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Es ist ein guter Platz, den sich Jeremy Smead für seine Pferderanch ausgesucht hat, hoch über dem mächtigen Tal, in dem nun schon mehr als tausend Männer nach Gold suchen.
Als er damals mit der Pferdezucht anfing, gab es noch keine Goldsucher - nur einige Rinder-Ranches, die im Schatten von King Marshalls mächtiger Warbow Ranch lebten.
Aber auch dann, als Gold gefunden wurde und die hungrigen Goldsucher ins Land strömten, blieb King Marshall der Boss in weiter Runde.
Doch mit all diesen Dingen hatte Jeremy Smead nie etwas zu tun. Sein kleines Reich ist hoch oben über den Niederungen. Und er ist ein Mann, der nach langen Jahren ruhelosen Reitens zur Ruhe kommen wollte. Irgendwann kommt jeder Mann mal zu der Erkenntnis, dass er genug geritten ist und an einem festen Platz bleiben und Wurzeln schlagen muss ...
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Seitenzahl: 156
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Todesweg
Vorschau
Impressum
Todesweg
Es ist ein guter Platz, den sich Jeremy Smead für seine Pferderanch ausgesucht hat, hoch über dem mächtigen Tal, in dem nun schon mehr als tausend Männer nach Gold suchen.
Als er damals mit der Pferdezucht anfing, gab es noch keine Goldsucher – nur einige Rinder-Ranches, die im Schatten von King Marshalls mächtiger Warbow Ranch lebten.
Aber auch dann, als Gold gefunden wurde und die hungrigen Goldsucher ins Land strömten, blieb King Marshall der Boss in weiter Runde.
Doch mit all diesen Dingen hatte Jeremy Smead nie etwas zu tun. Sein kleines Reich ist hoch oben über den Niederungen. Und er ist ein Mann, der nach langen Jahren ruhelosen Reitens zur Ruhe kommen wollte. Irgendwann kommt jeder Mann mal zu der Erkenntnis, dass er genug geritten ist und an einem festen Platz bleiben und Wurzeln schlagen muss ...
Die Sonne sinkt im Westen, und die Schatten jenseits des Tales, dort zwischen den Canyons, Bergfalten und Schluchten, werden tiefer.
Jeremy Smead steht am Rand der obersten Terrasse und blickt in die Tiefe. Es sind mächtige Bergterrassen, die von seiner Weide zum Tal hinabführen, Riesenstufen mit grünen Wiesen und Waldstücken.
Er kann das wilde Camp, das aus der kleinen Stadt Sioux Hole entstand, gut erkennen. Dort unten, wo einst nur ein halbes Dutzend Holzhäuser standen, gibt es jetzt viele Saloons, Hotels und Amüsierlokale. Es sind auch viele andere Holzhäuser und -hütten entstanden. Dazu gibt es noch viele, viele Zelte und andere primitive Behausungen.
Ja, aus Sioux Hole wurde ein wildes Goldgräbercamp, mit all den tausend Sünden, Lastern und Leidenschaften eines solchen – aber auch mit tausend verschiedenen Schicksalen, wie es nun einmal so ist, wenn viele Menschen eng beisammen leben und nichts anderes im Kopf haben als den Wunsch, sehr schnell reich zu werden.
Es gibt keine Gemeinschaft dort unten.
Dort ist ein wildes Camp.
Jeremy Smead nimmt die Pfeife aus dem Mund und spuckt in die Tiefe.
Er ist ein großer Mann. Bis auf die Schultern ist an ihm alles hager und sehnig. Er hat unwahrscheinlich schmale Hüften und lange Beine, die leicht gekrümmt sind. Aber seine Schultern sind muskulös. Die Muskeln drohen das enge, verwaschene Hemd zu sprengen.
Und er trägt einen Colt tief an der Hüfte. Selbst hier oben in der Einsamkeit trägt er seinen alten Colt. Die Zeit ist vorbei, da er jeden Tag mehr als drei Stunden mit der Waffe übte. Er trägt den Revolver vielleicht nur noch aus alter Gewohnheit und weil er sich ohne sie irgendwie nackt fühlen würde.
Jeremy Smead hat ein ruhiges Gesicht. Es sind einige dunkle Linien darin, die von einem harten Leben erzählen. Ja, dieses ruhige Gesicht drückt Härte aus – eine ruhige und selbstbewusste Härte, an der jedoch nichts Böses ist.
Dieses ruhige Gesicht ist nicht hübsch, denn es ist etwas unregelmäßig. Es gibt einige Narben darin, und das Nasenbein wurde einmal geknickt.
Aber wenn man Jeremy Smead so betrachtet, sieht man einen Mann – einen richtigen Mann, auf den man achten muss. Dieses Gefühl bekommt man sofort.
Gestern hat er seinen dreißigsten Geburtstag gefeiert, und doch ist sein braunes Haar an den Schläfen schon leicht angegraut. Er hat graugrüne Augen, die weit auseinanderstehen und sehr ruhig und beharrlich blicken – und immer prüfend und aufmerksam.
Das also ist Jeremy Smead.
Als er tief unter sich den Reiter entdeckt, der sich den alten Büffelpfad heraufarbeitet, da weiß er noch nicht, dass das Schicksal ihn nochmals in einen Wirbel von Ereignissen und Gewalttaten stoßen wird.
Noch bevor die Sonne untergeht, kann er den Reiter erkennen.
Es ist Jacob Smead, sein Onkel.
Jeremy Smead stopft sich seine Pfeife und wendet sich um. Er schlendert vom Rand der Terrasse zu seiner Ranch zurück. Manchmal hält er inne und betrachtet im letzten Tageslicht seine Pferde in den Corrals.
Reb Fowley, sein Helfer, kommt herbeigeschlurft und brummt: »Ysabell, die rote Stute, wird wohl in dieser Nacht ihr erstes Fohlen bekommen. Ich bin heute Mittag auf dem Plateau gewesen und habe nach den Grullastuten gesehen. Das Gras ist gut, und sie alle haben Fassbäuche. Aber ich fand auch einige Spuren von Reitern. Sie sind von Süden her durch den Long Canyon heraufgekommen und haben sich hier gründlich umgesehen.«
Nach diesen Worten schweigt der kleine Reb Fowley. Ja, er ist ziemlich klein und sehr krummbeinig. Aber er ist auch so zäh wie ein Sumpfkater und so scharfäugig und schnell wie ein Falke.
Jeremy Smead nickt bitter.
»Wir haben ja immer damit gerechnet«, murmelt er, »dass sich einige Gentlemen für unsere Pferde interessieren werden, nicht wahr, Reb? Das wilde Rudel in dem Goldcamp Sioux Hole dort unten hat sich gesammelt und formiert. Diese Entwicklung ändert sich nie. Wo Gold gefunden wird, sammeln sich die schlimmen Burschen ...«
Er verstummt für eine Weile und schaut in die Richtung, in der das Goldgräbercamp liegt. Dann nickt er versonnen.
»Zuerst einmal versucht es jeder für sich auf eigene Faust. Aber eines Tages ist ein großer Wolf da und bringt die ganze wilde Horde unter seine Kontrolle. Und dann geht es erst richtig los. Das war überall so. Warum sollte es hier anders sein? Nachtreiter, Banditen und Straßenräuber brauchten gute Pferde. Und sie finden sie hier bei uns. Es gibt auf fünfhundert Meilen in der Runde keine andere Pferderanch. Nun gut, Reb. Bleib du heute bei der Stute und hilf ihr. Ich reite zum Plateau hinüber ...«
»Das kann ziemlich rau werden, Jerry«, murmelt Reb Fowley sanft. Aber die Sanftheit seiner Stimme täuscht. Seine hellen Augen funkeln nämlich kampflustig. Er ist so kampflustig, wie es ein Sohn irischer Eltern nur sein kann.
Er nimmt seinen Hut ab und fährt sich mit den Fingern durch sein feuerrotes Haar.
»Du bleibst bei der Stute«, sagt Jeremy nachdrücklich und wendet sich dem dreiräumigen Blockhaus zu. »Wir müssen heute ein gutes Abendbrot machen, Reb. Denn wir bekommen Besuch.«
»He, doch nicht etwa Kate? Dann verschwinde ich höllisch schnell. Und du kannst ihr sagen, dass mir ein Grizzly den Kopf abgerissen hätte.«
Reb Fowley sieht mit einem Mal sehr besorgt und unglücklich aus. Er will sich zum Corral wenden, wo sein Sattel noch über einer Stange liegt.
»Mein Onkel Jacob kommt«, brummt Jeremy. »Aber warum willst du vor Kate Wells ausreißen, Freund? Hast du ihr etwas angetan?«
Reb seufzt und nickt dann.
»Gestern war doch Samstag, der 13. Mai 1873, nicht wahr?«, ächzt er.
Jeremy Smead überlegt eine Weile und zählt dann an den Fingern ab.
»Richtig«, sagt er dann, »gestern hatte ich Geburtstag.«
Reb Fowley seufzt wieder.
»Siehst du, Jerry, daran hatte ich vor zwei Wochen nicht gedacht, als ich Kate versprach, dass wir uns am 13. Mai verloben würden. Mir fiel erst später ein, dass du an diesem Tag Geburtstag hast. Ich musste dir doch einen Apfelkuchen backen und dir Gesellschaft leisten, nicht wahr? Man kann doch einen Freund am Geburtstag nicht allein in der Einsamkeit lassen. Und deshalb bin ich nicht ins Tal geritten, um mit Kate Verlobung zu feiern.«
Die beiden Freunde haben nun das Blockhaus erreicht.
Jeremy Smead setzt sich auf die Bank an der Hauswand.
»O mein Junge«, keucht er, »oh, das wird schlimm für dich. Kate und ihre Familie werden alle Verwandten und Nachbarn zum Verlobungsfest eingeladen haben. Und sie werden alle auf den Bräutigam gewartet haben. Es wäre gut für dich, wenn du dir eine bessere Ausrede als meinen Geburtstag ausdenken würdest. Kates drei Brüder werden deine Haut zum Trocknen aufhängen. Du hast Kate schwer beleidigt. Sie wird ihren Brüdern sagen, dass sie ihr deinen Skalp bringen sollen.«
Auch Reb Fowley setzt sich und seufzt bitter, so, als wäre er krank.
»Sie hatten mich überrumpelt«, knurrt er dann. »Der alte Sam Wells hatte mich vorher mit seinem selbst gebrannten Schnaps vergiftet. Und als mich Kate dann hinaus zu meinem Pferd brachte – nun, ich dachte in jener Nacht, dass es wirklich eine gute Idee wäre, mit Kate Verlobung zu feiern. Aber als ich dann hier oben war und mir Gedanken machte, was ein Ehemann alles tun muss, da gefiel mir diese Idee bald gar nicht mehr so gut. Ich dachte daran, dass ich mich jeden Tag rasieren müsste, keinen Whisky mehr trinken dürfte, nicht spucken oder fluchen dürfte und sicherlich jede Woche ein Bad nehmen müsste. Jerry, ich wurde mir plötzlich darüber klar, dass ich meine Freiheit verlieren würde und mir jeden Abend die Füße waschen müsste. Ich hatte Angst, Freund, höllische Angst.«
Er verstummt bekümmert und fragt nach einer Pause schnell und hoffnungsvoll: »Du wirst es doch bezeugen, Jerry, dass ich schwer erkrankt war?«
»Nein«, grinst er, erhebt sich und geht ins Haus hinein. Er hört Reb bitter fluchen, zündet die Lampe an und beginnt, ein Abendbrot zu bereiten.
Als er damit fertig ist, erklingen draußen Hufschläge.
Und dann sagt Reb Fowleys Stimme grimmig von irgendwoher: »Sheriff, wenn Sie heraufgekommen sind, um mich zu verhaften und zu Kate Wells zu bringen, dann kehren Sie lieber gleich wieder um.«
Jeremy tritt aus der Tür, und er hört seinen Onkel grimmig lachen und dann bitter sagen: »Reb, Reb Fowley, du bist ein verdammtes Eichhörnchen. Die Wells hatten siebenundfünfzig Gäste eingeladen, und Kate hatte sich so hübsch gemacht wie noch nie. Ihre Brüder und einige andere Jungs werden dich in Stücke reißen, in der Sonne trocknen lassen und zu Pulver zerreiben. Du hast einem guten Mädel ein Versprechen gegeben und das Mädel dann sitzen lassen. Wenn ich nicht andere Sorgen hätte, würde ich dir was auf den Hut geben, dich zu einem Paket zusammenschnüren und mit ins Tal hinunter nehmen.«
Nach diesen Worten sitzt Jacob Smead ab, lässt sein Pferd am Tränktrog stehen und kommt zu Jeremy.
»Guten Abend, mein Junge«, sagte er trocken. »Es war ein beschwerlicher Ritt für einen alten Mann. Du hast es mächtig gut. Du lebst hier in reiner Luft hoch über all den Sünden und allem Verdruss. Das Tal dort unten wird immer mehr zu einer Hölle. Du hast das große Los gezogen, mein Junge.«
»Gib deinen Stern ab und komm für immer zu uns«, erwidert Jeremy langsam. »Wir könnten einen dritten Mann gut gebrauchen.«
Aber der alte Sheriff knurrt nur unwillig.
»So kann man das nicht machen«, sagt er bitter. »Man kann nicht einfach alles abschütteln. So geht das nicht. Auch du wirst das mal erkennen, Jeremy.«
Der gibt ihm auf diese Worte keine Antwort, sondern sagt ruhig: »Du kamst zum Abendbrot zurecht, Onkel Jacob.«
Er lässt ihn vor sich eintreten.
Dann sieht er sich nach Reb Fowley um und zuckt unwillkürlich zusammen, als Reb in die herausfallende Lichtbahn gehumpelt kommt.
Reb hat sich tatsächlich jenen Krückstock aus dem Schuppen herausgeholt, den er vor einem guten Jahr einmal nötig hatte, weil ein Wildpferd ihn so schlimm abwarf, dass er sich ein Bein brach. Diesen Krückstock benutzt Reb also wieder.
Er hat sich seinen Stiefel ausgezogen und den Fuß dick mit Leinenstreifen umwickelt. Er muss das alles im Schuppen bereitgehalten haben für den Fall, dass einmal Besucher aus dem Tal heraufkommen würden.
Jeremy lacht leise, als Reb Fowley knurrend an ihm vorbeihumpelt.
Jacob Smead sitzt schon am Tisch, als sie eintreten. Er ist ein hagerer, lederhäutiger und eisgrauer Mann mit einem Spitzbart und kühlen Augen.
Die Smeads waren immer Männer des Gesetzes gewesen.
Auch Jeremys Vater trug einen Stern – bis man ihn eines Tages in einer wilden Stadt begraben musste. Er hatte die Fährte eines berüchtigten Banditen und Revolverhelden bis zu einer wilden Stadt verfolgt. Er hatte dort den Verbrecher auf offener Straße gestellt. Doch der Revolverheld war dann mit dem Colt schneller gewesen.
Jeremy Smead muss jetzt an diese Sache denken, als er seinen Onkel betrachtet.
Auch Jacob Smead ist alt geworden. Eines Tages könnte es auch Jacob so ergehen wie Jeremys Vater. Ja, auch Jacob Smead könnte eines Tages nicht mehr schnell genug sein für einen berüchtigten Burschen.
Jeremy verspürt Bitterkeit, und er wendet sich dem Herd zu, um das Abendbrot auf den Tisch zu bringen.
Jacob Smead beobachtet indes Reb Fowley, der mit seiner Krücke mühsam zu einem Stuhl hinkt und sich schnaufend hinsetzt.
»Das ist es, Sheriff«, sagt Reb dann bitter und trübe. »Ein Gaul hat mir den Fuß fast zu Brei getreten. Wenn Sie wieder ins Tal hinunterkommen, dann bestellen sie den Wells' und Miss Kate einen schönen Gruß von mir und sagen ihnen, dass ich ein armer Junge bin, der ...«
»Schon gut, Reb, schon gut«, Smead grinst grimmig. »Ich werde deine Lüge weitergeben, weil Kates Brüder sie vielleicht doch glauben und ich sie verhaften müsste, wenn sie dir die Haut abziehen. Ich werde ihnen erzählen, dass ein Bergwolf dir das halbe Bein abgerissen hätte.«
»Nein, es war ein Pferd – und es trat mir auf die Zehen und machte Knochensalat daraus«, grollt Reb Fowley.
»Jemand wird dich für diese Lüge schon noch bestrafen«, grollt der Sheriff und betrachtet dann das Abendbrot, das Jeremy auf den Tisch bringt.
Ohne weitere Worte beginnen sie zu essen. Es gibt Rehrücken, Bohnen und Kartoffeln und zum Nachtisch Kaffee und Apfelkuchen von gestern.
Als die Männer dann fertig sind und rauchen, da lässt Jacob Smead die Katze aus dem Sack und sagt trocken: »Ich brauche deine Hilfe, Jeremy. Ich bin heraufgekommen, um deine Hilfe zu erbitten. Und du weißt, dass ich in meinem Leben nicht sehr oft jemanden um Hilfe gebeten habe.«
Jeremy lehnt sich weit zurück.
»Brauchst du Hilfe als Sheriff oder als mein Onkel – als Smead?«
»Als Sheriff«, erwidert Jacob Smead fest.
Und da schüttelt Jeremy entschieden und abweisend den Kopf.
»Leg den Stern ab, Jacob, und bleib bei uns hier oben. Kümmere dich nicht um diese Narren dort unten. Was hast du davon? Du kommst zu mir und bittest um Hilfe – also bist du allein. Also hilft dir niemand. Sie verlangen von dir, dass du das Gesetz vertrittst und die Ordnung aufrecht erhältst. Du sollst sie beschützen – diese Feiglinge. Aber wenn es rau wird, stehst du allein. Meinem Vater, der dein Bruder war, ging es genauso. Kevin Streeter und dessen Bande hatten die Bank in Crazy Horse überfallen. Mein Vater ritt mit einem Aufgebot los. Nach drei Tagen waren all die tapferen Burschen sattelmüde und hatten genug. Sie kehrten um. Mein Vater ritt allein weiter. In Laramie stellte er Kevin Streeter – und wurde getötet. Er wurde getötet, weil er allein war. Und er war ein alter Mann, der sein ganzes Leben lang das Gesetz vertrat. Sein ganzes Leben lang beschützte er die menschliche Gemeinschaft. Er sorgte dafür, dass die Schafböcke und Mäuseriche ruhig schlafen konnten, dass man sie nicht bestahl, betrog und sie sich im Schutz des Gesetzes sicher fühlen konnten. Solange er im vollen Besitz all seiner Fähigkeiten war, ging das gut. Aber als er ein alter Mann war, konnte ihn ein Bandit fast mühelos töten, weil die feige Gesellschaft, für die er den Stern trug, ihm keine Hilfe gab. Jacob, ich verachte das ganze Gallatin Valley bis hinauf zur Last Chance Gulch. Ich verachte sie alle und werde niemals auch nur einen Finger für diese Narren krümmen. Als mein Vater tot war, besaß er auf seinem Bankkonto zweihundertsiebzig Dollar. Er war immer sparsam und genügsam. Er hatte nie getrunken oder gespielt. Er trug nur immer den Stern und trat für Gesetz und Recht ein. Deshalb blieb er ein armer Teufel. Sieh dir King Marshall an, Jacob. Der hat nie für Recht und Ordnung gekämpft, sondern immer nur für sich gesorgt. Und deshalb gehört ihm jetzt halb Montana. Er wird auch niemals ohne Hilfe sein. Denn er besitzt Macht, Reichtum und Geld. Er wird nie in die Situation geraten, eines Tages als alter Mann einem gefährlichen Mörder gegenüberstehen zu müssen. Mein Vater war ein guter Mann – und dennoch war er ein Narr. Auch du bist ein Narr, Jacob. Auch du bist alt geworden. Und vielleicht ergeht es dir eines Tages genauso wie deinem Bruder.«
Nach diese langen Rede schweigt Jeremy Smead bitter.
»Richtig«, knurrt Reb Fowley. »Das ist es! Sorge für dich selbst und achte darauf, dass niemand dich betrügt. Habe keinen Glauben an die Welt und sei kein Narr, der sich für andere die Haut abziehen lässt. Das ist es!«
Jacob Smead betrachtet die beiden jungen Männer lange.
»Ich kann dich schon verstehen, Jerry«, murmelt er. »Aber die Sache liegt jetzt etwas anders. Kevin Streeter ist im Lande. Junge, der Mörder deines Vaters ist wieder in Montana. Ich weiß es.«
Er starrt Jeremy scharf an.
Aber der schüttelt abermals den Kopf.
»Wenn du annimmst, Jacob, dass ich jetzt auf den Kriegspfad gehe, dann irrst du dich. Selbst wenn ich Kevin Streeter finden und töten könnte, so würde mein Vater davon nicht wieder lebendig. Ich habe hier eine kleine Ranch. In einigen Jahren wird meine Pferdezucht bis über die Grenzen des Landes berühmt sein. Ich habe hier nach langen Jahren ruhelosen Reitens Ruhe gefunden. Und was habe ich von meiner Jugend gehabt? Meine Mutter starb bei meiner Geburt. Ich war zehn Jahre alt, als ich meinen Vater zum ersten Mal bewusst sah. Ich sagte ›Sir‹ zu ihm. Ich war immer bei fremden Leuten – bis ich eines Tages ausriss. In meinem ganzen Leben habe ich meinen Vater nur ein halbes Dutzend Mal gesehen. Er sorgte immer dafür, dass ich tausend Meilen weit fort war. Er hatte viele Feinde und musste befürchten, dass die sich bei seinem Kind an ihm rächen würden. Er war ein Banditenjäger. Das war sein ganzer Lebensinhalt. Und du bist genauso. Aber zum Glück machtest du nie ein Mädchen zu deiner Frau und setztest ein Kind in die Welt. Muss ich dir noch mehr sagen, Onkel Jacob?«
Der erwidert eine Weile nichts und starrt nur ins Leere.
»So wenig bedeutet dir dein Vater?«, murmelt er.
»Er hatte seinen Weg gewählt, Jacob. Früher oder später musste er auf diese Art das Ende seines Weges erreichen. Aber ich gehe deshalb nicht auf den Kriegspfad. Ich werde nicht nach diesem Kevin Streeter suchen. Ich lebe mein eigenes Leben.«
»Dann wird Kevin Streeter dich suchen, mein Junge.«
»Das ist unwahrscheinlich, Jacob.«
»Nein, Jeremy! Gewiss, du hast dich hier in die Einsamkeit verkrochen. Und du meinst, die Menschen hätten dich vergessen. Aber dein Name hat immer noch einen besonderen Klang. Es gibt genug Legenden über dich, mein Junge. Du hast als Treibherdenführer und Armeescout zu viele Taten vollbracht. Und du warst viel zu schnell mit dem Colt, als dass man dich vergessen könnte. Ich erinnere mich nur an eines der Lieder. Soll ich es dir in Erinnerung rufen? Vor Jahren sangen es einige wilde Texasjungs im Saloon zu Laramie.
Fünftausend Rinder und fünftausend Meilen!
Das war Jeremy Smeads großes Treiben!
Oh, tausend Berge und hundert Ströme!
Mit Jeremy Smead ritten Texassöhne!
In Kansas, da sperrten Stampeders den Weg!
Und in Nebraska, da ...«
»Genug, genug, Jacob«, unterbricht ihn Jeremy scharf. »Die rauchige Zeit ist vorbei. Ich treibe keine texanischen Longhorn-Herden mehr nach Norden. Ich bin hier geblieben und habe mir eine Pferderanch aufgebaut. Und ich will Frieden haben.«