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Lee Cumberland wäscht sich am nahen Fluss, aus dem die Morgennebel wie grauer Rauch steigen. Das Gras, die Büsche und die Bäume sind nass vom Tau. In der Nähe stehen zwei Pferde.
Als er sich den nackten Oberkörper abtrocknet, sieht er zum Feuer hinüber, an dem Nathan Britt kauert. Der riesige, löwenmähnige Freund stochert mit einem Stock im Feuer herum.
Langsam geht Lee Cumberland zum Feuer zurück. Dabei trocknet er sich immer noch ab. "Ich rieche heute keinen Kaffeeduft", sagt er lässig und will sich nach seinem Hemd bücken, das er zuvor auf seine Decke gelegt hatte. Neben diesem Hemd liegen seine Jacke, sein Hut und auch der Waffengurt.
Doch der Colt ist nicht mehr im Holster.
Die Waffe ist weg!
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Seitenzahl: 208
Veröffentlichungsjahr: 2024
Cover
Nach Laramie, Boys!
Vorschau
Impressum
Nach Laramie, Boys!
Er ist groß und sehnig. Er wäscht sich am nahen Fluss, aus dem die Morgennebel wie grauer Rauch steigen. Das Gras, die Büsche und die Bäume sind nass vom Tau. In der Nähe stehen zwei Pferde. Als er sich den nackten Oberkörper abtrocknet, sieht er zum Feuer hinüber, an dem Nathan Britt kauert. Der riesige, muskelbepackte und löwenmähnige Freund stochert mit einem Stock im Brennholz herum.
Langsam geht Lee Cumberland zum Feuer zurück. Dabei trocknet er sich immer noch ab. »Ich rieche heute keinen Kaffeeduft«, sagt er lässig und will sich nach seinem Hemd bücken, das er vor einigen Minuten ausgezogen und auf seine Decke gelegt hatte. Neben diesem Hemd liegen seine Jacke, sein Hut und auch der Waffengurt. Doch der Colt ist nicht mehr im Holster.
Die Waffe ist weg.
Aber vor wenigen Minuten war sie noch da.
Lee Cumberland lässt das zerschlissene Handtuch fallen und wendet sich langsam zu Nathan Britt um. Er sagt nichts, er starrt den Freund nur an und begreift in dieser Sekunde mit einem Mal, dass ihre Freundschaft von Seiten Nathan Britts vielleicht schon lange nicht mehr besteht.
Jetzt bekommt er für Nathan Britts wortkarges, mürrisches und brütendes Verhalten während der letzten Wochen endlich eine Erklärung.
Sie sehen sich schweigend an. Lee Cumberlands Augen sind so grau wie die Morgennebel über dem River, aber jetzt werden sie so dunkel wie der Rauch ihres Feuers, an dem Nathan Britt immer noch brütend und mürrisch kauert.
Nathan Britts Augen sind so klar und kalt wie Gletschereis. In ihrem Hintergrund tanzen jedoch gelbliche Lichter.
Die Nasenflügel blähen sich. Sein breites Gesicht, das eine vitale Kraft verrät, verzerrt sich plötzlich zu einem bitteren Lächeln. Sein großer Colt befindet sich noch im Holster, aber Lees Waffe liegt griffbereit neben ihm im niedergetretenen Gras.
»Yeah«, sagt er schwer, »ich habe deinen Colt genommen. Es wäre einfacher gewesen, dich im Schlafe zu töten, aber das brachte ich nicht fertig.« Er macht eine Pause und fährt dann fort: »Lee, ich bin ein Hundesohn, aber ich will lieber ein Hundesohn sein, bevor ich zusehe, wie Maureen dich willkommen heißt. Nachdem dieser verdammte Krieg jetzt beendet ist und wir wieder zu den Dingen zurückkehren, die wir vor drei Jahren verließen, beginnt für dich das große Glück. Und das will ich verhindern! Ich liebe Maureen viel zu sehr, als dass ich sie einem anderen Mann gönnte! Nicht einmal meinem Freund! In mir ist die Hölle! Ich habe mich seit drei Jahren nach Maureen gesehnt, und ich bin die ganze Zeit nur dein Freund geblieben, weil ich immer hoffte, dass dich während des Krieges eine Kugel erwischen würde. Dann wäre für mich alles leichter gewesen.«
Er atmet hörbar aus und starrt Lee Cumberland mit flackernden Augen an.
Und Lee sieht mit einem Mal alles in vollster Klarheit.
Schon ihre Väter waren Freunde, und sie hinterließen ihren Söhnen große Ranches. Das war einige Jahre vor dem Krieg. Die Freundschaft der Söhne war so groß wie die der Väter. Ihre Ranches waren die größten des ganzen Countys. Lee Cumberland und Nathan Britt verkörperten Macht, Rinderreichtum und Einfluss.
Und dann kam eine junge Lehrerin in die Stadt.
Sie verliebten sich beide in Maureen Traft. Das ganze Land beobachtete den Wettbewerb um die schöne Lehrerin, und es blieb lange ungewiss, wer von den beiden Freunden sie erringen würde.
Aber dann wurde Lee Cumberland der glückliche Bräutigam. Es wurde eine Hochzeit, zu der zweihundert geladene Gäste kamen – nur Nathan Britt nicht.
Und als die Feier ihren Höhepunkt erreicht hatte, kam die Nachricht, dass der Krieg zwischen den Nord- und Südstaaten ausgebrochen wäre.
Am anderen Tag mussten sich Lee Cumberland und Nathan Britt der Sache des Südens zur Verfügung stellen. Wie alle reichen Rancherssöhne hatten sie Offizierspatente erworben.
Und dann folgten die Kriegsjahre.
Sie waren wieder Freunde und vermieden es, über die junge Frau zu sprechen, die daheim auf Lee Cumberland wartete.
Sie kämpften in den Schlachten bei Bloody Angle, The Wilderness, Yellow Tavern und Appomatox, und ihre Freundschaft schien fest und groß zu sein.
Aber dann legte General Lee bei Appomatox die Waffen nieder.
Lee und Nathan waren plötzlich entlassene Kriegsgefangene.
Und nun sind sie also auf der Heimreise.
Jetzt dreht es sich wieder darum, dass sie beide die gleiche Frau lieben, und bei Nathan Britt muss es mehr als nur Liebe sein. Sein Begehren nach Maureen hat eine Hölle in ihm entfacht. Und wenn er die vergangenen Jahre darauf gehofft hat, dass Lee Cumberland im Kampfe fallen würde, so hat sich diese Hoffnung nicht erfüllt.
Sie kehren beide heim, aber nur Lee wird Maureens Liebe besitzen. Nathan Britt wird zusehen müssen. Und Nathan ist ein Mann, der schon immer das bekommen oder sich genommen hat, was er begehrte.
Immer noch starren sich die beiden Männer an.
Dann hebt Lee Cumberland seine Linke und streicht sich das noch nasse, schwarze und leicht gekräuselte Haar zurück. Sein Gesicht ist schmal, aber es ist markant.
Er ist ein sehr männlicher Typ, nicht hübsch, sondern eben männlich. Seine Nase ist kurz und gerade. Er wirkt hart und stolz. Es geht jedoch keine böse Härte von ihm aus.
»Nathan, du bist verrückt«, sagt er sanft. »Das ist doch Irrsinn! Wir haben damals beide fair um Maureen geworben. Sie hat sich für mich entschieden. Warum erkennst du ihre Entscheidung nicht an?«
»Ich will sie besitzen! Vom ersten Augenblick an wollte ich sie besitzen. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich sie bekommen, bestimmt. Und ich kann nicht mein ganzes Leben als euer Nachbar zusehen, wie sie dich liebt. Wenn du tot bist, so habe ich die besten Chancen. Ich träume seit drei Jahren jede Nacht, dass du tot bist, Lee, und ich allein heimkehren werde. Ich träume immer wieder, dass sie mir gehören wird. Bis jetzt wollte ich es dem Schicksal überlassen, mir zur Erfüllung meiner Wünsche zu verhelfen. Aber jetzt habe ich lange genug gewartet. Wir sind hier mitten in der Wildnis. Vielleicht sind wir auf hundert Meilen in der Runde die einzigen Menschen in diesem Land. Du wirst nicht heimkehren, Lee! Ich werde Maureen berichten, dass wir auf dem Heimweg von Indianern überfallen worden sind. Die Indianergefahr ist ja jetzt nach dem Krieg besonders groß. Sie wird mir glauben, weil sie mich für deinen Freund hält.«
Er reckt das Kinn und strafft sich, dann fügt er hinzu: »Und eines Tages werde ich sie besitzen. Für dieses Ziel würde ich noch ganz andere Dinge tun. Es war dein Glück, dass wir am selben Tag unsere Heimat verließen, denn ich hätte dich nicht ein einziges Mal bei ihr geduldet. Wenn die vielen Gäste nicht gewesen wären, hätte ich dich schon am Hochzeitstag getötet. Maureen darf nur mir gehören – mir allein!«
Die letzten Worte stößt er heiser hervor.
Lee Cumberland schluckt hart, denn er weiß plötzlich, dass er den einstigen Freund nicht mehr von dieser Idee abbringen kann.
Lee Cumberland hat hier wohl das Ende aller Wege erreicht. Er gibt sich keinen Hoffnungen mehr hin, weiß er doch, wie gut Nathan Britt mit dem Colt umgehen kann; zwar nicht ganz so gut und nicht ganz so schlecht wie Lee, aber so gut wie nur wenige Männer auf tausend Meilen in der Runde. Auf diese Entfernung könnte Nathan Britt einer Maus den kleinen Kopf abschießen.
»Du bist trotzdem ein Narr«, stößt er hervor. »Vielleicht kannst du Maureen auf diese Art beikommen, vielleicht! Aber diese Sache hier wird dein ganzes Leben lang an dir fressen. Du wirst die Hölle in dir spüren, und wenn du dich im Spiegel siehst, wirst du dich in Gedanken einen Mörder nennen. Du kannst nie mehr im Leben auf etwas stolz sein. Nathan, du bist dann nur noch äußerlich ein großer und stolzer Mann. Innerlich bist du ein Hundesohn! Eine Frau fühlt und spürt das eines Tages. Irgendwann wirst du dann wieder Dinge tun, die nur ein Hundesohn verrichten kann. Dann wird Maureen dich richtig sehen. Und sie wird dich verachten. Dann lebst du erst richtig in der Hölle! Überleg es dir!«
»Ich habe es mir lange genug überlegt!«
»Dann schieß doch, du Bastard!«
Lee Cumberland verlegt sein Gewicht nach vorn.
Es sieht so aus, als wollte er sich auf Nathan Britt stürzen. »Halt!«, ruft dieser. »Ich will dir noch eine letzte Gunst erweisen! Ich will herausfinden, ob das Schicksal mir ein Zeichen gibt!«
»Was für ein Zeichen?«
»Setz dich hin, Lee, so wie ich. Und dann wollen wir sehen, wer die höchste Karte zieht.«
»Was soll das, Nathan?«
Doch der löwenmähnige Riese gibt vorerst keine Antwort. Er holt mit der Linken ein abgegriffenes Kartenspiel hervor und wirft es Lee vor die Füße.
»Du kannst selbst mischen, Lee! Und dann werden wir jeder eine Karte ziehen. Die höchste Karte gewinnt!«
»Und wenn ich die höchste Karte ziehe?«
»Das wirst du nicht! Ich bin sicher, dass das Schicksal mir ein Zeichen gibt. Wenn ich die Karte ziehe, werde ich auf dich schießen. Aber gut: Wenn du mich mit einer Karte schlagen kannst, so will ich mich diesem Zeichen beugen. Dann reiten wir getrennt nach Hause. Du hast mir im Kriege zweimal das Leben gerettet, Lee, deshalb muss ich dir diese Chance geben. Deshalb konnte ich dich nicht im Schlafe erschießen – und kann es jetzt immer noch nicht. Ich gebe dir noch diese Chance. Wir spielen um dein Leben. Gewinne ich, wird Maureen bald mir gehören. Verliere ich, so reiten wir als Feinde heim. Das ist die Gunst, die ich dir gewähre! Los, mische die Karten!«
»Du Narr, du hirnverbrannter und verrückter Narr! Du willst mich hier abschießen und suchst nach Zeichen, die deinen Plan gutheißen! Du hast schon selbst erkannt, dass dich die Sache in die Hölle bringt, und willst dich damit betäuben, indem du mit mir um mein Leben spielst. Du bist zu feige, einen Menschen zu töten, der wehrlos ist. Du hast Angst vor der Hölle!«
»Wir spielen um mein Glück mit Maureen und um dein Leben«, knurrt Nathan Britt. »Misch endlich die Karten! Was willst du noch? Ich gebe dir doch eine Chance! Und weil das so ist, werde ich später in den Spiegel sehen können, ohne mich anzuspucken! Ich gebe dir eine Chance und setze Maureen aufs Spiel! Los!«
Lee Cumberland nimmt die Karten, nachdem er sich niedergehockt hat.
Langsam beginnt er zu mischen und sieht Nathan Britt dabei an.
»Wenn ich gewinne, wirst du mich dennoch töten«, murmelt er heiser. »Du suchst nur nach einer Art Erlaubnis, die dir nach deiner Meinung durch Ziehen der höchsten Karte erteilt wird. Du hoffst, dass du diese Karte ziehen kannst. Aber wenn du sie nicht ziehst, wirst du dennoch schießen. Du suchst nur nach einem Grund, um später dein Gewissen betäuben zu können. Du bist völlig verrückt!«
»Wir werden sehen.«
Nathan Britt grinst kalt.
Und weil er dabei in Lees Augen sieht, macht dieser mit den mischenden Händen eine schnelle Bewegung. Die Karten fliegen wie wirbelnde Blätter Britt ins Gesicht.
Lee wirft sich vor.
Aber obwohl Nathan Britts Sicht einen Moment durch die vielen Spielkarten versperrt wird, reißt er den Colt des einstigen Freundes hoch und schießt mehrmals, bis der schwere Körper Lee Cumberlands, noch vom Schwung des Ansturms getragen, auf ihn fällt.
Nathan Britt stößt den leblosen Körper von sich und erhebt sich keuchend. Er lässt die Waffe fallen und krächzt: »Er hat mich angegriffen! Ah, er hat mich angegriffen! Ich musste ja schießen! Er hat seine Chance gar nicht gewollt! Er hat mich angegriffen!«
Er wischt sich über das schwitzende Gesicht und starrt einen Moment auf den Mann zu seinen Füßen. Er sieht das Blut aus Lees Haar laufen und sieht auch den dunklen Fleck in dessen Schulter, wo die andere Kugel ausgetreten ist. Lee Cumberland liegt auf dem Gesicht.
»Er hat mich angegriffen«, krächzt Nathan Britt noch einmal. »Vielleicht hätte ich sonst überhaupt nicht geschossen. Vielleicht würde ich es sonst gar nicht fertiggebracht haben, auf ihn zu schießen, obwohl ich es wollte. Jetzt ist alles vorbei!«
Er rafft schnell seine Habseligkeiten zusammen, schnürt sein Bündel und sattelt sein Pferd. Nur noch einmal wirft er einen scheuen Blick auf den leblosen Mann.
Wie von bösen Geistern gejagt, reitet er davon.
Bald verklingen seine Hufschläge.
Und die Sonne steigt langsam empor. Die Vögel zwitschern in den Bäumen, der Fluss plätschert. Das Pferd reißt sich drüben von der Leine los und geht zum Wasser.
Lee Cumberland aber rührt sich nicht.
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Das Blockhaus steht in einer tiefen Falte des Canyons. Viel Wald ist hier an den Hängen. In einem Corral bewegen sich zwei Esel und ein Pferd. Ein Bach kommt aus einer Felsspalte.
Alles ist ruhig und friedlich.
Der Sommer geht zu Ende.
Das Laub an den Bäumen färbt sich bereits zu den schönsten Farben des Jahres.
Sam Hunter hat nach vielen Jahren erfolgloser Suche endlich einmal Glück gehabt. Er hat zwar keine Goldader gefunden – aber aus dem Kies des Baches, dort, wo der Kies fast so fein wie Sand ist, hat er für rund zweitausend Dollar Gold herauswaschen können.
Er verlässt seine Hütte und bleibt in der Abendsonne stehen.
Drüben sieht er den Fremden am Bach sitzen und fragt sich jetzt noch, nach vier Monaten, wie es möglich war, dass dieser Mann am Leben geblieben ist.
Er geht hinüber und setzt sich neben den mageren Mann auf einen Stein. Er betrachtet ihn prüfend und nickt dann zufrieden.
»Nun gut, Lee«, murmelt er, »du bist über den Berg. Seit zwei Wochen nimmst du jeden Tag ein Pfund an Gewicht zu. Es wird nicht lange dauern und du bist wieder der Mann, der du vorher gewesen bist. Du bist schon ein harter Bursche, mein Sohn.«
Sam Hunter ist klein, verwittert, alt und – gut. So schlecht auch die Welt zu ihm manchmal war, er ist gut geblieben. Und deshalb vermag er sich auch von Herzen darüber zu freuen, dass dieser Mann, den er vor vier Monaten bei einem kleinen Jagdausflug vor dem Canyon am River fand, weil er durch das herumstreifende Pferd auf das Camp aufmerksam wurde, wieder gesund geworden ist.
Lee Cumberland sieht ihn ruhig an, doch im Hintergrund seiner grauen Augen ist ein ständiges Grübeln.
»Vielleicht bin ich ein harter Bursche, Sam, aber ich wüsste gerne mehr über mich. Ich weiß nur, dass ich Lee heiße, weil wir das noch auf dem Entlassungsschein entziffern konnten. Die Kugel und das viele Blut haben diesen Entlassungsschein vollkommen unleserlich gemacht. Ich weiß nicht, wer ich bin! Ich weiß nicht, was ich bin! Ich weiß nicht, wer mich fast totgeschossen hat – und warum...«
Er verstummt und wischt sich über die Narbe auf seiner Stirn.
»Immer dann, wenn ich darüber nachdenke«, murmelt er heiser, »beginnt mein Kopf zu schmerzen. Ich weiß nicht, ob ich Familie habe, wo ich daheim bin, ob jemand auf mich wartet. Ich weiß nichts. Alles ist dumpf und tot in mir. Ich weiß nur, dass ich Lee heiße. Ich...«
Er verstummt wieder und starrt grübelnd ins Leere.
Sam Hunter nimmt seinen alten Hut ab und wischt sich nervös über seine Glatze. Dann brummt er tröstend und murmelt schließlich: »Du wirst es noch herausbekommen, Lee! Es gibt viele Hinweise. Du kamst frisch aus der Gefangenschaft, warst wahrscheinlich unterwegs nach Haus. Du rittest ein Armeepferd. Dort steht es. Und du trägst jetzt noch die Hose der Südstaatenarmee.
Auch dein Feldhut ist noch da. Du warst Captain – Captain Lee... Nun, du brauchst nur an die verschiedenen Stellen zu schreiben, die damals die Entlassungslisten aufstellten. Dann wirst du mehr über dich wissen. Und dann wirst du Schritt für Schritt in dein früheres Leben zurückfinden.
Du bist jetzt wieder kräftig genug, um reiten zu können. Ich selbst bin hier fertig. Wir können morgen nach Fort Worth aufbrechen. Ich habe hier genug Gold gefunden, um mir endlich den Mietstall in Fort Worth kaufen zu können. Bald werde ich vor diesem Stall in der Sonne sitzen und nur manchmal meinem Stallburschen helfen, wenn zu viel Betrieb ist. Ich werde jeden Tag drei Zigarren rauchen und sonntags in die Kirche gehen. Ich habe einen ziemlich sicheren Lebensabend vor mir. Und auch du wirst eines Tages wieder...«
✰
Am nächsten Tage brechen sie auf.
Eine volle Woche später, es ist schon Nacht, erreichen sie Fort Worth.
Sie mieten sich ein Zimmer und schlafen bis zum Mittag des nächsten Tages.
Dann gehen sie in einen Store und kleiden sich neu ein. Der alte Sam Hunter zwingt Lee mit einigen Flüchen dazu, die Sachen anzunehmen, die er ihm gekauft hat.
Als sie dann in einem Speisehaus beim Mittagessen sitzen, drängt er ihm noch hundert Dollar auf. Er hat sein Gold gleich eingetauscht.
»Du kannst mir ja eines Tages alles zurückzahlen, Lee«, sagt Sam Hunter barsch. »Du kennst ja meine Anschrift. Ich werde meinen Lebensabend hier verbringen. An deiner Stelle würde ich gleich hier mit den Nachforschungen beginnen. Und ich will mich jetzt darum kümmern, dass der Mietstall mein Eigentum wird. Hoffentlich hat es sich der verdammte Jake nicht anders überlegt! Vor einem halben Jahr versprach er mir, noch bis zum Herbst zu warten. Nun, er hat es vielleicht nicht ernst gemeint, aber er wird Augen machen, wenn ich ihm die Dollars auf den Tisch lege.«
Er erhebt sich und hält Lee die Hand hin.
Auch Lee erhebt sich.
»Oldtimer«, sagte er, »ich verdanke dir mein Leben. Du wirst immer von mir hören. Ich stehe tief in deiner Schuld.«
»Bezahl sie eines Tages, wenn du einen armen Hund treffen solltest, der Hilfe braucht. Ich war in meinem langen Leben oft in Not, und da habe ich mir manchmal gewünscht, es würde mir jemand helfen. Bezahl deine Schuld – wenn du eine zu haben glaubst – an den nächsten armen Hund, den du triffst.«
So murmelt Sam Hunter.
Dann geht er hinaus, um den Mietstall zu kaufen.
Lee trinkt noch eine Tasse Kaffee. Und er grübelt über sich nach. Manchmal erscheinen ihm gewisse Dinge greifbar nahe, und dann wieder ist alles wie weggewischt. Es stellen sich auch sofort wieder rasende Kopfschmerzen ein, wenn er zu sehr grübelt und sich müht.
Endlich zahlt er und geht hinaus.
Die Sonne hat ihn zwar wieder gebräunt, nachdem er fast drei Monate in Sam Hunters Blockhütte liegen musste, aber er wirkt immer noch sehr mager und trotz seiner Länge und seines starken Knochenbaus kraftlos. Es ist wahrhaftig ein Wunder, dass er am Leben blieb. Wenn Sam Hunter nicht ein so erfahrener Mann wäre, der sich auf Wunden und Krankheiten wie ein richtiger Arzt versteht, wäre er vielleicht gestorben.
Er schlendert langsam die Hauptstraße hinauf und auf das Fort zu.
Und als er an einem Saloon vorbei will, wird die Pendeltür aufgestoßen und einige Cowboys treten heraus.
Der letzte Cowboy bleibt stehen und grinst ihn überrascht an.
Auch Lee kommt dieser Boy irgendwie bekannt vor. Wie ein heißer Stich zuckt es durch seinen Körper.
Vielleicht ist es die erste Chance, denkt er, und im selben Moment hört er den Cowboy etwas verwundert sagen: »Nanu, Captain Cumberland! Kennen Sie Jim Brazos nicht mehr? Oder sind Sie gar nicht Captain Cumberland, mit dem ich tausend Meilen durch den verdammten Krieg ritt? Aber Sie sind es! Sie sind es! Nur die Narbe auf der Stirn kenne ich noch nicht! Captain, kennen Sie Korporal Jim Brazos nicht mehr?«
Lee starrt den Mann an.
Die Erinnerung in ihm arbeitet, und es ist ihm, als käme diese Erinnerung aus der dunklen Tiefe eines unergründlichen Sees – oder als müsste sie durch eine Eisdecke brechen.
Und dann kennt er den Mann plötzlich wieder.
Ja, das ist Korporal Jim Brazos, der wie ein Indianer reiten konnte, der immer eine gute Nase für Verpflegung hatte und dessen trockene Witze in der schlimmsten Situation immer besonderen Erfolg hatten.
Lee wischt sich über die Augen, aber obwohl er sich jetzt wieder an einige Dinge seines Lebens gut erinnern kann, ist alles andere noch dunkel.
»Jim«, sagt er, »wenn du für mich einige Minuten Zeit hast, so kannst du mir gewissermaßen mein Leben wiedergeben. Du wirst es kaum glauben, aber ich habe bis jetzt nicht gewusst, dass ich Cumberland heiße.«
»Oh«, machte der Cowboy und starrt auf Lees Stirnnarbe. »O verdammt! Was doch einem Mann alles zustoßen kann! Nun, Captain, ich weiß zwar nicht sehr viel über Ihr Privatleben, aber einige Dinge weiß ich doch.«
»Trinken wir einen Whisky«, murmelt Lee, und er muss sich sehr beherrschen, um den kleinen Cowboy nicht zu rütteln und zu schütteln, damit dieser ihm ganz schnell alles sagt.
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Als Lee Cumberland dann eine halbe Stunde später mit Jim Brazos aus dem Saloon kommt und die Männer sich verabschieden, weil Jim keine Zeit mehr hat, weiß Lee fast alles über sich.
Und was ihm Jim Brazos nicht sagen konnte, fällt Lee nun spielend leicht wieder ein. Der kleine Cowboy und Exkorporal hat in Lee den dumpfen Panzer des Vergessens aufgebrochen.
Lee steht am Geländer des Gehsteiges und sieht Jim Brazos nach, der schnell aus der Stadt reitet, um seine vorausgerittenen Kameraden wieder einzuholen.
Sie winken sich noch einmal zu.
Lee ist diesem Mann sehr dankbar. Und zugleich wird die tiefe Bitterkeit in ihm immer wirksamer. Es ist die bittere Not und der heiße Zorn eines Mannes, dem ein vermeintlicher Freund die schlimmsten Dinge angetan hat, die es gibt.
Lee Cumberland weiß plötzlich wieder, dass er eine junge Frau hat, die schon Jahre auf ihn wartet und nach der er sich von Herzen sehnt. Er weiß, dass er eine große Ranch in Oklahoma besitzt – und er weiß wieder von Nathan Britt.
Und indes er hier in Fort Worth einsam an der Hauptstraße steht, fallen ihm immer mehr Einzelheiten über sein Leben ein.
Langsam setzt er sich in Bewegung und geht wie ein Traumwandler. Vor der Schaufensterscheibe eines Stores hält er inne. Die Schaufensterscheibe ist aus acht kleinen Scheiben zusammengesetzt, aber die Belichtung ist so günstig, dass Lee sich wie im Spiegel sehen kann, ganz klar und genau.
Er ist noch hager und hat noch Untergewicht, ein langer, dunkler, hohlwangiger und verbitterter Mann, in dessen nebelgrauen Augen eine heiße Flamme brennt, ganz im Hintergrund dieser Augen, die weit auseinanderstehen und die tief liegen. Da er seinen Hut in den Nacken geschoben hat, sieht er auch die Narbe auf seiner Stirn. Er hebt die Hand, betastet sie und denkt an Nathan Britt.
Dann fällt seine Rechte nieder und legt sich leicht auf den dunklen Griff des Colts.
»Nun«, murmelt er, »ich glaube nicht, dass Maureen ihm bereits gehört, denn ich glaube, sie liebte mich damals sehr. Er wird also noch um sie werben. Ich glaube, ich werde ihn in den Bauch schießen und dann zusehen, wie er stirbt, dieser Bastard.
Aber erst muss ich ihn haben. Der Weg zurück zur Heimatweide ist weit. Und ich treffe fast sechs Monate nach Nathan Britt dort ein. Aber das ist gut, denn ich muss körperlich wieder sehr fit sein. Sonst gewinnt Nathan Britt unseren Kampf.«
Er tritt in den Store und ersteht Proviant und Ausrüstung für einen langen Ritt. Mit dem Bündel geht er in den Mietstall und findet dort schon seinen Lebensretter Sam Hunter als neuen Besitzer vor.
Der Alte will ihm vor Glück eine Menge Dinge sagen, doch an Lees Gesichtsausdruck erkennt er, dass dieser ein niederschmetterndes Erlebnis hatte. Er erkennt in Lees Augen die heiße Flamme einer tödlichen Wut. Er erkennt die Hölle, die in Lee Cumberland ist.
»Sohn«, sagt er, »Hass führt in die Hölle! Ich sehe es dir an, dass du etwas Schlimmes erfahren hast. Nun sehnst du dich danach, einen Mann zu töten. Aber wenn du ihn zu sehr hasst, wird dir sein Tod keine Befriedigung bringen, denn du kannst ihn nur ein einziges Mal töten. Lass also den Hass in dir nicht zu groß werden, Sohn.«
Lee Cumberland sieht den alten Mann eine Weile schweigend an.
Dann berichtet er und schließt mit den Worten: »Mein Hass ist nun einmal so groß wie die Hölle. Ich kann es nicht ändern, und ich weiß schon jetzt, dass du weise bist, Sam. Der Tod dieses Hundesohnes wird mich nicht befriedigen. Mein Hass wird andauern. Aber ich kann ihn nicht niederkämpfen. Ich werde Nathan Britt noch in der Hölle hassen. Nun, ich reite jetzt!«
Sam Hunter hilft ihm, das Pferd zu satteln und das Bündel festzuschnallen.
Vor dem Tor des Mietstalles nehmen sie dann Abschied.
»Viel Glück, Lee«, murmelt Sam heiser. »Und sei immer ein stolzer Mann, der nie die Selbstachtung verliert.«
»Ich danke dir mein Leben, Sam. Ich behalte dich im Herzen.«
Nach diesen Worten reitet Lee davon.
Es ist schon später Nachmittag, aber er reitet. Er wird die ganze Nacht reiten, und er wird allein mit seinem Pferd unter den Sternen sein. Er wird erkennen, wie kalt und ohne Wärme sie leuchten, und er wird auch daran erkennen, wie kalt und wärmelos die meisten Menschen sind.
Nur Sam Hunter ist eine der wenigen Ausnahmen.
Lee wird sich einsam fühlen, einsam im Sattel. Und er wird sich nach seiner jungen Frau Maureen sehnen, die er einen Tag nach der Hochzeit verlassen musste.
Und er wird sich bei jeder Meile, die er zurücklegt, danach sehnen, Nathan Britt möglichst langsam sterben zu sehen.
So ist es!
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