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Nach acht Tagen und ebenso vielen Nächten hat Pierce Dawson von St. Louis die Nase voll und sehnt sich nach seinen Jagdgründen im Yellowstone-Land zurück. Doch vor der Rückreise stattet er dem Riverman-Saloon einen letzten Besuch ab. Mit dem Besitzer hat er nämlich noch eine Rechnung zu begleichen.
Zugegeben, er war am vergangenen Abend ein wenig angetrunken, aber nicht so, dass er davon aus den Stiefeln gekippt wäre. Das passierte ihm erst, nachdem er mit seinen vier Assen den Pokertopf gewann und sich einen neuen Drink bestellte. Plötzlich fiel er vom Stuhl und erwachte in einer dunklen Gasse - ausgeraubt bis aufs Hemd.
Nun ist Pierce gekommen, um sich seine dreitausend Dollar wiederzuholen. Entschlossen betritt er den Saloon. Er ahnt nicht, dass er in diesem Moment das Tor zur Hölle aufstößt...
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Seitenzahl: 181
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Yellowstone Pierce
Vorschau
Impressum
Yellowstone Pierce
Als sie den Rio Grande durchfurtet haben und sich auf der Texasseite des schlammigen Flusses befinden, da halten sie ihre schnaufenden Pferde an und blicken zurück.
Tom Haley sagt dann heiser und feierlich für alle: »Heiliger Rauch, ich hätte zuletzt keinen Chip mehr auf uns gesetzt. Aber wir haben es dennoch geschafft. Der gute Vater im Himmel mag uns vielleicht doch ganz gut leiden, obwohl wir im Grunde verdammte Hundesöhne sind. Oder warum sonst stand uns der Himmel bei?«
»Vielleicht war's nicht der Himmel, sondern der Teufel«, sagt Vance Rounds. »Weil wir dem Teufel längst schon unsere Seelen verkauft haben. Oder?«
Indes sie über seine Worte nachdenken, sehen sie drüben auf der anderen Seite ihre Verfolger auftauchen.
Es sind zwei Dutzend Reiter auf stolpernden Pferden. Sie tragen die Uniformen der Soldaten des Benito Juarez, der vor einigen Tagen Kaiser Maximilian erschießen ließ.
Man schreibt das Jahr 1867, und Benito Juarez Soldaten jagen alle Gringos, welche über die Grenze nach Mexiko kamen, um sich am Krieg zu beteiligen und nach Landsknechtsart Beute zu machen.
Tom Haley und die anderen Reiter des Rudels grinsen triumphierend.
Dann sagt Jesse Slade, ihr Anführer, trocken zum kleinen Shorty Wells: »Also schicke ihnen zum Abschied noch einen Gruß hinüber, Shorty.«
»O ja«, nickt dieser heftig und schwingt sich vom Pferd. »Die haben uns eine ganze Woche lang Tag und Nacht gejagt. Denen sollten wir noch einen Denkzettel verpassen für all die Ungelegenheiten, die sie uns bereitet haben.«
Indes der kleine, krummbeinige und sommersprossige Shorty diese Worte spricht, zieht er die schwere Sharps aus dem Sattelschuh.
Es ist ein weitreichendes Büffelgewehr, mit dem man auf dreihundert Yard noch einen Büffelbullen fällen kann.
Aber bis zum anderen Ufer auf der Mexiko-Seite sind es gewiss noch dreihundertundfünfzig Yard.
Shorty kniet hinter seinem Pferd nieder und zielt kniend mit der schweren Büchse unter dem Bauch des Tieres hinweg auf den ersten Reiter.
Dieser ist ein Capitán, also ein Hauptmann, und er will tatsächlich über den Strom kommen, obwohl dieser die Grenze zwischen Mexiko und Texas bildet.
Shorty zielt nicht lange.
Dann kracht der Schuss.
Das Pferd springt nicht mal zur Seite. Es ist zu erschöpft und überdies auch daran gewöhnt, dass Shorty unter seinem Bauch hinweg mit der schweren Sharps schießt dann und wann.
Der Capitán drüben fällt vom Pferd in das flache Wasser.
Und seine Reiter reißen ihre Pferde herum und reiten zurück. Nur zwei bleiben bei ihm, springen ab und knien neben ihm.
Als sie ihn aufheben und quer über den Sattel seines Pferdes legen, da ist völlig klar, dass der Capitán tot sein muss. Nur einen Toten legt man auf diese Art quer über ein Pferd.
Sie schütteln drohend die Fäuste.
Dann folgen sie mit dem Toten den geflüchteten Reitern.
»Soll ich noch mal?« So fragt Shorty Wells, und in seinem faltigen Gesicht brennen seine Augen.
Er ist ein verdammter Killer.
Aber das wissen seine Partner längst schon.
Jesse Slade schüttelt den Kopf.
Er wendet sein Pferd und blickt zu den Hügeln hinüber.
»Bis dorthin werden es unsere Pferde noch schaffen«, sagt er heiser.
Sein Blick richtet sich dann auf die Frau, welche mit ihnen reitet.
»Du hast uns Glück gebracht, Jessica«, sagt er. »Bald werden wir mit dir ein Fest feiern.«
In seinen Augen erkennt sie seine Wünsche, und sie weiß, dass er ein Mann ist, der sich wie ein Raubtier erjagt, was er haben will.
Sie erwidert seinen Blick und lächelt.
Geschmeidig sitzt sie im Sattel, trägt einen Anzug wie ein mexikanischer Hidalgo und hat ihr rotes Haar unter dem schwarzen Hut verborgen.
In ihrem gebräunten Gesicht blinken nun ihre weißen Zahnreihen zwischen den vollen Lippen. Die Farbe ihrer Augen ist grün.
Sie ist auf eine eigenwillige und rassig wirkende Art mehr als nur hübsch.
Man kann sie nicht als reine Schönheit bezeichnen, aber ihre Ausstrahlung ist die einer Vollblutfrau. Diese Ausstrahlung ist so stark, dass nur sehr selbstbewusste Männer es wagen, sich an sie heranzumachen.
Sie trägt einen Colt an der Seite, als könnte sie auch damit umgehen.
»Sicher, Jesse Slade«, sagt sie mit blinkendem Lächeln, »wir werden ein Fest feiern.« In ihrer Stimme ist ein Klirren.
Er zieht sein Pferd herum und reitet auf die Hügel zu, welche keine Meile weit entfernt sind. Die Sonne steht ziemlich tief im Westen. Bald werden von Osten her die Schatten der Nacht herangekrochen kommen.
Die Reiter folgen Jesse Slade.
Es sind Tom Haley, Vance Rounds, Shorty Wells und Bac Longley.
Sie alle sind Abenteurer, Revolvermänner, Sattelpiraten – und Shorty ist ein erbarmungsloser Killer.
Sie sind eine üble Bande, welche einst doppelt so zahlreich war, als sie nach Mexiko ritt, um während der Revolution zu rauben. Einige von ihnen starben.
Jessica Mahoun schließt sich den Männern an.
Und sie weiß, dass es gleich dort drüben in den Hügeln, wenn sie das Camp aufgeschlagen haben, um alles oder nichts gehen wird für sie.
Aber auch sie ist eine Abenteuerin. Auch sie hat in ihrem Leben schon viel gewagt und manchmal verloren.
Diesmal will sie endgültig gewinnen – für immer.
Und dann wird ihr die ganze Welt offenstehen.
✰
Sie finden in den Hügeln schnell einen kleinen Creek und dicht bei diesem einen geeigneten Lagerplatz unter einigen Bäumen. Auch Holz für das Feuer ist genügend zu finden. Sie haben noch einige Vorräte für ein Abendbrot.
Für die größte Überraschung aber sorgt Jessica Mahoun.
Denn aus ihrem Gepäck, welches sie vor allen Dingen in der Sattelrolle mitführt, bringt sie eine Flasche zum Vorschein.
»Das ist echter Bourbon«, lächelt sie. »Den habe ich aufgehoben. Hier, damit eröffnen wir das Fest – nein, die Vorfeier dieses Festes. Denn richtig feiern werden wir wohl erst in San Antonio, nicht wahr?«
Sie hält bei ihrem »Hier« Jesse Slade die Flasche hin.
Slade lacht, nimmt die Flasche und entkorkt sie.
»Jessica, du bist stets für eine Überraschung gut«, spricht er und setzt die Flasche an. Er nimmt drei lange Züge daraus – aber dann ruft Tom Haley drängend: »He, lass uns was übrig! Auch wir wollen was von diesem edlen Stoff! – Her damit! Das gehört dir nicht allein!«
Jesse Slade lacht ein wenig ärgerlich, als er Haley die Flasche reicht.
»Aaaah«, sagt er, »ihr seid doch nur Pumaspucke gewöhnt, Tequila und Mescalschnaps. Ihr seid doch längst schon ›blind‹ in den Gurgeln. Dieser Bourbon ist zu schade für euch. Aber hier...«
Er lässt endlich die Flasche los.
Auch Haley nimmt drei lange Züge – und dann geht die Flasche reihum, bis Bac Longley endlich einfällt, dass die Spenderin noch keinen einzigen Schluck nahm.
Er hält Jessica Mahoun die fast schon leere Flasche hin.
Aber Jessica Mahoun schüttelt den Kopf.
»Das ist alles für euch«, sagt sie. »Ich mache mir nichts aus Feuerwasser. Ich kann leicht darauf verzichten. Und ich will jetzt zuerst ein Bad nehmen im Creek. Lasst mich nur eine Weile in Ruhe.«
Sie geht mit einem Bündel davon. Und sie sehen ihr in der Abenddämmerung nach, leeren den Rest aus der Flasche.
Vance Rounds sieht Jesse Slade an. »Eigentlich sollten wir um sie losen«, murmelt er heiser. »Als wir sie am Leben ließen und mitnahmen, da wusste sie genau, dass sie dafür würde bezahlen müssen. Und jetzt ist es so weit. Also losen wir!«
»Nein«, widerspricht Jesse Slade, »sie gehört mir – von Anfang an. Damit müsst ihr euch abfinden.«
Er steht lauernd da, wartet auf Widerspruch.
Shorty Wells lacht kichernd: »Aaaah«, sagt er, »für mich wäre die ohnehin nichts. Ich mag nur fette Weiber. Und überdies haut der Whisky mich um. Verdammt, sind wir denn so ausgebrannt und entwöhnt, dass mich vier oder fünf Züge Feuerwasser umhauen?«
Er fragt es mit immer schwerer werdender Zunge. Und er wischt sich über das Gesicht, wendet sich plötzlich ab, um zum Creek zu stolpern und sich dort der Länge nach hinzuwerfen.
Auch die anderen Männer – zwar größer und schwerer als Shorty – merken nun etwas in ihren Köpfen.
Vielleicht glauben sie in der ersten Minute, dass es der heiße Tag war, das lange Reiten, der wenige Schlaf – aber plötzlich ruft Vance Rounds: »Hölle, was ist das? Ich kann sonst eine ganze Flasche leeren! Was war denn in diesem Whisky drin?«
Die letzten Worte kreischt er böse und wild.
Auch die anderen begreifen jetzt, dass etwas nicht stimmt mit ihnen.
Und es kann nur mit dem Whisky zusammenhängen.
In ihren Köpfen beginnt etwas wirksam zu werden, was nur ein Betäubungsmittel sein kann.
»Shanghaitropfen«, keucht Bac Longley mühsam, der auch mal zur See gefahren ist. »Sie hat uns...«
Er spricht nicht weiter.
Aber er zieht seinen Colt und setzt sich in Bewegung.
Die anderen folgen ihm.
Jesse Slade brüllt mühsam mit schwerer Zunge: »Hoiiii, du verdammte Hexe, wir erwischen dich noch, bevor wir umfallen! Uns legst du nicht rein! Wir erwischen dich noch!«
Sie stolpern auseinander. Ihre Bewegungen werden immer mühsamer. Sie gleichen mehr und mehr Volltrunkenen, die sich kaum noch auf den Beinen halten können.
Und als sie in ihren benebelten Hirnen zu begreifen beginnen, dass sie verloren haben und Jessica Mahoun, die sich irgendwo versteckt hat, nicht mehr rechtzeitig werden finden können, da beginnen sie wahllos zu schießen. Sie jagen ihre Kugeln in die Büsche zu beiden Seiten des Creeks.
Doch dann brechen sie Mann für Mann zusammen und sinken in tiefe Bewusstlosigkeit.
Denn in der Flasche war wirklich nicht nur guter Bourbon, sondern befanden sich auch Betäubungstropfen, die in den Hafenstädten der Westküste als »Shanghaitropfen« bekannt sind.
Schon viele Seeleute – und auch solche, die noch niemals zur See fuhren – wurden mit Hilfe solcher Shanghaitropfen an Bord von Walfängern gebracht, wo sie erst dann wieder erwachten, als sich die Schiffe längst schon auf hoher See befanden.
Und so mancher Walfänger blieb zwei Jahre auf Fangfahrt.
Als die fünf Männer endlich alle da und dort am Boden liegen und sich nicht mehr rühren, da taucht Jessica Mahoun aus der Dämmerung auf.
Ihre Bewegungen sind langsam. Sie ist erschöpft. Dennoch wird sie sich keine lange Rast gönnen können. Denn ihr Vorsprung muss möglichst groß sein.
Sie hält den schussbereiten Colt in der Hand.
Ja, sie hatten ihr eine Waffe gelassen, weil sie auf der Flucht vor den Juarez-Soldaten jeden Kämpfer brauchten – und war es auch nur eine Frau.
Sie tritt zu jedem der Männer, zielt auf ihn und stößt ihn derb mit der Stiefelspitze zwischen die Rippen.
Doch keiner rührt sich.
Als sie bei Jesse Slade verharrt, blickt sie nachdenklich auf ihn nieder.
Eigentlich hat er ihr als Mann sogar irgendwie gefallen. Und dass er ein Sattelpirat war, störte sie nicht sehr. Sie mag verwegene Männer, die sich durch Kühnheit behaupten.
Indes sie so verharrt und auf ihn niederblickt, da eilen ihre Gedanken tausend Meilen in der Minute – und sie eilen zurück in die Erinnerung.
Ja, es gab eine Zeit an der Westküste, da tat sie solche Betäubungstropfen den dummen Burschen in die Gläser und erhielt Geld dafür von den Männern, die mit den Kapitänen im Geschäft waren, diesen also Matrosen beschafften.
Es war ein langer und elender Weg für Jessica von der Westküste nach Mexiko, ein verdammter und rauer Weg, auf dem ihr nichts erspart blieb.
Doch jetzt...
Sie erinnert sich jäh an das Motiv ihres Tuns. Und so setzt sie sich wieder in Bewegung. Wenig später holt sie aus Jesse Slades Satteltasche die Beute.
Es befindet sich alles in einem zusammengeknüpften Halstuch, welches die Form eines Balles hat, der so groß wie zwei gegeneinander gehaltene Männerfäuste ist.
Sie hockt sich nieder und knotet die vier Zipfel auf.
Und dann sieht sie ihren Schatz im letzten Dämmerlicht.
Ja, es ist ein Schatz, aber auch die Beute von Banditen, die plündernd und raubend durch die Revolution ritten und bei reichen Leuten wertvollen Schmuck, Juwelen jeder Art erbeuteten.
Was Jessica Mahoun in der Dämmerung betrachtet, sind Ringe, Ketten, Arm- und Halsbänder, Edelsteine, Perlen.
Hundert Pfund pures Gold wären nicht so viel wert wie dieser Schatz.
Vielleicht nicht mal zweihundert Pfund Gold.
Sie weiß es nicht so genau.
Aber sie weiß, dass sie jetzt reich ist.
Nur entkommen muss sie.
Bei diesem Gedanken kehrt sie wieder in die Wirklichkeit zurück. Fast bedächtig knotet sie die vier Zipfel des Halstuches wieder zusammen, formt alles abermals zu jenem Ball, der so groß ist wie zwei Männerfäuste.
Dann erhebt sie sich.
Die Dämmerung geht nun in die Nacht über.
Noch ist die Sicht schlecht. Sie kann die fünf betäubten Männer nicht mehr da und dort deutlich liegen sehen.
Aber sie denkt: Ich müsste sie töten. Ja, ich müsste sie tot zurücklassen, will ich sie nicht bald auf meiner Fährte haben. Denn ich kenne sie jetzt gut genug. Die geben nicht auf. Nein, die werden mich – wenn's sein muss – bis nach Alaska oder nach Feuerland verfolgen. Nur auf einem Seeschiff könnte ich ihnen wahrscheinlich entkommen. Aber werde ich es vor ihnen schaffen bis zu einem Hafen? Soll ich zur Ost- oder Westküste? Ich hätte es leichter, wenn ich sie töten würde.
Immer dann, wenn sie mit ihren Gedanken bei diesem Punkt angekommen ist, hält sie inne.
Und sie begreift, dass sie keine eiskalte Mörderin sein kann.
Gewiss, sie könnte in Lebensgefahr töten, um ihr Leben zu retten.
Doch vorsätzlich töten, dies wäre Mord.
Und so sehr sie sich auch nach Reichtum und Unabhängigkeit sehnt und sie ein neues Leben beginnen möchte – morden kann sie nicht für dieses Ziel.
Sie seufzt bei dieser Erkenntnis.
Denn sie weiß, dass diese fünf Männer sie vielleicht sogar bis an das Ende der Welt verfolgen werden, wenn – ja, wenn es ihr nicht gelingt, ihre Fährte völlig zu verwischen.
Letzteres ist ihre einzige Chance.
Sie hatte Glück in diesen Tagen und Nächten.
Die Pferde der fünf Männer treibt sie viele Meilen weit, bevor sie allein ihren Weg reitet.
Und sie gelangt drei Tage später nach Laredo, ohne irgendeinen Verdruss zu bekommen mit Banditen oder Apachen, die von New Mexico her nach Süden kamen.
Sie hat wahrscheinlich das Glück eines Kindes, welches sich im Wald verirrte und nicht von den Wölfen gefressen wird.
In Laredo kann sie nicht mal ihr Pferd verkaufen, weil die Postkutsche schon eine Minute später abfährt. Sie kann nur aus dem Sattel springen und in die Postkutsche klettern mit ihrem wenigen Gepäck.
Aber das ist ihr recht.
Und so gelangt sie schon zwanzig Stunden später mit der Express Post nach San Antonio und von dort nach vierundzwanzig Stunden mit einer der neuen Abbot & Downing-Kutschen nach Austin.
Hier fühlt sie sich schon sicher genug, um sich auszuschlafen, ein Bad zu nehmen und sich einzukleiden.
Als sie dann die Fahrt am nächsten Tag fortsetzt, ist New Orleans ihr Ziel.
Dort aber wird sie einen Ring oder ein Armband verkaufen müssen.
Denn sie fand nicht viel Bargeld in den Taschen der fünf Banditen.
Doch sie macht sich immer weniger Sorgen.
Sie weiß längst auch, wie sie ihre Fährte verwischen wird.
Für ihre Verfolger wird es so aussehen, als wäre sie mit einem Seeschiff von New Orleans aus nach Europa abgefahren.
Vielleicht geben sie dann auf.
Sie wird aber nicht nach Europa reisen – noch nicht.
Geschickt verkleidet will sie den Mississippi hinauf nach Saint Louis.
Denn dort...
Nun, sie hat in Saint Louis noch eine Rechnung zu begleichen.
✰
Yellowstone Pierce hat nach acht Tagen und ebenso vielen Nächten die Nase voll von Saint Louis und sehnt sich nach seinen Jagdgründen im Yellowstone-Land zurück.
Er hätte nicht geglaubt, dass er diese Sehnsucht so bald schon verspüren würde.
Dass er jetzt an Bord der Mayflower bleibt und über der Reling lehnt, zur Stadt hinüberwittert, hängt aber nicht nur damit zusammen, dass er genug hat von all den Ausschweifungen und Sünden, sondern weil er völlig blank und pleite ist.
Zum Glück hat er die Rückfahrkarte schon bei seiner Ankunft gekauft.
Erst bei Tagesanbruch wird das Dampfboot ablegen und den Missouri hinauffahren.
So lange muss er warten.
Die Nachtluft tut seinem Brummschädel gut.
Auf der Uferstraße, an der auch die Landebrücken liegen, ist viel Bewegung. Fußgänger, Fahrzeuge jeder Sorte und auch Reiter sind zu sehen.
Er denkt: Miststadt, verdammte Miststadt. Ich hätte Lust, hier einige verdammte Banditennester auszuheben. Besonders die Kerle im Hinterzimmer vom Riverman-Saloon sollten noch eine Weile an mich denken müssen. Denen bin ich noch was schuldig. Soll ich noch einmal an Land gehen? – Ja, soll ich?
Er denkt erst noch ein wenig über die an sich selbst gerichtete Frage nach, und bald schon verspürt er jenes ihm gut bekannte Gefühl.
Dieses Gefühl ist nicht so recht zu definieren. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, nämlich das Verlangen nach Verwegenheit, nach einer Tat, die das Schicksal herausfordert, nach einem »Dampfablassen« gewissermaßen.
Und so wird er sich darüber klar, dass er etwas unternehmen muss.
Nein, er kann hier an Bord nicht auf den Morgen warten, bis das Schiff ablegt und den Big Muddy hinauffährt.
Yellowstone Pierce Damson war bisher recht brav in Saint Louis, und eigentlich ist er überhaupt ein Mann, der lieber jedem Verdruss aus dem Wege geht. Denn nur die Dummen und Primitiven suchen Verdruss, um sich zu beweisen.
Aber jetzt gehört Yellowstone Pierce vielleicht zu dieser Sorte.
Bald schon verlässt er das Schiff.
Die Wache an der Gangway grinst im Laternenschein und sagt: »Nun, Lederstrumpf, ich denke, du bist blank, ausgeplündert von den Mädchen, den Spielhallen und –«
»Aaaah, Feudelschwinger, ich will mir nur noch einmal alles ansehen, damit ich es ewig in Erinnerung behalten kann, bevor ich zu meinen Biberfallen zurückgehe«, unterbricht ihn Pierce und geht über die Landebrücke an Land.
Der Decksmann, den Pierce »Feudelschwinger« nannte – einen Maschinistengehilfen hätte er sicherlich »Flurplattenputzer« genannt –, grinst nur mitfühlend hinter ihm her und sagt dann: »Aaaah, der hofft ja nur, dass ihm jemand einen Drink spendiert.«
Indes geht der Mann aus dem Yellowstone-Land die Hafenstraße entlang, weicht dann und wann Reitern oder Fahrzeugen aus, reiht sich wieder in den Strom der Fußgänger ein.
Und es fällt auf, wie leicht sich dieser große und bei aller Hagerkeit doch schwergewichtige Mann bewegt.
Yellowstone Pierce trägt jetzt nicht seine Hirschlederkleidung. Er hatte sich bei seiner Ankunft hier einen Cordanzug gekauft und unterscheidet sich also in der Kleidung nicht von allen anderen Männern in dieser Stadt.
Und dennoch würde er unter tausend solcher Männer auffallen, etwa so auffallen, wie ein Wolf unter Hunden, wie ein Wildkater unter braven Hauskatern.
Ja, er strömt etwas aus, was zwar zu spüren, doch nicht so genau zu beschreiben ist. Nein, es ist nicht animalische Wildheit, aber doch ein Atem von lauernder Bereitschaft auf alles, was da kommen mag.
Das Leben im Yellowstone-Land hat ihn von Kindheit an geprägt.
Und als er nun von der Hafen- oder Uferstraße in eine Gasse einbiegt, da kann man ihn mit einem Tiger vergleichen, welcher durch den Dschungel schleicht.
Es ist dunkel in der Gasse, doch er bewegt sich dennoch sehr sicher, so als könnte er in der Dunkelheit sehen wie ein Wildkater auf Mäusefang.
Er findet die Stelle, wo er heute Vormittag lag, als er aus einem Betäubungsrausch erwachte und ein Hund sein Gesicht leckte.
Er lehnt sich gegen die Wand eines Schuppens und überlegt.
Aber er kann sich nicht mehr sehr genau erinnern.
Er befand sich im Hinterzimmer des Riverman-Saloon inmitten einer Pokerrunde, und er hatte vier Asse. Im Pokertopf aber lagen mehr als dreitausend Dollar.
Gewiss, er war ein wenig angetrunken, aber nicht betrunken.
Erst als er den Pokertopf mit seinen vier Assen gewann und sich einen neuen Drink bringen ließ, wurde alles anders.
Denn nach dem Leeren des Glases fiel er vom Stuhl.
Nur mühsam erinnert er sich daran.
Aber es gibt keinen Zweifel.
Er löst sich von der Schuppenwand und geht in den Hof hinein, zu dem ein enger Durchgang zu seiner Rechten führt.
Lichtbahnen fallen auf diesen Hof.
Der Riverman-Saloon besteht aus mehreren Anbauten an das Hauptgebäude.
Und einer dieser Anbauten ist die Spielhalle mit dem Hinterzimmer.
Pierce verharrt lange in der Dunkelheit, lauscht auf das Summen, Raunen, welches sich zusammensetzt aus einer Vielzahl von Geräuschen, Lauten, Stimmen, Musikklängen.
Und vom Fluss her tönen die Dampfhörner der Schiffe.
Manchmal bewegen sich Menschen über den Hof zu den Aborten drüben im hinteren Winkel.
Pierce versucht sich zu erinnern, aus welcher Tür sie ihn herausgetragen haben konnten. Denn diese Tür muss dem Hinterzimmer am nächsten gewesen sein.
Aber er kann sich nicht erinnern; er weiß nur, dass man ihn hinaus in die Gasse schleppte und in den Schmutz warf, wo er erst am nächsten Vormittag erwachte, als der Hund sein Gesicht leckte.
Kalter Zorn steigt in ihm hoch.
Den ganzen Tag – so lange, wie seine Ernüchterung währte – konnte er diesen Zorn tief in seinem Kern verborgen halten. Denn sein Verstand sagte ihm, dass er sich noch mehr Verdruss einhandeln wird, wenn er sich mit diesen Townwölfen hier anlegt, die ihn abrasierten.
Gegen diese Gilde hier in Saint Louis hätte er keine Chance.
Hier gibt es Kreuz- und Querverbindungen. In dieser Hafenstadt zweier großer Ströme, die die wichtigsten Lebensadern dieses Kontinents sind, wird die verschiedenste Politik gemacht. Und die Gilde der Spieler spricht da gewiss ein gewichtiges Wort mit.
Er wird sich also in große Gefahr begeben.
Und dennoch ist sein kalter Zorn jetzt so stark, dass er nicht mehr anders kann.
Und so tritt er zur Hintertür, aus der manchmal die Gäste in den Hof zu den Aborten streben, und verharrt im Gang.
Er findet unter den Türen bald eine, die zu einem Quergang den Eintritt freigibt – und auf diesem Gang gelangt er zu einer Tür, die wahrscheinlich die richtige sein könnte.
Er lauscht an dieser Tür und hört drinnen eine Männerstimme sagen: »Ich eröffne mit hundert Dollar.«
Er kennt diese Stimme wieder, erinnert sich gut an sie und weiß, dass er richtig ist an dieser Tür.
Soll er eintreten?
Noch einmal zögert er.
Aber dann entschließt er sich.
Er weiß, dass es nun kein Zurück mehr geben wird.
Jetzt muss er weitermachen.