G. F. Unger Sonder-Edition 268 - G. F. Unger - E-Book

G. F. Unger Sonder-Edition 268 E-Book

G. F. Unger

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Beschreibung

Es sind nur zwei Wagen von siebzehn, die aus dem wasserlosen Land nach Westen gelangen und das erste spärliche Grün erreichen. Sie gehören den McGyvers und den Hutchs. Von den Hutchs sind nur noch die Geschwister Ray und Kim am Leben: Ray, ein Junge von fünfzehn, und seine Schwester, die ein Jahr jünger ist. Doch die Hoffnung, die in den beiden aufkeimt, wird jäh vernichtet, als John McGyver ihnen mit vorgehaltener Waffe die Maultiere wegnimmt und vor den eigenen Wagen spannt. Wenn kein Wunder geschieht, werden Ray und Kim am Rande der Salzwüste vor Durst sterben - voller Hass auf die Gnadenlosigkeit des Schicksals und auf die Grausamkeit ihrer Mitmenschen...


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Seitenzahl: 182

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhalt

Cover

Geschwister des Teufels

Vorschau

Impressum

Geschwisterdes Teufels

Es sind nur noch zwei Wagen, die aus dem wasserlosen Land hinaus nach Westen gelangen und das erste spärliche Grün erreichen. Aber in der Ferne sieht man Hügel mit Wald, dahinter Berge. Dort muss es Wasser geben, sicherlich Creeks und Seen.

Dort in der Ferne liegt das Gelobte Land. Oregon!

Siebzehn Wagen sind sie damals in Kansas gewesen. Jetzt sind sie nur noch zwei. Die anderen blieben zurück, und all jene, die nicht von den Indianern getötet wurden, verhungerten, erkrankten, verdursteten, starben an Entkräftung oder kehrten um. Der harte Weg dieser Westwanderer nach Oregon wird zu beiden Seiten von Gräbern gesäumt, welche fast zahlreicher sind als die Maulwurfshügel.

Die beiden Wagen gehören den McGyvers und den Hutchs.

Von den Hutchs sind nur noch die Geschwister Ray und Kim übrig. Ray ist ein hagerer Junge von fünfzehn Jahren. Seine Schwester ist ein Jahr jünger.

Und die Eltern kamen unterwegs um.

Die McGyvers bestehen aus John McGyver, seiner Frau Sally und deren Bruder Jim Slaggar.

Jeder der beiden Wagen hat nur noch zwei Zugtiere, halbtote Maultiere.

Als die beiden Wagen an der Grasgrenze anhalten, beginnen die Tiere die ersten Halme zu rupfen.

Ray Hutch, dieser große hagere, blonde und blauäugige Junge, blickt noch einmal nach Südosten zurück, wo er die Salzwüste von Utah hinter sich weiß.

Er ist alt geworden in den letzten Wochen, dieser Junge, sehr alt.

Nun grinst er mit aufgesprungenen Lippen, in denen all die Tage und Nächte der vergangenen Wochen das Salz brannte. Er wendet sich an seine Schwester, welche fast teilnahmslos auf dem Bock des Planwagens sitzt. Im Wagen selbst ist nicht mehr viel. Fast die ganze Ladung warfen sie raus, um den beiden übrig gebliebenen Maultieren das Ziehen zu erleichtern.

Ray wendet sich also an die Schwester: »Augensternchen«, spricht er heiser, »wir haben es bald geschafft. Sieh, dort im Nordwesten sind die grünen Hügel. Bis dorthin sind es keine vierzig Meilen mehr. Die schaffen wir auch noch. Freu dich, Kim, freu dich! Wach wieder richtig auf! Morgen finden wir Wasser. Wir werden in einem See oder einem Creek baden. Und wir werden auch Wild jagen, zumindest Fische fangen. Wir haben die verdammte Salzwüste hinter uns. Freu dich, mein Schwesterherz!«

Er spricht beschwörend, aufmunternd.

Doch seine Worte machen nicht viel Eindruck auf Kim.

Sie ist sicherlich ein mehr als nur hübsches Mädchen, doch jetzt ist sie ein krank und verhungert wirkendes, dünnes Ding mit großen, geröteten Augen und einem sonnenverbrannten Gesicht.

»Ach, Ray«, seufzt sie nur, »wenn das alles nur bald vorbei wäre. Ich halte nicht mehr lange durch. Dann geht es mir wie Mom, die tagelang so tat, als würde sie so viel trinken wie wir. In Wirklichkeit nahm sie keinen Schluck aus der letzten Flasche. Vierzig Meilen, das ist sehr weit, sehr, sehr weit, zu weit für unsere beiden letzten Tiere.«

Sie verstummt tonlos fast, so schwach wurde ihre Stimme.

Und dabei war sie mal ein vitales, sehr lebendiges Mädchen, sprühend vor Lebenslust und Tatendrang, auch schon ziemlich reif für ihr Alter. Man hätte sie vor drei Wochen noch für sechzehn halten können. Ray wendet sich um, denn John McGyver kommt herbeigeschlurft.

John McGyver ist ein ziemlich übler Bursche mit einer gewiss üblen Vergangenheit. Wahrscheinlich hat er sich als Siedler und Landsucher nur getarnt, um dem Gesetz oder irgendwelchen anderen Verfolgern – Rächern zum Beispiel – zu entkommen. Denn wahrscheinlich ist er ein einstiger Spieler, ein Kartenhai, den man steckbrieflich sucht. Und niemand würde ihn bei einem Siedlertreck vermuten, auch seinen Schwager Jim Slaggar nicht, der wahrscheinlich ein Revolverheld ist.

Und Sally McGyver, geborene Slaggar, die arbeitete gewiss mit ihnen zusammen in den Spielhallen und Saloons, auf den Mississippi-Dampfschiffen und überall dort, wo man zweibeinigen Hammeln das Fell scheren konnte.

Sie gehörten zwar zum Wagentreck, doch sie wurden gemieden und fuhren wie Außenseiter mit.

Aber sie erwiesen sich als härter als alle anderen.

Nun, dieser John McGyver tritt nun zu dem Jungen und dessen Schwester. Seine Stimme klingt kühl und hart, als er sagt: »Junge, ich nehme eure beiden Maultiere und spanne sie vor unseren Wagen. Zu viert schaffen es die Tiere vielleicht bis dorthin, wo es Wasser gibt. Verstehst du, ich nehme dir die Tiere weg.«

Ray Hutch starrt ihn ungläubig an mit seinen geröteten Augen.

»Ohne unsere beiden Maultiere sind meine Schwester und ich verloren, Mr. McGyver. Das wissen Sie doch! Wir müssten unseren Wagen hier stehenlassen und zu Fuß gehen. Wir würden nur wenige Meilen schaffen. Und das Wasser ist noch sehr weit. Mr. McGyver, was Sie da tun wollen, macht Sie zu einem Maultierdieb. Und die hängt man wie Pferdediebe.«

Er hat kaum ausgesprochen, da schlägt der große hagere Mann zu, erbarmungslos, immer wieder. Und der Junge hat keine Chance gegen ihn.

Als Ray Hutch dann am Boden liegt, spricht McGyver zu ihm nieder: »Junge, du hast mich durch deine Art schon den ganzen langen Weg von Kansas herauf geärgert. Ich mag solche rebellischen Burschen nicht. Du hast mir deutlich gezeigt, dass du uns nicht mochtest. Nun gut, wenn ihr es zu Fuß nicht schaffen solltet, dann ist das euer Problem. Ich will unseren Wagen durchbringen. Und nur das zählt. Denn meine Frau Sally kann nicht mehr laufen. Sie würde sterben. Und da ist mir schon lieber, dass ihr es nicht schafft. Komm, Jim! Spannen wir die Maultiere aus!«

Jim Slaggar kommt sofort. Er grinst wortlos.

Ray Hutch setzt sich langsam am Boden auf, wischt sich das Blut von Mund und Nase und verharrt dann sitzend. Bewegungslos sieht er zu, wie die beiden Männer ihren Wagen nun vierspännig machen.

Dann tritt John McGyver noch einmal zu ihm.

»Vielleicht habt ihr Glück«, spricht er heiser. »Eigentlich müsste ich euch tot zurücklassen. Doch das seid ihr ja schon fast.«

Er wendet sich ab, klettert auf den nun vierspännig gewordenen Wagen und fährt wenig später an.

Ray Hutch aber bleibt noch eine Weile am Boden hocken – und eigentlich möchte er gar nicht mehr aufstehen. Er fühlt sich so ausgebrannt, schlapp, entkräftet und ohne jede Hoffnung.

Er möchte wegen seiner Hilflosigkeit weinen – aber er hat schon einige Jahre nicht mehr geweint. Er weiß längst, dass Weinen nichts hilft – es sei denn, man weinte aus Trauer. Doch selbst als sein Vater von den Indianern getötet wurde und später dann die Mutter an Schwäche starb, da weinte er nicht.

Er hört die Schwester vom nun ausgespannten Wagen fragen: »Ray, warum nehmen sie uns nicht mit?«

Er wendet am Boden hockend den Kopf und blickt zu Kim empor.

Da sitzt sie nun, hilflos und fast schon am Ende. Und er wird sich darüber klar, dass sie gar nicht richtig begriffen hat, was mit ihnen geschehen ist.

In diesen Minuten kommt in dem hageren Jungen Ray Hutch aus dem innersten Kern noch etwas hoch – vielleicht Trotz oder nur allein Überlebenswillen. Und sein Glauben an die Menschen geht verloren ganz und gar. Langsam erhebt er sich und verspürt dabei die Schmerzen von McGyvers Fäusten und auch Fußtritten.

Er tritt zum Wagen und spricht zu Kim empor: »Schwesterchen, mein Augenstern, es ist alles bestens. Sie holen Wasser. Und ich folge ihnen zu Fuß. Wenn wir Wasser gefunden haben, komme ich mit den Maultieren zurück.«

Sie starrt ihn mit leerem Blick an, und er befürchtet fast, dass sie den Sinn seiner Worte gar nicht verstanden hat.

Sie flüstert tonlos: »Ich lege mich wieder in den Wagen.«

Dann bewegt sie sich langsam wie eine Greisin und verschwindet unter der Wagenplane. Er möchte ihr folgen, sich um sie kümmern. Doch er lässt es bleiben.

Sie ist schon fast verdurstet, denkt er. In ihrem Fleisch ist kein Wasser mehr. Sie wird in der kommenden Nacht vielleicht schon sterben wie unsere Mutter. Und ich? Habe ich noch genug Zähigkeit, um den McGyvers zu folgen?

Er erschrickt bei diesem Gedanken.

Denn am liebsten würde auch er gerne aufgeben, sich hinlegen so wie die Schwester. Denn wenn er den Maultierdieben folgt, dann wird dies für ihn eine unbeschreibliche Quälerei, ein Weg durch alle Höllen werden. Und er ist noch kein Mann, sondern erst nur ein Junge. Aber er muss es versuchen. Seine Schwester ist alles, was er noch hat auf dieser Erde. Er ist Kims großer Bruder. Es ist seine verdammte Pflicht, so lange zu kämpfen, bis es wirklich nicht mehr geht. Und noch kann er sich auf den Beinen halten, laufen und alles versuchen.

Doch was soll er tun, wenn er den Wagen einholt?

Er hat dann zwei gefährliche Männer gegen sich.

Was kann ein Junge gegen zwei solche Männer schon ausrichten?

Er sieht sich noch einmal nach dem ausgespannten Wagen um, in dem er seine Schwester weiß.

Und er fragt sich, ob er sie lebend wiedersehen wird. Dann macht er sich auf den Weg.

Und er weiß, dass er diese Welt und ihre Menschen nie wieder lieben können wird. Das ist vorbei. Denn auch unterwegs hat er schlimme Dinge erlebt. Zuletzt waren sie keine Gemeinschaft mehr – nur noch einzelne Lebewesen, die überleben wollten.

Als es Nacht wird, schleppt er sich immer noch vorwärts. Manchmal fällt er der Länge nach hin, und dann möchte er liegenbleiben, gar nicht mehr aufstehen. Aber er kommt schließlich doch immer wieder auf die Füße, verharrt schwankend und wartet, bis die Dunkelheit vor seinen Augen wieder normal wird, also nur die Dunkelheit einer normalen Nacht ist mit einigen Sternen am Himmel in den Wolkenlöchern und einem Sichelmond, der nur manchmal zum Vorschein kommt.

Er schleppt sich weiter und weiter, quält sich vorwärts. Ein grausam gegen sich selbst gerichteter Wille beherrscht ihn. Manchmal denkt er an seine Schwester. Dann fragt er sich, ob er sie noch retten kann.

Und so legt er Meile um Meile zurück und weiß nicht, wie viele es sind. Aber ganz gewiss kommt ihm sein Weg wie tausend Meilen vor.

Etwa zwischen Mitternacht und Morgen – als er endgültig aufgeben will –, da sieht er das Feuer in der Nacht.

Sollten das dort die McGyvers sein? Haben sie ein Camp aufgeschlagen, weil die vier Maultiere den Wagen nicht mehr ziehen konnten?

Oder gibt es da vielleicht Wasser? Lagern sie deshalb dort, damit sie und die Tiere sich erholen können. War es gar nicht nötig, weiter zu fahren?

Rays Gedanken bewegen sich mühsam, und es dauert eine Weile, bis er das alles richtig begreift.

Aber dann verspürt er ein heftiges Erschrecken, eine jäh aufsteigende Furcht.

Denn er ist ja nur ein großer Junge.

Und dort sind zwei harte Männer.

Wie kann er gegen zwei so harte Burschen bestehen?

Doch warum hat er sich dann auf den Weg gemacht? Da hätte er ebenso gut auch bei seiner Schwester Kim bleiben können, um aufzugeben und mit ihr auf den Tod zu warten.

Er setzt sich wieder in Bewegung.

Nun stolpert er bald schon über dichter werdendes Gras und Dornenbüsche. Er hält sich instinktiv etwas rechts, läuft also nicht geradewegs auf das Feuer zu.

Dieses Feuer leuchtet auch immer schwächer. Offenbar wird kein Holz mehr nachgelegt, weil die Kerle dort fest schlafen oder ihr gewiss mühsam gesammelter Brennstoffvorrat nicht ausreicht für eine lange Nacht.

Ray sieht nun eine sich schlängelnde Baum- und Buschlinie vor sich.

Er hält inne.

Das muss ein Creek sein, denkt er. Ja, da vorn muss ein Creek sein. Und an solchen Creeks und ähnlichen Wasserläufen gibt es diese bewachsenen Ufer.

Er geht weiter.

Und als er die Bäume und Büsche erreicht, da findet er den Creek. Er befindet sich nun etwa hundert Yard vom Camp entfernt.

Der Creek ist nicht tief, eigentlich um diese Jahreszeit nur ein kümmerliches Wasserrinnsal.

Aber er legt sich der Länge nach in das an dieser Stelle etwa knöcheltiefe Wasser und erfrischt sich. Zuerst ist in ihm ein dankbares Gefühl, fast ein Jubeln. Er möchte sogar dem Herrn im Himmel danken – doch nur für einen Augenblick.

Denn dann wird er sich bewusst, was alles geschehen ist auf dem langen Treck von Kansas her, was aus den Menschen wurde, wie gemein und rücksichtslos sie sein konnten – und wie wenig sie nach den zehn Geboten lebten. Ihm wird wieder bewusst, dass er seine Schwester ohne Hilfe zurücklassen musste und es durchaus sein kann, dass er sie nicht mehr lebend wiedersehen wird.

Und dies alles ließ der Gott im Himmel zu.

Er kann an solch einen Gott nicht mehr glauben, und er ist ja erst ein Junge von fünfzehn Jahren.

Eine Weile liegt er so im Wasser des Creeks. Dann und wann trinkt er einige Schlucke Wasser. Und es ist ihm, als strömte neues Leben durch seinen Körper. Er fühlt sich wieder kräftiger. Seine Gedanken eilen schneller.

Als er sich erhebt, tropft das Wasser von ihm und quillt auch bei jedem Schritt aus seinen Stiefelschäften.

Er setzt sich am Ufer nieder und zieht sich die Stiefel aus. Seine Füße sind gewiss blutig und voller Blasen. Aber er achtet nicht darauf. Diese Schmerzen sind nichts, gar nichts.

Als er sich dem Camp nähert, da weiß er, dass er alles auf eine Karte setzen und das Schicksal auf seiner Seite sein muss. Denn er glaubt nicht mehr an Zufälle. Er weiß, dass er die Gunst des Schicksals auf seiner Seite haben muss – oder er wird verlieren.

Seine Bewegungen sind nun leicht. Das Wasser war ein zauberhaft wirkendes Lebenselixier. Er nähert sich dem Camp fast so lautlos wie ein Schatten und erreicht das hintere Ende des Wagens.

Am Feuer schlafen die beiden Männer. Er hört ihren fast schnarchenden Atem.

Im Wagen hört er Sally McGyver leise stöhnen. Offenbar geht es ihr nicht gut. Aber was es auch sein mag, die beiden Schläfer hören es nicht. Sie waren selbst zu sehr erschöpft. Gewiss hat einer von ihnen die Wache übernommen, war dann jedoch ebenfalls eingeschlafen. Es kann gar nicht anders sein.

Der Junge gleitet an der rechten Seite des Wagens entlang und erreicht dessen vorderes Ende.

Er kennt sich aus mit den Waffen der McGyvers.

Die beiden Männer tragen Colts. Sie haben auch zwei Gewehre.

Und überdies besitzen sie noch eine doppelläufige Schrotflinte.

An diese Schrotflinte muss Ray Hutch nun intensiv denken. Denn er weiß, er muss sie haben. Nur mit ihr kann ein Junge gegen zwei solch harte Männer bestehen.

Aber wird er auch abdrücken können?

Er weiß, dass er es tun muss. Sonst töten sie ihn.

Wo also ist die Schrotflinte der McGyvers?

Als er seitlich nach oben blickt, da sieht er sie. Sie steckt neben dem Wagensitz in der dafür vorgesehenen Halterung, sodass sie leicht zu greifen ist.

Als er sie herausnimmt, hört er Sally drinnen im Wagen wieder stöhnen. Es muss ihr sehr schlecht gehen.

Nun hört er sie flüstern: »John – Jim – o John, hörst du mich nicht? Ich glaube, ich muss sterben. Ich...«

Er hört nicht weiter zu.

Denn einer der beiden Schläfer am fast schon erloschenen Feuer setzt sich auf. Gewiss hat er nicht das fast tonlose Flüstern der Frau im Wagen gehört. Wahrscheinlich wacht der Mann nur auf, weil er eigentlich Wache hat oder weil die Nacht kalt wurde und er das Feuer nicht ausgehen lassen will.

Der Sichelmond kommt mal wieder für einen Moment aus den Wolken. Ray Hutch erkennt, dass es John McGyver ist, der sich aufsetzte.

Und so tritt er vor und spricht mit einer ihm fremd vorkommenden Stimme heiser: »McGyver, jetzt musst du bezahlen!«

Er legt seinen ganzen Hass in seine Stimme. Ja, er hasst diesen Mann nun so sehr, wie man nur einen Mann hassen kann.

John McGyver stößt einen Fluch aus, wirft die Decke von sich und springt auf mit dem Colt in der Faust. Er muss diesen Colt griffbereit unter der Decke gehabt haben.

Doch bevor er die Mündung auf den Jungen richten kann, bekommt er die volle Ladung aus einem der beiden Läufe. Es kracht fürchterlich. McGyver wird so sehr gestoßen, dass er rückwärts mit dem Rücken auf das Feuer fällt.

Und drüben springt sein Schwager, Jim Slaggar, brüllend hoch. Auch er hält seinen Colt in der Faust. Ja, er schießt sogar noch damit.

Dann bekommt er die Ladung aus dem zweiten Lauf.

Das Krachen verhallt wie ein Donner.

Ray Hutch wurde von Slaggars Kugel nicht getroffen.

Er verharrt noch einige Atemzüge. Dann lässt er die Schrotflinte fallen wie ein zu schwer gewordenes Eisen. Schwankend verharrt er und atmet immer wieder zitternd ein und aus.

Die Erkenntnis, dass er zwei Männer getötet hat, trifft ihn gewaltig. Ihm wird einen Moment schwindlig. Dann stößt er einen schrecklichen Laut aus, der ein Stöhnen, Weinen und Aufschreien zugleich ist.

In dieser Minute beginnt er zu ahnen, dass sich die Welt für ihn nochmals verändert hat und es nie wieder für ihn so sein wird wie bisher.

Alles wurde anders.

Er hat zwei gefährliche Männer getötet – und es war leicht. Er kann kaum glauben, wie leicht es war.

Erst jetzt wird es schwer.

Drinnen im Wagen stöhnt wieder Sally McGyver und ruft den Namen ihres Mannes.

In Ray Hutch bricht nun endlich aus, was er bisher unterdrückte. Er brüllt in die Nacht hinein zum Wagen zugewandt: »Er ist tot! Mausetot ist dieser Hurensohn, der dein Mann war, Sally McGyver! Tot ist er! Auch dein Bruder ist tot! Und ich muss mit Wasser und den Maultieren zurück zu meiner Schwester! Meine Schwester steht mir näher als du. Und es ist mir verdammt gleich, was aus dir wird! Zur Hölle mit euch McGyvers!«

Der Weg zurück zu Kim und dem Wagen kommt ihm unwahrscheinlich lang vor. Er vermag manchmal nicht zu glauben, dass er diese Meilen zu Fuß zurückgelegt hat von gestern Nachmittag bis in die zweite Nachthälfte.

Er hat alle vier Maultiere bei sich. Diese Tiere hatten sich in den vergangenen Stunden bei Wasser und Weide recht gut erholt. Sie werden den Wagen mit Kim sehr leicht zu jenem Creek ziehen können.

Er hat auch Wasser für Kim bei sich, und er hofft, dass er sie noch lebend vorfinden wird. Manchmal brüllt er vor hilfloser Wut, denn er weiß, auch er und Kim hätten diesen Creek gewiss mit den beiden Maultieren erreichen können, die ihnen McGyver wegnahm. Auch Kim wäre um fast zehn Stunden früher zu Wasser gekommen, als es jetzt der Fall sein wird. Diese zehn Stunden können über ihr Leben entschieden haben. Und deshalb brüllt er immer wieder in hilflosem Zorn.

Er reitet auf einem sattellosen Maultier und muss die drei anderen Tiere treiben. Das fällt ihm schwer. Außer zwei Wasserflaschen und John McGyvers Colt hat er nichts bei sich.

Und als er losritt, da hörte er aus dem Wagen Sally McGyvers heisere Stimme ihn verfluchen. So krank und elend sie auch sein mag, dem Tod vielleicht sehr nahe, sie bekam dennoch mit, was draußen passierte.

Es ist fast schon Tag, als er die Stelle erreicht, von der er den Wagen in Sicht bekommen müsste.

Doch dort, wo der Wagen stand, sind nur noch die verkohlten Reste.

Er vermag es nicht zu glauben, aber es ist wahrhaftig so. Jemand muss den Wagen angezündet haben. Bis auf die Eisenteile – also Radreifen, Achsen und Ketten – wurde alles zu Asche. Und weil alles schon vor Stunden geschah, steigt nicht der geringste Rauch mehr aus der Asche empor.

Ray treibt sein Maultier noch mal an, hämmert und stößt ihm die Absätze seiner Stiefel in die Weichen. Die drei anderen Tiere lässt er einfach stehen. Er weiß ja, dass er sie nicht mehr braucht.

Immer wieder ruft er den Namen seiner Schwester.

Doch auch in der Nähe des Wagens bewegt sich nichts, und von nirgendwoher erhält er eine Antwort.

Sollte Kim im Wagen verbrannt sein?

Und wer war gekommen und hat das getan?

Nun weint Ray tatsächlich. Es ist noch nicht lange her, da hat er zwei Männer getötet. Doch nun ist er nur noch ein hilfloser Junge in tiefster Not. Nun muss er heulen, fühlt sich so hilflos und verraten in einer gnadenlosen Welt, dem Unglück ausgeliefert.

Er ist einen höllischen Weg gewandert in der vergangenen Nacht. Und er musste töten. Und alles war umsonst.

Denn wenn Kim nicht im Wagen verbrannte, dann hat jemand sie mitgenommen.

Von selbst kann sie nicht weit weggelaufen sein. Dazu war sie nicht mehr kräftig genug.

Wer also war hier?

Er wischt sich die Tränen aus den Augen und sitzt ab.

Und er muss kein guter Spurenleser sein, um zu begreifen, wer gekommen war.

Denn es waren Reiter auf unbeschlagenen Pferden, also wahrscheinlich Indianer oder irgendeine Bande, die sich nicht dort blicken lassen darf, wo es eine Schmiede gibt und Pferde beschlagen werden können.

Eine Weile verharrt der Junge in der Hocke und starrt auf die Hufabdrücke.

Er wehrt sich noch gegen die Erkenntnis, aber er muss sie dann doch akzeptieren. Kim, seine Schwester, wurde mitgenommen.

Er entdeckt außer den Hufspuren auch noch andere Zeichen, nämlich die Furchen, welche indianische Schleppschlitten ziehen, auf denen die Stämme ihre Habe transportieren – zum Beispiel die Büffelhäute ihrer Zelte, den sogenannten »Tipis«.

Es muss eine größere wandernde Sippe gewesen sein, vielleicht gar ein kleines Dorf, und sie haben Kim mitgenommen.

Daran glaubt er nun mit seiner ganzen Hoffnung und aller Kraft.

Er will sich nun aus der Hocke erheben, um zu seinem Maultier zu gehen. Denn er muss ja dieser Fährte folgen. Doch als er steht, da beginnt sich die Welt um ihn zu drehen.

Nun endlich kommt die Reaktion auf das, was er hinter sich brachte an Anstrengung. Er ist ja total erschöpft, hat eine Menge von seiner Substanz verbraucht. Schon viele Stunden bekam er nichts zu essen. Nur Wasser hatte er dann reichlich.

Er fällt um und rührt sich nicht mehr.

Was ist geschehen?

Drehen wir die Zeit um viele Stunden zurück bis zu jener Stunde, da Ray die kleine Schwester verlässt und sich auf den Weg macht.

Kim Hutch liegt nicht lange allein im Wagen, halb bewusstlos und fast schon im Sterben begriffen, weil ihr zarter Körper fast völlig ausgetrocknet ist.

Es vergeht keine Stunde, als sich die wandernde Sippe von Nez-Percè-Indianern nähert. Bald umringen sie den Wagen, halten ihn für verlassen und aufgegeben, wie so manche Wagen längs des Oregon-Trails von Kansas her.

Aber als einer der Krieger hineinblickt, da sieht er Kim Hutch.