G. F. Unger Sonder-Edition 55 - G. F. Unger - E-Book

G. F. Unger Sonder-Edition 55 E-Book

G. F. Unger

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Beschreibung

Im Morgengrauen kam ich mit meinem kleinen Bruder Ollie in den Mietstall, wo unser ältester Bruder Bill im Stroh lag. Der arme Bill war von einer Ladung Indianerschrot fast in Stücke geschossen worden, und dass er noch so lange lebte, bis wir bei ihm waren, war nur seiner unwahrscheinlichen Energie zuzuschreiben. Er grinste etwas mühsam und sah mich dabei an.

"So ist das immer", flüsterte er tonlos. "Eines Tages erwischt es jeden von uns. Der Kleine hat jetzt nur noch dich, Jesse. - Ich weiß, dass du mit dem Colt noch schneller werden könntest als ich. Aber werde nie ein Revolvermann - nie! Denn einmal verlieren sie alle!"

Damit hatte er mir gesagt, was er noch sagen wollte. Es musste ihm sehr am Herzen gelegen haben. Er starb von einem Atemzug zum anderen.

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Inhalt

Cover

Impressum

Einmal verlieren sie alle

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Manuel Prieto/Norma

E-Book-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-1001-6

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Einmal verlieren sie alle

Weil sie die Schulden nicht bezahlen können, die auf der kleinen Ranch ihrer verstorbenen Eltern lasten, werden sie von der Heimatweide vertrieben. Jesse fühlt sich für seinen jüngeren Bruder Ollie verantwortlich, und um ihm eine gute Ausbildung zu sichern, wird er zu einem Revolvermann, der seinen Colt vermietet. Dem Bruder kann er helfen – sich selber nicht …

Dies ist die Geschichte von Jesse McGillen. Er war zum Untergang verurteilt und musste eines Tages verlieren.

1

Im Morgengrauen kam ich mit meinem kleinen Bruder Ollie in den Mietstall, wo unser ältester Bruder Bill im Stroh lag.

Bill war von einer Ladung Indianerschrot fast in Stücke geschossen worden, und dass er noch so lange lebte, bis wir bei ihm sein konnten, war nur seiner unwahrscheinlichen Energie zuzuschreiben.

Er grinste etwas mühsam und sah mich dabei an.

»So ist das immer«, flüsterte er tonlos. »Eines Tages erwischt es jeden von uns. Einmal verlieren wir alle. Das musst du dir gut merken, Jesse, denn der Kleine hat jetzt nur noch dich. Ich weiß, dass du mit dem Colt noch schneller wurdest als ich, Jesse. Aber werde nie ein Revolvermann – nie! Denn einmal verlieren sie alle.«

Damit hatte er mir gesagt, was er noch sagen wollte.

Es musste ihm sehr am Herzen gelegen haben.

Aber danach war seine Energie verbraucht.

Er starb von einem Atemzug auf den anderen.

Sein Blick blieb bis zuletzt auf mich gerichtet.

Behutsam schloss ich ihm die Augen.

Ich hing sehr an Bill. Er hatte Ollie und mir den Vater ersetzt, so gut es ging. Er war unser Freund, Kamerad und großer Bruder gewesen. Obwohl er viele Jahre umhergezogen war, kam er sofort heim, als unsere Eltern an Typhus gestorben waren. Und er tat alles, um uns den festen Platz und das Heim zu erhalten.

Doch in der vergangenen Nacht hatte ihn seine rauchige Vergangenheit eingeholt.

Der Mann, der ihm mit der Schrotflinte auflauerte, wollte gewiss irgendeinen Freund oder Verwandten rächen. Oder er war nur ein Werkzeug und für diese »Arbeit« gekauft worden.

Er feuerte aus einer Box, als mein Bruder in den Mietstall trat und sich unter der Laterne befand, die im Vorraum hing.

Bill hatte ihn noch mit dem Colt erwischt.

Aber was hatte er davon?

Er konnte sein Leben nicht retten.

Einer von den Männern, die noch im Stall waren, sagte zu mir: »Der andere Tote war gewiss ein angeworbener Killer. Er hat fünf halbe Hundertdollarscheine in der Tasche und wollte sich heute die fünf anderen Hälften verdienen.«

Ich begriff alles.

Mit meinen neunzehn Jahren war ich ja alt genug.

Ich hatte den Arm um die Schultern meines kleinen Bruders gelegt.

Ollie war erst zwölf. Aber er weinte nicht. Zum letzten Mal hatte er geweint, als wir unsere Eltern beerdigten. Das war vor fast zwei Jahren. Jetzt weinte er nicht, doch er schluckte, als müsste er einen Kloß herunterwürgen. Ollie tat mir leid. Auch er hatte sehr an Bill gehangen.

Der Leichenbestatter sagte aus dem Hintergrund: »Jungens, wir sehen, dass ihr es wie Männer ertragt. Ihr McGillens seid schon eine besondere Sorte. Wir werden euren Bruder Bill heute um zwölf Uhr neben euren Eltern bestatten. Es ist euch doch recht?«

Ich nickte nur.

***

Als Ollie und ich später im Restaurant saßen und lustlos unser Frühstück herunterwürgten, kamen wir uns sehr einsam und verlassen vor. Ollie wollte nicht essen. Aber ich sagte immer wieder: »Stopf es runter! Sonst machst du in den nächsten Tagen schlapp. Willst du das riskieren? Ich will dir etwas sagen. Es hat sich jetzt alles verschoben. Bisher war Bill der Große, und er konnte sich auf mich voll verlassen. Jetzt muss ich mich auf dich so verlassen können wie er auf mich. Hast du das verstanden? Und wenn du nichts essen willst wie ein kranker Hammel, wirst du irgendwie schlappmachen. Also iss!«

Ich sprach absichtlich etwas hart mit ihm.

Ich wollte nicht weich sein, sonst würde er vielleicht doch zu weinen beginnen.

Er gab sich Mühe.

So saßen wir eine Weile am Ecktisch im Restaurant und konnten durchs Fenster sehen, wie die Stadt allmählich in Betrieb kam. Die paar Geschäfte wurden geöffnet. Die Handwerker begannen ihre Arbeit. Von der Schmiede her klangen Hammerschläge.

Der Gehilfe des Storehalters belud einen Wagen der großen Topfhenkel-Ranch.

Der Bankier kam von seinem schönen Wohnhaus herüber und verschwand in der Bank.

Ich wunderte mich, wie die kleine Stadt einfach zur Tagesordnung übergehen konnte, wo doch unser Bruder Bill totgeschossen worden war.

Aber dann begriff ich, dass Bill nur für Ollie und mich wichtig war und sonst für niemanden.

Wir waren kleine Leute mit einem Haufen Schulden. Gewiss, unsere Ranch würde eines Tages schuldenfrei und wertvoll sein. Wenn alles gut ging, waren wir in zehn Jahren gemachte Leute.

Mir schoss es plötzlich heiß durch den Körper.

Schulden!

Dieser Begriff war plötzlich groß und deutlich in mir. Er war wie ein Alarmsignal, wie ein Messerstich, wie ein Schrei.

Ich begriff, dass unsere Schulden für mich das große Problem waren, an dem ich gleich am Anfang scheitern konnte. Ich durfte mich da keinen Illusionen hingeben.

Die Stadt kannte keine Gnade. Niemand in diesem Land kannte Großzügigkeit, Schonung oder Hilfe. Die Zeiten waren zu hart. Wir alle hatten hier ein paar schreckliche Winter erlebt, die vielen Rindern das Leben kosteten. Und die Typhusepidemie vor fast zwei Jahren hatte in fast jede Familie Not gebracht.

In unserem Land war sich jeder selbst der Nächste.

Die Menschen wurden hier zu sehr geschlagen und geprüft, als dass sie eine Gemeinschaft werden konnten. Sie kannten sich nicht gut genug. Sie waren alle erst vor kurzer Zeit in dieses Land gekommen, um etwas für sich aufzubauen.

Und es hatte fast jeden die letzten Reserven gekostet. Ich stand plötzlich auf und sagte zu Ollie: »Ich gehe zur Bank hinüber, Ollie. Warte hier.«

In mir war kein gutes Gefühl, als ich durch den knöchelhohen Staub der Fahrbahn auf die andere Seite ging. Auf dem Plankengehsteig nahm ich meinen alten Hut ab und klopfte mir damit die Kleidung sauber.

Ich wusste, dass ich auf den Bankier einen guten Eindruck machen musste. Er musste mich für einen zuverlässigen Mann halten, sonst hatte ich verloren. Nun, ich war äußerlich fast schon ein Mann. Ich war neunzehn, maß einsneunzig und wog neunzig Kilo. Ich war dunkelhäutig und dunkelhaarig wie alle McGillens, die aus Schottland gekommen waren. Meine Eltern waren in Schottland geboren.

Aber ich war natürlich noch kein Mann, was Erfahrung und alle anderen Dinge betraf, die für einen Mann selbstverständlich sind.

Der Bankier empfing mich sofort.

Er betrachtete mich genau, denn er war ein Mann, der nicht zuletzt davon lebte, dass er Menschen richtig beurteilte. Schließlich erging es ihm wie einem Spieler. Der setzt sein Geld auf eine bestimmte Karte. Und ein Bankier muss sein Geld auf einen Menschen setzen.

Er hatte es auf unseren Bruder Bill gesetzt, als unsere Eltern damals starben. Bill war ihm für die hinterlassenen Schulden unseres Vaters sicher genug gewesen. Aber wie war es jetzt?

Ich sagte: »Sir, es bleibt doch nach dem Tod meines Bruders alles beim Alten, nicht wahr? Sie vertrauen mir doch, wie Sie meinem Bruder vertrauten? Die Jahre vergehen schnell. Mein kleiner Bruder wächst ebenfalls heran. Wir schaffen es mit der Ranch schon. In drei Jahren bringen wir die erste große Fleischherde zum Verkauf. Dann fangen wir an, die Kredite zurückzuzahlen, die Sie …«

Ich verstummte, denn er schüttelte den Kopf.

»Es tut mir leid«, sagte er.

Die vier Worte trafen mich wie ein Schlag in den Magen.

In seinen Augen las ich, dass er nicht nur den Tod meines Bruders meinte, sondern mich unterbrach, weil es sinnlos für mich war, weiter bei ihm zu betteln.

Er sagte: »Du bist einfach zu jung, Boy. Du kannst die Ranch nicht halten. Wenn du fünf Jahre älter wärst … Aber ich kann nichts riskieren. Noch habt ihr eine Herde auf der Weide. Aber die Viehdiebe dort in den Hügeln werden immer schlimmer. Sie fürchteten sich vor eurem großen Bruder, weil er ein gefährlicher Revolverkämpfer war. Vor dir, mein Junge, fürchten sie sich nicht. Eure Rinder wird man zuerst holen. Ich verliere dann das Geld. Es ist nicht mein Geld. Man vertraute es mir an, damit es arbeitet und Gewinn abwirft. Ich machte damals mit deinem Vater einen Vertrag und übertrug ihn später auf deinen Bruder, obwohl ich Zweifel hatte, ob ein ruheloser Revolvermann wie er überhaupt sesshaft werden könnte. Nun, er wurde es. Das war vielleicht sein Pech, denn er hatte Schatten auf der Fährte. Die Vergangenheit holte ihn ein. Einmal erwischt es sie alle … Jesse McGillen, ich gebe euch drei Tage Zeit. Entweder zahlt ihr die Schuld eures Bruders, dann behaltet ihr die Ranch oder ich übernehme sie. In diesem Fall würde ich euch noch ein paar hundert Dollar auszahlen, denn ich will euch nicht die Haut abziehen. Ich will nur den reellen Gegenwert für mein Geld. Du kannst aber auch versuchen, selbst die Ranch zu verkaufen. Wenn du einen guten Preis erzielst, kannst du mir die Schulden deines Bruders zurückzahlen und behältst vielleicht sogar noch einen Tausender übrig. In drei Tagen, Jesse McGillen!«

Den letzten Satz sagte er hart.

Und seine glasklaren Augen waren genauso hart wie seine Lippen.

Betteln hatte keinen Sinn.

Wahrscheinlich hatte er schon einen Interessenten für unsere Ranch, von dem er entweder Bargeld bekam, oder dem er zutraute, dass er die Ranch besser führen und schneller zum Gewinnabwurf bringen würde.

Ich hatte verloren.

Ein paar hundert Dollar würden uns bleiben. Dafür hatten wir jahrelang gearbeitet.

Verdammt, wie hart konnte doch das Leben sein, wie gnadenlos die Menschen. Und wie sehr musste man sich selber helfen.

Während ich zu meinem kleinen Bruder zurückging, begriff ich es richtig.

Wir würden kein Heim mehr haben, keinen festen Platz. Wir würden herumziehen und nach etwas suchen müssen. Aber wonach?

In diesem Land wollte ich nicht mehr bleiben.

Hier hatten wir McGillens zu viel Pech gehabt.

Ollie saß noch an seinem Platz. Er hatte seit meinem Weggang keinen Bissen mehr gegessen, sondern nur gewartet.

Nun sah er mich mit seinen graugrünen McGillen-Augen vertrauensvoll an. »Nicht wahr, der Bankier gibt uns eine Chance?«, fragte er. Ollie war nicht dumm. Er hatte schon begriffen, warum ich in die Bank gegangen war.

»Sicher.« Ich log ihn an, damit er nicht zu weinen anfing. Ich würde ihm morgen oder übermorgen sagen, dass wir fortgehen mussten.

Aber in diesem Moment hasste ich alle Menschen. Ich spürte die Bitterkeit der ganzen Welt in mir. Und ich schwor mir, dass ich in Zukunft nur noch an meinen kleinen Bruder Ollie und mich denken würde. Zur Hölle mit allen anderen!

2

Drei Tage später waren wir unterwegs. Wir hatten jeder ein Sattelpferd. Unsere Habe und der Proviant waren auf ein Maultier gepackt, das einen guten Packsattel trug.

Ich besaß den Colt meines großen Bruders Bill. Im Sattelschuh steckte das Gewehr unseres Vaters. In meiner Tasche aber befanden sich siebenhundert Dollar. Das war alles.

Ich hätte auf unserer Ranch als Cowboy bleiben können. Doch ich wollte nicht.

So ritten wir davon und blickten nicht einmal zurück.

Mein kleiner Bruder hatte alles ertragen, hatte nicht geklagt und nicht geweint. Aber sein Gesichtsausdruck war nicht mehr kindlich. Ich wusste, dass er diese Welt von nun an mit Misstrauen betrachten würde. Er war verschreckt wie ein Vogel, der mitten im Sommer in einen eisigen Schneesturm geriet.

Wir ritten nach Westen.

Nach zwei Tagen erreichten wir den Pecos und wandten uns nach Norden. Der Weg durch das Pecos Valley führte nach Santa Fé. Bis dorthin würden wir gewiss zehn Tage benötigen. Uns war es gleich. Von uns aus konnten es auch zwanzig oder dreißig Tage sein.

Wir ritten gemächlich und hielten manchmal an, um zu sehen, zu jagen und zu rasten.

Eigentlich waren wir ziellos. Die ganze Welt sollte uns den Buckel runterrutschen. Wir wollten keinen Menschen sehen. Wir wollten allein sein.

Ich hatte in den letzten Jahren oft mit einem Colt geübt, denn in mir steckte der Ehrgeiz, so schnell zu werden wie mein Bruder. Bill war ein stolzer Bursche gewesen, der keinem Mann aus dem Weg zu gehen brauchte. Er konnte sich mit jedem messen.

Jetzt übte ich täglich mit dem Colt meines Bruders.

Und weil ich diese Welt verachtete, wollte auch ich nirgendwo kleine Brötchen backen müssen. Ich wollte nie zur Seite treten und Platz machen müssen. Ich wollte mich mit Stolz und Kühnheit behaupten. Nur so konnte ich – so glaubte ich damals – dieser lausigen Welt meine ganze Verachtung zeigen.

Ein Bankier hatte mich nicht für groß und gut genug befunden, eine Ranch zu führen. Dadurch waren wir heimatlos geworden. Nun wollte ich es diesen Narren zeigen. Unseren Bruder Bill hatten sie respektiert oder gefürchtet. Auch mich sollten sie fürchten.

Ich übte also immer wieder; denn die Revolverschnelligkeit gab mir Macht. Und ich war – was schnelles Ziehen und sicheres Treffen anging – noch begabter als mein Bruder Bill. Meine Reflexe waren um eine Spur besser, und ich konnte noch sicherer nach Gefühl schießen. Das stellte sich immer mehr heraus. Der Lauf des Colts war wie mein verlängerter Zeigefinger, mit dem ich sozusagen auf das Ziel zeigte und sicher traf, wenn ich im selben Moment abdrückte.

Meine Reflexe waren so gut, dass ich eine Fliege aus der Luft mit Zeigefinger und Daumen greifen konnte, ohne sie zu zerdrücken. Das konnte vielleicht unter tausend Menschen einer.

Manchmal dachte ich an meines Bruders Worte. »Einmal verlieren wir alle«, hatte er sterbend gesagt.

Nun, zum Teufel, auch wenn Revolvermänner irgendwann einmal verlieren sollten, es musste ja nicht so bald sein. Und vielleicht konnte ich vorher Ollies Zukunft sichern.

Irgendwann, als wir in einer Nacht am erlöschenden Feuer lagen, sagte ich: »Pass gut auf, Ollie. Ich will dir etwas erklären.«

»Ja, Jesse«, sagte er ernst und rollte sich auf die Seite, um mich im schwachen Feuerschein besser sehen zu können.

»Wenn man ein kleiner Wicht ist«, sagte ich, »muss man sich herumstoßen lassen. Man kann die menschliche Gemeinschaft, die eigentlich gar keine Gemeinschaft ist, nicht verachten. Man ist zu sehr von ihr und ihrer Gnade abhängig. Als kleiner Wicht ist man abhängig. Begreifst du das?«

»Ja«, sagte er. »Deshalb übst du mit dem Colt. Deine Revolverschnelligkeit stellt dich über diese Wichte. Und auch ich …«

»Ich will dir sagen, was du wirst«, unterbrach ich ihn.

»Ja, Jesse«, murmelte er. »Du bist jetzt der einzige Mensch auf dieser Erde, von dem ich weiß, dass er für mich das Beste will. Sag es mir.«

Ich überlegte noch. Ich musste alles so erklären, dass es sein Verstand schnappte.

»Revolvermänner«, sagte ich, »erwischt es früher oder später. Einmal verlieren sie alle. Auch ich werde eines Tages verlieren, so wie unser Bruder Bill verlor. Aber es gibt eine andere Möglichkeit, die dich mächtig, unabhängig und stolz machen kann, und zwar fürs ganze Leben.«

»Was?«, fragte er scharf.

»Wissen«, sagte ich. »Du musst mehr wissen, mehr können als die anderen Menschen. Du musst ein Großer sein – meinetwegen ein Arzt; ein großer Baumeister; ein Wissenschaftler, der neue Lehren begründet; ein Ingenieur, der Maschinen erfindet, die ein neues Zeitalter anbrechen lassen. Verstehst du, Ollie? Solch ein Großer muss man sein. Auch die Allergrößten haben einmal klein angefangen – so wie du.«

»Wie ich?«, fragte er staunend.

»Ja«, sagte ich. »Eines Tages – noch in diesem Jahr werde ich dich auf eine gute Schule schicken. Ich las einmal in einer Zeitung, dass es Schulen gibt, aus der große Männer hervorgingen, weil sie dort die Grundlagen für ihr späteres Können und Wissen erwarben. In Boston ist solch eine Schule. Für mich ist es zu spät. Ich hätte auch kein Geld dafür, denn das Leben dort ist teuer. Aber du wirst hingehen. Dafür sorge ich. Dann wirst du schaffen, was keiner von uns erreichte. Und wenn du es geschafft hast, komme ich zu dir und ruhe mich aus. Hast du verstanden, Ollie? Ich schenke dir nichts! Ich sorge für dich und gebe dir die Chance, ein Großer zu werden, damit ich es später gut habe. Denn alte Revolvermänner sind schlechter dran als alte Preisboxer. Die werden nur verprügelt, aber Revolvermänner schießt man tot. Wenn ich nachlasse, Ollie, will ich bei dir unterkommen und einen schönen Lebensabend haben. So könnten wir uns ergänzen. Hast du das begriffen?«

»Ja«, sagte er. Und nach einer Weile fügte er hinzu: »Ich weiß aber nicht, ob ich ein großer Arzt, ein Baumeister oder ein Ingenieur werden will. Ob ich dazu überhaupt klug genug bin?«

»Das weiß ich aber«, sagte ich mit Überzeugung.

***

Zwei Tage später kamen wir nach Las Zozo.

Hier gab uns das Schicksal den entscheidenden Stoß. Ollie ging es nicht gut. Er hatte sich offenbar eine Magen- und Darminfektion geholt, wahrscheinlich an irgendeiner Wasserstelle.

Ich war vorsichtig, weil unsere Eltern an Typhus gestorben waren. Deshalb ritten wir in die kleine Stadt Las Zozo. Es war ein übles Nest, doch es gab hier wahrhaftig einen Doc, der ein Pulver in Wasser auflöste und es Ollie zu trinken gab. Er sagte, dass Ollie zwei Tage im Bett bleiben müsse und dann fieberfrei und nur etwas schlapp sein werde.

Ich mietete also für uns ein Hotelzimmer. Später – es war schon Nacht, und Ollie schlief ruhig – ging ich hinunter. Ich spazierte durch den Ort, sah die Lichter in den Häusern und hörte die Stimmen der Menschen.

Ich wollte in den Saloon gehen, um ein Bier zu trinken. Doch ich ließ es und schlenderte zum Mietstall, um dort noch einmal nach unseren Pferden zu sehen. Es war eine helle Mondnacht, und die Schatten waren tief und schwarz.

Unsere Pferde standen in einem Corral, weil diese Unterbringung fünfundzwanzig Cent billiger war als im Stall. Da das Wetter gut war, machte es unseren Tieren nichts aus.

Es war der letzte Corral. Gleich neben ihm war ein Wagencamp. Ein halbes Dutzend Frachtwagen standen hier. Es waren schwere Mervile-Waggons, zu denen jeweils ein halb so großer Anhänger gehörte. Solche Wagen wurden von mindestens acht Maultieren gezogen.

Zwischen den Wagen leuchtete Feuerschein.

Ich kümmerte mich nicht darum, sondern glitt in den Corral und beschäftigte mich mit unseren Pferden und dem Maultier.

Plötzlich hörte ich einen klatschenden Laut, der sich mehrmals wiederholte. Ich hörte auch das Stöhnen eines Mannes.

Plötzlich wusste ich, dass dort beim Feuer im Wagencamp jemand verprügelt wurde. Als ich ein Stück zur Seite trat, konnte ich zwischen zwei Wagen hindurch zum Feuer sehen.

Zwei Männer hielten einen dritten fest. Ein vierter Mann schlug ihn rechts und links.

Aber was ging mich das an!

Ich war kein Gesetzesmann. Ich war keinem Menschen Hilfe schuldig.

Und Nächstenliebe? Pah, ich glaubte nicht daran. Ich besaß auch nur den Stolz eines einsamen Wolfes nicht den Stolz eines Ritters, der von mir ein Eingreifen verlangt hätte.

Ich überlegte.

Dann näherte ich mich doch dem Wagencamp. Ich glitt aus dem Corral und benutzte einen der Wagen als Deckung.

Bald war ich nahe genug, um eine heisere Stimme sagen zu hören: »Also los, Abe Samrock! Jetzt frage ich dich zum letzten Mal. Wo hast du deinen Geldkasten versteckt? Wir wollen nicht alle Wagen auseinanderreißen, um das Versteck zu finden. Doch wir wissen, dass du in den vergangenen Wochen gute Geschäfte machtest. Du hast deine Frachten gut verkaufen können. Du musst ein paar Zehntausender bei dir haben. Also rede! Oder wir setzen dich mit deinem Hintern mitten ins Feuer.«

Nun wusste ich Bescheid.

Die Kerle dort hatten offenbar den Frachtzugbesitzer in der Klemme. Es musste ein Mann sein, der Frachten auf eigene Rechnung verkaufte.

Solch ein Mann belieferte die Stores vieler Orte und ließ sich meistens für die gelieferten Waren Bargeld geben. Es war gut möglich, dass er eine Menge Geld bei sich führte.

Die anderen waren Banditen und wollten es haben. Ich zögerte.

Eigentlich ging mich das nichts an. Wer hatte Ollie und mir geholfen, als man uns die Ranch wegnahm? Niemand hatte uns beigestanden. Wir waren allein gewesen und waren immer noch allein.

Auch der Mann dort, den die drei Banditen in der Klemme hatten, war allein.

Dennoch schob ich mich zwischen den Wagen hindurch.

Dann sah ich den leblosen Körper am Boden.

Der Frachtwagenboss war also nicht allein gewesen. Er hatte noch einen Mann bei sich gehabt, der nun auf dem Gesicht lag. Aus seinem Rücken ragte der Griff eines Wurfmessers.

Diese drei Hombres waren heimtückische Mörder. Auch unser Bruder Bill war heimtückisch aus dem Hinterhalt mit einer Schrotflinte ermordet worden. Und die Bank hatte uns dann die Ranch abgenommen. Irgendwie – so dachte ich – wiederholt sich doch alles im Leben.

Einer der drei Banditen entdeckte mich nun.

Er zischte eine Warnung.

Und der Mann, der den Frachtwagenboss bisher prügelte, wandte sich mir zu.

Es war ein Mexikaner. Unter seinem großen Hut blitzten die weißen Zahnreihen. Er war groß und geschmeidig und trug zwei Colts im Kreuzgurt. Ich traute ihm zu, dass er der Messerwerfer war.

»Ay, Amigo, was soll’s denn sein?«, fragte er glatt und mit trügerischer Sanftheit.

»Das ist der lange Junge, der mit seinem kranken Bruder heute Nachmittag in die Stadt kam«, sagte einer der beiden anderen, die immer noch den halb bewusstlosen Gefangenen zwischen sich hielten.

»Pack dich, Hombre, und pack dich schnell!«, zischte der Mexikaner.

Ich grinste und sah zu dem Mann hinüber, den sie in der Klemme hatten.

Es war ein grauköpfiger Mann, doch er war groß, sehnig, zäh und hart. Man sah ihm an, dass er ein alter Frachtwagenfahrer war, der es zu etwas gebracht hatte und der immer noch mit einem Achter- oder Zwölfergespann gut umgehen konnte.

Sie hatten ihn überrumpeln können und hatten ihn nun in der Klemme.

Er schaute mich an. In seinem Blick lag etwas Hoffnung. Er sah wohl zuerst nur, dass ich groß und stattlich war. Erst mit dem zweiten Blick erkannte er meine Jugend.

Da erlosch seine Hoffnung.

»Mister, was zahlen Sie mir, wenn ich die drei Schufte zur Hölle sausen lassen?«, fragte ich.

Ich wusste nicht, wie ich dazu kam, das zu sagen. Die Worte sprudelten einfach aus mir heraus. Ich war verrückt.

Doch dann fand ich meine Worte richtig.

Einmal musste ich schließlich mit meiner Revolverarbeit anfangen.

Irgendwann musste ich Geld verdienen, um meinen Bruder nach Boston auf die Schule schicken zu können. Und so viel Geld konnte ich nur mit dem Revolver verdienen. Mit Cowboy-Arbeit konnte man kaum dreißig Dollar im Monat bekommen. Ich aber brauchte zumindest dreihundert.

Meine kühle Frage blieb nicht ohne Wirkung auf die drei Banditen.

Sie staunten. Am Anfang dachten sie vielleicht, dass ich betrunken oder nicht richtig im Kopf wäre.