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Ernest Whitecastle hört den Hufschlag hinter sich. Zwei Reiter holen ihn ein und versperren ihm den Weg. "Machen wir's kurz", sagt der eine von ihnen. "Du hast in der Stadt mächtig abgesahnt. Aber du bist kein Mitglied der Vereinigung, du zahlst keine Gewinnabgaben. Wir sind hier, um zu kassieren."
Ernest Whitecastle seufzt bitter. Schon einmal befand er sich in einer solchen Situation. Damals zauberte er den Colt aus dem Holster und schoss. Er tötete einen Menschen - und schwor, niemals mehr eine Waffe zu benutzen. Aber lassen die beiden Schießer ihm eine andere Wahl? Ernest Whitecastle steht vor einer folgenschweren Entscheidung...
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Seitenzahl: 186
Veröffentlichungsjahr: 2022
Cover
Ernest, der Spieler
Vorschau
Impressum
Ernest, der Spieler
Auch Jim Lane gehört in diesem Frühsommer — es ist das Jahr 1867, also zwei Jahre nach dem für den Süden verlorenen Krieg – zu den Abenteurern und Glücksjägern, die von Süden her nach Norden ziehen. Und Saint Louis ist für diese Leute auf dem Wasserweg der Umsteigeplatz. Von den großen Mississippi-Dampfbooten steigt man hier auf die kleineren und flacheren Dampfboote des Missouris um.
Jim Lane kam aus Alabama mit der Postkutsche nach Saint Louis.
Doch jetzt ist er »blank«, wie man sagt, wenn der Geldbeutel leer ist. Er ist ein Mann ohne Pferd, ohne Sattel – aber nicht ohne Colt. Außer diesem Colt hat er nur noch wenig Gepäck.
Und einen der billigen Deckplätze auf einem Dampfboot weiter hinauf nach Norden könnte er natürlich nicht bezahlen. Eigentlich ist er nichts anderes als ein völlig abgebrannter Tramp.
Als er aus der Postkutsche klettert, knurrt sein Magen hörbar.
Nach zwei Stunden etwa — es ist schon Abend geworden — weiß er Bescheid über Saint Louis und seine Chancen hier in der Stadt an der Missourimündung in den Vater aller Ströme, den Mississippi.
Die Hafenstadt ist überfüllt. Von seiner Sorte gibt es Hunderte. Und sie alle suchen eine Chance, um ein paar Dollars zu verdienen.
Aber es gibt nicht genug Arbeit für eine solche Menge von arbeitswilligen Tramps und hungrigen Glückssuchern. Gewiss, es werden viele Waren und Güter jeder Art hier umgeschlagen, verladen, transportiert. Aber das Angebot der Arbeitskräfte ist zu groß. Auch die Siedler, die mit ihren Wagenzügen nach dem Übersetzen rings um die Stadt herumkampieren, suchen nach Möglichkeiten, etwas Bargeld zu verdienen. Überdies wird an den Landebrücken erst nächsten Morgen vor Sonnenaufgang wieder Arbeit vergeben, werden von den Vorarbeitern die Stauer- und Schlepperkolonnen zusammengestellt.
In dieser Nacht wird es sicherlich wieder viele Diebstähle und Überfälle geben da und dort. Denn für die meisten dieser Tramps und Glücksjäger geht es schon mehr oder weniger ums nackte Überleben.
Als es dunkel wird, wandert Jim Lane ein Stück aus der Stadt am Stromufer entlang. Hier brennen überall die Feuer, denn hier übernachten alle, die ein Unterkommen in der Stadt nicht bezahlen können.
Und aus dem Strom lassen sich für halbwegs kundige Menschen immerhin ein paar Fische fangen.
Jim Lane riecht gebratenen Fisch, und er geht auf ein großes Feuer zu, bei dem einige Wagen stehen und auch Laternen hängen, sodass es ziemlich hell ist in diesem Camp. Schon eine Weile zuvor hörte er frohe Kinderstimmen.
Langsam tritt er näher.
Und was er zu sehen bekommt, setzt ihn doch in einiges Erstaunen.
Auf einer großen Kiste steht ein Mann. Er ist kaum mehr als mittelgroß, er wirkt rundlich, hat ein kleines Bäuchlein und ist unbestimmbaren Alters.
Dieser Mann trägt einen Gehrock und einen Zylinder von beachtlicher Größe.
Und dieser Mann zaubert.
Ja, er führt Zauberkunststücke vor, wie man sie sonst nur auf den Bühnen anspruchsvoller Varietés sehen kann.
Denn das begreift Jim Lane schnell: Dieser Mann ist kein drittklassiger Zauberkünstler, sondern ein wirklicher Könner.
Und die Kinder – es sind die Kinder dreier Auswanderer- oder Ansiedlerfamilien — jubeln und lachen glücklich bei jedem seiner erstklassigen Tricks.
Auch jetzt wieder, als er Wasser aus einer Kanne in eine aus einer alten Zeitung verfertigte Tüte gießt, die Tüte dann wieder in ein Zeitungsblatt zurückverwandelt und kein Wasser ist mehr übrig, da staunen und jubeln sie begeistert. Und auch die Eltern – gewiss voller Sorgen, wenn sie an die Zukunft denken, haben ihre Sorgen zumindest für eine Weile vergessen.
Dies hier sind jetzt glückliche Menschen in einem Camp, von dem aus sie vielleicht morgen schon in eine ungewisse Zukunft ziehen werden, wahrscheinlich nach Westen, vom Missouri bis an die Kansasgrenze.
Auf den Kansasprärien wandern noch gewaltige Büffelherden, die man so schnell nicht abschlachten kann, auch wenn sich Tausende von Büffeljägern dabei alle Mühe geben. Bald wird auch die Kansasprärie für Landsucher frei werden.
Jim Lane wirft einen Blick auf den vierten Wagen, der dem Zauberkünstler als Hintergrund dient. Es ist ein bunter Wagen. Er unterscheidet sich deutlich von den Planwagen der Siedler, denn er besitzt einen festen, kastenförmigen Aufbau mit Fenstern. Es ist ein Artistenwagen.
Und überall auf den bunten Bildern, die den Zauberer bei seinen Kunststücken darstellen, ist zu lesen:
Ernest Whitecastle, der große Magier.
Ein älterer Mann tritt neben Jim Lane.
»Da am Feuer sind noch Steckenfische«, sagt er. »Bedienen Sie sich, Fremder. Wir haben genug Fische gefangen. Und man muss sie frisch gebraten essen.«
Jim Lane lässt es sich nicht zweimal sagen. Er stellt seine Reisetasche ab und tritt ans Feuer, bückt sich nach einem der Fische, die auf dünne Stecken gespießt wurden. Die Enden der Stecken hat man schräg in den Boden gestoßen, sodass die Fische über der roten Glut des Feuers gebraten werden.
Mit dem Fisch tritt er langsam zurück. Obwohl sein Hunger gewaltig ist, beginnt er langsam und vorsichtig zu essen. Und noch niemals schmeckte ihm solch ein gebratener Fisch so köstlich wie diesmal.
Und immer noch vollführt der Zauberer seine Kunststücke.
Nun schleudert er sogar ein kurzes Seil in die Luft, und es fällt nicht wieder wie sonst alle Seile auf ganz natürliche Weise in sich zusammen und zu Boden — nein, er kann es wie eine Stange aufrecht halten und auf seiner Nase balancieren.
Aber als er es wieder auf die Handfläche nimmt, fällt es wie ein gewöhnliches Seil zusammen.
Und wieder jubeln die Kinder, murmeln die Erwachsenen staunend.
Er aber breitet jetzt seine Hände aus.
»Jetzt geht schlafen, Kinder. Morgen müsst ihr zeitig aufstehen. Geht schlafen und vergesst nicht euer Abendgebet. Die Vorführung ist beendet. Onkel Ernest hat euch all seine Kunststücke gezeigt.«
Er steigt von der Kiste und tritt an den Wagen, an dem eine Frau lehnt. Sie beugt sich zu ihm und küsst ihn auf die Wange, so als wollte sie ihm danken, dass er den Kindern eine solche Freude machte.
Jim Lane aber holt sich noch einen Steckenfisch vom Feuer.
Die Gesellschaft am Feuer löst sich auf. Die Frauen bringen die Kinder in die Wagen – oder in Zelte.
Die Männer aber versammeln sich zu einer ernsten Gruppe.
Einer sagt: »Wir müssen uns einem großen Wagenzug anschließen. Aber wir haben längst noch nicht genügend Vorräte und überhaupt noch kein Saatgut. Wenn uns Ernest, der große Zauberer, doch einige Handvoll Dollar in die Hüte zaubern könnte.«
»Ja, das wäre etwas«, pflichtet ein anderer Mann bei.
Dann blicken sie auf Jim Lane.
»Fremder, wollen Sie auch nach Westen? Sie sehen aus wie ein Reiter, der nur für eine Weile kein Pferd hat. Kennen Sie sich aus im Westen?«
»Ich will den Strom hinauf nach Norden«, erwidert Jim Lane. »Und ich bedanke mich für die Fische.«
Er nimmt seine Reisetasche auf und entfernt sich einige Dutzend Schritte in Richtung Strand. Unter einem Baum setzt er sich auf den Boden. Die Nacht ist noch warm vom sonnigen Frühsommertag. Er wird auch ohne Feuer nicht sehr frieren. Erst gegen Morgen wird es kühler werden.
Als er sich seine Pfeife stopft, tut er es mit dem letzten Tabak.
Was soll er machen?
Nun, er will morgen vor Sonnenaufgang zu den Landebrücken gehen und sich dort um eine Arbeit bemühen. Er weiß inzwischen auch schon, dass man den Vorarbeitern, die jeden Morgen ihre Kolonnen zusammenstellen, einen Teil seines Verdienstes abgeben muss, zumeist ein Drittel. Der Tageslohn eines Stauers oder Schleppers beträgt für zwölf Stunden Arbeit drei Dollar. Und einen Dollar nimmt der Vormann dafür, dass er einen auf die Liste setzte.
Jim Lane versucht gar nicht erst, sich auszurechnen, wie viele Tage er schuften müsste, bis er eine billige Deckpassage nach Norden ins Goldland bezahlen könnte.
Wochen und Monate würden vergehen.
Und er begreift, dass er sich eine andere Chance suchen muss.
Aber welche?
Er hat noch seinen Colt. Und besonders während des Bürgerkrieges war seine Vergangenheit mehr als nur rau. Sie war rauchig.
Soll er ein Bandit werden?
Wenn er in dieser Nacht noch eine halbwegs gefüllte Brieftasche bekäme, dann könnte er morgen gewiss schon an Bord eines Schiffes sein.
Er weiß auch, dass in dieser Nacht viele Männer so wie er denken. Und nicht wenige werden es dann versuchen. Dort in der Stadt wird in den nächsten Stunden so mancher Überfall versucht und mancher Raub begangen. Das ist sicher.
Als er die Pfeife aufgeraucht hat, legt er sich zurück, nimmt die Reisetasche als Kopfkissen.
Über ihm sind die Zweige des Baumes, und dazwischen funkeln da und dort ein paar Sterne am Himmel.
Jemand kommt dicht bei ihm vorbei, bemerkt ihn jedoch im Schatten des Baumes offenbar nicht. Aber das ist nur verständlich, wenn man vom Feuerschein und dem Laternenlicht kommt.
Es ist eine Frau. Er glaubt, dass es die Frau ist, die den Zauberer auf die Wange küsste.
Sie hält nicht weit von ihm am Ufer an und setzt sich dort auf einen großen Stein. Er kann sie gut beobachten — und dann auch hören.
Denn sie weint.
Aber nicht lange. Auch der Zauberer kommt wenig später an Jim Lane vorbei, und auch er bemerkt den Mann unter dem Baum nicht, dessen Zweige tief hängen und Schatten werfen.
Er tritt hinter die sitzende Frau und legt ihr die Hände auf die Schultern.
»Sally«, sagt er. »Sally, mein Engel, du musst mit mir Geduld haben und...«
»Ernest, es war schön, dass du die Kinder für eine Stunde glücklich und froh gemacht hast. Es war herrlich. Doch es löste weder unsere noch die Probleme dieser Menschen. Ein Mann mit deinen Fähigkeiten... Oooh, und er nutzt sie nur, um ein paar Kinder zu erfreuen.«
Sie schweigen beide nach diesen vorwurfsvollen Worten.
Erst nach einer Weile sagt er: »Sally, ich bin auf der Flucht. Und du weißt, ich kann niemanden beim Spiel mit meinen Tricks betrügen. Das würde mir kein Glück bringen. Der Schöpfer gab mir Fähigkeiten, die mich in die Lage versetzen, jedes Spiel zu gewinnen. Meine Tricks merkt niemand. Und so bin ich auf diesem Gebiet eine Art Halbgott. Wie ein Revolvermann, der Herr über Leben oder Tod ist, weil ihm normale Menschen nicht ebenbürtig sind mit dem Colt, so ergeht es mir mit den Karten. Ich könnte nur schuftige Spieler ausplündern, sie gewissermaßen bestrafen für ihre Kartentricks. Aber du weißt ja, dass diese betrügerischen Kartenhaie auch zumeist sehr schnell mit dem Colt sind oder einen Revolverschwinger als Beschützer haben. Ich müsste also wieder kämpfen, Blut vergießen, töten. Und du weißt...«
»Schon gut«, unterbrach sie ihn. »Schon gut, Ernest. Verzeih mir, wenn ich deine Redlichkeit vergaß. Aber dann lass uns doch wenigstens in die Stadt gehen, damit du deine Zaubereien auf der Bühne für Geld vorführen kannst. Lass uns doch wenigstens etwas Geld verdienen, damit...«
»Das geht hier in Saint Louis nicht«, sagt er. »Ich muss damit rechnen, dass die Steckbriefe aus dem Osten auch hier bei der Polizei liegen. Man würde mich noch in dieser Nacht verhaften, um die ausgesetzte Belohnung zu kassieren. Nein, Sally, wir müssen weiter nach Westen oder nach Norden. Am besten wäre Oregon. Denn da liegt das ganze Indianerland zwischen uns und dem Gesetz. Hab Geduld, Sally. Wir besitzen doch noch siebenundfünfzig Dollar. Das reicht noch für ein langes Stück Weg weiter nach Westen. Komm, mein Engel, gehen wir schlafen. Wir wollen morgen vor Sonnenaufgang aufbrechen. Komm.«
Er zieht sie vom Stein hoch, und als sie sich nach ihm umwendet, nimmt er sie in die Arme. Einige Atemzüge lang verharren sie so. Dann kehren sie zum Wagen zurück, das heißt, sie wollen es tun.
Aber inzwischen haben sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt, und als sie an dem Baum vorbeikommen, entdecken sie den Mann, jäh halten sie inne. Sally stößt einen halb ärgerlichen und halb erschrockenen Laut aus. Und jener Ernest Whitecastle fragt: »Mister, haben Sie alles gehört?«
»Alles«, erwidert Jim Lane.
»Und könnten Sie es auch wieder vergessen?« Ernest Whitecastles Stimme fragt es ernst und bittend zugleich.
Aber Jim Lanes Gedanken eilten schon tausend Meilen in der Sekunde.
Und als Ernest Whitecastle die letzte Frage stellt, da denkt Jim Lane scharf: Das ist eine Chance! Heiliger Rauch, das ist sie! Ich habe ja gewusst, dass es immer irgendeine Chance gibt, wenn man nur die Augen aufmacht!
Und als er dies gedacht hat, erhebt er sich und tritt langsam zu dem Paar.
»Wir werden ins Geschäft kommen«, sagt er knapp.
Sie verharren wortlos, staunen wahrscheinlich über seine Worte und versuchen sie richtig zu deuten.
»Was für ein Geschäft?« Ernest Whitecastle fragt es schließlich langsam und mit deutlich erkennbarer Vorsicht.
»Sie können sich einen wirklich üblen Kartenhai aussuchen und ihm die Haut über die Ohren ziehen, Mr. Whitecastle«, spricht Jim Lane langsam Wort für Wort.
Und nach einer Pause setzt er hinzu: »Denn ich kann Sie mit meinem Colt beschützen.«
Ernest Whitecastle betrachtet ihn im Sternenlicht. Dann schüttelt er den Kopf.
»Wohl nicht mit dem Colt«, murmelt er. »Denn mit einem Colt würde ich wahrscheinlich schneller sein als der schnellste Revolvermann. Nicht mit dem Colt, Mister, sondern mit der Fähigkeit, jemanden zu erschießen. Denn ich kann das nicht mehr, nicht noch einmal – nein. Nie wieder könnte ich auf einen Menschen schießen. Das ist es, Mister. Und Sie könnten es, ja?«
Jim Lane nickt im Sternenlicht.
»Wenn ich Sie vor einem üblen Burschen schützen muss...«, murmelt er. »Das wäre ja sogar meine Pflicht. Notwehr gewissermaßen. Also, ich würde vorschlagen, wir gehen mit Ihren siebenundfünfzig Dollar in die Stadt und kaufen uns in ein Spiel ein, in eine Pokerrunde, die von einem üblen Kartenhai ausgeplündert wird. Na?«
»Und wenn ich ablehne?« Ernest Whitecastle fragt es ernst und auch mit Nachsicht, so als wäre er ein weiser Mann und wüsste schon, was kommen wird. Jim Lane grinst. Seine weißen Zahnreihen blinken im Sternenschein unter einem schwarzen Sichelbart.
»Ich bin abgebrannt, und ich will noch weit nach Norden ins Goldland«, sagt er. »Ich brauche ein paar Dollars. Und Sie, Mister, sind die große Chance. Wenn ich Sie nicht mit Freundlichkeit überreden kann, dann...«
Er bricht ab, schüttelt den Kopf und sagt schließlich: »Nein, ich möchte Ihnen nicht drohen, dass ich der Polizei von Saint Louis einen Wink gebe. Nein, das möchte ich nicht tun. Aber Sie können sich, mir und diesen Siedlern hier, deren Kinder Sie soeben so glücklich machten, einen Gefallen tun. Wir können Ihren Gewinn durch drei teilen. Na?«
Ernest Whitecastle schweigt noch.
Aber seine Begleiterin, die er Sally nannte, sagt herb: »Ernest, er erpresst dich. Er wird dir auch noch drohen, wenn ihm nichts anderes mehr bleibt. Aber ich bin dennoch auf seiner Seite. Wenn er dich beschützen kann... He, Mister, können Sie das? Oder haben Sie nur ein großes Maul?«
»Ich kann«, sagt Jim Lane schlicht, mehr nicht.
Ernest Whitecastle seufzt leise.
»Wahrscheinlich ist das alles Schicksal«, murmelt er. »Oder warum sonst hat er ausgerechnet hier gesessen und zuhören können? Es muss Schicksal sein. Also gut, Mister. Wie heißen Sie überhaupt?«
»Jim Lane ist mein Name«, erwidert Jim.
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Als sie die Hafenstraße erreichen, wo sich die Lokale aneinanderreihen und sich auch die großen Spielhallen befinden, ist die Nacht von Saint Louis gerade erst richtig voll in Betrieb.
Und die Stadt ist nichts anderes als eine Art moderneres Babylon am Zusammenfluss zweier großer Ströme.
An den Landebrücken liegen die Schiffe. Überall sind Güter jeder Art aufgestapelt. Eine lange Reihe von Frachtwagen wartet schon darauf, von Tagesanbruch an beladen zu werden und die Fahrt ins Landinnere anzutreten.
Auf der anderen Seite der Hafenstraße aber reiht sich ein Lokal ans andere. Und die durstigen Kehlen und die sich nach allen Sünden der Menschheit sehnenden Hungrigen drängen hinein und heraus, stets auf der Suche nach Steigerungen.
Aber eigentlich ist es in jedem Amüsierladen gleich.
Man will es nur nicht glauben, sondern hofft auf etwas, was es nicht gibt. Es ist wie in allen Hafenstädten der Welt.
Ernest Whitecastle und Jim Lane gehen nicht gemeinsam, nein, Jim Lane folgt dem Zauberkünstler und lässt ihn nicht aus den Augen. Von Ernest Whitecastle bekam er sieben Dollar »Zehrgeld«, damit er sich da und dort einen Whisky kaufen kann. Denn in den meisten Lokalen achten die Hauspolizisten und Rauswerfer darauf, dass keine Schnorrer herumstehen, die sich nicht einmal den billigsten Drink kaufen können.
In einem kleinen Spielsaloon setzt sich Ernest Whitecastle zu einer Pokerrunde, die um kleinere Einsätze spielt. Es sind Frachtfahrer, Schiffsleute und Flößer, die hier am Tisch eines Berufsspielers versammelt sind.
Jim Lane weiß, dass es mehrere Sorten von berufsmäßigen Spielern gibt.
Da sind die ritterlichen Gentlemen aus den Südstaaten, die durch den Krieg ihre Existenz verloren, zumeist sogar Offiziere in der Konföderiertenarmee waren und nun als Spieler für ihren Unterhalt sorgen.
Andere dieser Berufsspieler sind von ganz gegensätzlicher Art. Sie kleiden sich wie Wanderprediger und bevorzugen auch deren salbungsvolle Sprechweise.
Die dritte Sorte blufft auf eine besondere Art. Sie gibt sich das Äußere und Gehabe von erfolgreichen Geschäftsleuten, von reichen Lebemännern, an deren Fingern und Seidenkrawatten Ringe und Brillantnadeln funkeln. Aber die Steine sind unecht, nur Imitationen, die man »Topplichter« nennt.
Die vierte Sorte macht auf elegante Dandys. Sie tragen Maßanzüge, Rüschenhemden, bestickte Westen, Stiefeln mit hohen Absätzen und teure Hüte.
Und ein ganz besonderes Zeichen für Eleganz und Erfolg sind die in Europa hergestellten goldenen Uhren, von denen manche bis zu zweitausend Dollar kosten, weil ihre Wellen in echten Diamanten gelagert sind.
Diese Uhren, an langen, dicken, goldenen Ketten hängend, werden immer wieder hervorgeholt und gezeigt wie Rangabzeichen.
Und dann gibt es noch eine Sorte von Berufsspielern. Sie gibt sich primitiv, grob, zumeist plumpleibig, in unsauberer Kleidung, ganz und gar wie arme Schlucker aus dem Volk, die darauf versessen sind, ihre paar Dollars beim Spiel zu verdoppeln.
Und solch ein Bursche der letzteren Sorte sitzt hier am Tisch.
Dass er gewinnt, lässt der Geldstapel vor ihm erkennen.
Doch es sind stets nur kleine Beträge im Topf. Man spielt hier offenbar mit Limit. Und solch ein Spiel muss Ernest Whitecastle mit seinem wenigen Spielkapital von nur fünfzig Dollar erst einmal eine Weile mitmachen.
Jim Lane steht mit einem Glas Bier etwas länger als eine Stunde an der Bar und beobachtet, wie Whitecastle den fettleibigen Spieler blankmacht. Ja, er schont die anderen Mitspieler. Doch immer dann, wenn der Berufsspieler glaubt, ein gutes Blatt zu haben und deshalb bis zum Limit bietet, rasiert er ihn ab.
Und es ist nicht zu erkennen, wie er das macht. Denn er hat auch stets dann die besseren Karten, wenn der Kartenhai selbst gegeben hat.
Nach einer guten Stunde hat Whitecastle etwa zweihundert Dollar gewonnen und erhebt sich. Der Berufsspieler — obwohl von ihm ausgenommen — ist darüber sichtlich froh. Denn nun hat er wieder die Chance, sich an den anderen Mitspielern schadlos zu halten und seinen Verlust mindern zu können.
Mit einem Spielkapital von nun zweihundertfünfzig Dollar geht Ernest Whitecastle aus der kleinen Spielhalle.
Jim Lane folgt ihm.
Und er hat ein Gefühl von staunendem Respekt in sich.
Der nächste Spielsaloon, den sie betreten, ist schon etwas nobler. Und das Limit ist auch höher angesetzt.
Doch Ernest Whitecastle versucht es jetzt nicht mit Poker, obwohl es einige Pokerrunden gibt, bei denen er mitmachen könnte.
Nein, Ernest Whitecastle bleibt vor einem Tisch stehen, an dem Drei-Karten-Monte gespielt wird.
Und dies ist eines der einfachsten Spiele der Welt. Außer zwei unbedeutenden Karten ist noch eine Bildkarte, »Baby« genannt, im Spiel.
Der Kartengeber — stets ein berufsmäßiger Spieler — legt die drei Karten verdeckt auf den Tisch und hantiert dann damit herum. Er schiebt die Karten umeinander und hin und her.
Dann hält er inne und sagt: »Wo also ist das Ass? Wer weiß es und setzt darauf? Ich werde dagegen halten, Gentlemen. Na, wer weiß es und wagt fünfzig Dollar?«
»Wie wäre es mit zweihundert Dollar?« Ernest Whitecastle fragt es bescheiden.
Der Kartenausteiler betrachtet ihn misstrauisch lauernd, und er ist ein Mann, der sich auskennt mit allen Sorten und Typen.
Aber diesen kaum mittelgroßen Burschen unbestimmbaren Alters, der einen so genannten »Bratenrock« trägt, kann er nicht einordnen. Ernest Whitecastle wirkt bescheiden und harmlos, ganz und gar nicht wie ein harter oder mit allen Wassern gewaschener Bursche. Seine zwar dunklen Augen wirken und blicken unschuldig.
»Na gut, Mister.« Der Kartenausteiler nickt. »Ich halte zweihundert Dollar dagegen, dass Sie das Ass nicht finden. Aber ich werde noch einmal mischen und neu austeilen.«
Ernest Whistecastle nickt. Bescheiden verlangt er: »Aber zuerst, mein Freund, möchten wir alle das Ass noch einmal sehen, ja?«
Der Kartenausteiler blickt in die Runde. Denn inzwischen haben sich rund ein Dutzend Zuschauer eingefunden. Auch Jim Lane gehört dazu.
Der Kartenausteiler zeigt das Ass. Es liegt in der Mitte der drei Karten. Und es ist das Herzass.
Nun nimmt er die Karten und mischt sie.
Dann wirft er sie auf den Tisch, hantiert nochmals damit herum, schiebt sie umeinander, verwirrt alles geschickt.
Jäh hält er inne.
»Nun, Mister, wo ist es?«, fragt er grinsend, und in seinen schrägen Augen funkelt es.
Ernest Whitecastle hebt die Hand und zeigt mit dem Zeigefinger auf die rechte Hand des Kartenausteilers. »In Ihrer Hand, mein Freund, ist das Ass«, sagt er mit freundlicher Stimme.
Der Kartenausteiler will einen Schritt zurückweichen. Er will auch die Hand hinter seinen Rücken und damit außer Sicht bringen, doch einer der Zuschauer, die fast alle schon vorher ihr Glück versuchten und dabei kleinere Beträge verloren, packt blitzschnell zu. Der Mann ist offenbar ein Flößer, ein riesiger Bursche, an blitzschnelles Zupacken gewöhnt.
Und er greift nach der Hand, so als wollte er eine gefährliche Klapperschlange dicht unter dem Kopf packen, bevor sie zubeißen kann.
Als er die Hand mit einem Ruck umdreht, sehen es alle.
Halb schon im Ärmel verborgen und von der Hand verdeckt sehen sie das Herzass, das ja eigentlich eine der drei Karten sein müsste.
»Oh, mein Bester, zahl erst mal den kleinen Mann da aus«, grollt der Flößer. Und das Grollen der anderen Zuschauer wird nun ebenfalls hörbar.
Der Kartenausteiler schwitzt. Sein Blick irrt in die Runde. Er sucht nach Hilfe, wartet sicherlich auf das Eingreifen der Rauswerfer und Hauspolizisten.
Mit der linken Hand greift er in seine Kasse und zählt Geld auf den Tisch. Es sind zehn Zwanzigdollarscheine. Ernest Whitecastle nimmt sie mit einem raschen Griff und tritt zurück.
Er und Jim Lane können sehen, wie der Flößer nun dem Kartenausteiler die Faust ins Gesicht stößt.
Und weil inzwischen auch zwei Rauswerfer kamen, die dem Kartenausteiler des Hauses beistehen wollen, geht es erst richtig los.
Denn der Flößer hat einige Partner aus seiner Mannschaft bei sich.