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Es ist kurz nach Mitternacht, als Ben Queny in San Paco vor den Rosa Blanca Saloon reitet, im Sattel verhält und zusieht, wie ein Mann immer wieder rückwärts durch die Schwingtür gestoßen wird und krachend auf der Veranda landet.
Sobald sich der Mann stöhnend ausruhen möchte, treten zwei andere zu ihm, bücken sich, fassen ihm unter die Arme und stellen ihn mit einem Ruck wieder auf die Füße. Ein dritter Mann kommt mit einer Flasche hinzu, lässt den noch betäubten Burschen einen Schluck Feuerwasser trinken und sagt dabei: »Jube, du wirst uns doch keine Schande machen? Wir sind deine Freunde und Brüder. Wir haben auf dich gewettet, und wir vertrauen dir. Geh wieder hinein, und versuch es noch mal! Es ist deine verdammte Pflicht, es so lange zu versuchen, bis es klappt. Hoiii!«
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Seitenzahl: 162
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Die Verwegenen
Vorschau
Impressum
Die Verwegenen
Es ist kurz nach Mitternacht, als Ben Queny in San Paco vor den Rosa Blanca Saloon reitet, im Sattel verhält und zusieht, wie ein Mann immer wieder rückwärts durch die Schwingtür gestoßen wird und krachend auf der Veranda landet.
Sobald sich der Mann stöhnend ausruhen möchte, treten zwei andere zu ihm, bücken sich, fassen ihm unter die Arme und stellen ihn mit einem Ruck wieder auf die Füße. Ein dritter Mann kommt mit einer Flasche hinzu, lässt den noch betäubten Burschen einen Schluck Feuerwasser trinken und sagt dabei: »Jube, du wirst uns doch keine Schande machen? Wir sind deine Freunde und Brüder. Wir haben auf dich gewettet, und wir vertrauen dir. Geh wieder hinein, und versuch es noch mal! Es ist deine verdammte Pflicht, es so lange zu versuchen, bis es klappt. Hoiii!«
In das Hoiii stimmen die beiden anderen Männer ein, die Jube festhalten.
Inzwischen konnte sich Jube etwas erholen. Wahrscheinlich würde so ein Schluck Feuerwasser, wie er ihn immer wieder bekommt, auch einen Toten zum Leben erwecken und einem Lebenden die Hosenträger platzen und die Brillengläser springen lassen.
Die Männer stoßen Jube durch die Schwingtür. Die beiden Türflügel prellen auf, und im Saloon wird ein wartender Mann sichtbar. Er ist kaum mehr als mittelgroß, aber sehr breit und muskulös.
Er empfängt Jube, der ihn wie ein Büffelbulle angreift, mit einem einzigen Schlag. Es ist wohl immer der gleiche Schlag.
Jube stellt sich auf die Zehenspitzen, rudert mit den Armen und hält sich so eine Sekunde.
Dann bekommt er den Aufwärtshaken, und auch der ist unverändert.
Jube schwankt wieder hinaus – rückwärts.
Das gleiche Schauspiel beginnt: Er fällt, die beiden Männer heben ihn auf, der Dritte tritt mit der Flasche zu ihm, lässt ihn einen Schluck trinken und hält ihm eine Rede, die ihn aufmuntern soll.
Diesmal sagt er: »Warum hältst du ihm denn immer wieder das Kinn hin, Jube? Glaubst du, dass er sich an deinem Kinn die Faust brechen kann und du dann endlich deine Chance bekommst? Was machst du, wenn seine Faust haltbarer ist als dein Kinn?«
Jubes Antwort ist nicht zu verstehen. Aber seine Kopfbewegung lässt darauf schließen, dass er genug hat und es nicht seine Absicht ist, sein Kinn immer wieder hinzuhalten, bis dem Gegner ein Mittelhandknochen bricht.
Die drei Burschen lassen ihn jedoch nicht zu Wort kommen.
Bevor sie ihn diesmal durch die Schwingtür in den Saloon schleudern, wird die Schwingtür aufgestoßen. Der bullige Mann tritt heraus.
»Ihr hört jetzt auf mit dem Unsinn«, sagt er grollend. »Jube kann es nicht schaffen. Bisher habe ich nicht kräftig zugeschlagen, aber jetzt bin ich es leid. Ich glaube, ich sollte nicht den dämlichen Jube, sondern euch Affen verprügeln. Gegen euch ist Jube ein reinblütiger Gentleman. Habt ihr das verstanden? Wollt ihr euch nun endlich schleichen, ihr traurigen Pilger?«
Sie zögern und halten Jube fest. Jube sagt mit schwerfälliger Zunge: »Ja, Hanky, gib es ihnen. Gib es ihnen, Hanky! Ich bin ein Gentleman, du bist ein Gentleman, aber sie sind Schufte. Hanky, ich werde dir helfen, sie zu verprügeln.«
Bei den letzten Worten löst er sich von seinen Kumpanen. Sie geben ihn wohl auch frei, weil sie endlich einsehen, dass es keinen Sinn mehr hat. Einer von ihnen heult böse: »Das hat man nun davon, wenn man einem Freund hilft, eine großmäulige Wette zu gewinnen! Kommt, Amigos! Jube ist für uns gestorben, dieser großmäulige Angeber. Gehen wir.«
Ein paar Zuschauer lachen.
Auch Ben Queny grinst. Er sieht zu, wie die drei Burschen mit Jube fortgehen, wobei sie ihm heftige Vorwürfe machen und ihm sagen, dass er von jedem Pferd getreten werden könne, wenn er keine andere Idee im Kopf hätte, als immer wieder das Kinn hinzuhalten.
Schimpfend entfernen sie sich.
Die Zuschauer zerstreuen sich. Einige folgen Hanky in den Saloon. Ben Queny lenkt sein Pferd an die Haltestange, sitzt ab und bindet das Tier etwas umständlich an.
Er ist ein großer, dunkler, hagerer und etwas indianerhaft aussehender Mann. Unter seiner Hutkrempe blitzen hellgraue Augen. Er trägt seinen Revolver links.
Während des Anbindens blickt er in die Runde und sieht sich die Brandzeichen der anderen Pferde an.
Danach geht er in den Saloon.
Hank Marrow sitzt neben dem langen Tresen an einem runden Tisch, der halb unter der nach oben führenden Treppe verborgen ist. Er trinkt ein Glas Bier in einem Zug leer.
Als er es absetzt, tritt Ben Queny zu ihm an den Tisch und nickt ihm zu.
»Hallo, Hanky!«, sagt er.
Hank Marrow betrachtet ihn schräg von unten herauf.
»Hallo, Ben!«, erwidert er. »Warst du es, der dort draußen auf dem Pferd hockte? Du kamst mir selbst in der Dunkelheit und nach all den Jahren bekannt vor.«
Ben Queny setzt sich langsam.
»Du führst schon ein prächtiges Leben, Hank«, murmelt er. »Das muss man wohl sagen. Du bist Rauswerfer in einem noblen Saloon und schlägst dich mit den vielen Bumsköpfen herum. Das ist das noble Leben, das du immer haben wolltest.«
»Du kannst mich mal«, erwidert Hank Marrow. »Wir waren nie besondere Freunde, nicht wahr, Hombre? Wir haben uns stets nur respektiert. Aber wenn du hergekommen bist, um mich anzustänkern, dann ...«
Er spricht nicht aus, was dann sein wird. Sein Blick fällt auf die Frau, die die Treppe herunterkommt, herumschwenkt und nun vor dem Tisch verhält.
Es ist eine etwas füllige, doch äußerst reizvolle Frau, bei deren Anblick es in jedem Mann zu klingeln beginnt und jeder denkt: Hoiii, welch ein Weib! Rasse! Klasse! Was für eine Frau!
Bis auf das hellblonde Haar, das sie von ihrem englischen Vater hat, ist sie dunkel wie ihre mexikanische Mutter. Solch eine Kombination sah Ben Queny bisher noch nie.
Er hört Hank Marrow sagen: »Das ist Queny, Rosa. Ein alter Sattelgefährte aus dem Krieg und danach. Queny, dies ist Rosa Blanca ...«
»Ich bin Rosalia Longfellow«, unterbricht sie ihn.
Sie betrachtet Ben Queny von oben bis unten.
»Er ist ein Revolvermann und Langreiter«, sagt sie nach ihrer Prüfung zu Hank Marrow. »Ich glaube, dass du mal mit ihm geritten bist. Spendiere ihm einen Drink. Dann kannst du den Saloon schließen. Wegen der paar Gäste heute halten wir nicht länger auf. Ich warte oben auf dich.«
Sie streift Ben Queny mit einem feindlichen Blick und entschwindet um den Treppenpfosten herum den Blicken der beiden Männer.
»Das ist das Schlimme mit diesen Frauen«, sagt Queny. »Manche sind schön, aber gehen einem schnell auf die Nerven, weil sie bei aller Schönheit so dumm sind wie Kühe. Dann gibt es manche, die wirken begehrenswert, aber sie haben Haare auf den Zähnen. Diese Sorte frisst dich mit Haut und Haaren und bestimmt am Ende noch ...«
»Hör auf, Queny«, sagt Hank Marrow. »Rosalia ist schon in Ordnung. Ihr gehört nicht nur dieser Saloon. Die halbe Stadt San Paco gehört ihr. Rosalia liebt mich. Was will ich noch mehr? Wenn ich wollte, könnte ich sie schon morgen heiraten.«
»Warum hast du es nicht schon längst getan, Hanky? Bist du dir nicht gut genug für sie? Oder weißt du genau, dass sie dich dann mitsamt deinen Stiefeln fressen wird? Wie viele Drinks gestattet sie dir denn so im Laufe von vierundzwanzig Stunden? Und der wievielte Mann bist du denn, den sie in ihrem Laden hier verschleißt?«
»Geh zur Hölle!«, sagt Hank Marrow. »Ich passe schon auf mich auf. Das habe ich schon immer gekonnt. Gewiss, es waren ein paar Hombres vor mir. Aber ich kannte vor ihr ja auch einige Mädchen. Queny, was willst du?«
Ben Queny zögert etwas und betrachtet Hank Marrow noch einmal forschend.
Dann sagt er ruhig: »Mohawson, Will Mohawson. Ich habe ihn mitsamt der großen Kriegsbeute gefunden. Es ist noch mehr da als vorher, denn er hat seine Beute vermehrt. Sie hat ihm Zinsen eingebracht. Auf jeden von uns kämen jetzt an die zweihunderttausend Dollar. Vielleicht sogar eine Viertelmillion. Auf jeden von uns!«
Nun hat er es gesagt.
Er beobachtet Hank Marrow aufmerksam.
Zuerst ist an Hank Marrow nicht viel zu erkennen. Hank sitzt bewegungslos da und scheint nicht einmal nachzudenken. Aber dieser Eindruck ist falsch. Unter dem starr und ausdruckslos gewordenen Preiskämpfergesicht dieses menschlichen Bullen jagen sich viele Gedanken.
Hanks Gesicht rötet sich plötzlich und läuft dunkel an.
»Du hast dieses Schwein aufgespürt?«, fragt er gepresst. »Weshalb hast du ihn nicht sofort umgelegt? Wir vier haben es uns doch damals geschworen, dass ihn jeder von uns erledigen würde, sobald er ihn irgendwo fände.«
Ben Queny grinst.
»Er läuft uns nicht weg«, sagt er. »Außerdem wagte ich mich nicht so dicht an ihn heran, dass er mich erkennen konnte. Für einen Coltschuss war die Entfernung zu weit. Aber er läuft uns nicht weg, denn er wurde ein König. Er schuf sich ein Königreich. Er nennt sich auch nicht mehr Mohawson, sondern nur noch Hawson. Wenn außer dir auch noch Jed Lonesome und Jim Halloway mitmachen, bekommen wir ihn klein. Machst du mit? Oder willst du hier noch länger den Bullen spielen, der nach der Flöte einer reichen Schönen tanzt? Hast du gehört, du sollst den Saloon schließen. Und dann wartet sie oben auf dich, Hombre. Na, was ist? Kommst du mit deinem Taschengeld aus, oder möchtest du eine Viertelmillion haben? Aber du musst dafür deinen Skalp riskieren, das sage ich dir gleich. Willst du mit mir reiten, um Jed Lonesome und Jim Halloway zu holen? Wollen wir wieder eine Mannschaft bilden?«
Hank Marrow zögert. Er blickt nach oben, und es ist, als könnte er sich ganz genau vorstellen, was dort auf ihn wartet.
»Ja«, murmelt er, »sie hat mich ganz schön an der Leine. Aber eines Tages wird mich ein Revolverheld umlegen wie meine Vorgänger. Ich bin nicht schnell genug mit dem Colt. Ich bin nur stark. Mit einer Viertelmillion könnte ich ...«
Er spricht nicht aus, was er dann alles zu können glaubt.
Aber man sieht seinen Augen und seinem Gesicht an, dass es eine Menge sein muss.
Er nickt plötzlich.
Dann erhebt er sich und geht hinter den Schanktisch. Er knurrt dem Barmann einige Wort zu, leert die Kasse und schreibt auf einen Zettel: Ich nehme das, weil du mir nie Lohn gezahlt hast. Rosalia, wir sind quitt. Ich gehe fort. Such dir einen anderen. Hank.
Er murmelt die Worte leise vor sich hin, während er flüssig schreibt. Dann legt er den Zettel in die Kasse und kommt hinter dem Schanktisch hervor.
»Gehen wir«, sagt er zu Ben Queny. »Ich habe im Mietstall, der auch Rosalia gehört, ein brauchbares Pferd. Wir müssen einen Vorsprung bekommen, denn sie bringt es fertig und schickt ein paar Revolverschwinger hinter mir her.«
Wenige Minuten später reiten sie aus San Paco.
✰✰✰
Eine Woche später sehen sie im Schatten eines halb offenen Schuppens zu, wie Rebel Jed Lonesome mit seinen beiden indianischen Gehilfen ein Rudel Mustangs in den Corral der Tucson Station der Wells Fargo treibt.
Auch Jed Lonesome ist älter geworden, doch er ist kaum älter als dreißig. Er wirkt hagerer, härter, zäher und schneller, als sie ihn in Erinnerung hatten.
Rebel Jed Lonesome ist rothaarig, blauäugig und trägt zwei Revolver. Es liegt nicht nur an seinem roten Haar, dass etwas Rebellisches und Herausforderndes von ihm ausgeht. Er war schon immer ein Bursche, der sich Salz statt Zucker in den Kaffee tat.
Er verhandelt lange mit dem Wells-Fargo-Agenten, und es sieht so aus, als wäre er zornig und wollte den Agenten einfach stehen lassen und seinen beiden indianischen Mustangjägern den Befehl geben, die Tiere wieder aus dem Corral zu treiben.
Doch im letzten Moment beherrscht er sich. Wenig später folgt er dem Agenten in dessen Büro.
Ben Queny und Hank Marrow warten noch immer im Schatten des Schuppens. Als sie sich einmal kurz ansehen, grinsen sie.
Rebel Jed kommt bald heraus. Seine indianischen Helfer warten am Brunnen. Die beiden Männer im Schatten des Schuppens können hören, wie er sagt: »Siebenundfünfzig Tiere zu zehn Dollar das Stück. Unsere von mir verauslagten Unkosten rechne ich mit siebzig Dollar an. Es war ausgemacht, dass ihr die Hälfte des Reingewinns bekommt. Hier sind eure zweihundertfünfzig Dollar. Der Wells-Fargo-Agent gibt euch freie Unterkunft und zahlt euch dreißig Dollar im Monat, wenn ihr seinem Mann dabei helft, die Tiere gespannreif zu machen.«
Die beiden Navajos starren ihn an. Sie sind wie Weiße gekleidet, nur vielleicht eine Kleinigkeit bunter und farbenfroher.
Einer sagt: »Boss, wollen Sie nicht mehr mit uns auf Mustangjagd gehen? Waren Sie mit unserer Hilfe nicht zufrieden?«
Rebel Jed lächelt schmal.
»Ihr seid in Ordnung«, sagt er. »Mit euch ritte ich wieder los – jederzeit. Aber ich will keine Wildpferde mehr jagen. Man bekommt immer weniger dafür. Die großen Ranches bringen zu viele Pferde auf den Markt. Der durch den Krieg verursachte Fehlbestand ist ausgeglichen. Schon bald wird ein Überangebot herrschen. Es lohnt sich nicht mehr, Wildpferde zu fangen. Jedenfalls nicht für mich. Ich wünsche euch viel Glück. Ihr seid in Ordnung.«
Er nickt ihnen zu und bindet sein Pferd los.
Mit einer ruhigen Bewegung nimmt er es an den Zügelenden und zieht es hinter sich her, bis er den Schuppen erreicht hat und vor Ben Queny und Hank Marrow anhält.
Sie betrachten sich eine Weile schweigend.
Dann sagt Rebel Jed: »Ich kann nicht sagen, dass mir dieses Wiedersehen gefällt. Denn ihr erinnert mich wieder daran, dass wir einmal hirnlose Dummköpfe waren, die wie Schafe einem Leithammel folgten, der kein Hammel, sondern ein Wolf war. Genau wie ich seid auch ihr eure Wolle losgeworden. Was wollt ihr? Habt ihr nach mir gesucht?«
Ben und Hank nicken.
»Wir sind gekommen, um dir einen Viertelmillion-Dollar-Anteil anzubieten. Du brauchst dafür nichts anderes zu tun, als mit uns den Skalp zu riskieren. Die Chancen stehen etwa halb zu halb. Ist dir das zu gefährlich?«, sagt Ben Queny und dehnt die letzte Frage.
Rebel Jed grinst.
»Das müsst ihr mir genauer erklären, nicht wahr?«
»Sicher«, sagt Ben Queny, und Hank Marrow nickt eifrig. »Du wirst begeistert sein, alter Pferdedieb. Und wenn wir dann auch noch Jim Halloway finden könnten, wären wir komplett und wieder alle beisammen so wie damals, als ...«
»Jim Halloway wollen sie aufhängen«, unterbricht ihn Rebel Jed trocken. »Falls sie das inzwischen noch nicht besorgt haben, geschieht es in diesen Tagen. Es könnte auch sein, dass sie ihn an die Wand stellen und erschießen. Aber Gringos, die den Revolutionären Waffen über die Grenze schmuggeln, hängen sie zumeist. Jim Halloway müssen wir wohl abschreiben. Dieser Narr hat doch tatsächlich geglaubt, er könnte seine Chips auf einen Banditen setzen, der sich selbst zum General ernannt hat und glaubt, den Mexikanern eine bessere Zeit bringen zu können. Jim Halloway müssen wir abschreiben.«
Sie blicken ihn an.
»Wir brauchen Jim aber«, murmelt Hank.
»Er gehört einfach mit dazu«, gibt Ben zu bedenken.
»Weil es gegen Will Mohawson geht«, erklärt Hank.
»Und Jim gewissermaßen auch ein Mohawson-Geschädigter ist, der eine faire Chance verdient, um mit ihm abrechnen zu können«, erklärt Ben noch gründlicher.
Rebel Jed starrt sie eine Weile an. Er liest eine Menge in ihren funkelnden Augen eine solche Menge, dass auch seine Augen zu funkeln beginnen.
»Na schön«, sagt er plötzlich, »reiten wir nach Nogales. Vielleicht haben sie drüben auf der mexikanischen Seite unseren schönen Jim noch nicht umgebracht. Doch wenn wir richtig was für ihn tun wollen, müssen wir uns beeilen. Ich hörte vor einigen Tagen zufällig von einem Reiter, der aus Nogales kam und an unserem Feuer mit uns aus einem Topf aß, die Geschichte vom schönen Jim Halloway. Reiner Zufall.«
»Oder Fügung«, sagt Hank Marrow ernst. »Denn nun sind wir unterwegs, um ihm zu helfen. Du warst wohl allein zu feige, was, Reddy?«
»He, Bulle!«, sagt Rebel Jed Lonesome kehlig. »Sag mir mal, was ich dem lieben Jimmy schuldig bin. Dass wir mal während des Krieges als Guerillas zusammen ritten und uns von unserem Anführer Will Mohawson reinlegen ließen, zählt doch wohl nicht als Blutsbrüderschaft – oder?«
»Nein«, sagt Hank. »Aber jetzt reiten wir, nicht wahr?«
Noch einmal zögert Rebel Jed Lonesome. Er starrt ins Leere, als könnte er auf diese Weise in die Zukunft sehen.
»Eine Chance fünfzig zu fünfzig ist eine gute Chance«, murmelt er dann. »Also reiten wir!«
✰✰✰
Es ist schon fast Mitternacht, aber hier im mexikanischen Teil von Nogales ist noch eine Menge Betrieb. Auch eine große Anzahl von Gringos sind wieder über die Grenze gekommen.
In Mexiko ist ein amerikanischer Dollar so groß wie ein Wagenrad. Hier ist alles billiger, von den rassigen Putas angefangen bis zum silberbeschlagenen Sattel.
Jim Halloway steht am Gitterfenster seiner Zelle und denkt jetzt besonders intensiv an Frauen – an weiße, braune, gelbe und rote Frauen. Er hat viele gekannt, und alle liebten ihn. Er hatte immer viel Glück beim anderen Geschlecht. Er traf noch nie eine, die ihn nicht mochte.
Aber jetzt bleibt ihm nur noch bis zum Sonnenaufgang die Erinnerung an all diese Schönen – und an das Glück, das sie ihm schenkten. Am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang wollen sie ihn erschießen.
Er spürt eine zunehmende Leere. Es ist schon mehr eine Trostlosigkeit. Denn in wenigen Stunden wird er tot sein.
Er will durch das kleine Fenster hinaus in den Hof spucken.
Doch da kommt ein kleines Ding angeflogen und trifft ihn zwischen die Augen auf die Nasenwurzel.
Er flucht erschrocken und schmerzvoll.
Aber er begreift schnell, was da angeflogen kam. Er bückt sich und findet das kleine Ding im Halbdunkel seiner Zelle zwischen seinen Füßen am Boden.
Es ist ein daumennagelgroßer Kiesel, um den ein Stück Papier gewickelt wurde. Dieses Geschoss wurde wahrscheinlich von einer Steinschleuder geschossen, wie sie oft von Buben benutzt wird.
Jim Halloway kann trotz des Halbdunkels gut die wenigen Worte auf dem Zettel lesen: Verlange einen Padre!
Über diese drei Worte denkt Jim Halloway eine Weile nach.
Obwohl er kein Heide ist, ging er nie in eine Kirche. Er war stets der Meinung, dass er keinen Priester brauchte.
Doch jetzt schickt ihm jemand eine Botschaft.
Hat er dort draußen Freunde?
Er steckt den Zettel in die Tasche und tritt an die Gitterstäbe.
»He, Sargento«, sagt er. »Ich will einen Padre. Lass mir einen Padre holen. Ich habe das Recht auf einen Padre. Ich will meine Sünden beichten. Wenn du mir keinen Padre holst und ich sterben muss wie ein Heide, so werde ich aus dem Jenseits auf dich spucken. Hast du verstanden, Sargento? Willst du mich ohne Beichte sterben lassen?«
Der Sargento der Rurales erhebt sich hinter dem Tisch und kommt aus der Ecke des Zellenraumes bis vor die Gittertür.
»So seid ihr Gringos alle«, sagt er bitter. »Zuerst seid ihr stolz und glaubt, ohne Gott auskommen zu können. Aber wenn ihr am Ende seid, möchtet ihr euch bei einem Padre ausweinen. Und er soll euch die Gerechtigkeit des Herrn versprechen. Aber ich bin ein Christ. Ich habe Mitleid mit dir. Ich sende einen meiner Leute zur Mission hinüber und lasse einen Padre für dich kommen. So bin ich nun mal – selbst zu einem verdammten Gringo.«
Er wendet sich ab und verlässt den Zellenraum.
Jim Halloway wartet und denkt immerzu daran, wer ihm wohl den Zettel mit der Nachricht zwischen die Augen geschossen haben könnte.
Aber er kommt nicht darauf.
In Jim Halloway sind plötzlich eine Menge Fragen.
Er braucht nicht lange zu warten. Der Weg zur Mission ist nicht weit. Und der ausgesandte Mann hatte offenbar sehr schnell einen Padre von dort mitbekommen.
Der Padre betritt den Zellenraum. Er ist ein großer, dunkler und indianerhafter Mann mit grauen Augen.
Die Tür schließt sich hinter ihm. Der Mann, der ihn brachte, kehrt in den Aufenthaltsraum zurück. Nur der Sargento, der den zum Tode verurteilten Häftling bewacht, hält sich im Zellenraum auf.