1,99 €
Dies ist die Geschichte von Jim Quaid, der als Junge die Härte und Grausamkeit des Krieges erfuhr und sich nach der Kapitulation der Südstaatenarmee in einen Lebenskampf hineingeworfen sah, der noch gnadenloser war als der Krieg, aus dem er kam. Sechszehn erst, ohne Eltern und Heimat, herumgestoßen und verachtet, kennt er nur den einen Wunsch: einmal ein stolzer, von der ganzen Welt respektierter Mann zu werden. Sein schneller Colt schien ihm hierfür das große Zaubermittel zu sein...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 183
Veröffentlichungsjahr: 2017
Cover
Impressum
Der Colt war sein Schicksal
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Manuel Prieto/Norma
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-5367-9
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Der Colt war sein Schicksal
Dies ist die Geschichte von Jim Quaid, der als Junge herumgestoßen wurde und deshalb nur den einzigen Wunsch verspürte, einmal ein stolzer und von der ganzen Welt respektierter Mann zu werden.
Sein schneller Colt schien ihm hierfür das große Zaubermittel zu sein.
Aber …
Nun, in dieser Geschichte ist alles genau geschildert.
1
Es war am 12. April 1865, als wir zum letzten Mal unserer Fahne folgten, dem einst so stolzen Banner der Konföderation, dem sternenbesetzten blauen Kreuz auf rotem Grund.
Es war ein bitterer Tag für uns alle. Denn am 9. April hatte General Lee die Übergabe unterzeichnet und unsere Niederlage eingestanden. Er wollte dem sinnlosen Sterben seiner Armee ein Ende setzen.
Der Krieg war vorbei. Wir hatten verloren, waren besiegt worden.
Und so folgten wir am 12. April zum letzten Mal unseren zerfetzten Regimentsfahnen. Unser Weg führte nun in die Gefangenschaft.
Rechts und links standen die Divisionen der Yankees, der verhassten Blaubäuche. Das Regiment, zu dem ich gehörte, bestand nur noch aus siebzehn Mann.
Ich war der Jüngste von uns, denn ich war gerade erst sechzehn geworden. Und ich hinkte an einem Stock als letzter Mann.
Oha, wir waren ein zerlumpter, geschlagener Haufen, halb verhungert, und jeder war verwundet. Man sah es an den blutigen und verdreckten Verbänden.
Einige von uns weinten, denn sie waren einst stolze Männer gewesen, und konnten es jetzt nicht ertragen, besiegt zu sein.
Wir hatten die Hölle hinter uns und wussten nicht, was vor uns lag.
Alles war umsonst gewesen. Dieser verdammte Krieg hatte unzähliges Leid gebracht für beide Seiten. Wir wussten jetzt, wie grausam ein Krieg sein konnte – und wie dumm letztlich, weil die Menschen sich oftmals nicht gütlich und vernünftig einigen können.
Ja, das wussten wir jetzt genau – und dennoch war da immer noch ein Stolz in uns. Denn wir hatten gegeben und geopfert, was nur möglich war. Mochte alles sinnlos gewesen sein, wir brauchten unseren Stolz, denn er war etwas, an was wir uns klammern und aufrichten konnten.
Unser Fahnenträger erreichte nun die Stelle, wo der Unionsgeneral Chamberlain den oberkommandierenden General Grant vertrat, denn letzterer war schon unterwegs nach Washington.
General Chamberlain saß auf einem prächtigen Pferd, umgeben von hohen Offizieren.
Wir mussten an ihm vorbei mit unserer Fahne, die über unserem kleinen Haufen flatterte. Und ein Stück dahinter würden wir die Fahne und unsere Waffen abgeben müssen.
Plötzlich ging ein Ruck durch unseren Haufen.
Obwohl viele von uns hinkten, fielen wir plötzlich in unseren alten, schwingenden Marschschritt, reckten uns auf, hoben das Kinn. Wir richteten unsere Viererreihe aus – nur ich, der ich der siebzehnte Mann war, lief allein hinter den vier Viererreihen. Nein, auch ich hinkte nicht mehr.
Wir marschierten ohne Offizier an der Spitze. Denn unser Haufen hatte keine Offiziere und keine Sergeanten mehr. Und da geschah etwas.
Die Yanks ließen von einem Hornisten das Präsentiersignal blasen.
Dann klangen die Befehle. Und als wir an ihnen vorbeimarschierten, da präsentierten sie ihre Gewehre vor unserem zerlumpten Haufen und all den anderen Regimentern, die uns folgten.
Unser linker Hügelmann gab plötzlich für uns die Befehle wie ein Offizier.
Und so präsentierten auch wir im Vorbeimarsch. Ich selbst warf dabei zuvor schnell den Knüppel fort, den ich als Stock benutzt hatte. Heiliger Rauch, es tat uns gut, jetzt als Verlierer geehrt zu werden von den Siegern, ihnen beim Vorbeimarschieren in die Augen zu sehen und ihnen unseren Stolz zu zeigen.
Ja, das tat einem zerlumpten Haufen gut.1)
Aber dann erreichten wir auch schon die Stelle, wo wir unsere Fahne und unsere Waffen abliefern mussten – irgendwo in der Nähe von Appomattox auf freiem Feld. Und dann wehten und flatterten nur noch die Fahnen der siegreichen Union über uns. Es war vorbei.
Was wartete auf jeden von uns in der Zukunft?
***
Weil ich noch so jung war und einer Kommission auffiel, die unser Gefangenenlager besuchte und uns sagte, dass wir nun alle wieder gleichwertige und gleichberechtigte Amerikaner seien und mit dem Neuaufbau beginnen müssten, wurde ich schon sehr bald entlassen.
Zu dieser Kommission gehörten auch ein Bischof und einige feine Ladys.
Eine der Ladys interessierte sich für mich, winkte mich herbei und fragte:
»Sie sind wohl noch sehr jung?«
»Nur an Jahren, Ma’am, nur an Jahren.«
»Texaner?«
»Yes, Ma’am – vom Brazos. Mein Name ist Quaid, Jim Quaid, vom Brazos.« Ich sagte es stolz.
»Und wenn Sie entlassen werden, dann kehren Sie zu Ihrer Familie heim?« Sie fragte es in einer Art, so als wäre sie davon überzeugt, immer noch in einer heilen Welt zu leben.
Aber ich schüttelte den Kopf.
»Ich habe keine Familie mehr, Ma’am«, erwiderte ich. »Mein Vater und meine beiden Brüder wurden von den Yanks getötet. Meine Mom wurde von Comanchen ermordet, die sich die Pferde unserer kleinen Ranch holten. Wollen Sie sonst noch etwas wissen, Ma’am?«
Ich fragte es mit geduldiger Nachsicht.
Aber sie schüttelte heftig den Kopf und lief weg wie eine Henne, die von einem Wurm abgebellt worden war. Denn meine Probleme erschienen ihr zu groß, um sie für mich in Barmherzigkeit lösen zu können.
Aber noch am selben Tag wurde ich entlassen mit fünf Dollar. Das war in Virginia. Und so machte ich mich auf den Weg heim nach Texas.
***
Schon am zweiten Tag stahl ich einem Yankee-Offizier das Pferd, aber auch dieser hatte das Tier gewiss nicht von der Armee bekommen, denn es trug nicht das Brandzeichen der Union. Er hatte es also irgendwo requiriert. Ich kam mir also nicht wie ein Pferdedieb vor. Doch ich hätte wegen meinem kranken Bein auch jedem anderen Manne das Tier gestohlen bei ähnlich günstiger Gelegenheit.
Der Yankee-Offizier lag nämlich mit einer immer wieder glücklich jauchzenden Frau im Bett und hatte das Pferd hinter dem Haus im Garten angebunden. Durch das offene Fenster beobachtete ich das sich so menschlich vergnügende Paar einige Sekunden und war sicher, dass noch eine ganze Weile vergehen würde, bis der Mann sein Pferd vermisste, weil er es nicht mehr vorfand nach seinem Schäferstündchen.
Ich führte es ein Stück weg, bevor ich aufsaß. Aaah, was tat es gut, nicht mehr des Weges hinken zu müssen mit meinem zerschossenen Bein, dessen Wunde nicht so richtig heilen wollte und ständig eiterte. Vielleicht würde ich die Wunde nochmals ausbrennen müssen. Davor fürchtete ich mich. Zum Glück fand ich in der linken Satteltasche des Offiziers eine Flasche Schnaps. Damit hielt ich meinen Verband feucht.
Indes ich so ritt, spürte ich tief in meinem Kern das Bedauern eines Versäumnisses. Und dann dachte ich immer wieder: Ich hätte durch das Fenster klettern und ihm die Jacke und den Colt stehlen sollen. Denn in der Jacke war bestimmt seine Brieftasche mit dem jetzt allein gültigen Unionsgeld. Und den Colt werde ich gewiss bald so nötig brauchen wie die Luft zum Atmen.
Ich konnte gut mit einem Colt umgehen. Schon als kleiner Junge hatte ich das von meinem Vater und den älteren Brüdern daheim in Texas gelernt. Und während des Krieges, den ich ein ganzes Jahr mitmachte, hatte ich oft genug mit dem Colt gekämpft.
Ich war kein Junge mehr.
Damals, als ich zur Armee ging, war ich fünfzehn. Dem Einstellungsoffizier log ich vor, achtzehn zu sein. Und obwohl er wusste, dass ich log, stellte er mich ein.
Nun, ich ritt also auf dem gestohlenen Pferd nach Südwesten. Zwischen mir und Texas lagen noch Tennessee und Arkansas, dazwischen war der mächtige Mississippi.
Oha, es war ein weiter Weg nach Texas.
Aber ich hatte ja ein gutes Pferd und fünf Dollar.
***
Zwei Tage später war ich wieder ohne Pferd.
Denn als ich durch einen Creek ritt, tauchte am gegenüberliegenden Ufer ein Bursche auf, der mich über einen Revolver hinweg angrinste.
Ich verhielt und blickte über die Schulter.
Und da war noch einer am anderen Ufer. Sie sahen wie Brüder aus und trugen wie ich die graue Uniform der einstigen Konföderiertenarmee.
»Hey, Kleiner, du kommst uns gerade richtig mit dem hübschen Pferdchen«, sagte der Bursche vor mir. »Denn wir sind jetzt lange genug gelaufen. Jetzt bist du mal wieder an der Reihe. Du wirst schon irgendwo in den nächsten Tagen einen anderen Gaul finden. Na los, mach schon, runter von dem Bock!«
Er wedelte mit dem Colt, und in seiner Stimme war nun erbarmungslose Härte.
Ich machte mir keine Illusionen. Die beiden Kerle blufften nicht, denn sie waren hartgesottene und hart gebrannte Kriegsveteranen, die den Glauben an alles verloren hatten und nur noch an den eigenen Vorteil dachten. Die Zeiten der flatternden Fahnen und der Ehre waren vorbei.
Jetzt herrschte nur noch der erbarmungslose Lebenskampf.
Und ich war ein Junge mit einem prächtigen Pferd und ohne Colt.
Ja, wenn ich einen Colt gehabt hätte!
Zum ersten Mal in diesen Tagen kam mir die Erkenntnis, dass ich in Zukunft ohne Colt überall im Nachteil sein würde.
Seufzend rutschte ich vom Pferd und stand bis zu den Knien im Wasser des Creeks. Der Mann hinter mir kam heran, verhielt kurz neben mir und sagte: »So ist das nun mal, Junge. Diese Welt wird jetzt noch schlechter, als sie es bisher schon war. Denn jetzt wollen sich alle wieder nach oben strampeln.«
Er nahm das Pferd, führte es hinüber zum anderen Ufer. Sie saßen beide auf und ritten davon.
Ich stand noch im Creek, und ich knirschte mit den Zähnen und hätte am liebsten losgeheult wie ein Wolf.
Ja, wenn ich einen Colt gehabt hätte!
Wieder dachte ich den Gedanken nicht zu Ende.
Langsam bewegte ich mich ans Ufer und schnitt mir dort mit dem Messer einen Stock ab. Dann humpelte ich weiter wie vor zwei Tagen und folgte dem Pfad, der gewiss zu einem Ort führen würde, zumindest zu einem Anwesen, einer Siedlung oder Baumwollpflanzung. Nach etwas mehr als einer Stunde, als ich mal wieder ausruhte auf einem großen Stein am Weg, da hörte ich Reiter kommen.
Ich bewegte mich nicht, wartete ruhig. Bald darauf sah ich sie. Es waren Blaubäuche, also Soldaten der Besatzungstruppe.
Und sie wurden von dem Offizier geführt, dem ich das Pferd gestohlen hatte, einem Captain, den ich genau wiedererkannte, obwohl ich ihn im Bett der jubelnden Schönen nur von der Seite sah.
Sie hielten bei mir an.
Der Captain fragte:
»Nun, mein Junge, hast du einen Reiter vorbeikommen sehen auf einem Braunen mit weißen Strümpfen?«
Ich nickte, denn ich wusste, sie hatten an den Spuren beim Creek eine Menge gesehen und zumindest erkannt, dass wir uns dort getroffen hatten. Ich konnte nur hoffen, dass sie aus den Spuren den »Pferdetausch« nicht herauslesen konnten.
Und so sagte ich: »Ja, als ich den Creek durchschritt, kamen zwei Reiter auf einem solchen Pferd – zwei entlassene Soldaten, so wie ich, zwei Brüder wahrscheinlich. Ist was mit ihnen, Sir?«
»Mir stiehlt kein verdammter Rebell das Pferd«, knirschte der Captain. »Und wenn, dann hole ich es mir wieder und hänge ihn auf.«
Er trieb sein Tier wieder an.
Seine Reiter folgten ihm. Er hatte sie sich gewiss unter seiner Abteilung ausgesucht, denn sie wirkten alle wie erfahrene Langreiter.
Ich sah ihnen nach.
Die beiden Pferdediebe taten mir leid.
Doch so ist wohl das Leben. Immer wieder schlägt das Schicksal erbarmungslos zu.
Was mochte es mit mir noch vorhaben?
2
Noch am gleichen Tag erreichte ich eine kleine Stadt, kaum mehr als ein Dorf, umgeben von Baumwollfeldern.
Gleich beim ersten Haus sah ich eine junge Frau, eine von der Sorte, die einem Jungen, der die Frauen noch nicht kennt, wie ein engelhaftes Wesen vorkommt.
Sie stand am Brunnen und sah zu mir her. Ich hielt inne und ließ mich betrachten, nahm dabei meine graue Feldmütze vom Kopf, die ich als Kopfbedeckung trug, obwohl ein Hut mir lieber gewesen wäre.
Als ich sie fragen wollte, ob sie etwas zu essen für mich hätte, da sagte sie:
»Komm her, Junge!«
Oha, sie war gewiss keine zehn Jahre älter als ich, aber sie nannte mich Junge. Ich spürte instinktiv, dass sie sehr erfahren war im Umgang mit Männern. Ihr Blick war gerade und fest.
»Ma’am?« So fragte ich höflich im Tonfall.
»Warst du wirklich Soldat, Junge?« Sie fragte es ungläubig.
Ich nickte. »Und kein schlechter«, erwiderte ich. »Mir fehlen nur an die zwanzig Pfund Gewicht. Normalerweise sehe ich etwas anders aus, glauben Sie es mir, Ma’am.«
»Sicher.« Sie lächelte. »Das will ich gerne glauben. Ich kann sogar erkennen, dass du mal ein prächtig aussehender Mann werden wirst, wenn du erst richtig ausgewachsen bist. Ja, das kann ich erkennen. Nun, ich brauche Hilfe. Das Brunnenseil ist gerissen, als ich den vollen Eimer mit der Winde heraufholen wollte. Kannst du mir da helfen? Aber ich sehe, du hast offenbar ein krankes Bein. Da kannst du wohl nicht hinunter …«
»Doch, Ma’am«, unterbrach ich sie. »Sie würden sich wundern, was ich noch alles kann, Ma’am.«
Ihre schwarzen Augen wurden schmal, und ihre vollen Lippen zuckten.
»Oho«, sagte sie dann. »Nun, mein Junge, dann zeig mal, was du noch alles kannst. Ich habe im Schuppen eine Rolle gutes Seil. Und ich brauche Wasser, weil die Handpumpe in der Küche auch nicht mehr saugt. Da muss wohl eine neue Dichtung hinein. Es ist schlimm, wenn eine Frau ohne Mann ist.«
»Was, Sie haben keinen Mann?« So fragte ich staunend.
Da lachte sie leise. »Sicher habe ich einen. Er ist sogar Major. Doch ich sah ihn schon länger als ein Jahr nicht mehr, und auch da war er nur wenige Tage auf Urlaub. Nun, Junge, willst du mir helfen?«
Ich wollte.
Denn nichts konnte mir willkommener sein. Ich wusste, ich würde mich nützlich machen können, ein Obdach und Essen bekommen. Wenn ich wenigstens so lange bleiben konnte, bis mein Bein wieder gesund war.
***
Als es Abend war, konnte ich zufrieden sein. Der Brunnen hatte ein neues Zugseil. Und die Handpumpe in der Küche hatte ich auch repariert.
Nun hockte ich im heißen Wasser eines großen Bottichs in der Waschküche des Hauses. Oh, es tat so gut, bis zum Kinn in heißem Wasser und Seifenschaum zu hocken. Jenny Willard, so hieß die Frau, kam manchmal aus der Küche herüber und goss heißes Wasser nach. Dabei lächelte sie – und ich wusste nicht, ob sie wie eine gute Tante, eine große Schwester oder nur wie eine erfahrene Frau lächelte, die genau wusste, was in einem nach allen Dingen hungrigen Jungen vorging.
Denn ich war ja nur dem Alter nach ein Junge.
Sonst war ich ein Mann, den ein Jahr Krieg um zehn Jahre älter gemacht hatte.
Wir sprachen nicht viel.
Später brachte sie mir ein großes Badetuch, in das ich mich einwickeln konnte. Dann kam sie mit der Hausapotheke oder dem Hausverbandskasten und sah nach meiner Wunde. Das heiße Seifenbad hatte den eiternden Schorf aufgeweicht. Die Wunde schien wieder sauber zu sein. Ich schnaufte, als Jenny Willard mit Jod nicht sparte. Aber dann tat sie Wundpuder darauf und legte einen Verband an.
Sie hatte auch einige Kleidungsstücke mitgebracht.
»Es wird dir alles viel zu weit sein«, sagte sie. »Die Länge wird stimmen, doch die Weite nicht. Dir fehlen halt zwanzig Pfund und vielleicht noch etwas mehr. Ich denke, wenn du richtig ausgewachsen und richtig proportioniert bist, wirst du mehr als sechs Fuß groß sein und mehr als achtzig Kilo wiegen. Ich habe in wenigen Minuten das Abendessen fertig.«
Sie verschwand wieder in die angrenzende Küche.
Ich aber staunte ungläubig.
Verdammt, was hatte sie mit mir vor?
Gewiss, ich hatte ihr ein neues Brunnenseil an die Winde gemacht, den Wassereimer aus dem Brunnen geholt und ihre Küchenhandpumpe repariert.
Doch sie behandelte mich wie eine gute Schwester oder Tante.
Gab es denn so viel Liebe unter den Menschen? Dauerte ein solch abgerissener verwundeter und halb verhungerter Junge sie so sehr, dass sie ihm wie eine barmherzige Fee helfen musste?
Ich war mir da instinktiv nicht so sicher.
Aber ich zog mir die Kleidungsstücke an. Es waren gute Sachen, kein abgelegtes Zeug. Natürlich war mir alles zu weit. Wenn das die Sachen ihres Mannes waren, dann hatte ich seine Größe, doch längst nicht seine Proportionen.
Ich kam mir ziemlich lächerlich in dem zu weiten Zeug vor. Aber es war sauber, und sicherlich nahm ich jetzt jeden Tag ein Pfund oder gar ein ganzes Kilo zu, wenn ich hier einige Wochen bleiben durfte bei dieser schönen Frau.
Ich roch die Steaks in der Küche, die Bratkartoffeln und die Zwiebeln, den Duft des Kaffees.
Mir wurde einen Moment schwarz vor Augen, so hungrig war ich plötzlich.
Als es mir wieder besser ging, die Schwärze vor meinen Augen wich, trat ich durch die Tür in die Küche.
Der Tisch war gedeckt, und Jenny Willard erwartete mich.
»Lass es dir schmecken, Jim«, sagte sie lächelnd. Sie kannte jetzt meinen Namen.
Das tat ich, und ich erinnerte mich an die Erziehung meiner Mutter, die mir schon als Kind beigebracht hatte, nicht wie ein hungriger Wolf zu schlingen, selbst wenn der Hunger noch so groß ist.
Ich aß also wie ein zivilisierter Mensch, und ich war auch nicht ungebildet. Bevor unsere Mom damals unseren Vater heiratete, war sie Lehrerin gewesen. Also hatten meine Brüder und ich für unsere Verhältnisse eine Menge Bildung erhalten. In unserem Haus gab es viele Bücher.
Auch Jenny Willard aß mit gesundem Appetit. Sie war eine reizvolle und begehrenswerte Frau, aber sie wirkte hungrig auf mich, hungrig nach vielen Dingen des Lebens.
Als wir uns wieder einmal über den Tisch hinweg anblickten, sagte sie schlicht:
»Jim, es ist ganz einfach. Diese Stadt heißt Alberty, und sie gehört meinem Mann. Er besitzt hier die Bank. Damals gab er allen Leuten Kredite und ist nun im Besitz vieler Hypotheken. Auch den vielen Baumwollpflanzern im Umkreis von dreißig Meilen gab er Kredite. Dafür gehört ihm ein Teil ihrer Ernten. Sobald der neue Aufschwung kommt jetzt nach dem Krieg, werden wir mit neuem Unionsgeld schnell wieder wohlhabend sein. Ich erzähle dir das alles, Jim, damit du begreifst, dass ich die Frau eines für diese Gegend sehr wichtigen Mannes bin, die sich nicht das geringste Abenteuer erlauben kann. Denn diese Stadt würde es schnell wissen. Aber wenn ich meinen jungen Neffen bei mir aufnehme, den mein Mann noch niemals sah, sieht die ganze Sache anders aus. Du heißt jetzt Joe Ballard und bist der Sohn meines Bruders. Und es wird dir gut gehen hier.«
»Das glaube ich.«
Ich nickte und sah in ihren Augen den Hunger. Vielleicht hätte sie lieber einen richtigen ausgewachsenen Mann gehabt, doch das war nicht möglich. Also nahm sie mit einem Jungen vorlieb.
Sie war ein schlaues Biest. Ich wusste, dass es junge Frauen gab – ältere Kameraden hatten immer wieder davon gesprochen und sich gewünscht, solch einer zu begegnen, die nicht ohne körperliche Liebe sein konnten und für die es grausam war, wenn ihre Männer sie zu lange allein ließen. Ich hatte sogar davon gelesen, dass die alten Ritter ihren Gemahlinnen Keuschheitsgürtel anlegten, wenn sie auf den Kreuzzug gingen, um die Heiden zu besiegen.
Und ich hatte während des Krieges in den Dörfern, durch die wir zogen oder Quartier nahmen, zwei oder drei Mädchen gehabt.
Doch was mir jetzt bevorstand, erschien mir das Paradies zu werden.
Für einen nach allen Dingen hungrigen Jungen wie mich konnte das alles nicht besser sein.
Oha, was war ich doch für ein Glückspilz!
Vor einigen Stunden verlor ich das gestohlene Pferd und blieb dadurch am Leben. Jenen beiden Brüdern, die mir das Tier wegnahmen, musste ich dankbar sein.
Und jetzt war ich in einem warmen Nest gelandet.
Oha, ich würde die schöne Jenny Willard nicht enttäuschen und den Leuten der Stadt einen wohlerzogenen Neffen vorspielen.
Offenbar wusste Jenny Willard genau, dass der richtige Neffe niemals herkommen würde.
Nun, ich war also bereit für alles.
Und die schöne Jenny sah es in meinen Augen.
»Du musst viel essen«, sagte sie, »damit du schnell zu Kräften kommst. Ich werde dir jeden Morgen zum Frühstück ein paar Eier mit Rotwein und Honig zu einem Zaubertrank mixen.«
Es war mir recht.
***
Nun, lieber Leser meiner Geschichte, die Welt war schön.
Mir ging es gut. Gewiss, es gab einige Arbeit für mich. Es waren Reparaturen zu machen am Dach, am Zaun und am Stall. Es war auch Brennholz zu sägen und zu spalten. Ich ging jagen und fischen, grub die Gartenbeete um. Wenn Jenny einkaufen ging, begleitete ich sie, trug die Körbe und sonstige Lasten.
Die Leute kannten mich nun als ihren Neffen, und ich konnte so glaubhaft Tante Jenny sagen, wenn jemand in unserer Nähe war.
In den Nächten kam sie zu mir ins Gästezimmer des Hauses, und so bedankte ich mich für das gute Leben bei ihr. Nein, sie war nicht so pietätlos, mich in ihr Ehebett zu nehmen. Das tat sie dem Major nicht an.
Ich gab ihr, was ich geben konnte, und nahm, was ich von ihr bekommen konnte.
Es waren schöne Wochen für einen Streuner wie mich, den der Krieg ausgespuckt hatte. Ich nahm an Gewicht zu, wurde ein hübscher Bursche mit blonden Locken und tiefblauen Augen, ein geschmeidiger Kerl, den alle Frauen und Mädchen wohlgefällig betrachteten.
Ich führte ein süßes Leben.
Dass ich nur eine Art zweibeiniger Bock war, den sich eine liebesbedürftige Frau hielt, wurde mir mit meinen sechzehn Jahren nicht bewusst.
Aber es geht ja wohl im Leben alles einmal zu Ende.
Und so war es auch hier bei der schönen und so liebeshungrigen Jenny Willard in Alberty, Virginia.
Es war schon nach Mitternacht, als sie sich aus meinen Armen löste, um hinüber in ihr Ehebett zu gehen, dessen Hälfte nun schon so lange leer geblieben war.