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Jim Drago kommt mit der Abendpost nach Longhorn. Er steht noch einige Atemzüge lang mit seiner Reisetasche am Rand des Plankengehsteigs und lässt seinen Blick in die Runde schweifen. Eine ruhige und friedliche Stadt, denkt er. Und dennoch bin ich hier, um tausend Dollar mit dem Colt zu verdienen.
Jim Drago atmete langsam aus. Dann wendet er sich mit einer ruhigen Bewegung um und geht gemessenen Schrittes in das Hotel hinein. Im Lampenschein der Halle wirkt er gar nicht besonders beachtlich. Er ist dunkel, kaum mehr als mittelgroß, mit einigen tiefen Linien im Gesicht. Nur seine Augen sind bemerkenswert. Es sind weit auseinander stehende grüne und unwahrscheinlich ruhige Augen.
Als er sich in das Gästebuch einträgt und mit eleganter Schrift »Jim Miller« schreibt, da sieht man, dass sein Handgelenk außergewöhnlich breit ist.
»Ist Post für mich da?« So fragt er den einarmigen Mann hinter dem Anmeldepult.
Dieser dreht erst das Buch herum und liest: Jim Miller, Little Rock, Arkansas. Er zuckt leicht zusammen. Seine Augen blinzeln gewiss nicht nur wegen des Lampenscheins. Er staunt den Fremden ungläubig an. Aber dann hat er sich gefangen und sagt: »Mister Jim Miller aus Little Rock - o ja! Da wäre ein Brief ...«
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Seitenzahl: 164
Veröffentlichungsjahr: 2024
Cover
Der Revolverfalke
Vorschau
Impressum
Der Revolverfalke
Jim Drago kommt mit der Abendpost nach Longhorn. Er steht noch einige Atemzüge lang mit seiner Reisetasche am Rand des Plankengehsteigs und lässt seinen Blick in die Runde schweifen. Eine ruhige und friedliche Stadt, denkt er. Und dennoch bin ich hier, um tausend Dollar mit dem Colt zu verdienen.
Jim Drago atmete langsam aus. Dann wendet er sich mit einer ruhigen Bewegung um und geht gemessenen Schrittes in das Hotel hinein. Im Lampenschein der Halle wirkt er gar nicht besonders beachtlich. Er ist dunkel, kaum mehr als mittelgroß, mit einigen tiefen Linien im Gesicht. Nur seine Augen sind bemerkenswert. Es sind weit auseinander stehende grüne und unwahrscheinlich ruhige Augen.
Als er sich in das Gästebuch einträgt und mit eleganter Schrift »Jim Miller« schreibt, da sieht man, dass sein Handgelenk außergewöhnlich breit ist.
»Ist Post für mich da?« So fragt er den einarmigen Mann hinter dem Anmeldepult.
Dieser dreht erst das Buch herum und liest: Jim Miller, Little Rock, Arkansas. Er zuckt leicht zusammen. Seine Augen blinzeln gewiss nicht nur wegen des Lampenscheins. Er staunt den Fremden ungläubig an. Aber dann hat er sich gefangen und sagt: »Mister Jim Miller aus Little Rock – o ja! Da wäre ein Brief ...«
Der einarmige Mann verstummt, denn nun erst sieht er voll in die grünen Augen des Gastes hinein. Und da ist ihm, als müsste er den Atem anhalten.
Jim Drago wendet sich etwas ab, öffnet den Briefumschlag und sieht hinein. Er erkennt einige große Banknoten, und er weiß, dass es zehn Hundertdollarnoten sein müssen. Er zählt nicht nach, sondern steckt den Umschlag weg und nimmt seine Reisetasche.
»Ich möchte das Abendessen in zehn Minuten auf meinem Zimmer einnehmen«, sagt er ruhig und streckt die Hand nach dem Schlüssel aus, den der einarmige Hotelbesitzer ihm reicht. Dann geht er hinauf, bewegt sich fast lautlos. Dabei kann es nicht am Gewicht liegen. Dieser Jim Drago-Miller wiegt gewiss nicht weniger als hundertachtzig Pfund.
Wie macht er das nur? Dies fragt sich der Hotelbesitzer.
Indes betritt Jim Drago das Zimmer und unterlässt es, die Lampe anzuzünden. Er tritt ans Fenster und öffnet es.
Auf der anderen Seite der Straße befindet sich die Longhorn Bank.
Er zieht den Vorhang zu, zündet die Lampe an und legt seine Jacke ab. Er trägt den Colt nicht im Holster, sondern einfach nur im Hosenbund. Es ist eine nicht sehr große und schwere Waffe. Aber nachdem er sich in der Ecke beim Waschtisch die Hände und das Gesicht wusch, öffnet er seine Reisetasche und holt einen normalen und mit Patronen gefüllten Waffengurt mit einem Linksholster und einem schweren Colt, dessen mattes Schwarz ein drohendes Geheimnis auszuströmen scheint, hervor.
Er hängt den Gürtel mitsamt der Waffe über die Stuhllehne.
Und als es an der Tür klopft, erwidert er ruhig, dass man eintreten solle. Er betrachtet die junge Frau aufmerksam. Sie ist hübsch, und in ihren blauen Augen ist ein waches und interessiertes Funkeln. Sie hat einen ausdrucksvollen Mund, der sie wahrscheinlich stets verraten wird.
Ihr Kleid sitzt knapp und ist eine winzige Idee zu weit ausgeschnitten. Sie bewegt sich sehr weiblich und weiß bestimmt, dass dies allen Männern gefällt. Denn sie ist eine, die gefallen will.
Sie lächeln sich an – und das Lächeln des Mannes ist irgendwie nachsichtig.
»Ich bin Lily«, sagt sie, indes sie den Tisch deckt. »Wenn Sie etwas brauchen, dann lassen Sie es mich nur wissen. Mein Schwiegervater sagte, dass ich Sie besonders gut bedienen müsse.«
»Sie sind die Schwiegertochter des Hotelbesitzers?« So fragt er zurück und mustert sie mit einem ruhigen Blick, der ihr gefällt. Denn sie hebt ihr Kinn und strafft sich. Ihr Kleid wird noch enger dadurch.
»Ich bin Witwe«, sagt sie. »Mein Mann kam sehr krank aus dem Krieg heim und starb zwei Jahre später. Ja, ich bin hier die Schwiegertochter. Aber eigentlich ...« Sie verstummt und setzt ihre Arbeit wieder fort. Mit wenigen Handgriffen hat sie den Tisch endgültig gedeckt. »... war ich nie richtig verheiratet«, beendet sie plötzlich ihren Satz und geht zur Tür. Dort wendet sie sich Jim Drago noch einmal zu. Ihr Lächeln ist etwas verloren. »Ich schwatze mit jedem Fremden«, murmelt sie, »von dem ich glaube, er könnte mir etwas von der Welt dort draußen erzählen. Denn diese Stadt hier ist vielleicht gut für eine Frau, die einen Mann und Kinder hat. Aber für eine junge Witwe ist Longhorn ein Grab. Verstehen Sie? Eines Tages werde ich den Mut zum Fortlaufen haben. Aber wohin sollte ich gehen? Wo hätte ein Mädel wie ich die besten Chancen? Verstehen Sie, ich frage jeden Mann, der so wirkt, als wüsste er etwas von der Welt.«
Er betrachtet sie seltsam sanft, und dieser Gesichtsausdruck mildert die dunklen Linien in seinem Gesicht, lässt die Härte daraus schwinden.
»Lily«, murmelt er, »in jeder wilden, hektischen und lebendigen Stadt, in der der Dollar rollt, da sind die Amüsierhallen voll solcher Frauen wie Ihnen. Eines Tages brachen sie aus und suchten nach einer Chance. Sie waren hungrig nach dem Leben. Aber nur wenige schafften es, irgendwo auf irgendeine Art glücklich zu werden. Lily, ich kann Ihnen keinen Rat geben. Auch kenne ich Sie nicht genug. Ich kann Ihnen nicht helfen.«
Er setzt sich nach diesen Worten an den gedeckten Tisch und betrachtet sie nachdenklich, steckt schließlich einen Bissen in den Mund, und obwohl er seinen Hunger nun noch stärker verspürt, kaut er langsam und bedächtig.
»Ich reise hier nur durch und ruhe mich einige Tage aus«, murmelt er schließlich. Und dann fügt er hinzu: »Jetzt möchte ich Ihnen doch einen Rat geben, Lily. Verlassen Sie sich nie im Leben auf einen Mann, der Sie vom ersten Augenblick an von hier herausholen und mitnehmen möchte. Ehe Sie mit solch einem Burschen durchbrennen, gehen Sie lieber allein. Verstehen Sie?«
Sie beißt sich auf die Unterlippe und nickt. Ihre Augen werden etwas schmal. Und sie wirkt sehr nachdenklich. Als sie geht, bewegt sie sich ohne jede Herausforderung, sondern ganz natürlich.
Dann ist Jim Drago allein.
Er denkt jetzt an die Bank gegenüber und daran, warum er für tausend Dollar gekommen ist.
Es hängt mit der Coronado-Bande zusammen.
Er beendet sein Abendessen, erhebt sich schließlich, löscht die Lampe und geht nach unten.
Dann spaziert Jim Drago gemächlich die Straße hinauf und hinunter, hält da und dort bei den Hauslücken und Gassenmündungen an, wittert und lauscht. Es ist ein gemächliches Sondieren.
Und er versucht, sich in die Lage der Coronado-Bande zu versetzen, wenn diese nach Longhorn kommt, um die Bank zu berauben.
Denn damit ist zu rechnen.
Deshalb ist Jim Drago hier – für tausend Dollar Revolverlohn.
Und dass die Coronado-Bande kommen wird, darauf wetten nicht nur der Besitzer der Bank, sondern auch noch einige andere maßgebende Männer der Stadt – darunter auch der Hotelbesitzer Jorge Brennan.
Aus diesem Grund kamen auch die tausend Dollar ohne Schwierigkeiten zusammen.
Dicht vor dem Hotel, zu dem er sich zurückbegeben will, trifft Jim Drago auf einen Mann, der ihn mit den Worten anhält: »Fremd hier, nicht wahr?«
Jim Drago hält an und betrachtet den Mann. Er kann ihn in der hellen Nacht und im Schein der vielen Lichtbahnen gut studieren. Er sieht auch den Stern auf der Weste.
Er steht vor dem Sheriff von Longhorn. Und dieser Sheriff ist alt, grau und verwittert.
Deshalb haben sie mich gerufen, denkt er. Sie haben ihren alten Sheriff gern und wollen nicht, dass er sich nutzlos abschießen lässt. Sie wollen auch nicht selbst schießen und töten. Sie ließen mich kommen, dass ich es für tausend Dollar besorge.
Indes er dies denkt, sagt er: »Ja, ich bin fremd hier, Sheriff. Mein Name ist Jim Miller, und vielleicht bleibe ich einige Tage in dieser Stadt, um mich auszuruhen. Wissen Sie, einige harte und aufreibende Geschäfte haben in letzter Zeit viel von meiner Nervenkraft gefordert. Solch eine ruhige Stadt wie diese gefällt mir. Vielleicht gibt es hier sogar jemanden, mit dem ich eine Partie Schach spielen kann.«
»Ich glaube nicht«, murmelt der alte Sheriff und betrachtet ihn noch einmal.
Jim Drago geht um ihn herum und verschwindet im Hotel.
Mit offenen Augen liegt er dann auf dem Bett. Durch das offene Fenster hört er alle Geräusche der Straße.
✰
Es vergehen fünf Tage, und niemals ist Jim Drago während dieser Zeit von der Bank weiter als hundert Schritte entfernt. Die meiste Zeit verbringt er auf seinem Zimmer, sitzt am Tisch, den er ans Fenster rückte, und legt eine Patience nach der anderen aus, spielt auch Schach gegen sich selbst und zeichnet mit einem gewöhnlichen Bleistift aus dem Gedächtnis ein lebensechtes Porträt von Lily Brennan.
Sie bringt ihm oft das Essen, und dann bleibt sie stets eine Weile, um sich mit ihm zu unterhalten.
Manchmal ist eine Spannung zwischen ihnen, wie sie zwischen Mann und Frau vorhanden ist, die sich mögen, aber aus irgendwelchen Gründen zurückhalten.
Denn sie ist eine junge, hübsche, lebenshungrige Frau.
Er aber ist ein einsamer Mann, dem solch eine Frau immerhin ein wenig Wärme und das Gefühl geben könnte, nicht ganz so einsam zu sein. Ihm gefällt eine ganze Menge an ihr.
Aber diese kurzen Momente der Spannung gehen vorbei.
Und dennoch werden sie in diesen Tagen zumindest gute Freunde. Es gibt irgendwie etwas Gemeinsames zwischen ihnen.
Doch am späten Nachmittag des fünften Tages ist dann alles vorbei.
Die Coronado-Bande ist plötzlich da.
Jim Drago sieht von Norden her zwei Reiter im Trab in die Stadt kommen. Er beugt sich etwas weiter aus dem Fenster und blickt zum südlichen Stadteingang. Von dort kommen ebenfalls zwei Reiter.
Und gegenüber aus dem Saloon tritt soeben ein fremder Cowboy, löst die Zügelenden seines zähen Pferdes mit einem einzigen Griff und wirft sich mit einem Comanchensprung auf sein Pferd.
Er treibt das Tier bis in die Mitte der staubigen Fahrbahn und lässt es nach Indianerart einmal kreisen.
Jim Drago weiß jetzt, dass dieser scheinbar fremde und harmlose Cowboy den sich durch beide Stadteingänge nähernden Reitern das vereinbarte Signal gibt.
Und wahrscheinlich heißt es etwa: keine Falle hier! Alles harmlos und ruhig wie immer. Ihr könnt kommen. Man erwartet euch nicht.
Ja, so ungefähr lautet die Nachricht.
Sie kommen, denkt Jim Drago.
Er erhebt sich vorsichtig hinter dem ans Fenster geschobenen Tisch, um nicht die Schachfiguren umzustoßen. Er tritt an sein Bett und nimmt dort den Waffengürtel mit dem schweren Colt vom Pfosten. Er legt ihn sich mit einer einzigen Bewegung um, und er strömt jetzt eine kalte Entschlossenheit aus. Seine Bewegungen sind leicht, gleitend und geschmeidig. Er lässt an einen Tiger denken, der durch den Dschungel schleicht – schattenhaft, lautlos.
Mit einer schnellen Bewegung nimmt er seinen kleineren Colt vom Nachttisch und schiebt ihn sich in den Hosenbund.
Draußen auf dem Korridor trifft er auf Lily, die mit einem Putzeimer aus dem gegenüberliegenden Zimmer kommt. Sie sieht ihn zum ersten Mal mit dem schweren Colt an der Seite, dessen Holster fest an den Oberschenkel gebunden ist. Und sie weiß auch sofort den Ausdruck in seinem Gesicht richtig zu deuten – sie sieht ihn heute so völlig anders als bisher.
»O Jim ...«, bringt sie hervor.
Er nickt ihr ernst zu, und er geht wieder einmal die Treppe fast lautlos hinunter, diese Treppe, die sonst stets knarrt unter dem Gewicht eines Benutzers.
Bevor Jim Drago aus dem Hotel tritt, haben sich die Reiter vor der Bank getroffen. Sie sind abgesessen, und jener, der zuerst in der Stadt als Kundschafter war, bleibt bei den Pferden stehen, während die anderen vier hineingehen.
Als Jim Drago aus dem Hotel tritt und auf dem hier etwas verbreiterten Gehsteig verhält, blickt der Mann zu ihm her. Ihre Blicke treffen sich über die Straße hinweg.
Drago sieht einen noch jungen Burschen, einen von der rebellischen, verwegenen und hartbeinigen Sorte, die sich durch Kühnheit zu behaupten versucht.
Er spürt deutlich, wie dieser Wild Bill jäh gewarnt wird durch ein Signal seines Instinktes – etwa so wie ein Wolf, der die Witterung eines Berglöwen erhält.
Jim Drago gäbe jetzt viel darum, ginge alles friedlich ab.
Doch da sieht er, wie der Wild Bill anhält.
Drinnen in der Bank krachen nun zwei Schüsse. Vielleicht sind es Schreckschüsse. Jim Drago hofft es. Aber diese Schüsse sind auch zugleich für den wilden Jungen ein Signal.
Er starrt Jim Drago zwingend an.
Dann bewegen sich seine Hände. Er trägt zwei Revolver im Kreuzgurt, die er nun herausschnappt.
Er ist schnell, unheimlich schnell.
Aber dennoch ist er nur ein Revolverschwinger, ein Revolverheld.
Jim Drago gibt ihm sogar die Chance des ersten Schusses, und die Kugel schlägt zwei Handbreit neben seinem Kopf in einen Stützpfosten des vorgebauten Obergeschosses.
Eine zweite Kugel kann der junge Bandit nicht mehr abfeuern.
Jim Drago schießt.
Der wilde Junge dreht sich zur Seite und fällt in den Staub – und da kommen auch schon die vier Bankräuber heraus. Sie halten ihre Revolver in den Händen. Zwei der Burschen tragen Leinenbeutel, in denen sich ihre Beute befindet.
Sie sehen ihren Partner im Staub liegen, sehen den Fremden auf dem Plankenstieg vor dem Hotel. Und sie sehen auch den großen Colt in seiner Hand.
Sie begreifen, dass dieser Mann sie aufhalten will. Der unerwartete Widerstand reizt sie, denn wahrscheinlich rechneten sie nur mit einem alten Sheriff, von dem sie wissen, dass er um diese Tageszeit ein Schläfchen hält, um dafür in der Nacht einige Runden zu drehen.
Indes zwei von ihnen aufsitzen, kommen die beiden anderen über die Straße. Denn sie wissen, dass sie diesen Mann dort drüben vor dem Hotel erst niederkämpfen müssen, wollen sie ohne Verluste aus der Stadt gelangen.
Sie kommen schießend.
Und sie schießen nicht schlecht. Zumindest eine ihrer Kugeln zupft an Jim Dragos Kleidung.
Dann schießt er mit ruhigen Bewegungen. Es ist, als zeigte er mit einem riesigen Zeigefinger kurz hintereinander auf die beiden Banditen. Und er trifft sie. Sie stolpern nach vorn über ihre eigenen Füße und fallen in den Staub.
Es ist geradezu gespenstisch, unwirklich und wie ein böser Traum.
Die beiden anderen Banditen lassen die Zügel der drei ledigen Sattelpferde fahren, beugen sich tiefer über die Pferdehälse und setzen die Sporen ein.
Aber sie haben noch die Beute in den Beuteln bei sich. Und sie schießen.
Für diese Stadt und das Land in der Runde aber ist das Geld der Bank so wichtig wie für ein Lebewesen die Luft zum Atmen.
Das Geld dort in den beiden Beuteln sind die Ersparnisse vieler fleißiger Menschen, und sie vertrauten es in dieser unsicheren Zeit ihrer Bank an, um es für ein paar Zinsen arbeiten zu lassen.
Jim Drago, der Revolvermann, schießt noch zweimal.
Im Ganzen gibt er an diesem späten Nachmittag fünf Schüsse ab.
Dann wendet er sich um und geht ins Hotel zurück.
Es gibt keine Coronado-Bande mehr.
Jim Drago hat sich die tausend Dollar Revolverlohn verdient.
Aber tat er es nur deswegen?
✰
Als er vor dem Spiegel steht und den Oberkörper entkleidet, wirkt er starr. Seine Lippen sind fest geschlossen. Er schnauft leise durch die Nase. Dann kann er im Spiegel seine schmerzende und heftig blutende Wunde betrachten. Sie zieht sich auf einer Rippe entlang.
Als er sich umdreht, um aus seiner Reisetasche ein Pflaster zu nehmen, das die Wundränder zusammenziehen wird, geht die Tür auf.
Lily kommt herein. Und sie sagt nichts, fragt nichts. Sie macht sich daran, ihm wortlos zu helfen.
Sie arbeitet schnell und geschickt. Offenbar hat sie gelernt, Wunden zu versorgen. Nach einer Weile sagt sie: »Ich glaube, dass die Rippe angeknickt wurde, als die Kugel daran abprallte und nur etwas Fleisch mitriss, anstatt in den Körper einzudringen. Soll ich dem Doc sagen, dass ...«
»Nein, Lily«, unterbricht er sie. »Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du keinem Menschen verraten würdest, dass ich verwundet bin. Ich denke, dass ich es bis zur Postkutsche schaffen werde, ohne dass man mir eine Verwundung ansehen kann.«
»Sicher in zwei oder drei Tagen«, erwidert sie.
»Nein, jetzt gleich«, erwidert er. »Wenn ich mich nicht irre, kommt die Abendpost in einigen Minuten hier an, wechselt das Gespann im Wagenhof und fährt dann vor das Hotel, um Post und Fahrgäste mitzunehmen. Wir müssen uns jetzt Lebewohl sagen, Lily. Und ich danke dir. Du warst eines der wenigen guten und schönen Dinge an meinem Weg.«
Sie steht still da und staunt.
»Du willst fort – jetzt gleich? Ja, bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Wer treibt dich denn von hier fort? Du hast dieser Stadt einen Dienst erwiesen. Und nicht nur dieser Stadt! Und da willst du dich mit einer Wunde in eine schüttelnde Postkutsche setzen?«
Er setzt sich langsam auf, erhebt sich, geht zum Waschtisch und entnimmt der oberen Schublade ein frisches Hemd, das er sich hier im Store kaufte. Seine Bewegungen sind langsam und vorsichtig. Er zieht das Hemd an und stopft es in die Hose.
»Lily«, murmelt er, »ich habe das alles schon einige Male erlebt und hinter mich gebracht. In einer Stadt wie dieser gibt es keinen einzigen Freund für mich – nicht einen! Gegen einen verwundeten Jim Drago wird sich so mancher Revolverschwinger eine Chance ausrechnen und mich zum Revolverkampf herausfordern. Denn der Besieger von Jim Drago muss ja in der Rangliste der Revolverkämpfer noch vor Jim Drago rangieren, nicht wahr? So denken diese Narren. Ich habe keine Lust, mich mit ihnen herumzuschießen. Ich muss fort. Verstehst du das alles nun besser, Lily?«
Sie steht still und bewegungslos da, nagt an ihrer Unterlippe und starrt ihn an. Und erst in diesem Moment weiß sie, wie einsam er ist auf dieser Erde, wie bitter sein Weg ist und wie groß die Hölle, in der er lebt.
Er hat sich fertig zur Abreise gemacht, indes er zu ihr sprach. Nun steht er völlig angekleidet vor ihr. Sein großer Colt mit dem gefüllten Patronengürtel befindet sich wieder in seiner abgenutzten Reisetasche. Und nur die kleine Waffe steckt unter der Jacke im Hosenbund.
Als er sich zur Tür wendet, macht sie eine schnelle Bewegung. Einen Moment sieht es so aus, als wollte sie zu ihm eilen, ihn umarmen, sich an ihn schmiegen und küssen.
Aber dann entspannt sie sich auch schon wieder und atmet aus.
»Viel Glück«, sagt sie. »Viel Glück auf all deinen Wegen, Jim Drago.«
»Das wünsche ich dir auch, Lily«, murmelt er und öffnet die Tür.
Sein Schritt ist ruhig und leicht. Die Treppe knarrt auch diesmal nicht, als er sie benutzt.
Unten in der Hotelhalle trifft er auf eine Männergruppe, die sich hier sammelte und offenbar seinetwegen gekommen ist und bis zu seinem Auftauchen beriet.
Nun verstummen die Männer und sehen ihn an.
Er fragt: »Ist noch etwas, Gentlemen? Oder sind Sie auch mit mir der Meinung, dass mein Auftrag erfüllt ist und wir uns gegenseitig nichts schuldig blieben?«
Sie nicken.
Einer sagt: »Zwei der Bande sind tot – die drei anderen mehr oder weniger schlimm verwundet. Sobald sie einigermaßen gesund sind, werden sie aufgeknüpft. Denn sie ließen mehrmals bei ihren Überfällen Tote zurück. Nein, Mister Drago, Sie sind uns nichts mehr schuldig. Wofür Sie angeworben wurden, wurde zu unserer Zufriedenheit erledigt. Es sieht für uns so aus, als wollten Sie abreisen. Oder täuschen wir uns?«
»Nein«, sagt Jim Drago. »Mit der Abendpost verschwinde ich. Ist der Junge tot, der draußen bei den Pferden wartete und dann den ersten Schuss abgab?«
Sie starren ihn an, als er dies fragt.
Dann nicken sie. Der Bankier sagt heiser: »Der ist tot. Das war Olli Everett. Er tötete vor einiger Zeit einen Kassierer, als dieser hinter der Bande aus der Bank lief und versuchte, ihnen einige Kugeln nachzusenden. Er war ein böser, wilder Junge, den man gehenkt hätte. Sie haben sich auch noch die ausgesetzten Belohnungen verdient, Mister Drago. Es sind zusammen über fünftausend Dollar, und ich bin bereit, sie Ihnen vorzuschießen.«