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Einen Tagesritt vor El Paso hielten wir an. Trotz der Handschellen saß Jim Hardin leicht und geschmeidig ab, kniete sich neben seinem Pferd an der Wasserstelle nieder und wusch sich zuerst Staub und Schweiß aus dem Gesicht, bevor er das klare Wasser trank.
Ich hielt mich etwas abseits von Hardin, denn ich wollte ihn nicht in Versuchung führen, mir einen der Steine, die am Rand der Wasserstelle lagen, auf den Schädel zu schlagen.
Übrigens ‑ mein Name ist Ben Craig, und damals, als ich mit Jim Hardin nach El Paso unterwegs war, war ich US Deputy Marshal, achtundzwanzig Jahre alt, und ich hielt mich für einen tüchtigen Burschen, der sich überall behaupten konnte.
Nachdem wir getrunken hatten, grinste Jim Hardin mich an und sagte: »Hast du etwa Angst vor mir, Ben?«
Ich sagte nichts, sah ihn nur an, etwas kritisch und zweifelnd.
»Das tut mir weh«, behauptete er und legte seine Hände gegen die Brust. »Ich sehe ja ein, dass du mich gefesselt transportieren musst, doch dass du mich wie ein gefährliches Raubtier behandelst, schmerzt mich sehr. Schließlich sind wir alte Freunde aus dem Krieg.«
Ich gab ihm keine Antwort. Ich war verwirrt. Vielleicht hatte er recht ...
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Seitenzahl: 158
Veröffentlichungsjahr: 2022
Cover
Pfad der Gesetzlosen
Vorschau
Impressum
Pfad der Gesetzlosen
Einen Tagesritt vor El Paso hielten wir an. Trotz der Handschellen saß Jim Hardin leicht und geschmeidig ab, kniete sich neben seinem Pferd an der Wasserstelle nieder und wusch sich zuerst Staub und Schweiß aus dem Gesicht, bevor er das klare Wasser trank.
Ich hielt mich etwas abseits von Hardin, denn ich wollte ihn nicht in Versuchung führen, mir einen der Steine, die am Rand der Wasserstelle lagen, auf den Schädel zu schlagen.
Übrigens - mein Name ist Ben Craig, und damals, als ich mit Jim Hardin nach El Paso unterwegs war, war ich US Deputy Marshal, achtundzwanzig Jahre alt, und ich hielt mich für einen tüchtigen Burschen, der sich überall behaupten konnte.
Nachdem wir getrunken hatten, grinste Jim Hardin mich an und sagte: »Hast du etwa Angst vor mir, Ben?«
Ich sagte nichts, sah ihn nur an, etwas kritisch und zweifelnd.
»Das tut mir weh«, behauptete er und legte seine Hände gegen die Brust. »Ich sehe ja ein, dass du mich gefesselt transportieren musst, doch dass du mich wie ein gefährliches Raubtier behandelst, schmerzt mich sehr. Schließlich sind wir alte Freunde aus dem Krieg.«
Ich gab ihm keine Antwort. Ich war verwirrt. Vielleicht hatte er recht ...
Als mir der US Marshal vor einigen Tagen den Befehl gab, Jim Hardin nach El Paso zu einer Gegenüberstellung zu bringen, hätte ich ablehnen und auf unsere alte Kriegsfreundschaft hinweisen können. Doch ich tat es nicht, weil George Shafter, mein Kollege, mit dabei war, ich also nicht allein mit Jim Hardin reiten musste.
In der vergangenen Nacht aber war US Deputy George Shafter krank geworden. Er musste das Wasser unterwegs nicht vertragen haben. Jedenfalls bekam er Magenkrämpfe und Durchfall, Schüttelfrost und Fieber.
Wir konnten nicht auf seine Gesundung warten, und ich ritt mit dem Gefangenen allein weiter.
Nun saß ich also mit ihm – nur einen Tagesritt von El Paso entfernt – an der Wasserstelle und überlegte, ob wir nicht doch noch gute Freunde waren und ich ihm nicht die Fesseln abnehmen konnte.
Wir waren während des Krieges vier Jahre lang zusammen gewesen. Er hatte mir nicht nur das Leben gerettet, als ich getroffen im Shenandoah-Fluss versank, wir hatten auch all die lange Zeit wie Brüder Not und Gefahr geteilt und zusammengehalten.
Erst später in der Gefangenschaft kamen wir auseinander und fanden uns nicht wieder, bis ich den Auftrag erhielt, mit einem Kollegen einen Gefangenen nach El Paso zu bringen.
Er stand im Verdacht, die Postkutsche von Santa Fe nach El Paso angehalten und beraubt zu haben. Dabei war einer der Männer auf dem Bock erschossen und der andere schlimm verwundet worden. Letzterer, der Fahrer des Geldtransportes, sollte in der Lage sein, den Banditen zu erkennen, und da er verwundet nicht reisen konnte, mussten wir zu ihm.
Ich sah Jim Hardin an. Er hielt meinem Blick stand.
Dann sagte er: »Na schön, du brauchst mir ja nicht zu vertrauen. Du bist jetzt Deputy Marshal der Bundesregierung. Und weil sich die Zeiten geändert haben, brauchst du gar nicht mehr daran zu denken, dass wir mal ...«
Er sprach nicht weiter, sondern winkte mit seinen gefesselten Händen ab. Dann drehte er sich zur Seite und kümmerte sich um sein Pferd, so gut er konnte.
Auch ich versorgte mein Pferd. Dann füllte ich unsere Wasserflaschen. Nachdem dies geschehen war, zogen wir uns ein Stück von der Wasserstelle auf einen höher gelegenen Punkt zurück.
In diesem Land war es gefährlich, an Wasserstellen zu lagern, wenn man allein mit einem Gefangenen war. Es gab nicht nur wilde Apachen, sondern auch Banditen. Und diese würden ihrem Artgenossen gewiss aus der Patsche helfen, denn eine Hand wäscht die andere.
Wir bezogen also ein verborgenes Camp. Ich vermied es, ein Feuer anzumachen. Aber als ich unseren Proviant ausgepackt hatte, löste ich Jim Hardin die Handschellen, nachdem er mir vorher noch mal sein Wort darauf gab, dass er mit dem Überfall auf die Postkutsche nichts zu tun gehabt hatte und er auch nicht versuchen würde auszureißen, weil er sich mit gutem Gewissen vor dem Postkutschenfahrer blicken lassen könnte.
Ich glaubte ihm. Seine Worte hatten mich überzeugt. Ich schämte mich sogar, ihn bisher wie einen Fremden behandelt zu haben. Solange George Shafter noch bei uns gewesen war, hatte Jim Hardin mit keinem Wort erwähnt, dass wir alte Kriegskameraden waren.
Auch dies rechnete ich ihm irgendwie hoch an.
Während die Sonne im Westen versank, saßen wir uns gegenüber und aßen unseren kalten Proviant.
»Es tut gut zu wissen, dass du die alten Zeiten noch nicht ganz vergessen hast, Ben«, murmelte Jim Hardin, den sie früher oft Rebellen-Jim oder Rebellen-Hardin riefen.
Er war so groß wie ich, vielleicht einige Pfund schwerer. Er war prächtig gebaut und auf männliche Art fast hübsch. Er hatte braunes Haar, grüne Augen und blitzende Zähne. Ich konnte mich daran erinnern, dass er überall Glück bei Frauen hatte.
In den vergangenen Jahren war er offensichtlich härter und reifer geworden. Damals, als wir uns als Soldaten der Texasbrigade zum ersten Mal trafen, waren wir zehn Jahre jünger. Und vor genau acht Jahren – es war 1862 in Virginia – hatte er mir das Leben gerettet.
Er aß, trank Wasser aus der Flasche und grinste mich manchmal an. Er wirkte wie ein Mann, der sich wegen der Gegenüberstellung in El Paso keine Sorgen machte.
Und warum auch? Es gab wahrscheinlich noch viele Männer in Texas und New Mexico, auf die jene Beschreibung passen würde, nach der man ihn festgenommen hatte.
Das waren meine Gedanken, während wir uns mit den Wasserflaschen zutranken, als wäre guter Wein darin.
»Wenn wir alles hinter uns haben«, sagte Jim plötzlich ernst, »muss ich höllisch schnell heim. Meine Frau wird sich jetzt schon große Sorgen machen.«
»Du hast eine Frau?« Ich staunte, denn irgendwie konnte ich es mir nicht vorstellen, dass es eine Frau gab, die ihn einfangen konnte.
Er grinste und nickte heftig.
»Die beste Frau auf dieser Erde«, sagte er überzeugt. »Mit blondem Haar und braunen Augen. Und zwei Kinder habe ich. Meine Familie lebt im Pecos-Land in der Nähe von Roswell. Ich war nach Carrizozo geritten, um mit den Minen der Umgebung einige Fleischkontrakte abzuschließen. Dabei wurde ich festgenommen, weil ich einem Posträuber ähnlich sein soll. Nun, morgen wird das geklärt.«
Er sagte es überzeugt und wie ein Mann mit reinem Gewissen.
Ich aber staunte immer noch darüber, dass er eine Familie hatte.
»Du musst uns unbedingt besuchen«, sagte er. »Ich habe Ann schon mehrmals von dir erzählt. Meine Ranch ist noch klein. Doch ich bin über dem Berg, wie man so sagt.«
Ich staunte immer mehr. Irgendwie konnte ich ihn mir nicht als Familienvater und treuen Ehemann vorstellen.
Er war Rebellen-Jim, hatte stets überall Wirbel veranstaltet und wild und heftig gelebt. Als Soldat hatte er immer wieder bei Sonderaufgaben, die einen besonderen Mann erforderten, sein Leben eingesetzt. Oft hatte er mich als Begleiter unter den anderen Freiwilligen ausgesucht.
Und jetzt war er verheiratet, hatte zwei Kinder und war dabei, eine kleine Ranch aus den Anfängen hochzubringen.
Ich konnte das nicht so schnell verarbeiten.
Er kam im letzten Abendlicht zu mir herüber und hielt mir seine Handgelenke hin.
»Lass nur«, sagte ich grinsend. »Ich habe ja dein Wort. Meine Vorschriften sagen zwar, dass ich im Dienst auch bei eigenen Verwandten und Freunden keinerlei Ausnahmen machen darf. Doch ich pfeife auf diese Vorschriften. Wo kämen wir denn hin, wenn sich zwei alte Partner und Freunde nicht aufeinander verlassen könnten?«
»Ja, das meine ich auch«, sagte er. »Und ich danke dir, dass du die alten Zeiten nicht vergessen hast. Es hätte mich wirklich sehr geschmerzt.«
Wir wickelten uns nach diesen Worten schweigend in unsere Decken.
Ich wollte mich noch gerne mit ihm unterhalten. Doch ich merkte schon bald, dass er von einem Atemzug zum anderen eingeschlafen war. Das war kein Wunder. Auch ich war müde nach diesem langen Tag im Sattel bei höllischer Hitze und viel Staub.
Ich dachte noch: Wie gut, dass ich sein Wort habe und ihm vertrauen kann. Sonst müsste ich wieder lange Stunden wachen. Aaah, heute kann ich schlafen. Er ist mein alter Kamerad, der mir mal das Leben rettete. Ich war ein Narr, es zwei Tage lang zu vergessen. Aber vielleicht war es wegen George Shafter gewesen. Der war schon immer so misstrauisch wie ein Wolf.
Mit diesen Gedanken schlief ich ein.
✰
Irgendwann wurde ich wach. Ich sah sofort, dass Jim Hardin schon zum Abritt fertig war. Es war noch Nacht. Mond und Sterne verbreiteten strahlende Helligkeit.
Ich stand auf – und weil mein Colt fehlte, den ich griffbereit unter der Decke liegen hatte, da wusste ich auch schon, was gespielt wurde.
Mein Gewehr hatte er ebenfalls – denn er saß auf meinem Pferd und hatte das Gewehr im Sattelschuh.
Mit dem Colt zeigte er auf mich und sagte: »Ben, du bist ein blöder Hund, der noch an das Gute zwischen alten Freunden glaubt. Doch die Welt dreht sich fortwährend. Alles wird anders. Ich wusste, dass ich dich auf die Schmalztour herumbekommen würde. Natürlich bin ich jener Posträuber. In El Paso würden sie mich aufhängen, denn der Begleitmann, den ich erschoss, hat dort viele gute Freunde. Ben, ich habe fünfzigtausend Dollar Bundesgelder erbeutet. Zum Glück habe ich sie nicht mit nach Carrizozo genommen, als ich dorthin kam, um mir Proviant und ein frisches Pferd zu beschaffen. Aber jetzt hole ich mir das Geld und mache mich auf den Weg nach Norden. Um dich tut es mir leid, Ben. Doch, wie schon gesagt, Bruderherz, die Welt dreht sich.«
Nach diesen Worten drückte er ab.
Ich reagierte schnell. Obgleich er mich reingelegt hatte, weil ich so vertrauensselig war, langsam war ich nie gewesen.
Aber die Kugel riss mich von den Beinen.
Bevor ich am Boden aufschlug und dann von der Felsterrasse fiel, auf der wir das Lager hatten, spürte ich, wie sich die Welt rasend drehte.
Als ich erwachte, lag ich in der heißen Sonne. Irgendwie brachte ich es fertig, in den Schatten einiger großer, mit Gestrüpp bewachsener Felsblöcke zu kriechen.
Dann verlor ich wieder die Besinnung.
Bei meinem zweiten Erwachen war es Nacht – eine Nacht wie jene am Vortrag, als ich meinem alten Freund, Kriegskameraden und Lebensretter Jim Hardin vertraute.
Ich glühte vor Fieber. Mein Kopf schmerzte höllisch. Ich hatte das Gefühl, dass er doppelt so groß wie normal geworden war.
Mein Durst war schlimmer. Ich begriff instinktiv, dass ich sterben würde, wenn es mir nicht gelang, zum Wasser zu kommen.
Aber es dauerte eine Weile, bis ich mich dazu zwingen konnte, mich auf den Weg zu machen. Die Entfernung zur Wasserstelle betrug in Luftlinie kaum mehr als hundert Yards.
Der wirkliche Weg dorthin war dreimal so lang. Man musste viele Hindernisse umgehen und einen Höhenunterschied von fast vierzig Yards überwinden.
Ich war restlos erledigt, als ich beim Wasser auf das Gesicht fiel. Nach einer Weile jedoch konnte ich trinken und mich erfrischen. Als ich mir das Gesicht waschen wollte, berührte ich verkrustetes Blut. Es bedeckte meine rechte Kopfseite und das Ohr. Die Kugel musste mir drei Fingerbreit über dem Ohr eine Furche gezogen haben.
Dann war ich abgestürzt und mit dem Kopf aufgeschlagen.
Eigentlich war es ein Wunder, dass ich noch lebte.
Aber was nun?
Während ich Wasser trank, mein Gesicht wusch, die Handgelenke kühlte und versuchte, das verkrustete Blut vom Ohr und aus dem Haar zu bekommen, bemühte ich meinen schmerzenden Kopf, versuchte nachzudenken und meine Chancen auszurechnen.
Ich hatte keine.
In diesem Land war ein Mann ohne Pferd verloren.
Ich hatte auch keine Waffe mehr, keine Ausrüstung und, vor allen Dingen, keine Wasserflasche.
Wie sollte ich dreißig oder vierzig Meilen zu Fuß nach El Paso kommen?
Irgendwann in dieser Nacht schlief ich wieder ein. Doch ich wälzte mich schon bald in wilden Fieberträumen.
Als ich bei Tag endlich wieder zu Verstand kam, fühlte ich mich nicht nur merklich besser. Ich war auch nicht mehr allein.
Mein Kollege George Shafter war gekommen.
Es war Nachmittag, und er war offensichtlich schon einige Stunden bei mir.
Wir betrachteten uns eine Weile schweigend. In seinen Augen erkannte ich einen harten, fast feindlichen Ausdruck. Aber vielleicht irrte ich mich, und er hatte ganz einfach nur wieder Magenkrämpfe und fühlte sich nicht gut. Sein hageres Gesicht wirkte jedenfalls noch sehr fahl, und er sah aus wie eine Whiskyleiche.
Es war aber mein Glück, dass er sich nicht lange aufgehalten hatte, sondern sich daranmachte, uns zu folgen, nachdem es ihm etwas besser ging. Aber anstatt einen Tag nach uns in El Paso anzukommen, hatte er mich hier an dieser Wasserstelle gefunden.
»Du brauchst mir gar nichts zu erzählen«, murmelte er. »Im Fiebertraum hast du immer wieder davon gesprochen, wie Rebellen-Jim Hardin dich reinlegte, weil du ihm vertrautest. Und vom Krieg sprachst du. Er hat dir im Krieg das Leben gerettet. Es ist verdammt merkwürdig, dass weder der Marshal noch ich etwas von dir davon erfuhren. Du hättest es sagen müssen. Ben, er ist dir entkommen, weil du versagt hast. Und wenn er auf seiner Fährte noch weitere Tote zurücklassen sollte, dann kommen diese nicht zuletzt auf dein Konto.«
Ich hatte dazu nichts zu sagen.
Er sprach die Wahrheit.
Ich hatte einen Tiger von der Kette gelassen, den man mit viel Glück und durch Zufall eingefangen hatte.
Und zum zweiten Mal würde es dieses Glück und solch einen Zufall gewiss nicht geben. Jim Hardin war kein Bursche, den man so leicht wieder einfangen konnte.
»Wir müssen nach Carrizozo«, sagte ich mühsam. »Er ist dort hingekommen, um sich Proviant und ein frisches Pferd zu beschaffen. Er hat seine Beute vor der Stadt versteckt. Dann ist er erkannt und festgenommen worden. Er hatte bei dieser Festnahme keine Chance, weil der Mann, der ihn erkannt hat, ihm eine geladene Schrotflinte in den Rücken drückte und sofort genügend bewaffnete Männer zur Stelle waren. George, er wird nach Carrizozo geritten sein, um dort die Beute aus dem Versteck zu holen.«
»Und er hat zwei Tage Vorsprung«, murmelte George. »Er hat zwei Pferde, die er abwechselnd reiten kann. Wir aber müssen zu zweit auf einem Pferd reiten. Ben, er ist dir entkommen. Und ich werde natürlich dem Marshal Meldung machen müssen, dass ihr euch kanntet und du ihm dein Leben verdankst.«
Ich hatte nichts mehr zu sagen.
Wahrscheinlich hatte er recht. Ich war ein vertrauensseliger, blöder Hund, unfähig, den Stern eines US Deputy Marshals zu tragen.
✰
Abe Thompson war nicht groß von Wuchs. Er war am besten mit einem eisgrau gewordenen Falken zu vergleichen, der stets eine gute Jagd hatte und auch noch im Alter eine Menge Tricks beherrschte, die ihn dazu befähigten, unter anderen Falken einen außergewöhnlichen Rang einzunehmen.
Abe Thompson war US Marshal.
Bevor er mich kommen ließ, hatte George Shafter ihm einen genauen Bericht erstattet, sodass ich eigentlich gar nichts mehr zu sagen hatte.
Ich trat an seinen Schreibtisch und legte ihm meinen Deputystern hin.
»Es tut mir leid«, sagte ich. »Leider fand ich zu spät heraus, dass ich für diesen Job nicht hart und kalt genug bin. Ich hätte auch einem alten Freund nicht trauen dürfen, solange dieser unter Mordverdacht stand. Und natürlich hätte ich vorher sagen müssen, dass wir alte Kriegskameraden waren und ich mich in seiner Schuld befand. Werden Sie mich anklagen, Marshal?«
Er sah mich schweigend an – lange, und ich konnte spüren, wie seine Ausstrahlung in mich eindrang, in mir forschte und prüfte.
Er war hart. Es gab keine Schwächen an ihm, und er ließ sich schon gar nicht auf Sentimentalitäten ein.
Er nahm schweigend meinen Stern und warf ihn in eine Schublade seines narbigen Schreibtisches.
Dann schüttelte er seinen Kopf und sagte: »Nein, ich verzichte darauf, dein Versagen unter Anklage wegen Beihilfe zur Flucht stellen zu lassen. Es ehrt dich menschlich, dass du an die Unschuld und das Wort eines alten Kriegskameraden glaubtest. Aber für einen Job, wie du ihn als mein Deputy hattest, macht dich das untauglich. Geh Kühe hüten und glaub an das Gute und Reine auf dieser Welt!«
Er sagte es hart und meinte es auch so.
Als ich mich umwandte und mit drei Schritten an der Tür war, sagte er: »Aaah, da ist noch etwas, mein Junge. Vielleicht würdest du es ohnehin erfahren.«
Ich hielt an und drehte mich um.
Sein Blick war hart. Und auch seine Stimme war voll trockener Härte, als er sagte: »Jener Mann in Carrizozo, der Jim Hardin nach der Beschreibung erkannt und dessen Verhaftung bewerkstelligt hatte, ist tot. Es war der Posthalter. Er hat damals als erster Mensch in Carrizozo die Meldung vom Postraub und die Beschreibung des Täters bekommen und dann eine Minute später den Beschriebenen auf einem erschöpften Pferd in die Stadt reiten sehen. Er war ein tüchtiger Mann, dieser Posthalter. Jetzt ist er tot. Wer mag ihn wohl nachts durch ein erleuchtetes Fenster in seinem Postbüro vom Stuhl geschossen haben?«
Die Frage traf mich wie ein Hammerschlag.
Ich wusste sofort, dass ich am Tode des Posthalters mitschuldig war. Denn ich hatte Jim Hardin die Flucht ermöglicht.
Wie ein begossener Pudel stand ich da.
Rebellen-Jim Hardin war ein verdammter Mörder! Und dass er wieder in Freiheit war und weitermorden konnte, verdankte er meiner Vertrauensseligkeit.
Ich konnte Abe Thompson nur anstarren, musste dann mühsam schlucken und ging hinaus.
Draußen im Vorzimmer war George Shafter. Er sah mich abweisend an. Er war mit Leib und Seele Marshal und stellte seine Pflicht über alles. Er hätte wahrscheinlich dem eigenen Bruder nicht vertraut, weil dies gegen die Vorschrift gewesen wäre.
War das gut oder schlecht?
Ich wünschte damals, dass ich so hätte sein können wie er.
Aber ich sagte nichts. Ich ging hinaus und in mein Quartier, wo ich meine Siebensachen, die dort noch waren, zusammenpackte.
Ich besaß auch noch ein zweites Pferd.
Ein paar weitere Deputy Marshals saßen herum. Hier im Hauptquartier hatte der Marshal immer einige Deputys zur Verfügung, um sie rasch irgendwo einsetzen zu können.
Auch sie sprachen nicht.
Ich ging, um mein zweites Pferd zu satteln. Mein zweiter Sattel war ein alter McClellan-Sattel, also ein Ding, wie es die Kavallerie der Union ritt.
Ich verließ das Hauptquartier wie ein räudiger Hund.
Und viel reicher als ein räudiger Hund war ich auch nicht.
Das Gehalt eines US Deputy Marshals war recht mager. Neben einem Grundgehalt gab es noch geringe Prämien für eine Verhaftung oder die Zustellung einer Vorladung. Man bekam auch Meilengeld.
Aber alles zusammen reichte gerade aus, dass man nicht wie ein Satteltramp durch die Gegend ritt. Reichtümer konnte man nicht sammeln. Ich hatte im Verlauf eines halben Jahres gerade etwas mehr als hundert Dollar sparen können.
Das war mein ganzer Besitz. Nicht einmal ein Gewehr hatte ich. Dafür befand sich aber unter meinen Sachen im Quartier mein Reservecolt. Und diesen Colt würde ich bestimmt brauchen, wenn ich Rebellen-Jim Hardin erst eingeholt hatte.
Es war klar, dass ich ihn suchen würde. Ich musste ihn einfach finden, um ihm zurückzugeben, was er mir verpasst hatte, nämlich eine Kugel, die meinen Kopf streifte. Nun, ich würde ihn besser treffen.
Ich mochte ein vertrauensseliger Narr gewesen sein und auch sonst nicht viel taugen, doch schießen – oha, schießen, das konnte ich schon immer schnell und genau.
Aber würde ich Jim Hardin finden?