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Es war am 12. April 1865, als wir zum letzten Mal unserer Fahne folgten, dem einst so stolzen Banner der Konföderation, dem sternenbesetzten blauen Kreuz auf rotem Grund.
Es war ein bitterer Tag für uns alle. Denn am 9. April hatte General Lee die Übergabe unterzeichnet und unsere Niederlage eingestanden. Er wollte dem sinnlosen Sterben seiner Armee ein Ende setzen.
Der Krieg war vorbei. Wir hatten verloren, waren besiegt worden. Und unser Weg führte nun in die Gefangenschaft.
Rechts und links standen die Divisionen der Yankees, der verhassten Blaubäuche. Das Regiment, zu dem ich gehörte, bestand nur noch aus siebzehn Mann.
Ich war der Jüngste von uns, denn ich war gerade erst sechzehn geworden. Und ich hinkte an einem Stock als letzter Mann ...
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Seitenzahl: 146
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Der Colt war sein Schicksal
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Impressum
Der Colt war sein Schicksal
Es war am 12. April 1865, als wir zum letzten Mal unserer Fahne folgten, dem einst so stolzen Banner der Konföderation, dem sternenbesetzten blauen Kreuz auf rotem Grund.
Es war ein bitterer Tag für uns alle. Denn am 9. April hatte General Lee die Übergabe unterzeichnet und unsere Niederlage eingestanden. Er wollte dem sinnlosen Sterben seiner Armee ein Ende setzen.
Der Krieg war vorbei. Wir hatten verloren, waren besiegt worden. Und unser Weg führte nun in die Gefangenschaft.
Rechts und links standen die Divisionen der Yankees, der verhassten Blaubäuche. Das Regiment, zu dem ich gehörte, bestand nur noch aus siebzehn Mann.
Ich war der Jüngste von uns, denn ich war gerade erst sechzehn geworden. Und ich hinkte an einem Stock als letzter Mann ...
Oha, wir waren ein zerlumpter, geschlagener Haufen, halb verhungert, und jeder war verwundet. Man sah es an den blutigen und verdreckten Verbänden.
Einige von uns weinten, denn sie waren einst stolze Männer gewesen, die es jetzt nicht ertragen konnten, besiegt zu sein.
Wir hatten die Hölle hinter uns und wussten nicht, was vor uns lag. Alles war umsonst gewesen. Dieser verdammte Krieg hatte unzähliges Leid gebracht für beide Seiten. Wir wussten jetzt, wie grausam ein Krieg sein kann und wie dumm letztlich, weil die Menschen sich oftmals nicht gütlich und vernünftig einigen können.
Ja, das wussten wir jetzt genau – und dennoch war da immer noch ein Stolz in uns. Denn wir hatten gegeben und geopfert, was nur möglich war. Mochte alles sinnlos gewesen sein, wir brauchten unseren Stolz, denn er war etwas, an das wir uns klammern und woran wir uns aufrichten konnten.
Unser Fahnenträger erreichte die Stelle, wo der Unionsgeneral Chamberlain den Oberkommandierenden General Grant vertrat, denn Letzterer war schon unterwegs nach Washington.
General Chamberlain saß auf einem prächtigen Pferd, umgeben von hohen Offizieren.
Wir mussten an ihm vorbei mit unserer Fahne, die über unserem kleinen Haufen flatterte. Und ein Stück dahinter würden wir die Fahne und unsere Waffen abgeben müssen.
Plötzlich ging ein Ruck durch unseren Haufen.
Obwohl viele von uns hinkten, fielen wir plötzlich in unseren alten, schwingenden Marschschritt, reckten uns auf, hoben das Kinn. Wir richteten unsere Viererreihe aus. Nur ich, der ich der siebzehnte Mann war, lief allein hinter den vier Viererreihen. Nein, auch ich hinkte nicht mehr.
Wir marschierten ohne Offizier an der Spitze. Denn unser Haufen hatte keine Offiziere und keine Sergeants mehr. Und da geschah etwas.
Die Yanks ließen von einem Hornisten das Präsentiersignal blasen.
Dann klangen die Befehle. Und so, wie wir an ihnen vorbeimarschierten, so präsentierten sie ihre Gewehre vor unserem zerlumpten Haufen und all den anderen Regimentern, die uns folgten.
Unser linker Flügelmann gab plötzlich für uns die Befehle wie ein Offizier.
Und so präsentierten auch wir im Vorbeimarsch. Ich selbst warf dabei zuvor schnell den Knüppel fort, den ich als Stock benutzt hatte. Heiliger Rauch, es tat uns gut, jetzt als Verlierer geehrt zu werden von den Siegern, ihnen beim Vorbeimarschieren in die Augen zu sehen und ihnen unseren Stolz zu zeigen.
Ja, das tat einem zerlumpten Haufen gut.
Aber dann erreichten wir auch schon die Stelle, wo wir unsere Fahne und unsere Waffen abliefern mussten – irgendwo in der Nähe von Appomattox auf freiem Feld. Und dann wehten und flatterten nur noch die Fahnen der siegreichen Union über uns. Es war vorbei.
Was wartete auf jeden von uns in der Zukunft?
✰
Weil ich noch so jung war und einer Kommission auffiel, die unser Gefangenenlager besuchte und uns sagte, dass wir nun alle wieder gleichwertige und gleichberechtigte Amerikaner seien und mit dem Neuaufbau beginnen müssten, wurde ich schon sehr bald entlassen.
Und so machte ich mich auf den Weg heim nach Texas.
Schon am zweiten Tag stahl ich einem Yankee-Offizier das Pferd, aber auch dieser hatte das Tier gewiss nicht von der Armee bekommen, denn es trug nicht das Brandzeichen der Union. Er hatte es also irgendwo requiriert. Ich kam mir also nicht wie ein Pferdedieb vor.
Aaah, was tat es gut, nicht mehr des Weges hinken zu müssen mit meinem zerschossenen Bein, dessen Wunde nicht so richtig heilen wollte und ständig eiterte. Vielleicht würde ich die Wunde nochmals ausbrennen müssen. Davor fürchtete ich mich. Zum Glück fand ich in der linken Satteltasche des Offiziers eine Flasche Schnaps. Damit hielt ich meinen Verband feucht.
Nun, ich ritt also auf dem gestohlenen Pferd nach Südwesten. Zwischen mir und Texas lagen noch Tennessee und Arkansas, dazwischen war der mächtige Mississippi.
Oha, es war ein weiter Weg nach Texas.
Aber ich hatte ja ein gutes Pferd und fünf Dollar.
Zwei Tage später war ich wieder ohne Pferd.
Denn als ich durch einen Creek ritt, tauchte am anderen Ufer ein Bursche auf, der mich über einen Revolver hinweg angrinste.
Ich verhielt und blickte über die Schulter.
Und da war noch einer am anderen Ufer. Sie sahen wie Brüder aus und trugen wie ich die graue Uniform der einstigen Konföderiertenarmee.
»He, Kleiner, du kommst uns gerade richtig mit dem hübschen Pferdchen«, sagte der Bursche vor mir. »Denn wir sind jetzt lange genug gelaufen. Jetzt bist du mal wieder an der Reihe. Du wirst schon irgendwo in den nächsten Tagen einen anderen Gaul finden. Na los, runter vom Bock!«
Er wedelte mit dem Colt, und in seiner Stimme war nun erbarmungslose Härte.
Ich machte mir keine Illusionen. Die beiden Kerle blufften nicht, denn sie waren hartgesottene Kriegsveteranen, welche den Glauben an alles verloren hatten und nur noch an den eigenen Vorteil dachten.
Und ich war ein Junge mit einem prächtigen Pferd und ohne Colt.
Ja, wenn ich einen Colt gehabt hätte ...
Zum ersten Mal in diesen Tagen kam mir die Erkenntnis, dass ich in Zukunft ohne Colt überall im Nachteil sein würde.
Seufzend rutschte ich vom Pferd und stand bis zu den Knien im Wasser des Creeks. Der Mann hinter mir kam heran, verhielt kurz neben mir und sagte: »So ist das nun mal, Junge. Die Welt wird jetzt noch schlechter, als sie es bisher schon war. Denn jetzt wollen sich alle wieder nach oben strampeln.«
Er nahm das Pferd, führte es hinüber zum anderen Ufer. Sie saßen beide auf und ritten davon.
Ich stand noch im Creek, und ich knirschte mit den Zähnen und hätte am liebsten losgeheult wie ein Wolf.
Ja, wenn ich einen Colt gehabt hätte ...
Wieder dachte ich diesen Gedanken nicht zu Ende.
Langsam bewegte ich mich ans Ufer und schnitt mir dort mit dem Messer einen Stock ab. Dann humpelte ich weiter wie vor zwei Tagen und folgte dem Pfad, welcher gewiss zu einem Ort führen würde, zumindest zu einem Anwesen, einer Siedlung oder Baumwollpflanzung.
Nach etwas mehr als einer Stunde, als ich mal wieder ausruhte auf einem großen Stein am Weg, da hörte ich Reiter kommen.
Ich bewegte mich nicht, wartete ruhig. Bald darauf sah ich sie. Es waren Blaubäuche, also Soldaten der Besatzungstruppe.
Und sie wurden von dem Offizier geführt, dem ich das Pferd gestohlen hatte, einem Captain.
Sie hielten bei mir an. Der Captain fragte: »Nun, mein Junge, hast du einen Reiter vorbeikommen sehen auf einem Braunen mit weißen Strümpfen?«
Ich nickte, denn ich wusste, sie hatten an den Spuren beim Creek eine Menge gesehen und zumindest erkannt, dass wir uns dort getroffen hatten. Ich konnte nur hoffen, dass sie aus den Spuren den Pferdetausch nicht herauslesen konnten.
Und so sagte ich: »Ja, als ich den Creek durchschritt, kamen zwei Reiter auf einem solchen Pferd – zwei entlassene Soldaten, so wie ich, zwei Brüder wahrscheinlich. Ist was mit ihnen, Sir?«
»Mir stiehlt kein verdammter Rebell das Pferd«, knirschte der Captain. »Und wenn, dann hole ich es mir wieder und hänge ihn auf.«
Er trieb sein Tier wieder an.
Seine Reiter folgten ihm. Er hatte sie sich gewiss unter seiner Abteilung ausgesucht, denn sie wirkten alle wie erfahrene Langreiter.
Ich sah ihnen nach.
Die beiden Pferdediebe taten mir leid.
Doch so ist wohl das Leben. Immer wieder schlägt das Schicksal erbarmungslos zu.
Was mochte es mit mir noch vorhaben?
✰
Noch am selben Tag erreichte ich eine kleine Stadt, kaum mehr als ein Dorf, umgeben von Baumwollfeldern.
Gleich beim ersten Haus sah ich eine junge Frau, eine von der Sorte, die einem Jungen, der die Frauen noch nicht kennt, wie ein engelhaftes Wesen vorkam.
Sie stand am Brunnen und sah zu mir her. Ich hielt inne und ließ mich betrachten, nahm dabei meine graue Feldmütze vom Kopf, die ich als Kopfbedeckung trug, obwohl ein Hut mir lieber gewesen wäre.
Als ich sie fragen wollte, ob sie etwas zu essen für mich hätte, da sagte sie: »Komm her, Junge!«
Oha, sie war gewiss keine zehn Jahre älter als ich, aber sie nannte mich Junge. Ich spürte instinktiv, dass sie im Umgang mit Männern sehr erfahren war. Ihr Blick war gerade und fest.
»Ma'am?« So fragte ich höflich im Tonfall.
»Warst du wirklich Soldat, Junge?« Sie fragte es ungläubig.
Ich nickte. »Und kein schlechter«, erwiderte ich. »Mir fehlen nur an die zwanzig Pfund Gewicht. Normalerweise sehe ich etwas anders aus, glauben Sie es mir, Ma'am.«
»Sicher.« Sie lächelte. »Das will ich gerne glauben. Ich kann sogar erkennen, dass du mal ein prächtig aussehender Mann werden wirst, wenn du erst richtig ausgewachsen bist. Ja, das kann ich erkennen. Nun, ich brauche Hilfe. Das Brunnenseil ist gerissen, als ich den vollen Eimer mit der Winde heraufholen wollte. Kannst du mir da helfen? Aber ich sehe, du hast offenbar ein krankes Bein. Da kannst du wohl nicht hinunter.«
»Doch, Ma'am«, unterbrach ich sie. »Sie würden sich wundern, was ich alles noch kann, Ma'am.«
Ihre schwarzen Augen wurden schmal, und ihre vollen Lippen zuckten.
»Oho«, sagte sie dann. »Nun mein Junge, dann zeig mal, was du kannst. Ich habe im Schuppen eine Rolle gutes Seil. Und ich brauche Wasser, weil die Handpumpe in der Küche auch nicht mehr saugt. Da muss wohl eine neue Dichtung hinein. Es ist schlimm, wenn eine Frau ohne Mann ist.«
»Was, Sie haben keinen Mann?« So fragte ich staunend.
Da lachte sie leise. »Sicher habe ich einen. Er ist sogar Major. Doch ich sah ihn schon länger als ein Jahr nicht mehr, und auch da war er nur wenige Tage auf Urlaub. Nun, Junge, willst du mir helfen?«
Ich wollte.
Denn nichts konnte mir willkommener sein. Ich wusste, ich würde mich nützlich machen können, ein Obdach und Essen bekommen. Wenn ich wenigstens so lange bleiben konnte, bis mein Bein wieder gesund war ...
✰
Als es Abend war, konnte ich zufrieden sein. Der Brunnen hatte ein neues Zugseil. Und die Handpumpe in der Küche hatte ich auch repariert.
Nun hockte ich im heißen Wasser eines großen Bottichs in der Waschküche des Hauses. Oh, es tat ja so gut, bis zum Kinn in heißem Wasser und Seifenschaum zu hocken. Jenny Willard, so hieß die Frau, kam manchmal aus der Küche herüber und goss heißes Wasser nach. Dabei lächelte sie – und ich wusste nicht, ob sie wie eine gute Tante, eine große Schwester oder nur wie eine erfahrene Frau lächelte, die genau wusste, was in einem nach allen Dingen hungrigen Jungen vorgeht.
Wir sprachen nicht viel.
Später brachte sie mir ein großes Badetuch, in welches ich mich einwickeln konnte. Dann kam sie mit der Hausapotheke oder dem Hausverbandskasten und sah nach meiner Wunde. Das heiße Seifenbad hatte den eitrigen Schorf aufgeweicht. Die Wunde schien wieder sauber zu sein. Ich schnaufte, als Jenny Willard nicht mit Jod sparte. Aber dann tat sie Wundpuder darauf und legte einen Verband an.
Sie hatte auch einige Kleidungsstücke mitgebracht.
»Es wird dir alles viel zu weit sein«, sagte sie. »Die Länge wird stimmen, doch die Weite nicht. Dir fehlen halt zwanzig Pfund und vielleicht noch etwas mehr. Ich denke, wenn du richtig ausgewachsen und richtig proportioniert bist, wirst du mehr als sechs Fuß groß sein und mehr als hundertsechzig Pfund wiegen. Ich habe in wenigen Minuten das Abendessen fertig.«
Sie verschwand wieder in die angrenzende Küche.
Ich aber staunte ungläubig.
Verdammt, was hatte sie mit mir vor?
Gewiss, ich hatte ihr ein neues Brunnenseil an die Winde gemacht, den Wassereimer aus dem Brunnen geholt und ihre Küchenhandpumpe repariert.
Doch sie behandelte mich wie eine gute Schwester oder Tante.
Gab es denn so viel Liebe unter den Menschen? Dauerte ein solch abgerissener, verwundeter und halb verhungerter Junge sie so sehr, dass sie ihm wie eine barmherzige Fee helfen musste?
Ich war mir da instinktiv nicht so sicher.
Aber ich zog mir die Kleidungsstücke an.
Ich roch die Steaks in der Küche, die Bratkartoffeln und die Zwiebeln, den Duft des Kaffees. Mir wurde einen Moment schwarz vor Augen, so hungrig war ich plötzlich.
Als es mir wieder besser ging, die Schwärze vor meinen Augen wich, trat ich durch die Tür in die Küche.
Der Tisch war gedeckt, und Jenny Willard erwartete mich.
»Lass es dir schmecken, Jim«, sagte sie lächelnd. Sie kannte jetzt meinen Namen.
Das tat ich.
Auch Jenny Willard aß mit gesundem Appetit. Sie war eine reizvolle und begehrenswerte Frau, aber sie wirkte hungrig auf mich, hungrig nach vielen Dingen des Lebens.
Als wir uns wieder einmal über den Tisch hinweg anblickten, sagte sie schlicht: »Jim, es ist ganz einfach. Diese Stadt heißt Alberty, und sie gehört meinem Mann. Er besitzt hier die Bank. Damals gab er allen Leuten Kredite und ist nun im Besitz vieler Hypotheken. Auch den vielen Baumwollpflanzern im Umkreis von dreißig Meilen gab er Kredite. Dafür gehört ihm ein Teil ihrer Ernten. Sobald der neue Aufschwung kommt, jetzt nach dem Krieg, werden wir mit neuem Unionsgeld schnell wieder wohlhabend sein. Ich erzähle dir das alles, Jim, damit du begreifst, dass ich die Frau eines für diese Gegend sehr wichtigen Mannes bin, die sich nicht das geringste Abenteuer erlauben kann. Denn die Stadt würde es schnell wissen. Aber wenn ich meinen jungen Neffen bei mir aufnehme, den mein Mann noch niemals sah, sieht die ganze Sache anders aus. Du heißt jetzt Joe Ballard und bist der Sohn meines Bruders. Und es wird dir gut gehen hier.«
»Das glaube ich.«
Ich nickte und sah in ihren Augen den Hunger. Vielleicht hätte sie lieber einen richtigen, ausgewachsenen Mann gehabt, doch das war nicht möglich. Also nahm sie mit einem Jungen vorlieb.
Für einen nach allen Dingen hungrigen Jungen wie mich konnte das alles nicht besser sein.
Nun, ich war also bereit für alles.
Und die schöne Jenny sah es in meinen Augen.
»Du musst viel essen«, sagte sie, »damit du schnell zu Kräften kommst. Ich werde dir jeden Morgen zum Frühstück ein paar Eier mit Rotwein und Honig zu einem Zaubertrank mixen.«
Es war mir recht.
✰
Nun, liebe Leser meiner Geschichte, die Welt war schön.
Mir ging es gut. Gewiss, es gab einige Arbeit für mich. Es waren Reparaturen zu machen am Dach, am Zaun, am Stall. Es war auch Brennholz zu sägen und zu spalten. Ich ging jagen und fischen, grub die Gartenbeete um. Wenn Jenny einkaufen ging, begleitete ich sie, trug die Körbe und sonstige Lasten.
Die Leute kannten mich nun als ihren Neffen, und ich konnte so glaubhaft Tante Jenny sagen, wenn jemand in unserer Nähe war.
In den Nächten kam sie zu mir ins Gästezimmer des Hauses, und so bedankte ich mich für das gute Leben bei ihr.
Es waren schöne Wochen für einen Streuner wie mich, den der Krieg ausgespuckt hatte. Ich nahm an Gewicht zu, wurde ein hübscher Bursche mit blonden Locken und tiefblauen Augen, ein geschmeidiger Kerl, den alle Frauen und Mädchen wohlgefällig betrachteten.
Ich führte ein herrliches Leben.
Aber es geht im Leben alles einmal zu Ende.
Und so war es auch hier bei der schönen Jenny Willard in Alberty, Virginia.
Es war schon nach Mitternacht, als wir durch das offene Fenster hier im Obergeschoss des Hauses einen Reiter kommen hörten, der vor dem Hause anhielt.
Und wir hörten eine energische Stimme rufen: »Jenny, hoiii, Jenny, wach auf! Ich bin es! Jenny, dein Mann ist heimgekommen! Wach auf und lass mich ein!«
Es war ein Jubeln in dieser Stimme.
»Das ist mein Mann«, zischte Jenny und trat noch einmal an mein Bett, beugte sich über mich.
»Und wenn er herausbekommen sollte, was zwischen uns war, Jim, dann wird er uns beide töten. Du musst jetzt ganz und gar vergessen, was zwischen uns war. Nun bin ich nur noch deine Tante. Verstanden?«
»Ja, Tante Jenny«, erwiderte ich.
Sie verschwand in ihrem dünnen Nachthemd wie ein Geist. Wenig später hörte ich sie aus dem Schlafzimmerfenster rufen: »George! O George, dass du endlich heimgekehrt bist! Ich komme, oh, ich komme, George, und öffne dir die Tür.«
Ich trat ans Fenster und sah den Mann. Längst nicht mehr trug ich seine Kleidung. Sie wäre mir immer noch zu weit gewesen, obwohl ich jetzt schon hundertvierzig Pfund wog.
Ich sah, wie sie aus dem Haus kam in ihrem dünnen Hemd und sich in seine Arme warf.
Und ich war sicher, dass sie bald mit ihm im Ehebett liegen würde und ihn glauben ließ, dass sie sich all die vielen Monate nach ihm gesehnt und verzehrt hatte.
Sollte ich das Miststück verachten? Nein, denn ich war ja nicht ihr Mann. Und sie hatte mir Gutes getan.
✰
Der Major war ein Mann von etwa vierzig Jahren, ein schlauer, harter Bursche, ein prächtiges Mannsbild, der das Leben kannte – und der sich auf Männer jeder Sorte verstand.
Mit seinen grauen Augen sah er mich an, und sein Instinkt tastete an mir, versuchte in mich einzudringen.
»So, du bist also Joe, der Sohn ihres Bruders«, sagte er. »Ihr seid doch Texaner, ihr Ballards. Was tust du hier in Virginia, Joe?«