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Der einsame Rebell
Draußen vor dem Saloonfenster tauchte ein Mann auf und feuerte sein schweres Büffelgewehr ab. Die Kugel traf meinen Bruder Bill und tötete ihn. Ich ging zu meinem Vater und meinem Bruder Jim, mit denen zusammen Bill eine Herde nach Dodge City gebracht hatte. Ich wusste, dass sie in großer Gefahr waren, und bot ihnen meine Hilfe an. Aber mein Vater sagte: "Vor acht Jahren bist du von zu Hause weggelaufen, Stapp Sinclair. Du hast uns im Stich gelassen und bist ein Revolvermann geworden. Verschwinde, du gehörst nicht mehr zu uns!" Da ging ich, und ich wusste, dass ich jetzt Gelegenheit hatte, einige Dinge wiedergutzumachen ...
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Seitenzahl: 214
Veröffentlichungsjahr: 2019
Cover
Impressum
Der einsame Rebell
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Manuel Prieto/Norma
Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-8414-7
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Der einsame Rebell
Draußen vor dem Saloonfenster tauchte ein Mann auf und feuerte sein schweres Büffelgewehr ab. Die Kugel traf meinen Bruder Bill und tötete ihn. Ich ging zu meinem Vater und meinem Bruder Jim, mit denen zusammen Bill eine Herde nach Dodge City gebracht hatte. Ich wusste, dass sie in großer Gefahr waren, und bot ihnen meine Hilfe an. Aber mein Vater sagte: »Vor acht Jahren bist du von zu Hause weggelaufen, Stapp Sinclair. Du hast uns im Stich gelassen und bist ein Revolvermann geworden. Verschwinde, du gehörst nicht mehr zu uns!« Da ging ich, und ich wusste, dass ich jetzt Gelegenheit hatte, einige Dinge wiedergutzumachen …
Obwohl es bis Dodge City nur noch zehn Meilen waren, musste ich noch einmal anhalten, damit unsere Pferde verschnaufen konnten. Denn die Tiere hatten mehr als hundert Meilen hinter sich, von denen wir die ersten fünfzig höllisch schnell geritten waren.
Ich hatte Jeffrey Tylord, den Mörder, gejagt und eingeholt, und nun befand ich mich mit ihm auf dem Rückweg.
Als ich seine Hände vom Sattelhorn band und auch die Leine löste, die seine Füße unter dem Pferdebauch hindurch verband, setzte er noch einmal alles auf eine Karte.
Das war kein Wunder, denn er wusste, dass sie ihn in Dodge City hängen würden. An seiner Stelle hätte ich auch noch mal alles auf eine Karte gesetzt.
Wie ein Puma stürzte er sich auf mich. Er war ein Mann, der kämpfen konnte, er gehörte zu der Sorte, die schon als Knaben lernen musste, dass man aus einem Topf voll Essen besonders viel bekommen konnte, wenn man alle anderen Hungrigen gnadenlos wegstieß.
Er konnte kämpfen und kannte hundert schmutzige Tricks.
Er war durch hundert und mehr Kämpfe gegangen und hatte die ganze Schlechtigkeit der Welt gespürt, bevor er selbst schlecht wurde.
Aber diesmal hatte er Pech.
Ich kannte noch ein paar Tricks mehr als er, und ließ ihm keine Chance.
Mein Name ist Stapp Sinclair. Damals gab es da und dort Männer zwischen Texas und Montana, die fluchten, sobald sie meinen Namen hörten.
Während unsere Pferde verschnauften, verdaute Jeffrey Tylord die erhaltenen Prügel. Ich warf ihm die Wasserflasche zu, in der noch ein kleiner Rest war. Er brauchte dringend diesen Wasserrest als Erfrischung.
Nachdem er ihn getrunken hatte, sagte er mit tiefer Überzeugung: »Du Hundesohn. Was hast du eigentlich gegen mich? Wir hatten doch niemals miteinander Verdruss, obwohl wir uns schon da und dort begegneten. Warum warst du noch als einziger Mann hinter mir her, nachdem sogar das Aufgebot aufgegeben hatte?«
Ich gab ihm nicht sogleich eine Antwort.
Denn seine Frage ließ mich nachdenken. Noch nie zuvor hatte ich allein aus selbstsüchtigen Motiven einen Mann gejagt. Diesmal war es so.
Diesmal ging es nicht darum, für eine Sache zu kämpfen, die man für gut hielt – oder weil man sich zuvor für diesen Job hatte anwerben lassen – oder weil man eine Schuld begleichen musste – oder weil man Feindschaft spürte – oder weil man von einem Gegner beleidigt, herausgefordert und geschädigt worden war.
Bisher hatte ich immer einen guten Grund gehabt für meine Kämpfe. Aber diesmal?
Ich hatte nichts gegen ihn persönlich. Er war ein Revolverheld und Kartenhai wie so viele.
Aber es waren tausend Dollar Belohnung auf seine Einbringung ausgesetzt. Das war es. Tausend Dollar!
Für Geld brachte ich ihn nach Dodge City zurück.
Wäre ich ein Heuchler gewesen, so hätte ich versucht, mir einzureden, dass ich dem Gesetz half und der menschlichen Gemeinschaft einen Dienst erwies.
Aber ich war stets ehrlich gegen mich selbst. Mir war das Gesetz völlig gleich. Ich war wegen der tausend Dollar auf Menschenjagd gegangen. Ich war endgültig zum Kopfgeldjäger geworden.
Dies musste ich in dieser Minute vor mir selbst bekennen, nachdem ich zuvor stets jeden Gedanken in diese Richtung verdrängen konnte. Aber jetzt, da wir hier zehn Meilen vor Dodge City rasteten, dachte ich endlich klar über mich nach und erkannte es.
Jeffrey Tylord wartete immer noch auf eine Antwort.
»Ich habe nichts gegen dich persönlich«, sagte ich. »Du bist nur ein Wolf unter vielen. Aber du weißt ja, wie das so ist im Leben mit Burschen von unserer Sorte. Man gehört entweder zu den Jägern oder den Gejagten. Ich brauche die tausend Dollar, die es für dich gibt.«
»Aber ich habe doch fast fünftausend Dollar in meinen Satteltaschen – warum nimmst du nicht dieses Geld und lässt mich laufen? Ich schwöre dir, dass ich keinem Menschen ein Wort davon sagen würde, dass du mich eingefangen, mir das Geld abgenommen und mich dann wieder laufen gelassen hättest. Ich schwöre es dir, Stapp Sinclair!«
Er rief die letzten Worte schrill, und er legte all seine Überzeugungskraft hinein. Er wollte, dass ich ihm glaubte.
Aber ich schüttelte den Kopf.
»Nein, dieses Geld will ich nicht. Du hast es Golden Rose gestohlen. Das Mädchen aber hat drei Jahre hart in den schlimmsten Tingeltangels dafür gearbeitet. Es war dann keine gute Idee von dir, ihr den Hals zuzudrücken, als sie dich dabei überraschte, wie du es ihr aus dem Versteck in ihrem Zimmer nehmen wolltest. Nun, du hast es dann doch bekommen. Doch du musstest dann durch das Fenster flüchten und dir den Weg zum Pferd freischießen. Jeffrey, ich bin noch nicht so tief gesunken, dass ich auch nur einen einzigen Cent von diesem Geld nehmen würde. Überdies soll Golden Rose irgendwo im Osten bei guten Leuten ein Kind haben. Nein, Jeffrey Tylord, da sind mir schon tausend Dollar für deine Einbringung lieber. Dazu kommt noch etwas. Sie machen mich für eine Weile unabhängig. Ich brauche meinen Revolver nicht an irgendwelche Leute zu vermieten – sei es als Leibwächter, Hauspolizist oder Revolverreiter in irgendeiner Rinderfehde um Wasser und Weide. Das alles brauche ich eine Weile nicht, wenn ich dich dem Gesetz übergebe. Du wirst einsehen, dass du gegen meine Argumente gar nicht ankommen kannst. Und wenn ich dich jetzt wieder auf dem Pferd festbinde und du mir dabei noch mal Schwierigkeiten machen solltest, dann wirst du was erleben. Hast du mich verstanden?«
»Ja«, sagte er heiser. »Ich habe dich verstanden, du großspuriger Schuft. Für hundert Dollar würdest du deiner alten Großmutter den Schädel einschlagen. Aber ich sage dir, dass es auch mit dir abwärts gehen wird. Ich war auch mal so stolz wie du. Dann geriet ich zum ersten Male an einen Mann, der mich schlagen konnte. Und ich brauchte danach ein halbes Jahr um wieder gesund zu werden. In diesem halben Jahr lernte ich die ganze Mitleidlosigkeit der Menschen kennen. Denn damals war ich ein halbes Jahr lang ein hilfloser Dreck. Pass auf, dass du das nicht auch mal erlebst. Denn wenn du danach wieder auf die Beine kommen solltest, dann bist du zu allem bereit – zu allem, verstehst du?«
Ich gab ihm keine Antwort darauf.
Doch ich brachte ihn in den Sattel seines müden Pferdes, welches sich soweit erholt hatte, dass es die letzten zehn Meilen schaffen würde.
Dann ritten wir weiter.
Es war später Nachmittag, fast schon Abend.
Und ich wusste, ich würde mich heute wieder einmal betrinken. Denn nur so würde ich mich besser leiden können.
Warum war ich nicht als Cowboy auf meiner Heimatweide in Texas und bei meiner Familie geblieben? Warum war im damals mit neunzehn Jahren ausgebrochen?
Wie mochte es wohl meiner Familie gehen – meinem Vater und den beiden Brüdern? – Meine Mam, die war tot. Bei meiner Geburt war sie gestorben. Und vielleicht hatte mein Vater mir das nie verzeihen können. Ja, so war er, mein Vater. Ich kannte keinen starrsinnigeren Mann. Doch das war schon neun Jahre her. Neun Jahre! Was für eine lange Zeit! Als ich fortlief, war Krieg.
Aber es war die traurige Zeit danach, die aus mir einen Revolvermann machte. Und nun ritt ich also mit einem Gefangenen nach Dodge City, der mir tausend Dollar einbringen würde, ich, Stapp Paul James Sinclair.
☆
Um Mitternacht, als ich so betrunken war, dass ich nicht mehr gerade hätte gehen können, war mein Kopf dennoch seltsam klar, und es war mir, als könnte ich mich besonders gründlich von innen und außen betrachten.
Oh, ich sah mich ganz klar in allen Einzelheiten und bis in meinen tiefsten Kern hinein.
Und was ich da sah, dies brachte mich immer wieder dazu, noch ein Glas zu leeren.
Aber dann kam Lily Garradine.
Obwohl jeder von uns frei war, gehörten wir irgendwie zusammen, jedenfalls hier in Dodge City. Trotzdem machten wir uns keine Illusionen. Eines Tages – das wussten wir – würden wir in zwei verschiedene Richtungen auseinander gehen.
Lily hielt im Spielsaloon der Gentlemen Hall die Bank. Sie war nicht dort angestellt, sondern hatte ihren Spieltisch gegen Gewinnbeteiligung gemietet. Und sie machte hohen Gewinn.
Manchmal, wenn man sie lange und höflich genug bat, ging sie auch hinüber in den großen Saal und sang auf der Bühne ein paar schlichte Lieder.
Aber diese Lieder hatten es in sich. Da wurden diese wilden Texasjungens, die so weit weg von ihrer Heimatweide waren, ganz andächtig.
Denn Lily sang von den Mädchen, die auf ihren Liebsten warteten. Sie sang von den verwegenen Jungens, die hinausritten, um die Welt zu erobern – und sie sang auch von guten Freunden und Sattelgefährten, die das Leben gaben.
Ihre Stimme war dunkel, kehlig und dabei melodisch.
Ihre Stimme war für all die wilden Jungens wie ein gutes Licht in dunkler Regennacht und all der schwarzen Ungewissheit.
Diese Lily also kam zu mir, obwohl sie um diese Zeit ihre höchsten Gewinne machte, weil die Männer jetzt am betrunkensten waren und etwas riskierten.
Sie aber blieb kühl, ganz und gar eine eiskalte Spielerin. Nur ich wusste hier in Dodge City, dass sie auch nur eine Frau war, die Gefühle hatte und sich manchmal einsam fühlte in dieser harten Welt.
Sie nahm mir das Glas aus der Hand.
Und dann sagte sie: »Tausend Dollar für Jeffrey Tylords Einbringung. Und jetzt betrinkst du dich, weil du sie irgendwie für einen schmutzigen Lohn hältst. Du bist ein Mann, der nicht mehr für dreißig Dollar im Monat das Lasso schwingen könnte – aber sonst nur auf eine einzige Art sehr viel mehr Geld verdienen kann – mit dem Colt. Stapp, wenn es dir hilft, so kann ich dir sagen, dass wir in Golden Roses Nachlass auch die Bilder ihres kleinen Sohnes und natürlich auch die Anschrift seiner Pflegeeltern finden konnten. Golden Roses Geld, welches du zurückbringen konntest, geht morgen schon an diese Leute ab. Der Kleine ist versorgt, bis er groß genug ist, um für sich selbst sorgen zu können. Und nichts anderes wollte Golden Rose. Hilft es dir?«
Ich nickte.
Und dann trank ich aus der Flasche, weil sie mein Glas in den Händen hielt.
Lily sah mich an und erkannte, wie einsam ich mich fühlte und wie wenig ich zufrieden war mit mir und der Welt, in der ich lebte.
»Das Schlimmste ist«, sagte ich, »dass ich ihn nicht wegen Golden Rose und ihrem Kind zurückgebracht habe – nicht aus Pflicht- oder Verantwortungsgefühl, sondern wegen der Belohnung. Nur wegen dieser. Das weiß niemand. Nur ich weiß es – hier drinnen.«
Ich tippte mit dem Daumen gegen meine Herzgegend, »Und du weißt es jetzt«, fügte ich hinzu. »Lily, ich befinde mich wahrscheinlich auf einer absteigenden Linie. Ich lebe nur noch von Revolverarbeit – aber nicht für kargen Sheriffs- oder Marshallohn. Ich bin ein Kopfgeldjäger geworden. Und morgen werden sie Jeffrey Tylord hängen. Er wird mich verfluchen. Für tausend Dollar habe ich ihn an den Galgen geliefert – nicht aus Redlichkeit und Verantwortungsgefühl der menschlichen Gesellschaft gegenüber. Lily, ich muss mich wahrhaftig betrinken.«
»Nein«, sagte sie. »Wir werden eines von zwei Dingen tun, und du kannst es dir aussuchen. Wir können uns meinen Wagen aus dem Mietstall holen und damit zum Fluss fahren – du weißt schon, dort an unseren Platz. Und wir können dort bleiben bis gegen Mittag. Oder …«
Sie brauchte mir nicht zu sagen, wie die zweite Möglichkeit war.
Sie hatte ein kleines Haus am Stadtrand gemietet und eine schwarze Perle als treue Dienerin. Ich konnte mit ihr gehen, und ich würde nicht allein sein mit meinen bitteren Gedanken.
sie wollte mir helfen, über die bitteren Stunden zu kommen.
Irgendwann einmal würde sie meine Hilfe brauchen. Denn auch sie bekam manchmal diesen Katzenjammer. So ergänzten wir uns.
Aber heute wollte ich nicht. Nein, heute wollte ich mich nicht wie ein kleiner Junge trösten lassen, nicht in ihren Armen Vergessen finden.
»Ich will mich betrinken«, sagte ich zu ihr. »Ich muss jetzt endlich einmal allein mit mir zurechtkommen, Lily. Du bist lieb. Ein Goldstück, ein guter Engel. Aber ich will allein hier in der Ecke sitzen, trinken und über die Welt, die Menschen und mich nachdenken. Vielleicht, wenn ich durch einen Trost nicht abgelenkt und getröstet werden kann, komme ich dann zu einem Ergebnis.«
Sie sah mich an, und sie erkannte, dass ich es ernst meinte, so betrunken ich auch sein mochte.
Da ging sie. Nur einmal legte sie mir kurz die Hand auf die Schulter. Und ihr Parfüm blieb noch eine Weile bei mir.
Aber dann war ich wieder allein, betrank mich und dachte über mich nach.
Ich sah mich in dieser Nacht so klar wie noch nie.
☆
Ich war gegen Morgen mit dem Oberkörper auf dem Tisch liegend eingeschlafen. Und obwohl man sonst die Betrunkenen einfach vor die Tür setzte – vor die Seitentür in eine Gasse –, hatte man das bei mir nicht gewagt oder gewollt.
Denn ich war Stapp Paul James Sinclair.
Vor meinem Revolver fürchteten sie sich. Ich erwachte also an meinem Tisch in der Ecke. Die Saloonausfeger hatten ihre Arbeit schon beendet. Es war alles wieder sauber. Türen und Fenster standen offen, ließen die frische Luft des schönen Morgens herein. Und der Geruch von Whisky, Bier, Tabakrauch, Leder, Schweiß, der ganze schal gewordene Gestank einer langen Nacht, würde allmählich schwinden.
Charly, einer der beiden Barmänner, die Frühdienst hatten, brachte mir einen Topf Kaffee, nicht einfach nur eine Tasse. Charly wusste, was ein Mann wie ich jetzt brauchte.
Er sagte: »Der ist stark genug, um einen drei Tage toten Indianer wieder aufzuwecken. Wir hätten dich auch in ein Bett gebracht, Sinclair. Doch Miss Lily sagte, dass man Sie nicht anrühren dürfe.«
Ich nickte ihm zu, und er sah, dass ich mit dem Kaffee allein sein wollte. Er ging hinter die Bar zurück. Ich schlürfte den Kaffee, und er machte mich wach, regte meine Lebensgeister wieder an und trieb mir den Schweiß aus den Poren – Whiskyschweiß.
In mir war alles klar.
Ich hatte mich in meiner Trunkenheit mit seltener Klarheit und kritischer Nüchternheit betrachten können.
Ich wusste, dass ich aufhören musste, nur allein mit dem Colt meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Denn dann würde es mir eines Tages so ergehen wie jenem Jeffrey Tylord, den ich gestern für tausend Dollar abgeliefert hatte. Ich würde eines Tages von einem Manne geschlagen werden. Das aber konnte dann der Anfang meines Niederganges sein.
Ich würde dann vielleicht zu feige werden, mir auf die faire Weise mit dem Colt meinen Unterhalt zu verdienen. Ich würde anfangen, aus dem Hinterhalt Prämien zu verdienen – oder ich würde zum Dieb werden wie Jeffrey Tylord und eines Tages dann vielleicht auch zu einem Mörder.
Ein Mann ging manchmal schnell zum Teufel!
Ich wusste an diesem Morgen in Dodge City nach jener Nacht, dass ich ab sofort mein Leben anders führen musste.
Aber wie?
Sollte ich Rinder treiben? Oder sollte ich irgendwo einen Stern nehmen? Es gab einige Städte, die mich als Marshal genommen hätten. Auch bei der Wells Fargo hätte ich einen Job bekommen. Sogar bei der Kansas-Eisenbahn.
Nein, das war alles nichts.
Ich begann zu begreifen, dass ich etwas aufbauen wollte.
Und als ich das begriffen hatte, dachte ich wieder an meinen Vater und die beiden älteren Brüder.
Die waren damals dabei gewesen, eine Ranch aufzubauen. Aber mir war das zu mühsam. Ich wollte die Welt sehen. Und deshalb ließ ich sie allein, lief einfach fort.
Ob sie es inzwischen geschafft hatten?
Und ob sie jetzt zufriedener und glücklicher waren als ich?
Ich glaubte das sicher. Denn Männer, die ihr Leben nicht verschwendeten, sondern etwas schufen und aufbauten, was sie überdauern würde, die mussten zufriedener sein als Männer wie ich.
Und als ich noch darüber nachdachte, kam mein Bruder Bill herein.
Ich erkannte ihn sofort im Sonnenlicht, welches durch die aufgestellte Schwingtür und die offenen Fenster in den Saloon fiel – jedoch nicht bis zu mir in die Ecke.
Ja, das war mein Bruder Bill. Solch einen bulligen Rotkopf gab es nur einmal. Seine grauen Augen standen weit auseinander wie meine. Diese Augen waren die einzige Ähnlichkeit zwischen uns.
Er sah kurz zu mir in die Ecke, doch er erkannte mich nicht. Wahrscheinlich hatten sich seine Augen nicht so schnell an die verminderte Helligkeit in meiner Ecke gewöhnen können. Auch war ich unrasiert, hatte meinen Hut auf und hielt mit beiden Händen – wobei meine Ellbogen auf den Tisch gestürzt waren – die Kaffeetasse vor das Gesicht.
Er hätte mich auch sonst nicht erkennen können. Denn vor neun Jahren war ich noch kein fertiger Mann wie er. Ich hatte mich verändert. Er kaum. Er war nur noch etwas bullenhafter und massiger geworden.
Er war der erste Gast an diesem Morgen außer mir.
Und er trat an die Bar, verlangte ein Bier und eine Zigarre, und während er auf das Bier wartete und sich die Zigarre ansteckte, konnte ich ihn betrachten.
Bill trug abgerissene Weidetracht. Ich wusste sofort, dass er zu einer Herde gehörte, die den langen Treibweg von Texas heraufgekommen war, um hier verladen zu werden. Denn in Texas gab es noch keine Bahnlinie. Nur von hier aus konnte man Fleischherden zu den großen Schlachthöfen und Konservenfabriken im Osten senden.
Jesse Chrisholm hatte damals für Texas die Absatzmärkte hier in Kansas geöffnet. Er hatte vor drei Jahren die erste Herde hier hergetrieben. Und auf diesem Chrisholm-Trail kamen nun jedes Jahr all die vielen Longhorns heraufgezogen, tausendfünfhundert Meilen weit.
Bill sah so aus wie all die vielen anderen Treiber, wenn sie mit ihren Rindern nach etwa fünf Monaten hier ankamen. Er hatte sich noch nicht baden und einkleiden können. Er war noch nicht beim Barbier gewesen.
Das Glas Bier leerte er in einem Zuge. Dann machte er »Aaaaaah«, wischte sich mit dem Handrücken den Schaum aus dem Schnurrbart und sagte zu Charly: »Noch einmal, Bruder – noch einmal.«
Ich dachte darüber nach, ob es Zufall oder Fügung war, dass mein Bruder Bill an diesem Morgen hier auftauchte.
Ich wurde mir nicht schlüssig.
Denn eigentlich war es zu erwarten, dass die Sinclairs hier mal auftauchen würden. Nach Dodge City oder Abilene kamen in diesen Jahren viel Texaner, die mit Rindern zu tun hatten.
Vielleicht hielt ich mich schon die ganze Zeit in Dodge City auf, weil ich insgeheim erhofft hatte, dass ich eines Tages meine Brüder und sogar den Vater hier wieder sehen würde. Vielleicht war dieses Hoffen unbewusst die ganze Zeit in mir.
Nun, es war ganz bestimmt kein an den Haaren herbeigezogener Zufall.
Aber vielleicht gab es dennoch eine Fügung, die mich an jenem Tage nach jener Nacht der Selbsterkenntnis wieder in Kontakt mit meiner Familie brachte.
Denn es ging jetzt weiter.
Als Bill sein zweites Bier bekam, erschien ein weiterer Gast. Und diesen Hombre kannte ich.
Das war Bat Fuller, und er hatte sieben Kerben am Coltkolben. Aber er hatte mehr als sieben Männer getötet. Denn Indianer, Mexikaner, Neger und Chinesen zählte er nicht, wie ich ihn einmal sagen hörte.
Ich wusste auch, dass man Bat Fuller mieten konnte – oder besser gesagt, seinen Colt.
Als er zum anderen Ende der langen Bar ging, da wusste ich, dass er es auf Bill abgesehen hatte. Er sah auch zu mir her, und er kannte mich, wie ich ihn.
Er schenkte mir nur einen kurzen Blick und war jetzt sicher, dass ich mich nicht einmischen würde.
Wahrscheinlich hätte ich dies sonst auch nicht getan. Aber Bill war mein Bruder. Und das wusste Bat Fuller nicht.
Es war schließlich sein Pech – und dieses Pech hatte jeder Killer und Revolverschwinger von seiner Sorte früher oder später mit Sicherheit einmal.
Er sah zu Bill hin, der das Glas ansetzen wollte und sagte zu ihm: »Heh, du Bulle! Du hast den ganzen Gestank von Texas hereingebracht. Schleich dich und nimm erst ein Bad!«
Bill erstarrte und setzte sein Glas langsam wieder ab. Und es war ihm sonnenklar, dass ein Revolverheld mit ihm Streit suchte.
Oh, ich kannte Bill.
Er war vier Jahre älter als ich. Und als ich noch ganz klein war, da musste unser ältester Bruder Jim schon wie ein Mann arbeiten. Bill aber kümmerte sich um mich. Er passte auf, dass ich mir nicht in die Hosen machte, nicht in den Fluss fiel und nicht von einer Klapperschlange gebissen wurde. Bill war damals Schwester, Mutter und Bruder zugleich. Er war ein geduldiger Bursche und suchte nie Streit. Aber wenn er einmal loslegte, dann …
Doch jetzt hatte er keine Chance.
Bat Fuller war schnell mit dem Colt – unheimlich schnell. Er konnte es sich leisten, den Gegner zuerst nach der Waffe greifen zu lassen. Und deshalb konnte man ihn auch niemals verklagen.
Er sagte: »Glotz mich nicht so dämlich an, du Texasbulle! Du sollst verschwinden, habe ich gesagt. Du stinkst!«
Mein Bruder Bill trat etwas vom Schanktisch weg und brachte seine Rechte in die Nähe seines Revolverkolbens. Doch ich wusste von früher, dass Bill nicht besonders schnell war und auch gar nicht gut mit dem Revolver schießen konnte. Mit einem Gewehr war er gut. Auch hätte er diesen Bat Fuller mit den Fäusten in zwei Teile brechen können.
Doch er wusste zu gut, dass Fuller ihn nicht herankommen lassen würde.
Er fragte: »Wer hat dich angeworben, du Giftpilz? – War es ein eisgrauer, starrgesichtiger Bursche mit einer Sterntätowierung auf der linken Wange? – Was zahlt er dir, Revolverschwinger?«
Bat Fuller ging nicht darauf ein.
»Raus«, sagte er, »bevor ich dir Beine mache. Du stinkst! Charly, halte dich nur heraus. Du weißt ja, dass ich eine Menge Freunde habe in dieser Stadt. Also los, du Bulle!«
Nun mischte ich mich ein.
»Bat«, sagte ich, »weißt du zufällig, wie dieser Rotkopf heißt?«
Er wusste es. Denn jetzt zuckte er leicht zusammen.
Gleichzeitig ging ihm ganz plötzlich ein Licht auf.
Er wusste, dass der Rotkopf ein Sinclair war.
Und zugleich erinnerte er sich daran, dass auch ich diesen Namen trug.
Meine Frage aber sagte ihm, dass die Namensähnlichkeit kein Zufall war.
Ich sagte: »Schluck es herunter Bat und hau ab. Du bist eine Nummer zu klein für mich. Schleich dich, Hombre.«
Er wusste, dass er keine Chance gegen mich hatte. Dennoch fiel es ihm schwer, aufzugeben. Seine Eitelkeit war sehr groß. Aber dann gehorchte er doch seinem Instinkt.
Er schlich davon und glich einem Kojoten, der von einem Wolf vertrieben wurde. Während er ging, sagte ich zu ihm: »Halte dich raus aus der Sache, mein Bester, was für eine Sache es auch sein mag.«
Dann war er draußen.
Mein Bruder Bill aber nahm das Bierglas vom Schanktisch und kam zu mir in die Ecke. Er betrachtete mich, ging im Halbkreis um den Tisch herum, um mich auch von der Seite sehen zu können.
Dann ließ er sich mir gegenüber nieder und sagte: »Du bist das also, Kleiner. Da habe ich ja Glück gehabt.«
Er sagte es ganz ruhig, obwohl er wusste, dass ihn vor einer Minute noch der Tod angegrinst hatte. Aber das war echt Bill. Er zeigte niemals Furcht und war nie aufgeregt.
In seinen Augen erkannte ich dennoch das Glänzen einer Freude.
Und zwar freute er sich, mich zu sehen.
Ich prostete ihm mit meinem Kaffee zu. Er erwiderte mit dem Bierglas. Und dann tranken wir, wobei wir uns in die Augen sahen.
»Dieser Kaffee – der gehört wohl zu deinem Lebensstil?«, fragte er, und ich spürte, wie sein Instinkt vorsichtig in mich einzudringen versuchte.
Ich grinste schief.
»Na schön«, sagte ich. »Ich gebe zu, dass es gar keine so gute Idee war von mir, damals von euch wegzulaufen. Aber ich habe eine Menge Spaß gehabt in den neun Jahren. Ich kenne mich überall aus. Es war schön, da und dort den Wind zu spüren, die Sonne zu fühlen, die Berge zu sehen, die Erde und die Flüsse zu riechen – den Staub all der Pfade und Wege. Bill, ich bin einen langen Weg geritten auf einer Zickzack-Fährte. Und eine lange Zeit hat es mir gefallen.«
»Und jetzt besäufst du dich in den Nächten und musst am Morgen einen ganzen Eimer Kaffee schlürfen, der so dick ist, dass ein Hufeisen darinnen schwimmen würde«, sagte Bill.
Wieder grinste ich schief.
»Mir geht es gut«, sagte ich. »Soll ich dir tausend Dollar schenken?«
Er sagte dazu nichts. Doch sein Blick wurde noch ernster und prüfender.
Wir hatten uns schon immer gut verstanden. Eigentlich war er es gewesen, der mich großgezogen hatte, bis ich ein Dutzend Jahre alt war, obwohl er selbst nur vier Jahre mehr zählte.
Ich spürte, wie er irgendwie instinktiv zu ahnen begann, was in mir war und mit welchen Problemen ich mich beschäftigte.
Ich sagte: »Erzähle mir von euch. Bist du allein hier? Oder seid ihr mit einer Herde gekommen?«
»Sie brüllt schon in den Verladekorrals«, sagte er. Vater und Jim sind noch dort, damit uns die Verlademannschaft nicht um die Stückzahl betrügen kann. Wir brachten tausendsiebenundfünfzig Tiere durch, obwohl uns Cash Riley unterwegs überall Schwierigkeiten machte und allerlei Steinchen in den Weg rollte. Sogar einen Präriebrand riskierte er, damit wir und die Herde nicht ans Ziel kommen sollten. Aber wir haben es geschafft. Und nun gilt es nur noch, den Erlös für die Herde heimzubringen. Es ist weniger als wir dachten. Nach Abzug aller Unkosten bleiben uns knapp neuntausend Dollar. Weißt du, wir verloren die Hälfte aller Rinder und …«