G. F. Unger Sonder-Edition 246 - G. F. Unger - E-Book

G. F. Unger Sonder-Edition 246 E-Book

G. F. Unger

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Beschreibung

Joe Faithful ist vierzehn, als der Wagentreck, mit dem er und seine Eltern in eine neue Heimat unterwegs sind, von Banditen überfallen wird. Der Tod hält grausige Ernte im Camp der Siedler. Nur Joe und die dreizehnjährige Kitty McClusky entgehen durch Zufall dem blutigen Massaker.
Am nächsten Morgen trifft eine Armeeabteilung ein. Für die Siedler kommt jede Hilfe zu spät, aber von dem Major erfährt Joe den Namen des Anführers der Mordbrennerbande: Bloody Bill Anderson.
Joe ist noch zu jung, um an Rache zu denken, doch eine Ahnung sagt ihm, dass er Bloody Bill Anderson eines Tages begegnen wird. Wird er ihn dann für seine Gräuel zur Rechenschaft ziehen können?


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Seitenzahl: 184

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhalt

Cover

Die kein Erbarmen kennen

Vorschau

Impressum

Die kein Erbarmen kennen

Joe Faithful ist zwar erst vierzehn, doch er weiß theoretisch sehr genau, wo es langgeht zwischen Mann und Frau. Denn seine drei älteren Brüder reden so manches Mal über ihre Eroberungen beim sogenannten »schwachen Geschlecht« und schildern dann eingehend, wie alles so ablief.

Als der kleine Wagenzug, der von Tennessee weiter nach Westen will, an diesem Abend einen guten Lagerplatz an einem See erreicht, der von einem Creek gespeist wird, da fasst Joe sich ein Herz und geht ebenfalls zum See, wo Kitty McClusky zwei Wassereimer füllt. Auch er hat zwei Eimer mitgebracht. Als er neben Kitty tritt, die am Ufer kniet und sich das Gesicht wäscht, ihre Arme weit ins Wasser taucht, fragt er: »Willst du heute um Mitternacht, wenn sie alle schnarchen im Camp, mit mir in diesem See baden? Dort drüben in der Bucht unter den Bäumen wird es dunkel sein. Wirst du kommen? Oder kannst du gar nicht schwimmen?«

Kitty ist ein hübsches kleines Ding, genau dreizehn Jahre alt. Und auch sie weiß durch ihre Schwestern längst Bescheid über alles, was da so läuft zwischen den Nachkommen von Adam und Eva seit der Vertreibung aus dem Paradies.

Sie blickt aus ihrer knienden Haltung zu Joe Faithful empor.

Ja, dieser Junge gefiel ihr von dem Tag an, als sich alle zusammengefunden hatten und nach Westen aufbrachen. Nun haben sie sogar schon den Mississippi überquert und sind mitten in Missouri.

Vor ihnen liegt Kansas, zu ihrer Linken liegt Oklahoma. Der Name bedeutet etwa so viel wie »Land des roten Mannes«.

Wahrscheinlich ist Kitty – obwohl sie ein Jahr jünger ist – schon ein wenig reifer als Joe, denn schließlich ist sie ja ein Mädchen.

Und es ist nicht selten, dass Farmer- oder Siedlermädchen schon mit vierzehn heiraten und mit fünfzehn die ersten Kinder bekommen.

Kitty möchte nicht so früh Mutter werden. Sie will auch keine Farmers- oder Siedlersfrau werden und es so hart und schwer haben wie ihre Mutter.

Dennoch ist sie neugierig auf diesen Joe Faithful. Sie kommt zu dem Entschluss, endlich mal eigene Erfahrungen zu sammeln und herausfinden, ob das alles wirklich so ist, wie ihre Schwestern es sich immer wieder nach irgendwelchen Festen und Feiern erzählen, wenn getanzt wurde und die Paare später in der Nacht verschwanden.

Und so erwidert sie auf Joes Frage: »Schwimmen? Ich wette, ich kann besser tauchen und schwimmen als du. Vielleicht werde ich kommen, vielleicht. Aber sage mir, Joe Faithful, was hast du außerdem noch mit mir vor?«

Es ist eine direkte Frage, die ihn ein wenig erschreckt. Und er begreift in dieser Sekunde, dass sie kein kleines, dummes Vögelchen mehr ist, sondern genau weiß, in welche Situation sie sich begeben wird.

Aber nach dem anfänglichen Erschrecken gefällt ihm das.

Und so sagt er fast feierlich: »Das wirst du schon noch sehen. Doch ich gebe dir mein Wort, dass ich nichts machen werde, was du nicht willst. Da bin ich ein Gentleman. Ich geb' dir mein Wort.«

Sie erhebt sich nun. Obwohl er für sein Alter schon recht groß ist – wenn auch noch ziemlich dünn –, ist sie nur einen halben Kopf kleiner als er. Und er sieht, dass sie unter der Bluse bereits das hat, was zu einem erwachsenen Mädchen gehört, das eines Tages eine mehr als nur hübsche Frau sein wird.

Ihre Augen sind grün und lassen an Katzenaugen denken.

Ihr kastanienbraunes Haar trägt sie zu zwei Zöpfen geflochten.

»Wir werden ja sehen, Joe Faithful«, sagt sie lächelnd. »Aber wenn du denkst, du könntest mich vernaschen, dann irrst du dich.«

Sie nimmt die beiden Eimer auf und geht davon.

Er blickt ihr nach. Und obwohl ihre letzten Worte gewiss seine Erwartungen dämpfen sollten, weiß er instinktiv, dass er zumindest gegen Mitternacht diese roten Lippen küssen wird, die ihm ebenso lockend zulächelten.

Sie stammen alle von der alten Eva ab, denkt er altklug.

Denn er hörte manchmal seinen Bruder Andrew diese Worte sagen. Und sie kamen ihm stets sehr weise und erfahren vor. Dabei ist Andrew gerade erst neunzehn geworden.

Er füllt nun seine beiden Eimer und bringt sie zu seiner Mutter. Denn diese wird gleich mit dem Kochen anfangen.

Als er dann später seinen Brüdern und dem Vater dabei hilft, die Tiere zu versorgen, und all die üblichen Lagerarbeiten verrichtet, da denkt er immer wieder daran, wie es dort drüben in der Badebucht im Schatten der weit überhängenden Bäume sein wird.

Sie werden weiter als eine Viertelmeile vom Camp entfernt sein und auch noch durch die Wachen schleichen müssen.

Aber dann...

Es ist eine wunderschöne und warme Sommernacht, mit Wolken am Himmel, die manchmal Mond und Sterne verschwinden lassen.

Als Joe Faithful die Badebucht auf der anderen Seite des Sees erreicht, hält er am Ufer inne und ruft leise: »Kitty, bist du schon hier?«

Ein leises Lachen antwortet ihm aus dem Wasser. Da die mächtigen Zweige und Äste der Riesenbäume weit über das Wasser ragen, ist es sehr dunkel hier in der Bucht.

Er hört Kittys Stimme nach dem leisen Lachen sagen: »Ich bin schon im See. Und ich wette, du kannst mich nicht fangen im Wasser. Weißt du, ich traue dir nicht so recht. Willst du wirklich keine Dinge mit mir versuchen, die ich nicht will?«

Er möchte ihr sagen, dass sie sich nicht so anstellen soll und er längst von seinen Brüdern weiß, dass die Mädchen sich stets zuerst etwas zieren, bis sie mitmachen.

Aber er beißt sich auf die Zunge und versucht seiner Stimme einen beschwörenden und feierlichen Klang zu geben.

Und so sagt er: »Denke an meinen Namen, Kitty. Was bedeutet mein Name? Faithful ist nicht irgendein Name, nicht wahr? Faithful heißt treu, gewissenhaft, ehrlich und zuverlässig – oder nicht?«

Abermals lacht sie leise, doch nun ist ein Locken in diesem silberhellen Lachen.

»O ja«, spricht sie dann, »Faithful bedeutet so viel wie der Getreue. – Aber Namen sagen nicht immer die Wahrheit.«

Er erwidert nichts mehr, sondern entkleidet sich, und er hofft, dass auch sie dort im Wasser unbekleidet sein wird. Leise lässt er sich hineingleiten und versucht möglichst lautlos dorthin zu schwimmen, wo soeben noch ihre Stimme klang.

Aber als er weit genug in den See hinausgeschwommen ist, da hört er ihr Lachen aus einer anderen Richtung.

»Hier bin ich!«, ruft sie ihm leise zu. Er begreift, dass sie wenigstens zwanzig Yard getaucht sein muss, bevor sie wieder hochkam.

»Verdammt, Kitty«, sagt er ziemlich wütend, »dies ist ein dummes Kinderspiel. Bist du noch ein Kind oder ein erwachsenes Mädchen?«

Nun klingt ihre Stimme ernster.

»Dann komm!«, ruft sie ihm leise zu. Er schwimmt sofort in ihre Richtung, und er weiß, dass er sie ein dummes Huhn schimpfen wird, wenn sie auch diesmal wieder wegtaucht, um ihn zu narren.

Doch sie wartet auf ihn.

Das Wasser reicht ihr bis unter das Kinn. Als seine Hände nach ihr greifen, da stellt er schnell fest, dass sie nackt ist wie er.

Als sie ihre Unterarme um seinen Nacken legt und sie sich küssen, da ist in ihm ein Jubel, ein Gefühl der Glückseligkeit, wie er es zuvor noch niemals spürte.

Doch dann wird alles von einem Moment zum anderen ganz anders.

Denn drüben beim Wagencamp bricht die Hölle los.

Man kann es wahrhaftig nicht anders nennen.

Das Geheul vieler Männerstimmen gellt durch die Nacht. Pferde galoppieren. Schüsse krachen.

Joe und Kitty im Wasser des Sees begreifen sofort, dass das Wagencamp von einer starken Bande überfallen wird.

Es müssen mehr als hundert Reiter sein, die da angreifen.

Man schreibt das Jahr 1861, und der Bürgerkrieg zwischen Süd und Nord tobt schon einige Monate.

Der Wagenzug aus Tennessee besteht aus Familien, die nicht für den Süden kämpfen wollten und deshalb nach Westen zogen.

Missouri aber gehört halb zu den Nordstaaten. Viele Flüchtlinge aus dem Süden zogen schon hierher, manchmal verfolgt von Guerillabanden des Südens, die sie wie Verräter oder Deserteure des Südens behandeln und bestrafen.

Der Norden soll durch die Deserteure des Südens nicht stärker werden.

So etwa sind die Motive der Guerillas.

Und wahrscheinlich handelt es sich um solch eine Bande, die da drüben wie ein Strafgericht über das Wagencamp herfällt.

Joe will quer über den See schwimmen, um seiner Familie zu Hilfe kommen zu können. Doch Kitty klammert sich an ihn.

»Bleib bei mir, lass mich nicht allein! Ich brauche deinen Schutz. Joe, du kannst gewiss nichts mehr ausrichten. Sie werden auch dich töten. Es sind so viele. Du hörst doch ihr Gebrüll – und die vielen Schüsse. Das sind mehr als hundert Mann, Joe. Geh nicht weg! Schwimm nicht hinüber! Bleib bei mir! Hier sind wir sicher bis zum Tagesanbruch.«

Dies sind ihre Worte, die sie hervorstößt.

Und sicherlich rettet sie ihm das Leben.

Denn er bleibt bei ihr.

Sie steigen aus dem Wasser, und sie vergessen ganz und gar, warum sie eigentlich hergekommen sind. Kitty weint leise, erschauert immer wieder dabei, so als litte sie unter Krämpfen.

Und er, der doch schon ein Mann sein wollte, fühlt sich hilflos.

Immer wieder möchte er Kitty verlassen und hinüberlaufen auf die andere Seite des Sees.

Dort krachen immer noch die Schüsse, tönen wilde Rufe. Aber es ist auch das kreischende Geschrei von Frauen und Kindern zu hören.

Diese Guerilla- oder Banditenbande kennt offenbar keine Gnade.

Dann erhellt Feuerschein die Nacht. Die ersten Wagen brennen.

Und das Geschrei wird leiser. Auch das Krachen der Schüsse lässt nach. Nur dann und wann wird noch geschossen.

Kitty und Joe kleiden sich an. Hastig streifen sie ihre Kleidung über ihre noch nassen Körper und fühlen sich irgendwie schuldbewusst. Sie begreifen in diesen Minuten, dass drüben ihre Familien getötet werden, dass dort ein Massaker stattfindet, ein erbarmungsloses Gemetzel.

Und sie waren hergekommen, um ihre ersten Erfahrungen in der Liebe zu sammeln, um etwas Schönes zu erleben.

Joe hält Kitty jetzt wie ein Bruder in seinen Armen, als sie sich niederhocken und sich am liebsten die Ohren zuhalten würden.

Doch irgendwann – es kommt ihnen wie eine unerträgliche Ewigkeit vor – wird es drüben still.

Aber im Feuerschein, der den Himmel in weiter Runde färbt, können sie schemenhafte Gestalten sehen, manchmal vom Rauch verdeckt, dann wieder deutlich sichtbar.

Kitty beginnt plötzlich zu beten.

In Joes Armen, ihr Gesicht gegen seine Schulter gedrückt, flüstert sie alle Gebete, die sie kennt. Wahrscheinlich würde sie sonst verrückt werden vor Angst und Entsetzen.

Joe betet in Gedanken. Er kann nicht verhindern, dass Tränen ihm über die Wangen laufen. Er wollte schon ein Mann sein, doch jetzt ist er nur ein großer Junge, der hilflos ist.

Wie könnte es auch anders sein?

Und die ganze Zeit weiß er, dass ein gütiges Geschick ihn und Kitty davonkommen ließ, weil es sich so ergab, dass sie sich hier auf der anderen Seite des Sees trafen, um ein schönes Erlebnis zu haben.

Aber dann kam es ganz anders.

Als die Sonne hochkommt und der Tag strahlend und hell wird, wirkt das zerstörte und abgebrannte Wagencamp noch schrecklicher inmitten dieser nur scheinbar so heilen und strahlenden Welt.

Dort drüben herrscht Totenstille. Und was die Bande der Mörder nicht mitnahm, wurde zerstört oder verbrannt.

Hand in Hand wandern Kitty und Joe um den See. Und wieder weint Kitty stumm in sich hinein.

Als sie dann die rauchenden Trümmer erreichen und die ersten Toten sehen, da fallen sie auf die Knie, und ihre Hilflosigkeit und Verzweiflung könnte nicht größer sein.

Sie möchten fortlaufen von diesem jetzt grausigen Ort, und sie wünschen sich, dies alles wäre nur ein böser Traum, aus dem sie im nächsten Moment erwachen würden.

Aber es ist kein Traum, es ist Wirklichkeit.

Sie erheben sich nach einer Weile und beginnen zu suchen.

Was wurde aus ihren Angehörigen?

Kitty weint nicht mehr.

Nein, jetzt hat sie wirklich keine Tränen mehr. Sie hat alle schon vergossen.

Joe will ihr sagen, dass sie nicht mitkommen soll, weil er auch allein nach den Toten sehen kann.

Als er sich ihr zuwendet und über ihren Kopf hinweg nach Norden blickt, da sieht er Reiter kommen, viele Reiter in einer langen Zweierreihe.

Eine Fahne und ein Regimentswimpel flattern im Wind.

Die Reiter tragen blaue Uniformen, gehören also zur Armee der Nordstaaten.

Joe und Kitty blicken ihnen entgegen, verharren bewegungslos Hand in Hand.

Und als dann die Abteilung anhält und der Offizier an der Spitze noch ein wenig näher reitet und auf sie niederblickt, da sagt Joe Faithful heiser zu ihm empor: »Verdammt, Major, warum kommen Sie erst jetzt mit Ihren Soldaten?«

Der schon eisgraue Offizier blickt über den grausigen Platz des Massakers und der Zerstörung und muss mehrmals hart schlucken.

Schließlich sagt er heiser: »Tut mir leid, Junge. Aber wir hatten in der Nacht ihre Fährte verloren. Erst als der Morgen graute, konnten wir diese Fährte wiederaufnehmen. Unsere Pferde sind erschöpft. Diese Bande aber hat sich immer wieder mit frischen Tieren versorgen können, jetzt zuletzt mit Tieren von euch, nicht wahr. Sie sind uns entkommen, denn sie reiten nach Süden. Es sind Guerillas des Südens.«

Joe scheint in den letzten Stunden um Jahre älter und reifer geworden zu sein.

Er nickt leicht, so als könnte er alles verstehen.

Doch dann fragt er: »Sir, sind Ihnen die Anführer dieser wilden Mörderbande bekannt?«

Der Major starrt auf den dünnen Jungen nieder und räuspert sich, um Zeit zu gewinnen.

Doch die rauchgrauen Augen von Joe Faithful fordern eine Antwort.

Und so murmelt der Major schließlich: »Bloody Bill Anderson ist der Name. Er ist einer von Quantrills Unterführern mit einer eigenen Abteilung. Sie werden von der Südstaatenregierung als Guerillakämpfer anerkannt, obwohl sie nichts anderes als Mörder sind.«

Der eisgraue Major – wahrscheinlich war er vor dem Krieg schon im Ruhestand – verstummt bitter.

»Und überall hinterlassen sie verbrannte Erde«, knirscht er. »Junge, du kannst mir glauben, dass ich sie gerne vernichten würde. Doch mit den frischeren Pferden eures Wagenzuges sind sie mir so gut wie entkommen.«*

Joe Faithful nickt langsam. »Bloody Bill Anderson, das ist der Name, richtig?«, fragt er noch einmal.

Der Major nickt. »Wir werden uns um euch kümmern«, spricht er, wobei er schon sein Pferd herumzieht, um seiner Truppe Befehle zu geben. »Wir sorgen für euch bis zur nächsten größeren Stadt. Ist das deine Schwester, Junge?«

Er wartet nicht auf eine Antwort, sondern ruft seiner Truppe zu: »Absitzen, Leute! Die Zugführer zu mir!«

Joe und Kitty verharren immer noch. Ja, sie scheuen sich davor, nachzusehen dort zwischen den rauchenden Überresten des Wagenzuges und der vielen Leichen überall dazwischen.

Joe möchte hingehen zu den beiden Wagen der Faithfuls, um nach seinen Eltern und Brüdern zu sehen.

Doch er will Kitty nicht allein lassen, die immer wieder von einem Weinkrampf geschüttelt wird, aber keine Träne mehr weinen kann, so als wären diese ihr ausgegangen.

Ein Corporal kommt zu ihnen.

»Kommt mit mir«, sagt er. »Wir werden für euch ein Offizierszelt aufbauen. Und auch essen müsst ihr was, sonst klappt ihr uns zusammen. Ich soll mich um euch kümmern. Nennt mich einfach nur Jim. Wir werden euch wahrscheinlich nach Independence bringen, etwa sechzig Meilen nördlich von hier. Dort werden die Zivilbehörden für euch sorgen. Oder habt ihr irgendwo Verwandte in der Nähe?«

»Nein.« Joe und Kitty schütteln die Köpfe. »Nein«, murmelt Joe dann noch einmal und fügt hinzu: »Alle, die wir kannten, gehörten zu diesem Wagenzug. Und nun sind sie tot.«

Noch am Nachmittag findet die Beerdigung der Toten statt. Außer Joe und Kitty gibt es keine Überlebenden des Wagenzuges.

Sie beerdigen siebenundfünfzig Menschen, Männer, Frauen und Kinder. Und fast alle Frauen wurden geschändet.

Der Major hält eine bittere Grabrede.

Joe hört die Worte wie aus weiter Ferne und hält Kittys zitternde Hand.

Aber er denkt immer nur einen Namen: Bloody Bill Anderson.

Er ist noch ein Junge. Und er kann noch nicht an Rache denken. Dennoch merkt er sich diesen Namen, so als sagte ihm eine Ahnung, dass er diesem Bloody Bill Anderson eines Tages einmal begegnen würde.

Immer dann, wenn er diesen Namen denkt, erschauert er.

Nach der Beerdigung wandert er Hand in Hand mit Kitty um den See. Sie halten dann auch an, wo sie in der vergangenen Nacht unter den überhängenden Ästen der Bäume in der Badebucht badeten.

Kitty behält ihre Hand in der seinen, doch sie wendet sich ihm zu und blickt zu ihm auf.

»Joe, was wird aus uns werden?«, fragt sie. »Wir sind allein, so verdammt allein. Was werden sie mit uns machen? Kommen wir in ein Waisenhaus? Oder geben sie uns zu Pflegeeltern? Was wird sein? Joe, ich möchte mit dir zusammenbleiben. Können wir uns nicht als Geschwister ausgeben? Dann dürfen sie uns nicht trennen.«

»Das geht nicht mehr«, murmelt er. »Ich musste dem Major und dessen Schreiber, einem Sergeanten, alles sagen, was ich von den Leuten dieses Wagenzuges wusste. Ich musste alle Namen nennen und woher wir alle kamen. Du schliefst im Zelt. Ich wollte dich nicht wecken. Und so gab ich allein Auskunft. Der Major braucht die Angaben für die Behörden und auch für das Kriegstagebuch seiner Truppe. Er weiß also, dass wir keine Geschwister sind. Doch wir werden Wege und Mittel finden, damit wie beisammenbleiben. Ich lass dich nicht allein, Kitty.«

Sie umschlingt ihn und legt ihre Stirn auf seine Schulter.

»Wir haben ja nur noch uns auf dieser Erde«, flüstert sie. »Jeder von uns würde so einsam sein wie ein Stein in der Wüste, wenn man uns trennte. Nicht wahr, Joe Faithful.«

»Und mein Name bedeutet so viel wie ›der Getreue‹, nicht wahr, Kitty?« So murmelt er, und ihr Haar kitzelt seine Nase.

Er blickt auf das Wasser im See.

Nackt standen sie darin und hielten sich in den Armen, waren bereit, sich in ihr erstes Liebesabenteuer hineinfallen zu lassen aus Neugierde und Sehnsucht, die wahrscheinlich alle jungen Menschen verspüren, weil es so in der Natur begründet liegt.

Dann kam alles ganz anders.

Und nun?

Auch er fragt sich, was kommen wird. Doch er macht sich keine Sorgen deshalb. Er ist ein kräftiger Bursche und kann arbeiten. Ja, er könnte auch für zwei arbeiten. Denn das Leben geht weiter. Dies hat er im Verlaufe des Tages begriffen. Er blickt über den See hinweg, wo neben dem zerstörten und abgebrannten Wagencamp und dem daneben entstandenen Friedhof des Camp der Soldaten zu sehen ist.

Die Truppe des eisgrauen Majors war – als sie hier anlangte – ganz offensichtlich am Ende ihrer Möglichkeiten. Sie musste einen ungeheuren Gewaltritt hinter sich haben und hatte es dennoch nicht geschafft, die Guerilla-Bande einzuholen, bevor diese neue Untaten begehen konnte. Nun müssen sich die Kavalleriepferde erholen. Auch die Soldaten müssen ausruhen.

Und morgen wird die Truppe umkehren, denn sie kann es nicht wagen, tiefer in Feindesland vorzustoßen. Vielleicht ist es sogar die Absicht der Guerillas, solch eine Truppe Unions-Kavallerie in einen Hinterhalt zu locken.

Es ist alles möglich.

Der Junge begreift dies alles irgendwie, ein Zeichen, dass er nicht dumm ist.

Und so streicht er über Kittys Kopf und sagt: »Wir werden ja sehen, was sie in Independence mit uns machen – wir werden sehen, kleine Kitty.«

Wieder blickt sie zu ihm auf.

Dann flüstert sie: »Independence – diese Stadt ehrt mit ihrem Namen den Unabhängigkeitstag, den vierten Juli also. Diesem Namen nach müssten dort alles redliche und gute Menschen leben, nicht wahr? Wir werden dort gewiss nicht unabhängig, sondern sehr abhängig sein von den Leuten, die uns aufnehmen.«

Als sie ein wenig angstvoll verstummt, wiederholt er seine Worte: »Warten wir's ab. Wir werden sehen, was sie in Independence mit uns machen – wir werden sehen, kleine Kitty.«

Irgendwie fühlt er sich jetzt sehr viel älter als sie, obwohl der Altersunterschied zwischen ihnen doch nur ein Jahr beträgt, was sonst zwischen einem Jungen und einem Mädchen überhaupt keine Rolle spielt.

Aber er ist nach dieser Nacht wahrscheinlich gar kein Junge mehr, sondern schon ein Mann tief in seinem Kern.

Als sie nach dem Abendessen in ihr kleines Offizierszelt kriechen, um sich dort hinzulegen, da folgt ihnen Korporal Jim, der ja den Auftrag hat, sie zu betreuen, bis zum Zelteingang, hockt sich dort davor auf die Absätze wie ein Cowboy und steckt den Kopf in das fast völlig dunkle Zelt.

Die Feuer des Soldatencamps werfen kaum Lichtschein bis hierher.

Der Korporal lacht leise und sagt: »He, Junge, du wirst der Kleinen doch wohl kein Kind machen, hahaha! Der Major traut euch das offenbar nicht zu, der hält euch noch für Kinder, weil er noch von gestern oder vorgestern ist. Aber ich weiß Bescheid. Ich habe in eurem Alter schon jedes Mädchen aus unserem Dorf vernascht, oho, und ich würde nun gern an deiner Stelle sein, Junge.«

Lachend erhebt er sich und entfernt sich.

Kitty aber rollt sich in Joes Arme.

»Verdammt«, flüstert sie, »warum sind sie alle auf dieser Welt so gemein und erbarmungslos? Warum kann sich dieser stupide Korporal nicht vorstellen, dass wir jetzt in unserer Not wie Bruder und Schwester sind? Unsere Eltern und Geschwister sind tot, und wir haben nur noch uns auf dieser Welt. Wie kann dieser Mann glauben, wir würden...«

Die Stimme versagt ihr.

Und Joe streicht ihr über den Kopf, spürt ihr weiches Haar unter seinen Fingern und flüstert leise: »Ja, wir sind jetzt wie Bruder und Schwester. Und du bist nicht allein, Kitty, so wie ich nicht allein bin.«

Es ist einige Tage später, als sie nach Independence kommen. Die Truppe macht hier nur kurze Rast, denn sie ist in Fort Leavenworth stationiert, weiter den Missouri hinauf nach Westen, schon auf der Kansasseite.

Der Major schickt seinen Lieutenant mit den beiden einzigen Überlebenden des Wagenzuges zum Bürgermeister, dem der mürrische Lieutenant – auch er hatte vor dem Krieg längst schon den Armeedienst quittiert und war Rechtsanwalt geworden in einer kleinen Stadt – sagt: »Mister, wenn Sie hier der Bürgermeister sind, dann habe ich Ihnen zwei unmündige Kinder zu übergeben, die als einzige ein Massaker der Reb-Guerillas überlebten. Als Zivilbehörde haben Sie ja wohl die Pflicht, die Schutzbedürftigen zu übernehmen. Bitte quittieren Sie mir hier die Übernahme.«

Der Bürgermeister ist ein massiger, bärtiger Mann mit noch dunklem Vollbart, doch schon grauem Kopfhaar.

Er betrachtet den dünnen Jungen und das mehr als hübsche Mädchen. Sie erwidern seinen fordernden Blick, und er meint in ihren Blicken einen Ausdruck von Trotz zu erkennen.

»Wir haben kein Waisenhaus hier«, murmelt er schließlich. »Aber es werden sich wohl Familien finden, die euch aufnehmen. Na schön, ich werde die beiden da übernehmen, Lieutenant.«