorsichtigen Bedächtigkeit eines edlen Pferdes. Dann wirft King jäh den schmalen Kopf hoch und schnaubt leise.
Dieses warnende Schnauben bringt Brod Lee sehr schnell auf die Beine. Er entdeckt auch sofort den Gewehrlauf zwischen den Felsen und dahinter den Kopf und die Schultern eines Mannes.
»He, Langer! Vielleicht versuchst du mal, die schöne Nachmittagssonne etwas zu kitzeln!« Die Stimme klingt nervös und heiser. Aber der Mann selbst, der sich jetzt in ganzer Größe zeigt, sieht nicht schlecht aus. Er hat fast dieselbe Figur wie Brod Lee, trägt den größten Hut und die ältesten Chaps, die Brod Lee jemals bei einem Reiter gesehen hat. Und unter dem Hut schaut brandrotes Haar hervor. Zwei grünblaue Augen leuchten etwas unruhig, halten aber Brods Blick stand.
»Nun streck sie schon zum Himmel, Bruderherz.« Der Rotkopf grinst - und es ist ein hartes, etwas verzweifeltes Grinsen, hinter dem sich tödliche Entschlossenheit verbirgt ...
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Seitenzahl: 153
Veröffentlichungsjahr: 2022
Cover
Wasser und Weide
Vorschau
Impressum
Wasser und Weide
Er mag fast sechs Fuß messen, doch jetzt, da er auf dem Boden liegt, wirkt er noch länger. Er trinkt aus dem Wasserloch mit der Zufriedenheit eines Mannes, dessen Wasserflasche schon seit vielen Stunden leer ist. Neben ihm säuft der riesige Schwarzfalbe, und er tut es mit der vorsichtigen Bedächtigkeit eines edlen Pferdes. Dann wirft King jäh den schmalen Kopf hoch und schnaubt leise.
Dieses warnende Schnauben bringt Brod Lee sehr schnell auf die Beine. Er entdeckt auch sofort den Gewehrlauf zwischen den Felsen und dahinter den Kopf und die Schultern eines Mannes.
»He, Langer! Vielleicht versuchst du mal, die schöne Nachmittagssonne etwas zu kitzeln!« Die Stimme klingt nervös und heiser. Aber der Mann selbst, der sich jetzt in ganzer Größe zeigt, sieht nicht schlecht aus. Er hat fast dieselbe Figur wie Brod Lee, trägt den größten Hut und die ältesten Chaps, die Brod Lee jemals bei einem Reiter gesehen hat. Und unter dem Hut schaut brandrotes Haar hervor. Zwei grünblaue Augen leuchten etwas unruhig, halten aber Brods Blick stand.
»Nun streck sie schon zum Himmel, Bruderherz.« Der Rotkopf grinst – und es ist ein hartes, etwas verzweifeltes Grinsen, hinter dem sich tödliche Entschlossenheit verbirgt ...
Brod Lees Rechte liegt immer noch auf dem Coltgriff.
»Langsam, Rotkopf!«, ruft er. »Was hast du denn auf dem Herzen? Wenn du in Druck bist, so kannst du die Hälfte meines Vermögens haben. Aber mit fünf Dollar ist dir wohl nicht gedient, was?«
»Ich gebe dir fünfhundert Dollar für deinen Gaul«, erwidert der Rotkopf grinsend.
»Ich handle nicht mit Pferden, Buddy!«
Der Rotkopf grinst stärker. Hinter seiner hohen Stirn scheint sich ein unabänderlicher Entschluss festzusetzen.
»Bruderherz«, sagt er, und seine Stimme wird hart. »Bruderherz, ich brauche deinen Gaul. Meiner liegt draußen auf der Weide. Tot. Streck endlich die Hände hoch! Du weißt doch ganz genau, dass du keine Chance hast. Also: Ich zähle bis drei!«
Brod Lee wirft sich plötzlich vor – ein Puma hätte nicht schneller sein können, und noch bevor er mit seiner ganzen Länge den Boden berührt, stößt seine Rechte nach vorn.
Und dann kracht der Schuss.
Brod Lee hat mitten im Sprung gezogen, gezielt und geschossen. Vor allen Dingen hat er gezielt, und die Kugel sitzt genau dort, wo er sie haben wollte – in der linken Schulter des vermeintlichen Banditen.
Dieser hatte zwar den Finger am Abzug des auf Brod Lee gerichteten Gewehres, aber er zog nicht durch, er schoss nicht, obwohl auch ein Durchschnittsschütze noch vor Brod Lee zum Schuss hätte kommen müssen.
Die Kugel reißt den Rotkopf halb herum. Er taumelt zurück, lässt die Winchester fallen und setzt sich langsam auf den Boden.
»Ich – ich hatte keine Chance. He, Bruderherz! Ich wäre – dir sehr verbunden, wenn du jetzt weiterreiten würdest.« Erst nach diesen Worten fallen dem Rotkopf die Augen zu. Er wird bewusstlos.
Brod Lee geht zu seinem Pferd und bringt etwas Verbandszeug, ein frisches Hemd und ein sauberes Handtuch zu dem Bewusstlosen. Dann bemüht er sich um ihn und flucht leise, als er feststellen muss, dass die Kugel den Körper nicht durchschlagen hat, sondern noch in der Schulter sitzt. Er stillt die Blutung, reißt dann das neue Hemd in Streifen und legt einen festen Verband an.
Dann rollt er sich eine Zigarette und wartet.
Dabei fällt sein Blick auf das Gewehr. Er nimmt es und öffnet die Patronenkammer. Sie ist leer!
Brod Lees Augen werden schmal. Sein bronzefarbenes Gesicht wird noch härter, und sein voller männlicher Mund presst sich zusammen.
Er wirft einen Blick auf den Waffengürtel des Bewusstlosen und erkennt, dass sich nicht eine einzige Coltpatrone in den Lederschlaufen befindet. Er zieht ihm den Colt aus dem Holster und klinkt die Trommel aus. Auch in dieser Waffe befindet sich keine einzige Patrone.
»Er hatte keine Chance. Er bluffte – aber dies hier war schließlich kein Pokerspiel!«
Er erhebt sich wieder und holt eine kleine flache Flasche aus der Satteltasche. Vorsichtig träufelt er dem Verwundeten etwas Whisky zwischen die Lippen. Der beginnt sofort zu schlucken und öffnet wenig später wieder seine Augen. Sein Blick ist klar.
»Partner – es ist verdammt nett von dir, dass du mich verbunden hast. Jetzt hau lieber ab – ich werde nämlich bald einen Gesang anstimmen – ich kann nun einmal keine Schmerzen vertragen. Stell die Pulle neben mich und verschwinde!«
»Ich werde dich zum nächsten Doc bringen, Buddy«, murmelt Brod Lee sanft.
»Dann werde ich dich verfluchen, Partner. Der nächste Doc ist nämlich in Pittsville. Dieser Ort liegt zwanzig Meilen östlich von hier. Gestern Abend war ich noch dort und trank die Pumaspucke, die sie da als Whisky verkaufen. Als ich dann hörte, dass ich den Posthalter ermordet haben sollte, dachte ich erst, dass ich von diesem Whisky idiotisch geworden wäre, aber ich war wohl der einzige Mensch im Ort, der noch normal war. Es gibt keinen Monarchen auf dieser Erde, der so viele Ehrensalven auf den Weg bekommen hat wie ich armer Kerl. Ah, dabei wollte ich das gar nicht haben. Schließlich entdeckte ich, dass das Kugelgezwitscher gar nicht als Ehrensalve gedacht war. Die wollten mich absolut aus dem Sattel schießen. Da wurde ich zornig, zumal ich ein paar Gläser von diesem Whisky getrunken hatte. Ich habe wohl die Salven nach besten Kräften erwidert – ich schieße nie gern auf Pferde und – aaah, du hast mir wohl eine Handvoll Pfeffer in die Wunde getan? Also, ich habe nur noch einen Wunsch: Reite weiter!«
»Ich bringe dich zum Doc«, murmelt Brod Lee sanft. »Du wirst bald Wundfieber bekommen. Die Kugel ist noch in deiner Schulter. Du musst sterben, Mister Großhut, wenn sie dir niemand rausholt.«
»Das ist ein schöner Tod, wenn ich daran denke, dass mich das zornige Volk von Pittsville hängen wird«, ächzt der Rotkopf. »Oh, der Weg des Menschen ist kummervoll und steinig. Nur manchmal trifft man am Rand eine Butterblume und ...« Der Verwundete, der wohl nur so viel geredet hatte, um sich besser über seine Schmerzen hinwegzuhelfen, bekommt verschwommene Augen. Die Schwäche überfällt ihn jetzt erst richtig.
»Mann, bring mich nicht – nach Pittsville – lass mich lieber hier ...« Mitten im Satz wird er wieder bewusstlos.
Brod Lee erhebt sich langsam. Die Abendsonne lässt sein Gesicht noch dunkler erscheinen. Sein Kopf ist gut geschnitten. Er wirkt männlich und trotz seiner düsteren Härte irgendwie sympathisch. Als er seinen Stetson in den Nacken schiebt, leuchtet sein Haar wie die Farbe eines schwarzblauen Coltlaufs.
»Und ich werde ihn doch nach Pittsville bringen«, murmelt er leise. »Er sieht nicht wie ein Mörder aus. Außerdem hängen die Leute bestimmt keinen Schwerverwundeten. Vielleicht hat man längst den richtigen Täter. Und wenn er es wirklich war, so ...«
✰
Es ist noch früher Vormittag, als Brod Lee mit dem Verwundeten Pittsville in Sicht bekommt. Der Verwundete hat hohes Fieber, ist aber noch bei vollem Verstand. Einmal hat er sich von der Schlepptrage gerollt. Brod Lee merkte es erst, als er schon hundert Yards weiter geritten war.
»Wenn du das noch einmal riskierst, gebe ich dir eins auf die Kokosnuss und binde dich fest!«
»Fahr zur Hölle, du Schuft! Ich wäre sowieso an der Quelle umgekommen. Weshalb willst du mich absolut hängen sehen?«
»Du sollst erst einmal gesund werden«, brummt Brod.
Brod Lee erkennt, dass Pittsville schon in wenigen Jahren tot sein wird. Das Weideland ist zu trostlos. Vielleicht war es früher besser, jetzt jedenfalls gibt es schon fast mehr Sand als Weidegras. Und inmitten dieser Wüste, die durch einige Sandstürme geschaffen worden ist, liegt Pittsville.
»He, ist das Nest schon in Sicht?«, krächzt der Rotkopf.
»Ich sehe ein paar elende Keksschachteln in trauriger Einsamkeit«, erwidert Brod Lee brummig.
»Das ist Pittsville. Aber Bruderherz, du weißt nicht, was du tust, wenn du mich dorthin schleppst.«
»Ich heiße Brod Lee, Mister Großhut.«
»Lee? Lee? Oha, einer von der Lee-Sippe, die in Südtexas die große Klappe führt? Oh, ich bin mal vor zwei Jahren durch diesen Distrikt geritten. Gehörst du zu dieser großspurigen Sippe?«
»Mein Vater heißt King Jim Lee, aber ich gehöre nicht mehr zur Familie. Ich erzähle dir das, weil du wissen sollst, dass ich es niemals zulasse, dass du aufgeknüpft wirst, wenn es auch nur den geringsten Zweifel an deiner Schuld gibt. Du hattest keine Chance. Deine Waffe war Bluff. Das Verhältnis war zu einseitig. Warum soll ich dir nicht eine Chance geben?«
»An deinen großspurigen Worten erkenne ich, dass du zu den großmäuligen Lees gehörst. Sie werden mich hängen. Und wenn du dagegen Protest einlegen solltest, werden dich die sauberen Knaben von Pittsville zu Niespulver zerreiben. Nun gut, ich heiße Steve Wayne.«
»Ah, du gehörst doch nicht etwa zu der dickschädeligen Wayne-Sippe, die den Krieg gegen die Rustler gewonnen hat?«
»Sicher, und was den Krieg betrifft, so blieben auch nur drei Waynes und dreihundertdreiunddreißig Rinder übrig. Aber du hast schon recht: Die Lees sind großspurig und wir Waynes gehen mit dem Kopf durch die Wand. Jedem Tierchen sein ...«
»Da kommen zwei Reiter aus dem Ort«, unterbricht Brod Lee den Verwundeten. »Einer reitet ein löwengelbes Pferd.«
Der Verwundete stößt einen heiseren Fluch aus.
»Pass auf, Bruderherz, gleich lernst du einen netten Knaben kennen, der dich deine verdammte Großspurigkeit vergessen lässt.«
»Du meinst den Gorilla auf dem gelben Pferd?«
»Ja, das ist Pongo Dan – er heißt Dan Hunter und ist der erste Vormann der Lazy H Ranch. Man erzählt sich, dass Dan Hunters Großvater noch ein richtiger Gorilla im Urwald gewesen sei. Wenn ich dir einen guten Rat geben darf, so lass ihn ...« Steve Wayne verstummt. Seine Worte waren nur noch ein schmerzvolles Krächzen.
Brod Lee hält sein Pferd an und erwartet die beiden Reiter, die nun bis auf fünfzig Yards herangekommen sind und ihre Tiere in Schritt fallen lassen.
Langsam kommen sie näher.
Dan Hunter hat wirklich die unverkennbaren Merkmale eines Urmenschen. Kurzes Haar, eine fliehende Stirn, eine lächerlich kleine Nase. Der Kopf ist klein und rund und der Hals dick und muskulös. Und dann kommt ein mächtiger Brustkorb. Seine Arme sind so gewaltig, dass er sie nicht an die Seiten seines Körpers anlegen kann.
Dann betrachtet Brod Lee den anderen Mann. Und da weiß er, dass dieser Mann der eigentliche Kopf der Muskelmaschine ist.
Dieser Mann ist klein, drahtig, grauhaarig, verwittert und sicherlich hart. Das ist ein rücksichtsloser, listiger, mit allen Wassern gewaschener Pirat, denkt Brod Lee und weiß auch schon, wie dieser Mann heißt. Auch von ihm hat er schon an den Camp- und Herdenfeuern der Texasweide gehört.
Die beiden Reiter halten neben ihm, sodass sie einen Blick auf die Schlepptrage werfen können. Es ist nur ein einziger blitzschneller Blick. Im Gesicht des Riesen bewegt sich nichts. Sogar seine Augen verändern sich nicht im Ausdruck.
Aber er greift nach seinem Colt, der an seiner Seite eigentlich wie ein harmloses Kinderspielzeug wirkt.
Doch Brod Lee ist schneller. Pongo Dans Coltlauf befindet sich noch im Holster, als Brod Lee ihm schon die Waffe unter die Nase hält.
»Immer langsam«, murmelt er dabei lässig. Er beobachtet Pongo Dan aber nur aus den Augenwinkeln und richtet seine Aufmerksamkeit mehr auf den kleinen, grauhaarigen Reiter. Dieser hat sich bisher noch nicht bewegt. Ganz ruhig sitzt er im Sattel und starrt auf Steve Wayne.
»Lass das, Dan«, murmelt er dabei.
Der Vormann zeigt sein Riesengebiss und stößt die Waffe ins Holster. »Gut, Boss – sie werden ihn ja doch aufhängen«, knurrt er kehlig.
Steve Wayne starrt aus fiebrigen Augen auf den Grauhaarigen, der sich immer noch nicht bewegt. »Na, Sie alter Pirat! Heute ist sicherlich ein Feiertag für Sie, was?«
Das Gesicht des Grauhaarigen bleibt immer noch eine einzige Pokermaske. Er gibt keine Antwort, wendet langsam den Kopf und betrachtet Brod Lee.
»Ganz Pittsville wird Ihnen dankbar sein, Fremder. Der Posthalter war ein beliebter Mann. Sie wissen vielleicht noch nicht, dass tausend Dollar auf den Kopf des Mörders ausgesetzt sind. Ich freue mich, dass Sie dem Gesetz dienen und Steve Wayne dem Gericht übergeben. Das Volk wird sprechen. Ah, wenn ich mal etwas für Sie tun kann, Fremder – mein Name ist Nathan Boon. Ich leite die Lazy H Ranch. Sie werden sicherlich in Pittsville Ehrenbürger werden.«
Nach dieser würdigen Rede zieht Nathan Boon sein Pferd herum und reitet weiter. Sein Vormann starrt eine Weile dumm auf Brod Lee. Es ist nicht erkennbar, welche Gedanken sich in Dan Hunters Gehirn wälzen. Plötzlich erscheint in den kleinen, gelben Augen des Riesen ein heißer Funke.
»Wir werden uns noch einmal sehen – dann ...« Hunter bricht ab, wendet den kleinen, runden Kopf und starrt auf Steve Wayne hinunter.
»Vielleicht werde ich deine Schwester trösten können«, murmelt er kehlig.
Steve beginnt vor Zorn zu zittern.
Nun zieht der Riese ebenfalls sein Pferd herum und folgt seinem Rancher.
Brod Lee sieht ihm lange nach.
»Er sieht wie ein nachgemachter Mensch aus, aber ich wette, er ist innerlich von einem Menschen so verschieden wie ein Biber von einem Fisch – und doch leben beide im Wasser.«
Lee murmelt die Worte eigentlich für sich, aber der verwundete Steve scheint hellhöriger als ein Gesunder zu sein.
»Der ist zwanzigtausend Jahre zu spät geboren«, murmelt er bitter. Steve Waynes Stimme wurde immer leiser und schwächer. Nun fällt sein Kopf müde zur Seite. Aber er ist nicht bewusstlos geworden. Seine Augen sind noch geöffnet. Sie leuchten fiebrig. Es ist auch Angst, Verzweiflung und Not in diesem stummen Starren zu erkennen.
Brod Lee macht eine leichte Körperbewegung. King läuft weiter. Zehn Minuten später erreichen sie die ersten Häuser von Pittsville und biegen in die einzige Straße ein.
Zuerst geschieht nicht viel. Ein Reiter führt sein frisch beschlagenes Pferd aus dem Hof der Schmiede, der bullige Schmied begleitet ihn bis ans Tor. Als Brod Lee mit seiner Trage an ihnen vorbeireitet, wenden sie neugierig die Köpfe.
Lee nickt ihnen etwas nachlässig zu und hält sich nicht auf.
»Das war doch Steve Wayne, der elende Strolch!«, grollt die Stimme des Schmieds hinter ihnen her.
Steve Wayne hustet hinter Brod auf seiner Trage.
»Jetzt geht's los! Bring mich schnell ins Gefängnis, sonst hab ich so viel Chancen wie ein Wurm am Angelhaken«, krächzt er schwach.
Der Reiter, der eben noch beim Schmied stand, reitet schnell hinter ihnen her und zügelt seinen Braunen neben Lee.
»Wo haben Sie ihn erwischt? Es ist für uns sehr ärgerlich, dass ausgerechnet ein Fremder diesen Kerl angeschleppt bringt, aber ...«
»Wo ist das Sheriff's Office?«, unterbricht Brod Lee den Mann. Er wirft dabei einen schnellen Blick auf den Mann und weiß schon jetzt mit Sicherheit, dass es sich um einen Drei-Kühe-Rancher handelt.
»Da vorn! Ich reite voraus!« Der Mann ruft es mit erregter Stimme und treibt den Braunen vorwärts.
Brod Lee flucht leise über die Staubwolke. Und er flucht etwas lauter, als er durch diese Staubwolke nun das Gebrüll des verrückt gewordenen Mannes vernimmt: »Wir haben den Mörder! Ein Fremder hat den Mörder gefangen! Leute! Steve Wayne liegt auf der Trage! Leute, Wayne ist noch lebendig genug, um aufgeknüpft werden zu können! Eh, Pittsville, Steve Wayne ist im Ort!«
»Oh, ich habe diesem Kümmerling schon mal ein paar von unseren Kühen aus der Treibherde geholt«, ächzt Steve hinter Brod.
Auf den hölzernen Gehsteigen wird es jetzt lebendig. Einige Leute kommen aus dem General Store gelaufen. Aus dem Barbierladen stürzt ein Mann mit eingeseiftem Gesicht – hinter ihm rennt der Barbier mit geschwungenem Messer. Aus der Gentlemen Bar kommen noch mehr Leute. Frauen und Kinder tauchen auf.
Und dennoch sind es höchstens drei Dutzend Leute, die Pittsville auf die Beine bringt. Es ist wohl doch so, dass alle waffenfähigen Männer noch nach dem vermeintlichen Mörder suchen, der ihnen in der vorletzten Nacht entkommen war.
Die Leute laufen nun neben der Schlepptrage her.
Steve Wayne hört das Gemurmel und die wilden Drohungen wie das Rauschen eines fernen Wasserfalls. Vor seinen geschlossenen Augen drehen sich feurige Kreise. Seine Sinne schwinden langsam.
Brod Lee werden viele Fragen zugerufen. Er hört aber auch viele anerkennende Worte. Er beantwortet keinen der Zurufe, lächelt nur schmal, vielleicht ein wenig verächtlich und erreicht mit der ihn begleitenden und immer noch anwachsenden Menge die Veranda eines einzelnen Hauses.
Dort stehen drei Männer. Einer davon ist der vorausgerittene Drei-Kühe-Rancher, der andere ist ein krummbeiniger Gartenzwerg, auf dessen roter Säufernase eine schäbige Brille ihre letzten Tage genießt, und der dritte Mann ist der Sheriff. Der linke Arm des Sheriffs ist verbunden – die Hand scheint sogar in Gips verpackt – und liegt in einer Schlinge vor der schmalen Brust. Das Gesicht des Sheriffs ist wie mit Leder überzogen. Brod Lee hat noch nie so viele Runzeln und Fältchen in einem harten Männergesicht gesehen. Die Augen des Sheriffs sind rauchgrau.
»Bringt ihn herein«, sagt er in die entstandene Stille.
Bevor jemand aus der Menge reagiert, gleitet Brod Lee aus dem Sattel. »Mach ich selbst, Sheriff.« Er tritt hinter seinen Schwarzfalben und nimmt den schwergewichtigen Wayne von der Trage, als wäre dieser ein halbwüchsiger Knabe. Man sieht Brod Lee kaum eine Anstrengung an, nur die Halsmuskeln treten etwas stärker hervor. Mit seiner Last steigt er die drei Stufen hinauf. Der Brillenträger öffnet die Haustür. Als der Drei-Kühe-Rancher folgen will, hält der Sheriff ihn zurück und wendet sich an die murmelnde Menge, die jäh verstummt.
»Unser Doc wird ihn wieder auf die Beine bringen. Und dann wird die Jury ihre Pflicht tun. Geht nach Hause, Leute, und sagt allen anderen, dass Steve Wayne nur als gesunder Mann vor die Jury treten wird. Hämmert dies allen Hitzköpfen ein!«
Dann wendet er sich um und schließt die Tür hinter sich. Hinter ihm brandet das anschwellende Gemurmel wieder auf. Eine wütende Stimme gellt: »Warum so viel Umstände mit dem Mörder?«
Dann fallen andere Stimmen ein:
»Er hat unserem Posthalter auch keine Chance gegeben!«
»Er sollte heute noch an einem Ast hängen!«
»Der Sheriff war schon immer sein Freund!«
Es wird noch mehr gerufen, aber dann zerstreut sich die Menge langsam. Kleine Gruppen bilden sich überall auf der Straße, die alle die gleichen Dinge lebhaft diskutieren.
Indes hat der Sheriff die Tür verriegelt. Im Hintergrund des großen Raumes befinden sich drei Gitterkäfige.
»Legen Sie ihn in die linke Zelle. Dort ist ein Strohsack auf der Pritsche. Doc, gehen Sie an die Arbeit. Machen Sie ihn verdammt schnell gesund. Ich will, dass er in halbwegs guter Verfassung vor die Jury tritt. Nur ein gesunder Mann kann sich verteidigen.«
Brod Lee begreift, dass der rotnasige Brillenträger der Doktor des Ortes ist. Er legt den Verwundeten vorsichtig auf die Pritsche und tritt wieder aus der Zelle. Aus den hinteren Räumen kommt ein Schwarzer ins Office.