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Nach dem Mord an Dave Fisher glaubt der Mann im Dunkeln, leichtes Spiel zu haben. Doch Dave hat einen Bruder: Jesse Fisher, den Städtebändiger ...
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Seitenzahl: 160
Veröffentlichungsjahr: 2020
Cover
Impressum
Ein Fremder kommt nach Silver City
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Del Nido / Norma
eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 9-783-7325-9747-5
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Ein Fremder kommt nach Silver City
Es ist später Vormittag, als Jesse Brennan die Wasserscheide des Passes erreicht.
An der Felswand steht die Pferdewechselstation der Postlinie. Von hier aus sind es nur noch knapp zwanzig Meilen bis Silver City, das fast am Westende des Tales liegt. Zur Station gehören zwei Corrals und ein Schuppen. Eine Baumröhrenleitung bringt Wasser aus einer Felsspalte zu den Tränketrögen.
Jesse Brennan reitet hinüber, um seinen zähen Braunen saufen zu lassen. Er sitzt ab, trinkt einige Handvoll, wäscht sich das Gesicht ab und dreht sich dann eine Zigarette.
Groß, schlank und hager, so steht er neben Pferd und Wassertrog, und bei aller entspannter Lässigkeit wirkt er doch so, als könnte er in Sekundenbruchteilen reflexartig reagieren.
Vom Corral her kommen zwei Männer mit einem Sechsergespann. Man erwartet also eine Postkutsche.
Einer der Männer kommt zu Jesse Brennan an den Wassertrog. Es ist ein nicht sehr großer Mann mit abfallenden Schultern. Doch Jesse Brennan lässt sich nicht täuschen. Er kennt diese Sorte gut …
»Sie haben doch nichts dagegen, dass ich mein Pferd tränke?«, fragt Jesse Brennan sanft, und er hat längst erkannt, wie scharf er gemustert wird und wie der erste schnelle Blick dem Brandzeichen seines Pferdes galt.
Der Stationsagent schüttelt den Kopf. »Wasser gibt es umsonst«, sagt er langsam, und er betrachtet Jesse Brennan immer noch. »Wollen Sie nach Silver City?«
»Vielleicht«, murmelt Jesse Brennan.
»Es gibt nur zwei Zugänge in das Silver Valley, Fremder«, erwidert der Stationsmann leise. »Sie sind zugleich auch die Ausgänge. Wissen Sie das?«
»Ich hörte es.« Jesse Brennan nickt. »Nur zwei Wege führen ins Silver Valley hinein oder aus ihm hinaus. Und ich möchte vorerst einmal hinein. Etwas dagegen?«
Seine knappe Frage ist wie eine Herausforderung, und der so hart wirkende Stationsmann bekommt schmale Augen. Doch dann atmet er ruhig aus und sagt: »Was sollte ich dagegen haben? Im Silver Valley leben mehr als fünftausend Menschen, und die Stadt Silver City quillt auf wie ein böses Geschwür. Es kommt auf einen Mann mehr oder weniger gar nicht an.«
Er schnippt mit den Fingern. Dann tritt er von Brennan weg und sieht der Postkutsche entgegen, die auf demselben Weg heraufgefahren kommt, den Jesse Brennan geritten kam.
Alle Postkutschen fahren hier sechsspännig wegen der Berge und mit einem bewaffneten Begleitmann wegen der Straßenräuber.
Auf dem Bock dieser Kutsche ist nur der Fahrer. Doch hinter ihm auf dem Kutschdach, wo Koffer, Taschen und Bündel von einem Gitter vor dem Herunterfallen bewahrt werden und auch daran festgebunden sind, da liegt die bewegungslose Gestalt eines Mannes.
Als die Postkutsche dann hält, sagt der Fahrer bitter vom hohen Bock nieder: »Das war Jim Parker. Als die Banditen uns anhielten, um die Lohngelder für die Aurora-Mine zu bekommen, da wollte er sein Gewehr abfeuern. Die Banditen aber hatten einen Schützen im Hinterhalt, der schneller schoss als Parker. Und dabei hatte ich ihm vorher gesagt, dass es keinen Sinn hätte, gegen solch eine starke Bande sein Glück zu versuchen. Er wollte es nicht glauben. Er ist tot. Und die Lady in der Kutsche sagte dann – als die Banditen das Lohngeld holten – den Kerlen ihre Meinung. Doch ich glaube nicht, dass sie sich schämten oder nun mit ihrem Geschäft aufhören werden. Was mich betrifft, so habe ich genug. Dies ist schon der zweite Begleitmann, den man mir von der Kutsche geschossen hat. Ich mache das nicht mehr mit. Los, gib mir das neue Gespann! Ich will die Kutsche und den toten Jim Parker noch bis nach Silver City fahren.«
Er verstummt mit der Endgültigkeit und Bitterkeit eines Mannes, der ein für alle Mal genug hat.
Indes klettern einige Fahrgäste aus der Kutsche, um sich für die Zeit des Gespannwechsels etwas die Beine zu vertreten. Sie alle wirken noch sehr erschrocken und verstört. Ein Mädchen oder eine junge Frau ist dabei, recht erfreulich anzusehen, hübsch und apart, mit blauen Augen zu schwarzen Haaren und einigen Sommersprossen auf der kleinen, eigenwilligen Nase.
»Gibt es denn in diesem Land keinen Sheriff?« Mit dieser Frage wendet sie sich an den Stationsmann und wendet sich ab, um seinem Sohn zu helfen, das Gespann auszutauschen.
Indes trinken die Fahrgäste aus den hölzernen Schöpfkellen und diskutieren erregt über den Lohngeldraub und den Mord. Es sind Handelsreisende, ein Spieler, zwei Minenarbeiter – und die junge Dame.
Ja, es ist kein einfaches Mädchen. Denn ihre Kleidung hat jenen Schnitt, wie man ihn nur in den erstklassigen Modehäusern des Ostens bekommt. Ihre Haltung und ihre Bewegungen sind sehr harmonisch und beherrscht zugleich. Ihre Aussprache verrät die Neu-Engländerin und sorgfältige Schulbildung. Solche jungen Ladys reisen eigentlich nur mit Gesellschafterinnen, Gouvernanten oder ähnlichen Schutzpersonen.
Doch sie ist allein und sie beteiligt sich erregt an der Unterhaltung der Männer, ziert sich nicht und blickt nur manchmal scheu zum Kutschdach empor, wo der Tote und seine Stiefel zu sehen sind.
Jesse Brennan steht mit seinem Pferd rauchend auf der anderen Seite des Wassertroges, hört zu und wirkt sehr zurückhaltend. Manchmal sieht ihn einer der Fahrgäste an, will etwas sagen oder fragen, doch dann unterlässt er es. Denn Jesse Brennan hat zwei kühle rauchgraue Augen und ein hageres, ruhiges und verschlossenes Gesicht, unter dem so sehr viel verborgen sein kann wie in der dunklen Tiefe eines Sees, dessen Oberfläche nichts verrät – gar nichts.
Er wirkt wie ein Mann, der im Sattel lebt und ständig reitet. Doch man würde ihn nicht für einen Cowboy oder Rancher halten. Er mag etwa dreißig Jahre alt sein, mit einigen dunklen Linien im Gesicht und leicht gekräuselten Haaren von kastanienbrauner Farbe. Er mag etwa sechs Fuß groß sein und bei aller Hagerkeit hundertachtzig Pfund wiegen.
Der Revolver an der linken Seite wirkt auf den ersten Blick recht normal und gar nicht auffällig. Er trägt ihn nicht auf die herausfordernd wirkende Art wie so mancher Revolverschwinger in diesem Land. Und dennoch erkennt man, wenn man Kenner ist, dass sich die Waffe in einem besonderen Holster befindet, das ein Meister nach den Maßen des Mannes fertigte. Die dunkle, schmucklose und auf den ersten Blick so normal wirkende Waffe ist offensichtlich sehr gepflegt und der Kolben wirkt eine Idee größer. Wahrscheinlich wurde auch der Kolben genau für die Hand Jesse Brennans gefertigt.
Er lässt nun den Zigarettenrest zu Boden fallen und tritt ihn sorgfältig aus. Inzwischen wurde die Kutsche frisch bespannt. Die Fahrgäste steigen wieder ein.
Der Stationsmann und sein Sohn sehen der Kutsche wortlos nach, wie sie schon bald ihre gefährliche Abfahrt beginnt und die erste Kehre hinter sich bringt. Dann treten sie etwas zurück und blicken Jesse Brennan an.
»Nun, Fremder«, sagt der Stationsmann langsam. »Sie kamen kurz vor der Kutsche. Haben Sie etwas von den Banditen bemerkt? Sind Sie vielleicht der Mann, den das Hauptbüro der Postgesellschaft zu uns senden wollte?« Er fragt es scharf und fast gierig.
Aber Jesse Brennan beantwortet die Fragen nicht. Er reitet wortlos davon.
Der Stationsmann wendet sich zum Stationshaus. »He, Jube, komm heraus! Du musst nach Silver City reiten!«
Ein blonder hübscher Bursche von etwa achtzehn Jahren kommt heraus, und dieser Bursche trägt zwei Revolver im Kreuzgurt auf eine herausfordernd wirkende Art. Er bewegt sich eitel und stolz wie ein Pfau. Doch in seinem hübschen Gesicht wirken die Augen kalt und starr. Auch sind um seine Mundwinkel die Kerben zu erkennen, die auf einen gewissen Zynismus oder sogar kalte Rücksichtslosigkeit schließen lassen.
»Du brauchst mir nicht erst zu sagen, Vater, dass ich nach Silver City reiten soll«, sagt er eitel und aufsässig. »Wir werden schon herausbekommen, was für ein Pilger da ins Silver Valley geritten kam.«
Nach diesen Worten stolziert er zum Pferdecorral, um sich einen verrückt gefleckten Pinto einzufangen.
Sein Vater und sein Bruder blicken ihm nach.
Dann sagt Kirby Massay zu seinem Vater Boris Massay: »Dem ist seine Revolverfertigkeit in den Kopf gestiegen. Vater, du wirst ihn bald nicht mehr leiten können. Er wird dir ausbrechen, und dann wird er sich noch größer vorkommen und in seiner eitlen Dummheit einige Fehler begehen. Ich glaube, wir sollten ihm die Kanonen wegnehmen und ihn so schlimm verprügeln, dass er klein und hässlich wird und sich nie wieder einbildet, ein zweiter Wild Bill Hickok zu sein.«
»Lass nur, Kirby«, brummt Boris Massay. »Ich werde Jube immer leiten und lenken können. Und er ist mit seinen Revolvern noch schneller und besser, als er es selber weiß. Jube könnte es mit den größten Revolverkämpfern aufnehmen. Wir ergänzen uns sehr gut, wir drei Massays. Ich habe einen guten Kopf. Du bist riesenstark, Kirby. Und Jube braucht keinen Revolverkämpfer zu fürchten. Wir werden es noch sehr weit bringen. Ich habe lange genug gewartet, bis meine Söhne endlich groß genug sind.«
☆☆☆
Jesse Brennan kommt aus einem bestimmten Grund nach Silver City.
Einer von den bewaffneten Postkutschenbegleitern, die von den Banditen erschossen wurden, war sein jüngerer Bruder Dave. Und Brennans wirklicher Name lautet anders. Wird man ihn vielleicht erkennen?
Mit seinem Bündel geht Jesse Brennan die Mainstreet entlang, ganz wie ein neu angekommener Fremder, der eine Unterkunft sucht.
Er bleibt vor einigen Hotels stehen, doch sie sagen ihm offenbar nicht zu. Dann kommt er vor das größte Hotel der Stadt. Gleich daneben befindet sich die Postagentur. Vor dem Hotel ist auch die Haltestelle der Postkutschen. Auf einem an zwei Ketten befestigten Schild unter zwei leicht schaukelnden Laternen liest er: Veronica’s Hotel.
Jesse Brennan geht hinein. Hinter dem Anmeldepult steht ein riesiger Neger, dessen Haar jedoch schon weiß ist.
»Ist Zimmer sechs noch frei?« Dies fragt Jesse Brennan ruhig. Der Schwarze hat ein intelligentes Gesicht und zwei kluge, ruhige Augen. Er betrachtet Jesse Brennan prüfend. »Yes, Sir«, sagt er dann. »Dieses Zimmer können Sie haben. Ich werde Ihnen gleich genügend Wasser hinaufbringen.«
Es ist ein recht einfaches Zimmer, gewiss eines der preiswerteren Zimmer des Hauses, aber das Bett scheint gut zu sein. Das einzige Fenster führt zur Mainstreet hinaus. Man kann auf die Haltestelle der Postlinie blicken. Drüben auf der anderen Seite befindet sich ein großer Store. Daneben ist das Stadtbüro.
Jesse Brennan geht zur Tür, um sie zu schließen. Von der Treppe her kommen eine junge Frau und ein großer, schlanker Mann den Gang entlang. Brennan erkennt die junge Frau sofort wieder. Es ist jenes Mädchen aus der Postkutsche, das über die Ermordung des bewaffneten Postbegleiters so erregt war. Auch jetzt wirkt sie wieder sehr erregt, hat rote Flecken auf den Wangen und würdigt ihn keines Blickes. Ihr Begleiter jedoch betrachtet Brennan im Vorbeigehen scharf.
Ein Revolverheld und Kartenhai, erkennt Brennan und wendet sich ab. Er schließt die Tür hinter sich und hört, wie das Paar vor der Tür des Nebenzimmers anhält und aufschließt.
Jesse Brennan denkt: Da macht ein solches Mädel eine weite Reise, um solch einen Burschen zu besuchen. Du lieber Gott …
Er beginnt sich auszukleiden, den Oberkörper freizumachen. Es klopft an die Tür. Der Neger kommt mit zwei Eimern Wasser herein.
»Haben Sie noch irgendwelche Wünsche, Sir?« Er fragt es ernst.
Brennan deutet auf die Wand zum Nebenzimmer.
»Die Lady kam mit der Postkutsche«, sagt er. »Wie ist ihr Name?«
»Miss Anne Britten – so trug sie sich in unser Gästebuch ein, Sir.«
»Und wer war der Mann, der sie soeben bis vor ihr Zimmer begleitete?«
»Das war George Padden.«
»Was ist er?«
»Spieler, Sir. Er kam vor fünf Monaten hier an. Er hat während dieser Zeit mehr als ein Dutzend Revolverkämpfe gehabt und dabei drei Männer getötet, andere verwundet. Ihm gehört seit einiger Zeit der Silver Star Saloon. Er gewann ihn am Spieltisch. Es gab Machtkämpfe in dieser Stadt. George Padden führt nun die Partei der Saloonbesitzer, Spieler und all der Leute, die vom Amüsier- und Spielbetrieb leben. Er hat sie organisiert. Sie stellen auch den Town Marshal. Einen Sheriff haben wir nicht.«
»Danke«, sagt Brennan.
»Mein Name ist Josuah«, sagt der weißhaarige Negerriese und geht hinaus. Jesse betrachtet sich im Spiegel. Er ist staubig, unrasiert und spürt die Sattelmüdigkeit eines viele Tage dauernden Rittes.
Und er spürt Hunger, einen wütenden, nagenden Hunger.
Doch er beeilt sich nicht sehr damit, sich nach dem Ritt zu reinigen und aus seinem Bündel frisches Zeug hervorzuholen. Er blickt sich oft im Zimmer um.
Und er weiß, dass in diesem Zimmer sein Bruder Dave wohnte, der Postkutschenbegleiter war und nun schon drei Monate tot ist. Er versucht, sich Dave vorzustellen, doch es gelingt ihm nur schlecht. Er hat Dave nur als jungen Burschen in Erinnerung, denn sie sahen sich viele Jahre lang nicht.
Als er fertig ist, geht er ins Restaurant hinunter.
Ehe Jesse es sich versieht, hat er sein Abendessen vor sich stehen.
Indes er langsam und bedächtig isst, denkt er über Veronica Selander nach. Ihr Brief erreichte ihn in einer kleinen Stadt im Lincoln County. Sie teilte ihm den Tod seines Bruders mit, erklärte ihm, wie es dazu kam, und sie schrieb ihm auch, dass Bruder Dave sie hatten heiraten wollen und sie sich vollkommen einig gewesen seien.
Jesse fragt sich immer mehr, wie die Frau, in die sich sein Bruder Dave verliebt hatte und die er heiraten wollte, aussehen mag.
Da sieht er sie. Oh, es gibt eigentlich nicht den geringsten Zweifel in ihm, dass sie es ist.
Denn sie kommt durch die Tür herein, die zur Küche führt. Sie bleibt sofort stehen und blickt prüfend durch das Restaurant. Es ist nichts Auffälliges dabei. Jeder Wirt und jede Wirtin verhält sich so. Zuletzt betrachtet sie Jesse, doch nicht außergewöhnlich lange oder auffällig. Aber er erkennt trotzdem, dass sie schon weiß, wer er ist. Denn er hat wie im Brief verabredet gefragt: »Ist Zimmer sechs noch frei?«
Das war sein Erkennungszeichen. Der Negerportier sagte ihr Bescheid.
Sie wendet sich wiederum und verschwindet in der Küche.
Das war sie also!
Ihr Haar leuchtet wie Honig oder reifer Weizen. Sie hat braune Augen, ist mittelgroß, und ihre ganze Körperhaltung und die Art, wie sie den Kopf auf den geraden Schultern trägt und das Kinn hebt, ist so selbstbewusst, so natürlich stolz, wie man es von einer Königin erwartet. Und ihre Bewegung dann, mit der sie sich abwendete, um zu verschwinden, war harmonisch, leicht und geschmeidig.
Ja, dies alles sah und erkannte er an ihr und nahm es in sich auf. So wird er von nun an immer ihr Bild sehen.
Dann denkt er über seinen Bruder Dave nach, den er mehr als vier Jahre nicht sah.
Was muss aus Dave für ein Mann geworden sein?
Denn um die Liebe einer solchen Frau erringen zu können, wie Dave es doch offenbar vermocht hatte, muss man schon ein wirklicher Mann geworden sein, ein Kerl von Format.
War aus Dave ein solcher Bursche geworden?
Jesse hebt den Blick, als von der Straße her ein noch junger und fast weißblonder Bursche hereinkommt. Er trägt zwei Revolver auf eine herausfordernd wirkende Art.
Jesse weiß nicht, dass dies der dritte Massay ist, jener Jube Massay vom Pass, wo die letzte Pferdewechselstation der Postlinie steht.
Der Bursche streift ihn nur mit einem kurzen Blick, sieht dann in die Runde, als suchte er einen anderen Mann. Und dann geht er wieder.
Jesses Instinkt sagt ihm, dass dieser eitle Revolverschwinger nur hereingekommen ist, um ihn zu sehen und festzustellen, wie lange er noch brauchen würde, um die Abendmahlzeit zu beenden.
Jesse erhebt sich plötzlich. Er hat seine Abendmahlzeit erst zur Hälfte beendet. Doch er möchte sich von Anfang an gleich Respekt verschaffen. Und so verlässt er das Restaurant durch den Verbindungsgang zum Hotel.
Jesse trägt keine Sporen mehr. Völlig geräuschlos geht er die Treppe hinauf.
Als er seine Zimmertür erreicht und sich niederbeugt, um durch das Schlüsselloch spähen zu können, hört er drinnen ein schwaches Geräusch. Dann sieht er auch schon, dass drinnen die Lampe brennt. Für einen Moment kann er den jungen Revolverschwinger sehen.
Er lehnt sich neben der Tür an die Wand und wartet. Dabei beobachtet er den Türdrücker.
Doch dann bewegt sich der Türdrücker. Jesse weiß, dass sich die Tür nun einen Spalt öffnen wird.
Er greift blitzschnell zu, reißt die Tür auf und schlägt mit der Linken einen kurzen, trockenen Haken, der den Burschen dicht über der Gürtelschnalle erwischt und ihn zusammengeklappt ins Zimmer und bis unter den Tisch fallen lässt.
Jesse folgt ihm, reißt ihn an einem Fuß wieder hervor und nimmt die beiden Revolver. Er geht zum Fenster, öffnet es und wirft die Waffen auf die Straße.
Und erst langsam kommt der Bursche wieder zu sich.
»Das wirst du schwer bereuen«, keucht er. »Lass mich raus, wenn du mir noch einen einzigen Schlag gibst, dann …«
Jesse trifft ihn mit den flachen Händen links und rechts ins Gesicht und stößt ihn dann über einen Stuhl hinweg in die Zimmerecke.
»Du bekommst die Prügel deines Lebens, wenn du nicht Farbe bekennst«, sagt Jesse Brennan.
Doch da tut dieser Jube Massay, dessen Namen er noch nicht kennt, selbst für ihn etwas völlig Überraschendes und Unerwartetes. Er schiebt sich langsam und wie aus Furcht von der Ecke fort zum Fenster. Dort wendet er sich blitzschnell zur Seite und wirft sich über die Fensterbank nach draußen.
So schnell Jesse auch zum Fenster springt und nach ihm greift, er bekommt ihn nicht mehr zu fassen. Und als er sich aus dem Fenster beugt, sieht er ihn auch schon über das Verandadach rollen und zwischen einigen vor dem Hoteleingang angebundenen Sattelpferden im Straßenstaub landen.
Jesse hätte mit dem Revolver auf ihn schießen und ihn gewiss auch treffen können. Doch er unterlässt es, wendet sich vielmehr ins Zimmer zurück. Dort steht die Tür wieder offen.
Er erkennt seine Nachbarin, von der er weiß, dass sie Anne Britten heißt.
»Ich hörte so merkwürdige Geräusche«, sagt sie. »War das ein Dieb?«
Er nickt und deutet auf die Unordnung.
»Wir sind in einer wilden Stadt«, murmelt er. »Hier gibt es eine ganze Menge Abschaum. Ich danke Ihnen sehr, dass Sie sich um mich kümmerten. Und ich verspreche Ihnen, dass ich mich auch um Sie kümmern werde, sollte ich einmal merkwürdige und verdächtige Geräusche aus Ihrem Zimmer hören. Mein Name ist Brennan, Jesse Brennan.«
Er betrachtet sie mit einem bewundernden Blick. Sie trägt einen entzückenden Morgenrock über ihrem Nachthemd.
Sie versteht seinen bewundernden Blick und hebt stolz den Kopf.
»Ich bin Anne Britten«, sagt sie kühl und geht wieder. Er folgt ihr bis auf den Gang und erhascht noch einen Blick von ihr, den sie ihm über die Schulter zuwirft, als sie in ihr Zimmer geht.
Er kehrt ins Restaurant zurück. Sein Essen wartet noch, ist nicht einmal besonders kalt geworden, denn alles in allem war Jesse nur wenige Minuten fort.
Er beendet die Mahlzeit, man hat ihn offenbar nicht einmal vermisst. Danach steckt er sich eine Zigarre an, zahlt und geht hinaus auf die lärmende Straße.
Doch die Müdigkeit in ihm ist nun stark. Er kehrt ins Hotel zurück. Der Neger steht wieder hinter dem Anmeldepult und fragt: »Haben Sie noch irgendwelche Wünsche, Sir?«
»Nein, Josuah«, erwidert Jesse Brennan. »Wo warst du vor etwa zwei Stunden?«
Der Schwarze überlegt.