G. F. Unger Sonder-Edition 164 - G. F. Unger - E-Book

G. F. Unger Sonder-Edition 164 E-Book

G. F. Unger

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Beschreibung

Daniel Longbow reitet schon sehr viele Tage nach Norden, und die Reste seiner Campfeuer bilden eine ziemlich regelmäßige Kette vom südlichen Kansas bis nach Nebraska.
Auch an diesem Tag ist er auf seinem mächtigen Rappen stetig geritten, und es ist ein heißer und staubiger Tag. Als Daniel Longbow nicht weit vom Weg die kleine Farm oder Ranch erkennt, die kaum mehr als eine Siedlerstätte ist, reitet er hinüber.
Beim Brunnen hält er an, blickt auf das Haus und ruft laut: "Hallo!" Seine Stimme klingt etwas heiser und rau, doch daran sind die Trockenheit und Hitze des Tages und der Staub schuld.

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Seitenzahl: 230

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Inhalt

Cover

Impressum

Wer den Stern nimmt …

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Manuel Prieto/Norma

Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-8080-4

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Wer den Stern nimmt …

Daniel Longbow reitet schon sehr viele Tage nach Norden, und die Reste seiner Campfeuer bilden eine ziemlich regelmäßige Kette vom südlichen Kansas bis nach Nebraska.

Auch an diesem Tag ist er auf seinem mächtigen Rappen stetig geritten, und es ist ein heißer und staubiger Tag. Als Daniel Longbow nicht weit vom Weg die kleine Farm oder Ranch erkennt, die kaum mehr als eine Siedlerstätte ist, reitet er hinüber.

Beim Brunnen hält er an, blickt auf das Haus und ruft laut: »Hallo!« Seine Stimme klingt etwas heiser und rau, doch daran sind die Trockenheit und Hitze des Tages und der Staub schuld.

Als sich die Tür des Hauses nicht öffnet und sich auch beim Stall, beim Schuppen und dem kleinen Schlafhaus niemand zeigt, sitzt Daniel Longbow ab. Er füllt für seinen Rappen Wasser in den Tränketrog und trinkt dann selbst aus der hölzernen Schöpfkelle, die mit einer dünnen Kette am Brunnenrand befestigt ist.

Dabei betrachten seine rauchgrauen Augen prüfend das Haus, und sein ruhiger Blick schweift über den Hof und über alle Dinge in der Umgebung. Daniel Longbow ist ein großer Mann, hager vom ständigen Reiten, sehr schmal in den Hüften, doch breit in den Schultern. Er hat ein festgefügtes und ruhiges Gesicht, eine kurze Nase, die irgendwann einmal gebrochen wurde und nicht die alte Form zurückbekam. Das dunkle Gesicht ist etwas hohlwangig, und über dem linken Wangenknochen ist eine helle Narbe. Daniel Longbows Haar ist an den Schläfen grau, sonst aber dunkel, dicht und etwas gekräuselt. Er trägt es ziemlich kurz, und da sein Hut an der Windschnur auf seinem Rücken hängt, erkennt man genau, dass sein Kopf gut geschnitten ist.

Seine Kleidung ist abgenutzt und mit Staub bedeckt. Sein schwarzes Pferd ist riesig und narbig. Es ist kein Rinderpferd, dazu ist es zu groß. Es ist vielleicht ein Kriegspferd, also ein Tier aus dem Krieg, das die Trompetensignale der Kavallerie genau kennt.

Doch der Sattel ist ein Cowboysattel mit zwei Gurten, wie man ihn nicht im Flachland, sondern in den Bergen und auf einer rauen Weide benutzt.

Ais Daniel Longbow die Schöpfkelle auf den Brunnenrand legt, knarrt die Tür des Hauses. Er blickt hinüber und erkennt einen Jungen, der langsam über die Schwelle tritt.

Der Junge trägt eine Schüssel mit Wasser. Er tritt damit zur Seite und gießt den Inhalt hinter den Brennholzstapel. Dann kommt er zum Brunnen und blickt den Mann fest an.

Es ist ein etwa zwölfjähriger Junge, groß, hager und sommersprossig. Sein Haar ist noch heller als reifender Weizen. Dieser Junge hat fast den festen und ernsten Blick eines Erwachsenen.

»Reiten Sie nach Wickmunke?«, fragt er heiser und spröde, so als wäre seine Kehle ausgetrocknet.

Daniel Longbow betrachtet ihn und nickt langsam. »Wenn die Stadt an dieser Straße dort im Norden liegt, dann werde ich dort durchreiten«, spricht er dann gedehnt. Und nun erkennt er in den Augen des Jungen einen Ausdruck von Hoffnung und Erleichterung.

Der Junge stellt die Schüssel auf den Brunnenrand, lässt den Eimer hinunter, holt ihn herauf, gießt Wasser in die Schüssel und spült sie sauber.

Nun erkennt Daniel Longbow, dass vorher blutiges Wasser in der Schüssel war. Denn das Wasser, das der Junge jetzt eben hineingegossen hat, um die Schüssel zu säubern, färbt sich nochmals rötlich.

»Was ist das, Junge?«, fragt Daniel Longbow ruhig.

Der Junge betrachtet ihn, und es ist ein scharfes, wachsames und sorgfältiges Abschätzen, wie man es bei einem Jungen dieses Alters sonst niemals findet. Entweder ist dieser Junge älter als er aussieht, oder es ist so, dass er sich in Not befindet und ihn diese Not hat reifen lassen, sodass er seinen Mann steht, weil ihm keine andere Wahl bleibt.

»Wenn Sie in die Stadt kommen«, sagt er zu Longbow, »dann könnten Sie vielleicht den Doc dazu überreden, dass er zu uns kommt. Ich bin Tom May, und meine Mutter wurde vor einigen Tagen verletzt. Die Wunde hat sich entzündet. Wir brauchen nötig den Doc und …«

Die Stimme versagt ihm. Und nun zeigt es sich auch, dass er wirklich noch ein Junge ist. Denn es sind Tränen in seinen Augen. Er senkt den Kopf. Seine mageren Schultern zucken und zittern.

In den Staub zu seinen Füßen tropfen einige Tränen.

Mit einer hastigen Bewegung gießt er nochmals Wasser in die Schüssel und wendet sich damit zum Haus.

»Der Doc soll kommen, wenn er kein Hundesohn ist wie all die anderen Männer in diesem Land, die sich für gut und ehrenwert halten und die in Wirklichkeit nichts anderes als …«

Er verstummt gepresst und verschwindet im Haus.

Daniel Longbow zögert drei Sekunden, und in seinem ruhigen Gesicht verändert sich etwas. Dieses ohnehin schon so ruhige Gesicht wird nun völlig ausdruckslos, und vor seine rauchgraue Augen scheinen sich Vorhänge zu senken. Auch in seinem Blick ist nun keinerlei Ausdruck zu erkennen.

Er zögert also drei Sekunden lang und starrt auf die geschlossene Tür des Hauses.

Seine Mutter wurde vor einigen Tagen verletzt, denkt er. Und als er einige Schritte macht und dem Haus näher ist, da erkennt er an Tür, Hauswand und Fensterläden einige Löcher und Beschädigungen, wie sie von Gewehr- und Revolverkugeln verursacht werden. Er hat einige Erfahrungen darin, wie eine Hausfront aussieht, wenn Blei aus Gewehren und Revolvern dagegen prasselte.

Sein Instinkt warnt ihn vor einem Verdruss. Auch sein Verstand sagt ihm, dass er dort drinnen auf eine unangenehme Sache stoßen wird. Und der Junge bat ihn auch nicht, ins Haus zu kommen oder zu helfen. Der Junge bat ihn nur, in der Stadt den Arzt zu verständigen.

Aber in diesem Zusammenhang sprach der Junge auch einige bittere Worte. Dies alles ist für Daniel Longbows Instinkt genug an Zeichen.

Er seufzt leise. Dieses Seufzen gilt seinem Entschluss, ins Haus zu gehen. Er setzt sich in Bewegung, öffnet die Tür und tritt langsam ein.

Es ist ein kleines Haus, das nur drei Räume besitzt. Man tritt sogleich ein in eine große Wohnküche. Eine der beiden Türen ist offen, und Daniel Longbow hört die Stimme des Jungen etwas im anderen Zimmer sagen.

Er macht einige lange und leichte Schritte. Dabei fällt auf, dass er keine Sporen an den hochhackigen Cowboystiefeln trägt, denn es klirrt nichts, wie es bei den meisten Reitern in diesem Land üblich ist.

Langsam tritt er in das offene Türrechteck. Er sieht in das Schlafzimmer von Eheleuten, und über dem Doppelbett hängt ein Kreuz. In dem rechten der Betten liegt eine Frau. Sie blickt ihn an, und der Junge fährt scharf herum.

Daniel Longbow tritt näher.

Und dann kann er es erkennen. Die Frau hat starke Schmerzen und sicherlich auch Fieber. Daniel Longbow blickt in zwei grüne Augen, die vor Not und Schmerz dunkler sind als sonst. Er ahnt dies irgendwie. Er bemerkt die feinen Schweißperlen auf ihrem Gesicht. Und ihr dunkelrotes Haar ist ebenfalls nass.

Als er nach dem Puls fühlt und ihr seine Hand auf die Stirn legt, da erschrickt er. Denn ihr Puls jagt heftig. Ihr Fieber aber ist schlimm. Jetzt begreift er, warum sie ihn nur anblickt und nichts sagt. Sie ist gar nicht richtig bei Besinnung. Er hört sie flüstern: »Tom! Tom, bist du wieder bei uns! Tom, sie ließen dich also wieder laufen! Tom, wir haben niemals geglaubt, dass du …«

Nun verstummt sie und dreht den Kopf auf die Seite.

»Wo ist die Wunde, Junge?«, fragt Daniel Longbow.

»Das Bein«, flüstert der Junge tonlos. »Einer von den Schuften hat sie ins Bein geschossen.«

Daniel Longbow hebt die Bettdecke. Und dann sieht er es. Er erschrickt. Die am Anfang sicherlich nicht besonders tiefe Streifwunde seitlich der Wade hat sich schlimm entzündet. Das Bein ist auf das Doppelte seines Umfanges angeschwollen. Daniel Longbow kann es nur bis zum Knie sehen, doch er ist sicher, dass die starke Anschwellung bis zu den Leistendrüsen geht.

Auf der Wunde liegt ein nasser Lappen. Als Daniel ihn fortnimmt, sieht er die böse eiternde Wunde richtig.

Du lieber Gott, denkt er.

»Erzähl es mir, Junge«, sagt er etwas rau.

»Vor fünf Tagen holten sie meinen Vater«, sagt der Junge. »Und weil meine Eltern zuerst gegen die Bande kämpften, bekam Mutter diese Streifwunde.«

»Warum holten sie deinen Vater?«

Auf diese Frage gibt der Junge keine Antwort. Er senkt nur den Kopf und steht da.

Daniel Longbow betrachtet noch einmal die Wunde. Er verspürt eine Furcht, dass man dieser Frau hier vielleicht das Bein abnehmen müsste.

»Wie weit ist es bis zum Doc?«

»Die Stadt ist neun Meilen von hier entfernt, Sir«, sagte der Junge. »Der Doc wohnt im fünften Haus auf der linken Seite. Gleich neben der Eisenwarenhandlung.«

»Warum wurde er nicht von dir oder von euren Nachbarn benachrichtigt? Warum habt ihr so lange gewartet?«

»Meine Mutter wollte nicht«, flüstert der Junge. »Und Nachbarn haben wir nicht, nicht solche Nachbarn, die uns helfen würden. Es ist auch nicht sicher, dass der Doc kommen wird. Denn …«

Er verstummt wieder.

Daniel Longbow aber sagt ruhig: »Doch, das ist sicher! Du kannst dich darauf verlassen, dass der Doc noch vor Abend hier sein und seine Pflicht tun wird.«

Er geht zur Tür. Von dort wirft er noch einmal einen Blick auf die fiebernde und bewusstlose Frau. Er hört ihr stöhnendes Wimmern, das sie unbewusst hören lässt.

»Was tat dein Vater, Junge?« Er fragt es ruhig.

Der Junge starrt ihn an. »Mein Vater soll ein Bandit und Viehdieb gewesen sein, Sir«, sagt er dann spröde.

»Soll, Junge?«

»Ja, soll, denn jetzt ist er, tot. Die Bande hat ihn mitgenommen und ermordet.« Der Junge sagt es schluchzend. Dann fällt er beim Bett auf die Knie, legt den Kopf auf den Bettrand und beginnt bitterlich zu weinen.

Daniel Longbow regt sich einige Sekunden lang nicht. Er blickt auf die bewusstlose Frau und auf den weinenden Jungen. Sein Gesicht ist ausdruckslos, und in seinen Augen zeigt sich nichts, gar nichts. Sein Gesicht ist eine starre Maske.

Dann wendet er sich ab, geht hinaus und tritt zu seinem Pferd.

Er schwingt sich in den Sattel wie ein Comanche – und das sind die besten Reiter unter allen Indianern. Dann ruft er knapp und nicht sehr laut: »Los, Mister Black!«

Der mächtige Rappe gehorcht diesem Kommando unverzüglich und springt nach wenigen Schritten an. Er galoppiert bald darauf ungeheuer schnell auf dem Weg nach Norden.

Als Daniel Longbow die kleine Stadt Wickmunke erreicht, ist es später Nachmittag. Wickmunke ist übrigens ein indianisches Wort der Dakota-Indianer und bedeutet so viel wie »Falle«.

Daniel Longbow muss einige Sekunden lang über dieses Wort nachdenken. Indes reitet er in die kleine Rinderstadt ein, wird von einigen Müßiggängern beobachtet und findet schnell das kleine Doktorhaus neben der Eisenwarenhandlung. Es ist ein vernachlässigtes Haus mit einem verfallenen Zaun davor, und an einem Pfosten hängt eine Tür nur noch schief an einer Angel.

Als Daniel Longbow absitzen will, kommt gerade ein alter Mann vorbei, der in jeder Hand einen Korb voller Kirschen trägt. Dieser Mann sagt: »Der Doc sitzt wie immer im Wickmunke Saloon, und um diese Zeit ist er schon ziemlich betrunken.«

Daniel Longbow nickt dankend. Er reitet weiter, und als er am Mietstall vorbeikommt, hält er an und lenkt sein Pferd hinein. Der Stallmann kommt heraus und fragt: »Wollen Sie das Pferd einstellen?«

»Was für ein Beförderungsmittel hat der Doc?«, fragt Longbow.

»Diesen Wagen dort«, sagt der Mann und zeigt auf einen leichten Zweiräder, der unter einem halb offenen Schuppen steht.

»Spannen Sie an«, sagt Longbow ruhig.

Der Stallmann blickt zu ihm auf. »Wohin wollen Sie das Schnapsfass holen, Fremder?«

Aber Longbow erwidert nichts. Er zieht sein Pferd herum, reitet wieder auf die Straße und sucht den Wickmunke Saloon. Er findet ihn an der Ecke eines kleinen Platzes. Eine Reihe von Sattelpferden steht davor angebunden. Die meisten Pferde tragen das gleiche Brandzeichen: einen Steigbügel. Longbow begreift, dass eine ganze Ranchmannschaft im Saloon ist. Er hat von einer Steigbügel-Ranch schon vor Tagen gehört, als er noch mehr als hundert Meilen von dieser Weide und dieser Stadt entfernt war.

Ja, er hörte da und dort, wenn er bei Poststationen, Weidelagern, kleinen Siedlungen und in den Rinderstädten am Wege einkehrte, schon von Donald Holbrook und der Steigbügel-Ranch.

Er sitzt ab und geht in den Saloon hinein.

An der langen Bar haben sich eine Menge Männer aufgereiht. Und auch an den Tischen sitzen einige. Andere Burschen stehen am Billardtisch.

Alle diese Männer blicken auf einen grauhaarigen und rotgesichtigen Mann, der inmitten des freien Raumes vor dem Schanktisch steht und der mit theatralischen Bewegungen und tönender Schauspielerstimme irgendwas deklamiert, was seine Zuhörer gewiss nicht verstehen, obwohl sie staunend lauschen.

Daniel Longbow hört einige Sekunden lang zu, und dann erinnert er sich daran, dass er die Worte, die er da pathetisch vorgetragen hört, schon einmal einen Schauspieler auf einer Bühne sagen hörte. Und dieser Schauspieler stellte den Hamlet dar.

Der grauhaarige, rotgesichtige und dickbäuchige Mann beendet nun seinen Vortrag. Er lässt die Arme fallen, sodass sie wie leblos an seinem Körper niederhängen, starrt die grinsende Zuhörerschaft an und sagt dann bitter und freudlos: »Ihr habt das gar nicht verstanden, ihr Narren, nicht wahr? Ebenso hätte ich das alles einer Zuhörerschaft von Maultieren vortragen können. Oh, ihr traurigen Wilden, wie gut habt ihr es doch, dass ihr so seid, wie ihr seid, und nur eine einzige Sprache versteht. Wer spendiert mir noch einen Whisky?«

Seine wässrigen Augen hinter einem Kneifer beginnen erwartungsvoll zu glänzen. Die Burschen im Saloon grinsen ihn an. Und auch die beiden Männer hinter der Bar bewegen sich nicht, sondern grinsen nur.

»Wer spendiert mir einen Whisky, mir, einem verirrten und verlorenen Schöngeist, der euch dann und wann etwas von Dingen erzählt, die so mächtig weit über eurem Horizont liegen, dass ihr sie ohne meine Hilfe gar nicht einmal wittern könntet, geschweige denn sehen! Wer gibt mir einen Whisky?«

Nun klingt seine Frage schon zitternd. Und nun wird es Daniel Longbow klar, dass er ein Säufer ist, ein Süchtiger, ein Kranker. Er hat schon die Ahnung, dass es sich um den Arzt handeln könnte. Denn welcher andere Mann in dieser Stadt könnte sonst eine solche Bildung haben, aus Hamlet vortragen zu können?

Und richtig! Einer der Cowboys sagt gönnerhaft: »Na gut, einen Whisky für unseren gelehrten Doc! Einen Whisky für ihn, der uns Gedichte aufsagt, die wir nicht verstehen, weil wir eben nicht gewöhnt sind, so geschwollen zu reden. Du lieber Gott, wenn ich bedenke, was es doch alles für Worte und Ausdrücke gibt, um eine Sache zu beschreiben und um eine Regung zu schildern, die jemand in seinem Herzen fühlt! Es ist schon allerhand, sich all dieses verwirrende Zeug zu merken. Und dann erst noch aufsagen – oooh!«

Er schnauft.

Und sein Nachbar sagt: »Ich habe wieder gefühlt, welch unwissende Heiden wir sind. Und mir ist immer noch ganz wirr im Kopfe. Was muss das Hirn unseres Doc doch manchmal geknirscht haben, bis er all dieses Zeug auswendig, konnte.«

Inzwischen ist auch der Doc an den Schanktisch getreten und hat sein Glas Freiwhisky erhalten. Er trinkt.

Einige Männer haben ihre Aufmerksamkeit auf Daniel Longbow gerichtet, den sie sofort als Fremden erkannten, der weit geritten ist. Sie betrachten den Staub auf seiner Kleidung, und da dieser Staub rötlich schimmert, wissen sie, dass er aus dem Süden ins Land geritten kam.

Daniel Longbow tritt nun neben den Arzt an den Schanktisch. Er drängt dabei einen Cowboy etwas zur Seite. Der Mann schnauft sofort böse, doch Longbow achtet nicht darauf. Er legt dem Arzt die Hand auf die Schulter und sagt ruhig: »Ich habe schon Ihren Wagen anspannen lassen, Doc! Kommen Sie! Holen Sie sich Ihre Tasche und kommen Sie mit zu den Mays hinaus. Die Frau dort wurde vor Tagen ins Bein geschossen, und die Wunde ist schlimm entzündet. Wenn Sie sich nicht beeilen, wird das ganze Bein verloren sein. Also vorwärts, Doc!«

Er spricht seine Worte langsam, deutlich und eindringlich. Und er verschwendet mehr Worte, als es sonst seine Art ist. Doch er glaubt, dass dies nötig ist, denn der Arzt macht einen abwesenden und betrunkenen Eindruck. Er ist nach seinem pathetischen Vortrag aus Hamlet nun sehr erschlafft und wirkt wie ausgebrannt.

Da Longbow jedoch ziemlich viele und sehr eindringliche Worte spricht, dringt etwas davon in sein Bewusstsein, und als es dort lange genug gewirkt hat, begreift er es endlich.

Die Zuhörer jedoch haben es sofort begriffen.

Es ist sehr still.

Eine harte Stimme sagt grob: »Fremder, was geht Sie das alles an?«

Daniel Longbow wendet sich dem Sprecher zu. Er sieht einen klotzig wirkenden Mann, und er weiß sofort, dass dieser Mann zumindest der Vormann der hier versammelten Mannschaft ist. Daniel Longbow hörte unterwegs nicht nur von Donald Holbrook und der Steigbügel-Ranch. Er hörte auch einige Geschichten von Holbrooks Vormann Duke Morrow. Er ist nun davon überzeugt, Duke Morrow vor sich zu haben. Denn so wie dieser Klotz dort wurde Duke Morrow geschildert, hart, grob, gewaltig stark, ständig mürrisch und gereizt, ein Mann, der keinen Widerspruch aufkommen lässt und dessen Denken sich um nichts anderes als um das Prestige der großen Ranch dreht. Duke Morrow soll ein Vormann sein, der die große und raue Steigbügel-Mannschaft mit der bloßen Faust bändigt und unter Kontrolle hält wie ein Dompteur ein Rudel Tiger.

Daniel Longbow blickt den Mann also an, schätzt ihn ab, und dann antwortet er auf die Frage, was es ihn, einen Fremden, anginge. Er antwortet ganz ruhig: »Das ginge jeden Menschen etwas an, denke ich. Da liegt eine Frau mit einer gefährlichen Blutvergiftung ohne Hilfe in einem einsamen Haus. Nur ein kleiner Junge ist bei ihr, der vor Furcht und Sorge fast verrückt ist. Und niemand kümmert sich um die Frau …«

»Nun gut«, unterbricht ihn der Vormann. »Es hat hier niemand gewusst, dass Josephine May verwundet wurde und dass sie Hilfe braucht. Das hat hier niemand gewusst. Wenn sie zu stolz ist, um …«

Er verstummt, winkt mit der Hand und sagt: »Nun gut, wir müssen ja ohnehin dort vorbei. Wir bringen den Doc hin! Jeff, fahr mit dem Wagen des Doc vor. He, Doc! Hörst du mich?! Wir nehmen dich mit! Geh schon und hol deine Tasche! Hast du gehört, es soll eine Blutvergiftung sein. Also nimm mit, was du dafür nötig hast. Vorwärts? Linc, geh mit dem Doc in dessen Haus und pass auf, dass er nichts vergisst. Vorwärts!«

Nachdem er diese Anordnungen getroffen hat, wendet er sich wieder an Daniel Longbow.

»Sie sehen also«, sagt er, »dass der Frau geholfen wird. Wir mussten es nur erst wissen. Und nun kommen wir zu Ihnen, Fremder! Woher und wohin? Wie ist ihr Name? Wie kommt es, dass Sie ausgerechnet bei den Mays einkehrten? Oder stand vielleicht der kleine Tommy May am Weg und bat um Ihre Hilfe? Antwort! Antwort!«

Er fordert es barsch und unduldsam, ganz als wäre Daniel Longbow ein Cowboy der Steigbügel-Ranch oder gegen ihn ein sehr viel minderer Mann.

»Ich holte mir aus dem Brunnen der Mays Wasser«, erwidert Daniel Longbow sanft. »Dann kam der Junge und bat mich, den Arzt zu schicken. Das ist alles, Mister!«

Duke Morrow starrt ihn seltsam an. Er hat ein breitflächiges Gesicht, und seine Wangen sind so dick, dass man ständig den Eindruck hat, er hätte zwei Klöße in den Backentaschen. Seine Unterlippe stößt über die Oberlippe vor, sodass er dadurch noch grimmiger und mürrischer wirkt. Er hat kleine, wasserhelle Augen, eine kleine Nase, kleine Ohren und Stehhaare. Sein Kopf ähnelt der Form und den Stoppelhaaren nach irgendwie einem zusammengerollten Igel.

Seine Brust ist gewaltig. Und als Vormann der größten Ranch auf dreihundert Meilen in der Runde und als Anführer einer großen und als rau und hart bekannten Mannschaft ist er sehr schlecht und nachlässig gekleidet.

»Der Name? Wie ist dein Name?« Er fragt es nun noch unduldsamer.

Daniel Longbow zögert. Er denkt an die Beweggründe, die ihn zu seinem langen Ritt nach Norden veranlassten. Bisher hatte er in all den Siedlungen und Städten unterwegs, durch die er ritt und in denen er nach gewissen Dingen fragte und forschte, seinen Namen nie genannt. Er verspürte stets eine Furcht davor, denn er musste stets annehmen, dass man dort, wo der Name vielleicht bekannt war, sofort gewusst hätte, warum er gekommen war.

Und auch hier könnte es so sein.

Aus einem Impuls heraus sagt Daniel Longbow jedoch, indes er in Duke Morrows kleine und helle Augen blickt: »Mein Name ist Longbow, Daniel Longbow aus Kansas!«

In Duke Morrows Augen leuchtet es kalt auf. Dann fragt er schwer: »Und was wollen Sie hier in unserem Land? In dieser Stadt?«

»Es geht Sie nichts an«, murmelt Daniel Longbow.

Duke Morrows kleine Augen werden schmal. Und dann kommt seine gewaltige Rechte. Sie kommt ohne Warnung und ohne ein Ausholen von unten herauf, wo sie neben dem achtlos getragenen Revolver hing, groß und sehr schwer. Sie wirkt wie ein Huftritt, und sie trifft Daniel Longbow unter der Gürtelschnalle.

Als er sich stöhnend verbeugt und sich gegen Morrow wirft, um ihn abzuklammern und den zweiten Schlag vermeiden zu können, ist es etwas zu spät, denn die Linke trifft ihn herumgezogen auf Kinnwinkel und Ohr. Sie stößt ihn gegen den Schanktisch, und er hält sich daran fest, weil seine Knie seltsam weich und die Beine kraftlos werden, als wären sie plötzlich aus einem anderen Stoff und bestünden nicht mehr aus Knochen, Muskeln, Sehnen und dem festen Fleisch eines gesunden Mannes.

Der dritte Schlag trifft ihn mitten ins Gesicht. Es ist wieder eine Rechte, und sie stößt seinen Kopf fast von den Schultern. Diesen Eindruck haben jedenfalls die Zuschauer, von denen einige sogar stöhnen, so als hätten sie den Schlag erhalten.

Daniel Longbow fällt zu Boden. Sein Kopf schlägt nochmals auf die Fußstütze aus Messing, die sich vor dem Schanktisch befindet. Doch er spürt den Schmerz nicht mehr.

Es ist still im Saloon. Dann sagt einer der Barmänner sanft: »Longbow? Longbow? Da kam doch im vergangenen Herbst ein wilder Junge hier an. Er nannte sich Jesse Longbow. Und …«

»Halt nur deinen Mund«, sagt Duke Morrow grimmig und starrt dabei auf Daniel Longbow nieder.

Dann blickt er auf die Uhr, die hinter dem Schanktisch hängt, und wendet sich dann an seine Reiter.

»Die Postkutsche nach Kansas fährt gleich ab. Legt diesen Daniel Longbow hinein und bindet sein Pferd hinten an. Und sagt Whip Charley, dass er die Postkutsche nicht anhalten soll, wenn sein Fahrgast dies haben will. Los!«

Die Cowboys der Steigbügel-Mannschaft gehorchen schweigend und willig. Sie tragen Daniel Longbow hinaus und über den Platz zur Posthalterei hinüber, wo die Postkutsche schon fahrbereit wartet. Der Postagent blickt auf seine große Nickeluhr und sagt dann zum Fahrer hinauf: »Noch eine Minute, Whip Charley!«

Einige Zuschauer haben sich eingefunden, wie immer, wenn die Post abfährt.

Als die Cowboys der Steigbügel-Ranch mit dem Bewusstlosen und dessen Pferd über den Platz kommen, wendet sich alle Aufmerksamkeit dieser Angelegenheit zu. Auch der Fahrer und dessen Begleitmann wenden die Köpfe.

Einer der Cowboys sagt laut: »Duke Morrow will, dass dieser Mann hier wieder nach Kansas fährt, dorthin also, von wo er kam. Haltet nur nicht an, wenn er aussteigen möchte. Wir binden den Gaul hinten an.«

Sie schieben nach diesen Worten den Bewusstlosen in die Kutsche. Der Postagent fragt: »Wer ist es?«

»Daniel Longbow nennt er sich«, sagt einer der Cowboys. Inzwischen hat einer von ihnen auch das Pferd angebunden. Der Kutscher auf dem Bock nimmt den Fuß von der Bremse und wirft sie zurück. Dann schüttelt er die Zügel.

Doch da kommt noch ein Mädchen angelaufen und schwingt sich in die anfahrende Kutsche hinein, bevor es jemand der Zuschauer verhindern kann. »He, Columbine Houston!« Der Postagent ruft es laut.

»Ich fahre bis zur May-Ranch mit!« Sie ruft es mit einer dunklen und kehligen Stimme. Und sie fügt hinzu, indes die Kutsche schon ein Stück gerollt ist: »Ich zahle für die Fahrt, wenn ich zurückkomme!«

Daniel Longbow erwacht erst drei Meilen weiter, und er fühlt sich so übel, als wäre er dreimal von einem Pferd getreten worden.

Es dauert eine ganze Weile, bis er sich darüber klar wird, dass er sich zusammengekrümmt auf dem schmutzigen Boden einer fahrenden Überlandpostkutsche befindet.

Dicht neben seinem Gesicht sind zwei Füße, und es sind zierliche Mädchenfüße, die in ziemlich modernen Schuhen stecken und von einem Rock und zwei oder drei Unterrockspitzen umsäumt werden.

Aber Daniel Longbow hat nicht viel Interesse daran, denn es geht ihm wahrhaftig nicht gut. Er wurde noch niemals in seinem Leben von einem Mann so mit drei überraschenden Schlägen von den Beinen geschlagen, und er hat noch nie nachher so die Wirkung der Schläge gespürt. Er denkt an diesen Duke Morrow und begreift jetzt, wie es möglich ist, dass dieser berüchtigte Vormann mit der bloßen Faust ein solch schlimmes Rudel wie die Steigbügel-Mannschaft bändigen kann.

Nach einer Weile setzt Daniel Longbow sich auf und lehnt den Kopf gegen den Sitz. Nun kann er das Mädchen sehen. Die Sonne steht nun schon tief im Westen und wirft rötlichen Schein durch das Kutschenfenster. Das Gesicht des Mädchens wird von diesem Schein angeleuchtet und erscheint dadurch wohl besonders sanft, regelmäßig und vollendet.

Die Augen des Mädchens sind hellblau und stehen weit auseinander. Es ist ein apartes und klares Gesicht. Der Mund erscheint etwas zu breit und zu voll, und verrät eine starke Vitalität. Das Haar ist glänzend und schwarz wie das Gefieder eines Raben.

»Ich konnte Sie nicht aufheben und auf den Sitz legen«, sagt sie. »Sie sind zu schwer. Aber wenn Sie mir jetzt etwas helfen …«

Nach diesen Worten greift sie unter seine linke Achsel und zieht. Er hilft ihr, und bald darauf sitzt er in der Ecke des Rücksitzes. Ihm ist noch sehr übel, und seine Kopfschmerzen sind schlimm.

»Danke«, sagt er. »Wohin fährt die Kutsche?«

»Nach Kansas. Es war Duke Morrows Idee, Sie dorthin zurückzuschicken. Und es ist auch zugleich eine Warnung an Sie, nicht wieder auf diese Weide zu kommen, Daniel Longbow.«

Nun ist er etwas überrascht. »Sie kennen mich? Woher?«

»Doktor Kern Houston ist mein Vater«, sagt sie. »Doch ich wohne nicht in seinem Hause. Ich habe einen kleinen Schneiderladen. In Wickmunke verbreiten sich Neuigkeiten und Nachrichten sehr schnell. Ich wusste bald darauf, dass mein Vater zu Josephine May fährt und dass ein Fremder gekommen war, der sich Daniel Longbow nannte. Ich beobachtete von meiner Ladentür aus, wie man Sie zur Postkutsche trug. Da entschloss ich mich.«

Er erträgt seine Schmerzen mit der ruhigen Geduld eines Indianers. Er wiegt sich im Rhythmus der Kutsche, und dies macht ihm das Fahren erträglicher.

Er betrachtet das Mädchen immer noch staunend. Dann fragt er: »Wozu haben Sie sich entschlossen, Miss Houston?«

»Ich konnte Josephine May immer gut leiden«, erwidert sie. »Ich war oft bei Josephine May. Sie war mir stets eine schwesterliche Freundin, obwohl wir altersmäßig acht Jahre auseinander sind. Es war auch bei den Mays auf ihrer kleinen Ranch, wo ich Jesse Longbow kennen lernte:

Als sie den Namen Jesse Longbow spricht, sind ihre Augen scharf und forschend. Sie erkennt nur ein kurzes Aufleuchten in Daniel Longbows Augen.

Erst nach einer Weile fragt er: »Jesse Longbow? Ein großer, geschmeidiger und weißblonder Junge von zweiundzwanzig Jahren, hübsch, verwegen und stolz?«

»Ja!« Sie sagt es kurz und herb. Und sie fügt etwas schrill hinzu: »Auch Sie nennen sich Longbow!«

Er betrachtet sie und nickt, und indes rattert, quietscht und schwankt die Kutsche. Sechs Pferde lassen ihren Hufschlag hören, und manchmal knallt die Peitsche, und der Fahrer ruft heiser: »Hoii, Mary! Daisy! Oh, du dicke Tante! Wirst du wohl! Ich lasse dich schlachten! Bei Gott, ich lasse dich schlachten, du alte Eule, wenn du nicht ziehst!«