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Im Schatten des letzten Hügels hält er an. Vor ihm verengt sich das Tal zu einem Canyon. Und dort brennt ein einsames Licht in der hellen Nacht. Es wirft einen gelblichen Schein.
Es ist die alte Ranch, denkt Gil Glenncannon. Und sie ist nicht verfallen und verlassen. Es wohnt dort jemand. Wer?
Er reitet weiter - direkt auf das gelbe Licht zu. Plötzlich aber vernimmt er den Hufschlag einer rau und wild reitenden Mannschaft. Er biegt sofort vom Weg ab und verhält sein Pferd erst im Schatten einiger Bäume. Bald darauf kann er die Mannschaft sehen. Sie kommt von Nordwesten her aus den Hügeln, überquert die Weide und hält genau auf das einsame Licht in der Nacht zu.
Gil Glenncannon schluckt etwas mühsam, denn er erinnert sich an eine Nacht vor zehn Jahren, die ebenfalls vom Hufschlag einer rauen Mannschaft erfüllt war. Aber dann murmelt er: »Nein, das gibt es nicht. Nichts auf dieser Welt wiederholt sich in dieser Art. Nein!«
Er wird sich darüber klar, dass er schwitzt. Der Hufschlag verstummt. Er reitet wieder aus dem Schatten der Bäume auf den Weg. Und wieder hält er an, denn nun knattern bei der alten Ranch einige Schüsse in der Nacht. Raue Männerstimmen stoßen gellende und scharfe Schreie aus.
Gil Glenncannon beugt sich lauschend im Sattel vor. Er vibriert und erschauert am ganzen Körper. Er erinnert sich wieder bitter an jene Nacht vor zehn Jahren, da er voller Furcht aus diesem Land ritt - tausend Meilen weit ...
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Seitenzahl: 157
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Die rauen Burschen
Vorschau
Impressum
Die rauen Burschen
Im Schatten des letzten Hügels hält er an. Vor ihm verengt sich das Tal zu einem Canyon. Und dort brennt ein einsames Licht in der hellen Nacht. Es wirft einen gelblichen Schein.
Es ist die alte Ranch, denkt Gil Glenncannon. Und sie ist nicht verfallen und verlassen. Es wohnt dort jemand. Wer?
Er reitet weiter – direkt auf das gelbe Licht zu. Plötzlich aber vernimmt er den Hufschlag einer rau und wild reitenden Mannschaft. Er biegt sofort vom Weg ab und verhält sein Pferd erst im Schatten einiger Bäume. Bald darauf kann er die Mannschaft sehen. Sie kommt von Nordwesten her aus den Hügeln, überquert die Weide und hält genau auf das einsame Licht in der Nacht zu.
Gil Glenncannon schluckt etwas mühsam, denn er erinnert sich an eine Nacht vor zehn Jahren, die ebenfalls vom Hufschlag einer rauen Mannschaft erfüllt war. Aber dann murmelt er: »Nein, das gibt es nicht. Nichts auf dieser Welt wiederholt sich in dieser Art. Nein!«
Er wird sich darüber klar, dass er schwitzt. Der Hufschlag verstummt. Er reitet wieder aus dem Schatten der Bäume auf den Weg. Und wieder hält er an, denn nun knattern bei der alten Ranch einige Schüsse in der Nacht. Raue Männerstimmen stoßen gellende und scharfe Schreie aus.
Gil Glenncannon beugt sich lauschend im Sattel vor. Er vibriert und erschauert am ganzen Körper. Er erinnert sich wieder bitter an jene Nacht vor zehn Jahren, da er voller Furcht aus diesem Land ritt – tausend Meilen weit ...
Plötzlich weiß er, warum er heimgekehrt ist, oder glaubt es zumindest zu wissen. Und weil er das glaubt, bezwingt er seine Furcht. Sie ist plötzlich wie fortgewischt und macht einer starken Selbstsicherheit und jenem starken Glauben an sich selbst Platz, die nun schon seit vielen Jahren in Gil Glenncannon sind – weil er inzwischen ein Mann wurde, ein richtiger Mann, dessen Wege hart und rau waren. Nein, er ist nicht mehr der von Angst verfolgte Junge.
Und so reitet er wieder an.
Die Schüsse und der Lärm sind verstummt. Als Gil Glenncannon bis auf eine halbe Meile an die Ranch herangekommen ist, hört er wieder den Hufschlag der rau und wild reitenden Mannschaft. Bald darauf kann er das Rudel erkennen.
Es kommt ihm auf dem Weg von der Ranch entgegen. Es sind acht Reiter. Er hat sie vorhin gezählt. Als sie nahe genug vor ihm sind, lenkt er sein Pferd zur Seite, um sie passieren zu lassen.
Doch der Anführer des Rudels stößt einen scharfen Ruf aus und zügelt sein Pferd. Das ganze Rudel kommt zum Halten. Die Pferde tanzen einige Sekunden auf der Hinterhand, stampfen und trampeln, dann wird es still. Nur die Sättel knarren, oder Sporen und Metallteile des Zaumzeugs klimpern oder klirren leise.
Und dann fragt die raue Stimme des Anführers hart: »Wer bist du, Mann?«
Gil Glenncannon lässt drei Sekunden verstreichen, dann sagt er sanft, sehr sanft und ruhig: »Wir kennen uns gut, Hiob Donovan. Wir sind alte Bekannte.«
Da treibt der Reitboss des Rudels, den Gil Glenncannon Hiob Donovan nannte, sein Tier vorwärts und verhält dicht neben Gil. Er beugt sich zur Seite und blickt Gil unter die Hutkrempe. Einige Sekunden starrt er Gil an. Dann setzt er sich im Sattel wieder gerade, schnauft schwer und sagt dann grimmig: »Gil Glenncannon, nicht wahr? Oha, Gil, mein Junge, was willst du hier in diesem Land? Hast du keine bessere Idee gehabt, als heimzukommen?«
»Nein«, erwidert Gil Glenncannon sanft.
Hiob Donovan betrachtet ihn schweigend. Und auch Gil betrachtet sein Gegenüber. Sie starren sich an, schätzen sich ab und denken nach.
Hiob Donovan, der Vormann der Bullskull Ranch, ist noch massiger geworden, als er es damals vor zehn Jahren war. Er muss jetzt Mitte der dreißig sein, und er ist ein Klotz von einem Mann, hart und gewalttätig, rücksichtslos und rau. Er ist der Mann, der die raue Mannschaft der Bullskull Ranch mit harter Hand unter Kontrolle hält. Und er kennt nur eine Sache auf dieser Welt, die sein Tun und Handeln bestimmt und der seine ganze Treue gilt: die Bullskull Ranch!
Das hat Gil Glenncannon schon damals vor zehn Jahren erkennen müssen. Dieser raue, harte und sicherlich auch starrsinnige Hiob Donovan ist von einer starken und tiefen Treue zu seiner Ranch erfüllt, die ihn blind und ohne Widerspruch alles das tun lässt, was sein Boss Bart Hallaghan sagt.
»Zum Teufel, Gil, sag mir, warum du in dieses Land zurückgekommen bist?«, grollt Hiob Donovan grimmig.
»Nur so – nur so, Hiob«, erwidert Gil Glenncannon, und seine Stimme erklingt nun noch sanfter als zuvor.
Der Vormann der Bullskull Ranch weiß diese Sanftheit richtig zu deuten, denn es ist eine tödliche Sanftheit. Er sitzt groß und breit, massig und wuchtig im Sattel und denkt nach.
Seine Reiter aber haben indes einen Halbkreis gebildet. Sie verhalten sich noch still und abwartend, aber der Hauch von Gefahr liegt plötzlich in der Luft.
Ja, man kann diesen Atem drohender Gewalttätigkeit spüren.
Plötzlich fragt Hiob Donovan hart: »Bist du gekommen, um Rache zu nehmen, Gil? Wenn das so ist, dann kannst du jetzt sofort damit anfangen. Hier bin ich! Ich bin der Mann, der deinen Vater an einen Baum gehängt hat. Also los!«
Er macht eine Bewegung, so als wollte er sich vom Pferd schwingen. Doch Gil Glenncannon bewegt sich nicht. Er sagt auch nichts.
Hiob Donovan denkt wieder nach. Gil weiß, dass sich das Denken dieses Mannes stets sehr eingleisig vollzieht. Und es ist oft sehr mühevoll und schwer. Wenn Hiob Donovan nachdenkt, dann meint man immer, man müsste sein Gehirn knirschen hören. Und von seiner Treue zur Bullskull Ranch und ihrem Boss wird dieses Denken des Vormannes stets irgendwie verzerrt.
Er nickt Gil Glenncannon zu und sagt: »Bart Hallaghan wird dich sehen wollen. Du kommst mit zum Boss! Gib mir deinen Revolver!«
»Nein!«
Es ist ein trockenes und endgültiges Nein, welches Gil Glenncannon spricht. Und in seiner Endgültigkeit ist es eine Herausforderung. Er kann hören, wie Hiob Donovan den Atem einsaugt und wieder nachdenkt.
Dann fragt Donovan schwer: »Bist du der Glenncannon, der die wilde Goldgräberstadt Opal gebändigt hat, diese Höllenstadt in der Last Chance Gulch?«
»Yeah, der Glenncannon bin ich«, murmelt Gil. »Es war kein Namensvetter von mir, der das tat.«
Und wieder denkt Hiob Donovan nach. Aber jetzt weiß er schon mehr darüber, was aus dem Jungen Gil Glenncannon im Verlauf der letzten Jahre wurde. Jetzt weiß er es ziemlich genau.
Einer seiner Reiter sagt plötzlich scharf: »Hiob, wenn du seinen Revolver gern haben möchtest, dann überlass mir die Sache. Ich bekomme ihn – auch von Red Gilbert Glenncannon!«
Mit diesen Worten drängt einer der Reiter sein Pferd vorwärts und hält dicht vor Gil an. »Ich bin Sid Mervile«, sagt er. »Und Hiob will deinen Revolver haben. Also los!«
In Gil Glenncannon sind jetzt Zorn und Stolz. Und weil er ganz genau weiß, warum er auf die Heimatweide kam, legt er seine Karten auf den Tisch.
Er sagt lässig: »Also los, Jungs! Versucht es! Donovan, ich bin damals vor zehn Jahren fortgelaufen. Ich hatte eine höllische Furcht in mir und ritt tausend Meilen weit. Ich war ein dummer Junge, den die heiße Furcht gepackt hatte. Als ich dann ein Mann wurde, dachte ich oft über diese Furcht nach. Und ich fragte mich immer wieder, ob ich auch als Mann vor euch fortgelaufen wäre. Jetzt bin ich heimgekommen, um es herauszufinden. Donovan, ich bin hergekommen, um euch vor die Füße zu spucken. Ich werde hier herumreiten, weil ich ein Recht darauf habe. Und wer mich daran hindern will, der bekommt was auf die Nase. Donovan, halte diesen Revolverschwinger zurück. Sonst muss ich ihn erschießen. Und bevor ihr mit mir fertig sein würdet, kämen nach dir noch zwei Jungs von euch an die Reihe. Und nun hast du die Wahl, Hiob Donovan!«
Er drängt sein Pferd etwas zurück. Seine Rechte hängt an ihm nieder und hinter dem Revolver. Und so wartet er ruhig und gelassen. Es geht ein starker Strom von Sicherheit und Furchtlosigkeit von ihm aus.
Hiob Donovan grinst plötzlich. Er wendet den massigen Kopf zur Seite und brummt: »Hör auf, Sid, hör auf! Wenn ich dich brauche, dann wirst du es hören.« Dann blickt er Gil Glenncannon an und nickt. »Na schön, du behältst deinen Revolver. Aber du kommst mit auf die Ranch. Bart Hallaghan wird dich sehen wollen. Du kommst mit!«
Gil Glenncannon schüttelt den Kopf. »Wenn ich mit Bart Hallaghan sprechen will, dann werde ich einen Weg zu ihm finden. Doch nicht jetzt. Bestell ihm Grüße von mir, Hiob.«
Hiob Donovan grollt wieder auf seine grimmige Art. Er bewegt sich unschlüssig im Sattel.
»Überlass mir die Sache, Hiob«, meldet sich Sid Mervile wieder, und in seiner Stimme schwingt irgendwie ein heißes Verlangen mit.
»Yeah, lass es ihn doch versuchen, Hiob«, murmelt Gil Glenncannon.
Er ist eine klare Herausforderung, hinter der Furchtlosigkeit und ein eiskalter Stolz stehen. Hiob Donovan spürt das deutlich und klar. Er weiß nun auch, was aus Gil Glenncannon geworden ist. Er weiß, dass er es mit jenem Red Gilbert Glenncannon zu tun hat, von dem einige Legenden in dieses Land hier gedrungen sind.
Und zuletzt war Red Gilbert Glenncannon der Marshal von Opal, einem wilden Camp im Goldland. Diese wilde Stadt wurde von ihm gezähmt. Und Hiob Donovan weiß genau, was das bedeutet.
Aus dem jungen Gil Glenncannon wurde der Revolverkämpfer Red Gilbert Glenncannon.
Er wendet den Kopf und sagt zu Sid Mervile: »Nein, Sid! Nicht jetzt und nicht hier!«
Dann blickt er Gil an, zögert etwas und sagt dann schwer: »Du weißt, ich treffe niemals eigene Entscheidungen, Gil. Bart Hallaghan wird mir sagen, was ich tun soll. Und wenn er mir sagt, dass ich ihm deinen Skalp bringen soll, dann werde ich das tun. Du willst doch hier in diesem Land bleiben, nicht wahr?«
»Ich habe vorerst die Absicht«, erwidert Gil ruhig.
»Na schön«, brummt der riesige Vormann, »na schön!«
Dann zieht er sein großes Pferd herum.
»Kommt!«, sagt er scharf zu seinen Begleitern.
Sie folgen ihm wortlos, denn sie sind daran gewöhnt, seine Befehle ohne Widerspruch auszuführen. Wer für die Bullskull Ranch reitet, der muss widerspruchslos gehorchen.
Nur der Revolverheld Sid Mervile zögert. Bevor auch er sein Pferd herumzieht und dem Rudel folgt, sagt er heiser: »Ich habe schon eine Menge von dir gehört, Glenncannon. Du warst zuletzt der harte Revolvermarshal von Opal. Und du konntest die wilde Stadt zähmen und bändigen. Doch du konntest es nur, weil ich nicht dort war. Hätte ich zu den rauen Burschen gehört, so wäre es dir nicht geglückt.«
»Du redest viel, Mervile«, murmelt Gil Glenncannon. »Wenn du was taugtest, würdest du nicht nach Donovans Pfeife tanzen. Geh zum Teufel!«
Vielleicht hätte es jetzt einen Revolverkampf gegeben. Doch nun ruft die scharfe und harte Stimme Donovans: »Komm, Sid! Ich sage es dir zum letzten Mal, komm!«
Sid Mervile, der zu den hitzköpfigen Revolverhelden gehört, stößt einen fast schluchzenden Laut aus. Dann gehorcht er.
Gil Glenncannon blickt dem Rudel nach.
Es verschwindet bald im Schatten der Hügel, nur der Hufschlag ist noch eine Weile zu hören.
Gil atmet langsam aus. Einige Sekunden lang fühlt er sich wie ausgehöhlt und leer. Er weiß zu gut, in welcher Gefahr er sich eben befand. Dass es keinen Kampf gab, liegt nur daran, dass Hiob Donovan nie eigene Entschlüsse fasst, sondern sich stets erst bei Bart Hallaghan eindeutige Befehle holt. Und auch jetzt konnte sich der Vormann der Bullskull Ranch nicht zu einem selbstständigen Entschluss durchringen.
Aber eines ist sicher: Wenn sein Boss zu ihm sagt, dass er ihm Gil Glenncannons Haut bringen soll, dann wird es Hiob Donovan versuchen, sein Leben dafür einsetzen und auch das Leben seiner Reiter nicht schonen.
Gil Glenncannon weiß das. Er denkt eine Weile nach. Dann wendet er den Kopf und blickt auf das einsame Licht der alten Ranch. Es leuchtet immer noch gelb durch die silbern bleiche Mondnacht.
Gil setzt sein Pferd wieder in Bewegung und reitet darauf zu.
Als er den Ranchhof erreicht, hält er an. Beim Brunnen steht ein großer Baum. Gil starrt hinüber, und dann seufzt er bitter, hebt die Hand und wischt sich übers Gesicht.
Doch als er wieder auf den Baum blickt, hat sich nichts verändert. Was er eben sah und nicht glauben wollte, ist Wirklichkeit.
Dort an jenem großen Ast hängt ein Mann.
Langsam reitet Gil Glenncannon hinüber und zieht ein Messer aus dem Stiefelschaft.
✰
Einige Minuten später tritt er durch die offene Tür des Hauses ein. Er bleibt neben der Tür stehen und betrachtet das Bild, das sich ihm bietet.
Mitten im großen Wohnraum liegt ein junger Mann auf dem Fußboden. Bei diesem Mann kniet eine junge Frau. Neben ihr steht eine Schüssel Wasser. Dieses Wasser ist rot gefärbt von Blut. Und die Frau nimmt ein nasses Tuch von dem Gesicht des Bewusstlosen. Indem sie es wieder in die Schüssel taucht, wendet sie den Kopf und blickt Gil Glenncannon an.
»Ihr Mörder! Ihr verdammten Mörder!« So spricht sie mit tonloser Stimme. Dabei rollen ihr die Tränen über die Wangen.
Gil Glenncannon betrachtet die junge Frau ernst. Auch an ihr entdeckt er die Spuren eines Kampfes. Ihr rabenschwarzes Haar ist zerzaust und ihr Kleid ist an einigen Stellen zerrissen. Die Frau ist schön.
Gil schüttelt den Kopf. »Ich gehöre nicht zu der Bande«, sagt er. »Ich kam zufällig in der Nähe vorbei und hörte den Lärm und die Schüsse. Deshalb kam ich her – um nachzusehen. Kann ich Ihnen helfen, Ma'am? Ich gehöre nicht zu diesen Banditen.«
Sie kniet bewegungslos am Boden und betrachtet ihn. Ihr Gesicht ist sehr bleich. Es ist ein sehr klares und gut geformtes Gesicht. Doch über die Wangen rollen unaufhörlich Tränen. Ihr ganzer Körper vibriert und erschauert plötzlich.
»Draußen ...«, beginnt sie, »... dort draußen am Baum ...« Sie presst die vollen Lippen aufeinander, senkt den Kopf und schluchzt trocken.
»Ich habe ihn schon heruntergenommen und in eine Decke gewickelt«, sagt Gil sanft. »Und er war sicherlich schon tot, als sie es taten. Wenn es Sie trösten kann, Ma'am, dann sage ich Ihnen, dass er schon von der Kugel getötet wurde und das andere nicht mehr spüren konnte. War es Ihr – Mann?«
Sie kauert immer noch am Boden, hält den Kopf gesenkt und weint. Ihr ganzer Körper zuckt und zittert. Gil tritt nun zu ihr, kniet nieder und legt einen Arm um ihre zuckenden Schultern. Dabei blickt er auf den bewusstlosen Mann. Er erkennt, dass es sich um einen noch ziemlich jungen Burschen handelt. Aber viel kann er nicht erkennen, denn dieser junge Bursche wurde grausam verprügelt. Und wenn er wieder gesund werden sollte und zum ersten Mal in den Spiegel blickt, dann wird er sich selbst nicht erkennen. So schlimm wurde er zerschlagen.
»Ich werden ihn ins Bett bringen«, murmelt Gil. »Wo steht sein Bett? Zeigen Sie mir den Weg, Ma'am. Wir müssen ihn auskleiden. Sicherlich wurden ihm auch einige Rippen gebrochen. Ich werde noch in dieser Nacht einen Arzt holen. Oder gibt es in Warbow keinen Arzt?«
»Doch, es gibt einen«, sagt die junge Frau gepresst. Sie erhebt sich. Gil nimmt den Bewusstlosen vorsichtig auf die Arme. Dann folgt er ihr durch eine Tür in den dahinter liegenden Raum. Die Frau hat indes eine Tischlampe angezündet. Gil trägt den Bewusstlosen zum Bett.
Und er weiß, dies war vor zehn Jahren sein Zimmer. Und auch das Bettgestell ist noch das gleiche. Es ist sein Zimmer und sein Bett.
»Ich reite jetzt nach Warbow«, sagt er. »Ich bringe den Arzt heraus. Wo finde ich ihn?«
»Im fünften Haus auf der linken Seite wohnt Doc Phil Warden«, sagt sie tonlos. »Sagen Sie ihm, dass mein Bruder Frank ermordet und mein Bruder Archie halb totgeschlagen wurde. Phil Warden wird sicherlich schnell kommen. Ich bin June Bannister. Dieses ist die B Rafter Ranch. Ich danke Ihnen, Mister. Wo haben Sie Frank ...«
»Ich habe Stroh in den Wagen getan und Frank dort gebettet«, unterbricht er sie. »Oder soll er nicht in die Stadt gebracht werden?«
Sie schluckt und nickt.
»Doch«, sagt sie gepresst. »Der Doc wird ihn mit in die Stadt nehmen. Wenn Archie wieder zur Besinnung kommt ...«
Sie bricht ab und senkt den Kopf.
»Ich werde Archie sagen, dass Frank in der Stadt ist«, spricht sie dann weiter. »Ich werde ihm sagen, dass Phil Warden Frank mit in die Stadt genommen hat – und er wird nicht auf die Idee kommen, dass Frank tot ist.«
Sie wird wieder von Schmerz und Not am ganzen Körper geschüttelt.
»Reiten Sie, Mister!«, stößt sie hervor.
Gil geht langsam zur Tür. Dort hält er noch einmal an.
»Gibt es einen Sheriff hier, Miss Bannister?«
»Nein. Der Sheriff hat sein Büro hundertzwanzig Meilen von hier in der Countyhauptstadt. Hier gibt es keinen Sheriff. Hier gibt es nur die Bullskull Ranch und ihre raue Mannschaft. Hier gibt es kein Gesetz und auch kein Recht.«
✰
Im Vorraum des Stalls brennt eine Laterne, und ein alter Mann sitzt auf einer Futterkiste und stopft einen arg durchlöcherten Wollsocken.
»Bud, der Doc braucht ganz schnell sein Pferd«, sagt Gil Glenncannon drängend.
Bud Clarke springt auf und stößt einen Ruf aus. Er ist ein alter Bursche, krumm, schief und zäh. Er gleicht einem alten zerzausten Falken, und früher war er einmal ein ziemlich berühmter Scout und Prärieläufer und Gefährte des berühmten Jim Bridger. Er war schon in diesem Land, als dies noch gänzlich den Indianern gehörte und es noch sechzig Millionen Büffel gab.
Jetzt führt er den Mietstall von Warbow.
»Heiliger Rauch!«, ächzt er. »Bist du das, Gil Glenncannon? Oder bist du es nicht?«
»Ich bin es, Onkel Bud«, sagt Gil, und er gebraucht das Onkel Bud ganz selbstverständlich, so wie damals, als er noch ein Junge war. »Der Doc will schnell sein Pferd«, wiederholt er. »Die Bannisters brauchen Hilfe.«
Da bewegt sich der Oldtimer. Gil folgt ihm. Sie satteln gemeinsam das Pferd. Dabei berichtet Gil alles in kurzen Worten.
Bud Clarke flucht leise, indes er den Sattelgurt festzieht. Er führt das Pferd aus dem Stall.
Gil folgt ihm langsam.
Draußen taucht der Arzt mit einer schwarzen Tasche auf und schwingt sich in den Sattel. Als er losreiten will, entdeckt er Gil, beugt sich im Sattel vor und fragt: »Und wer sind Sie, Mister? Die Bannisters beschäftigen doch keine Reiter?«
»Nein«, sagt Gil. »Ich kam zufällig vorbei, nachdem die wilde Horde der Bullskull Ranch mit ihrer rauen Arbeit schon fertig war. Mein Name ist Glenncannon, Gil Glenncannon.«
»Glenncannon?«, fragt Phil Warden. Er sitzt drei Sekunden lang still und regungslos im Sattel, lang, schmal und dünn, und ganz in der Haltung, wie man drüben im alten England reitet.
»Glenncannon«, wiederholt er ruhiger. Und dann heftiger: »Ihr Vater wurde doch damals ...«
»Yeah!«
Dieses Yeah, das Gil spricht, hat einen besonderen Beiklang.
Der Arzt nickt. Wortlos zieht er sein Pferd herum und reitet davon.
Gil tritt langsam zu seinem müden Tier und führt es in den Stall.