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Bill Timrock ist ein guter Sheriff. Seit rund zwanzig Jahren trägt er den Stern, und er trug ihn während seiner Laufbahn in rauen, wilden und höllischen Städten. Er hat all diese Burgen zur Ruhe gebracht.
Und er lebt immer noch!
Diese Tatsache allein beweist, wie gut er in seiner besten Zeit war. Auch jetzt ist er noch gut, wenn auch bedächtiger und überlegter.
Er rückt seinen Gürtel zurecht und geht aus dem Haus.
Auf der Veranda bleibt er stehen und fischt einen Zigarrenstummel aus seiner Westentasche, steckt ihn sich zwischen die Lippen und zündet ihn an.
Dann erst tritt er bis zum Stützbalken des überhängenden Daches, lehnt sich dagegen und späht die Mainstreet entlang.
Last Sun ist noch nicht richtig aufgewacht, aber vor dem Gentlemen Saloon stehen einige Sattelpferde. Und weiter unten, vor dem Red Spring Saloon, sind noch mehr Pferde an der Haltestange angebunden.
Bis zur Mittagszeit ist dieses Nest voller Menschen, so voll wie zum Fest des Unabhängigkeitstages, denkt er bitter ...
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Seitenzahl: 163
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Einsam im Sattel
Vorschau
Impressum
Einsam im Sattel
Bill Timrock ist ein guter Sheriff. Seit rund zwanzig Jahren trägt er den Stern, und er trug ihn während seiner Laufbahn in rauen, wilden und höllischen Städten. Er hat all diese Burgen zur Ruhe gebracht.
Und er lebt immer noch!
Diese Tatsache allein beweist, wie gut er in seiner besten Zeit war. Auch jetzt ist er noch gut, wenn auch bedächtiger und überlegter.
Er rückt seinen Gürtel zurecht und geht aus dem Haus.
Auf der Veranda bleibt er stehen und fischt einen Zigarrenstummel aus seiner Westentasche, steckt ihn sich zwischen die Lippen und zündet ihn an.
Dann erst tritt er bis zum Stützbalken des überhängenden Daches, lehnt sich dagegen und späht die Mainstreet entlang.
Last Sun ist noch nicht richtig aufgewacht, aber vor dem Gentlemen Saloon stehen einige Sattelpferde. Und weiter unten, vor dem Red Spring Saloon, sind noch mehr Pferde an der Haltestange angebunden.
Bis zur Mittagszeit ist dieses Nest voller Menschen, so voll wie zum Fest des Unabhängigkeitstages, denkt er bitter ...
Zwei schwere Frachtwagen kommen von der Prärie herein und biegen in den Hof der Frachtfuhrgesellschaft ein. Vom anderen Ende kommt die Morgenpost sechsspännig hereingesaust und hält mit quietschenden Bremsen vor dem Generalstore. Ein paar Leute sammeln sich um die Kutsche.
Bill Timrocks Falkenaugen werden etwas schmaler, als er einen Mann aus der Kutsche steigen sieht. Dann wendet er den Kopf und schaut durch die schmale Hauslücke zum nahen Hügel hinauf. Dort oben liegt das Zuchthaus. Früher war es ein kleines Fort gegen die Indianer – jetzt ist es eine kleine Hölle für Mörder und all jene Schufte, die sich schwer gegen das Gesetz vergangen haben und nun ihre Sünden abbüßen.
Das graue Bauwerk auf dem platten Hügel ist in Luftlinie keine vierhundert Yards vom Sheriff entfernt.
Zur Hölle, denkt er, es könnte tausend Meilen von dieser Stadt entfernt sein. Aber dieser Ort verdankt dem einstigen Fort sein Leben. Ohne das Fort hätten sie damals nicht Last Sun gründen können. Doch als sie das Fort nicht mehr brauchten, da hätten sie es in die Luft sprengen sollen, anstatt dieses verdammte Zuchthaus einzurichten.
Nach diesen bitteren Gedanken wischt er sich müde über den Schnurrbart und setzt sich in Bewegung.
Er erreicht die Schwingtür des Gentlemen Saloons und verhält, um einen raschen Blick auf die Brandzeichen der Sattelpferde zu werfen. Dann tritt er ein.
An den Tischen sitzen ein Dutzend Männer in kleineren Gruppen. In der Ecke findet eine Pokerpartie zu fünft statt. Und die fünfzig Fuß lange Mahagoniholztheke ist leer, bis auf einen einzigen Mann, der einsam davor steht und sich soeben Sodawasser in den Whisky mischt.
Der Barmann hantiert in der Ecke herum und verschwindet in der Küche, nachdem er für den Sheriff eine Flasche und ein Glas hingestellt hat.
Alle Gäste sind scheinbar an anderen Dingen interessiert, nur nicht an ihm und dem anderen Mann am Schanktisch, und doch weiß der Sheriff, dass sie ihn und Jesse Flynn heimlich beobachten. Auch der Barmann wird hinter der angelehnten Küchentür stehen und lauschen.
»Ich habe dich fünf Jahre nicht gesehen, Jesse. Du bist ein Mann geworden.«
Jesse Flynns rauchgraue Augen werden mit einem Mal dunkler und schmaler. Sie richten sich fest auf den Sheriff.
»Ich bin mit der Postkutsche gekommen, Timrock. Ich werde vor dem Zuchthaustor auf Timber warten und – so hoffe ich – mit der Mittagspost meinen Bruder aus der Stadt bringen.«
Bill Timrock nickt nachdenklich. Er hebt seine Hand und legt sie langsam auf die Kante des Schanktisches.
»Dein Bruder Timber wird tot sein, ehe er zehn Schritte aus dem Tor gegangen ist. Du willst es verhindern, Jesse – und du hast dir zu diesem Zweck den alten Colt deines Vaters mitgebracht. Nun, Jesse, dein Bruder wird aus dem Zuchthaus kommen – und in jeder Hand eine Waffe haben. Leider verbieten es die Gesetze nicht, einem entlassenen Zuchthäusler sein bei seiner Festnahme vorhandenes Eigentum wiederzugeben. Und ich kann Roger und Sloan Cannegan auch nicht verbieten, vor dem Gefängnistor zu warten. Ich kann erst eingreifen, wenn sie wirklich zu schießen beginnen. Und wenn du, Jesse, dann auf sie losgehen wirst, so ...«
»Wo sind die Cannegans?«, unterbricht Jesse Flynn ruhig, aber in seiner vollen Stimme schwingt ein harter Ton.
Der Sheriff zuckt etwas müde mit den schmalen Schultern.
»Sie sind in der Stadt – irgendwo. Du weißt, Jesse, dass die Cannegans hier eine Menge Freunde haben – und die Flynns nur Feinde. Diese Stadt und dieses County haben deinem Vater viele Jahre hohen Tribut gezahlt – ihm und der Flynn-Bande. Und dein Bruder Timber wollte in die Fußstapfen deines Vaters treten. Es war ein Glück für das Land, dass ihn mein Vorgänger auf frischer Tat ertappt hatte.«
»Sheriff, Timber war nie ein Bandit! Man hat ihn reingelegt!«
Jesse Flynn tritt mit einem Schritt dicht an den Sheriff heran.
»Die Cannegans und ein paar ihrer Freunde haben vor der Jury gegen Timber geschworen. Die ganze Jury bestand aus Leuten, die alles, was Flynn heißt, mehr als die Hölle hassten – nur, weil unser Vater ein Bandit war. Ich will versuchen, meinen Bruder daran zu hindern, dass er Amok läuft, wenn er aus dem Zuchthaustor kommt und die Cannegans davor warten sieht. Aber ...«
Der Sheriff trinkt sein Glas aus. »Jesse, es wäre gut für deinen Bruder, wenn du ihn schon vorher sprechen könntest. Bring ihn zur Vernunft. Sag ihm, er soll die Cannegans einfach nicht sehen, wenn er herauskommt. Und dann verschwindet still und bescheiden. Ich habe gehört, dass du dir oben in den Horse Mesas eine kleine Pferderanch aufgebaut hast. Gute Arbeit für einen so jungen Burschen. Du warst sechzehn, als sie Timber einsperrten. Well, bring ihn auf deine Ranch. Vielleicht kommt er dort zur Vernunft.«
Er wendet sich ab, schiebt das Glas gegen die Flasche, sodass es leise klirrt, und verlässt den Raum.
Jesse Flynn sieht in den Spiegel, der ihm gegenüber hinter der Theke hängt. Er sieht sich darin – ein großer Bursche mit breiten Schultern, die etwas knochig wirken. Er sieht sein schmales Gesicht, in dem die Backenknochen hervortreten und dessen Wangen etwas hohl sind. Es ist eine gesunde und sehnige Hagerkeit. Das Kinn ist fest und kantig. Die Nase wirkt etwas zu klein, und eine rote, ungebändigte, wilde Haarlocke fällt über seine Stirn bis zur Nasenwurzel.
Jesse Flynn ist genau einundzwanzig Jahre.
Während er in den Spiegel starrt und einen kleinen Schluck aus dem Glas trinkt, denkt er an die Worte des Sheriffs. Und er erkennt, dass der alte Bursche die Sache richtig betrachtet.
Aber Timber Flynn wird wie ein wilder Wolf sein, wenn er aus dem Zuchthaustor kommt.
Er wischt sich über das Gesicht und beendet somit seine Gedankengänge. Mit einer sparsamen Bewegung wirft er einen Dollar auf die Platte, geht auf die Pendeltür zu und erwidert die herausfordernden Blicke der Männer kühl und lässig.
Jesse erreicht die kleine Querstraße und bleibt an der Ecke einen Moment stehen. Er weiß, dass die Straße zum Hügel hinaufführt, auf dem das alte Fort steht, in dem jetzt das Zuchthaus ist.
Der hölzerne Gehsteig endet in dieser Ecke. Auf den Stufen, die abwärts auf die Gasse führen, sitzt ein kleiner Mann. Flynn sieht vorerst nur die schmalen Schultern und den großen Hut. Aber als er langsam weitergeht und die drei Stufen abwärts steigt, hebt der kleine Reiter sein Gesicht und schaut schräg zu Flynn aufwärts.
»He, Flynn, ich wette, dass sie dich nicht einlassen. Du wirst vor dem Tor auf ihn warten müssen. Und es wird kommen, wie es kommen soll – und wie es sich ein paar Leute wünschen. Du bist ein Dummkopf, Flynn, wenn du dich an Timbers Seite in Stücke schießen lässt. Aber auch das ist wohl schon seit vielen Jahren in einem großen Buch aufgeschrieben und muss so kommen.«
Der Kleine grinst seltsam, und seine wasserhellen Augen funkeln. Flynn studiert das unregelmäßige Gesicht des Mannes. Er kennt den Burschen nicht, hat ihn noch nie im Leben gesehen.
Der Cowboy – dafür hält ihn Flynn der Kleidung nach – scheint auch Gedankenleser zu sein.
»Nein, du kennst mich nicht, obwohl ich dich schon zwei- oder dreimal gesehen habe. Nur wenige Leute kennen mich. Ich bin zu unansehnlich, zu unbedeutend. Na, mein Vater hieß Soda – jawohl, Soda! Als ich geboren wurde, war er besoffen – aus diesem Grunde wurde ich wohl ›Whisky‹ getauft. Ich bin also Whisky Soda. Der Name macht mir jedoch keinen Kummer. Jesse Flynn möchte ich auf gar keinen Fall heißen.«
»Sonst noch etwas?«, fragt Jesse ruhig, doch im Hintergrund seiner rauchgrauen Augen beginnen gelbliche Funken zu tanzen.
»Nein, Bruder. Ich wollte dich nur mal sprechen hören und in deine Augen sehen können. Jetzt ist's geschehen. Sonst ist nichts!«
Die letzten Worte stößt Whisky Soda etwas zu scharf hervor. Dann senkt er das Gesicht. Die breite Krempe des Hutes verdeckt seinen Kopf.
Jesse Flynn geht weiter, biegt in die Gasse ein und folgt ihr. Die Gasse wird zu einem Weg, der zwei Windungen macht und auf dem Platz vor dem Zuchthaus endet.
Jesse erreicht das große Tor. Es ist geschlossen. Und auch die kleine Pforte daneben ist geschlossen. Er zieht am Klingelzug und hört leise das blecherne Scheppern jenseits der Mauer. Über ihm öffnet sich eine kleine Klappe. Der Torwächter zeigt sein zerschlagenes und narbiges Bulldoggengesicht.
»Was ist los?«, grollt die Bulldogge in menschlichen Tönen.
»Ich bin Jesse Flynn«, erwidert Jesse ruhig. »Mein Bruder Timber soll in knapp zwei Stunden entlassen werden. Wahrscheinlich weißt du, Freund, was er sich vorgenommen hat und was auf ihn wartet. Well, ich möchte ihn sprechen, bevor ihr ihn durch dieses Tor lasst. Es wird gut sein, wenn ich ihn vorher sprechen und zur Vernunft bringen kann.«
Die menschliche Bulldogge grinst und zeigt ihr gelbes Gebiss.
»Du hast Pech, mein Sohn. Keine Besuchszeit. Und zur Vernunft kannst du ihn ohnehin nicht bringen. Das haben wir hier fünf lange Jahre versucht. Warum, meinst du, hat dein lieber Bruder in diesem verdammten Kasten die volle Strafe absitzen müssen? He, aus welchem Grund haben sie ihm nicht wenigstens ein paar Monate erlassen – oder ihn nach den beiden Bewährungsjahren in 'ne andere Burg gebracht, wo es gewisse Erleichterungen gegeben hätte? He, warum nicht? Na, ich will es dir sagen, Jesse Flynn: Weil er allen Hass der Welt in sich trägt, weil er der wildeste, dickschädeligste, gefährlichste und bösartigste Insasse ist, den wir in den letzten zehn Jahren hier hatten. Also gibt es keine Vergünstigungen für Timber Flynn. Wenn er durch diese Pforte unter mir kommt, dann kannst du ihn haben und mit ihm sprechen. Das ist alles!«
Er grinst böse. Jesse erkennt, dass dieser Aufseher aus irgendwelchen Gründen nicht gut auf Timber zu sprechen ist.
»All right. Dann will ich wenigstens den Direktor sprechen.«
»Der ist erst am Nachmittag zwischen fünfzehn und sechzehn Uhr für Angehörige von Gefangenen zu sprechen. Und da musst du vorher eine Eingabe machen, und der Tag wird dir schriftlich angegeben, an dem du antanzen kannst. Meinst du denn, Sohn, dass unser Direktor für jeden hergelaufenen Cowpuncher so ohne ...«
»Dann will ich den Oberaufseher sprechen«, unterbricht Jesse ihn kurz. In seinen Augen ist jetzt ein gefährliches Funkeln. Er hasst den Aufseher plötzlich – und es ist der erste Mensch, den Jesse mit aller Inbrunst hasst.
»Du hast keine Chance, Boy«, grinst der Wächter. »Und ganz im Vertrauen – weil wir uns doch hier ohne Zeugen unterhalten – will ich dir etwas sagen: Dein Brüderchen Timber hat uns hier drinnen mächtig zu schaffen gemacht. Er hat uns geärgert, verstehst du? Wir haben nämlich auch unseren Ehrgeiz. Bisher konnten wir jeden harten Burschen klein kriegen, sodass er uns die Stiefel ableckte, wenn wir's haben wollten. Dein Bruder tat's nicht. Deshalb lieben wir ihn so. Und wir freuen uns alle mächtig darauf, wenn die Cannegans es ihm geben. Wir freuen uns alle, dass er zehn Sekunden später in die Hölle sausen wird, dieser verdammte Kerl!«
Die letzten Worte bellt der Wächter heiser hinaus, zieht den Kopf zurück und schließt die Klappe.
Jesse Flynn fühlt die böse Wut heiß in sich aufsteigen. Nun begreift er, warum der kleine Sheriff Bill Timrock auch nichts anderes tun kann als warten.
✰✰✰
Als Jesse das Ende der Gasse erreicht, sitzt der kleine Whisky Soda immer noch auf den Stufen des Gehsteiges. Er grinst wie ein Frosch, aber es ist kein spöttisches Grinsen – es ist ernst und irgendwie kameradschaftlich. Jesse spürt plötzlich, dass der kleine Reiter irgendwie sein Freund ist.
Er nickt dem Burschen zu und will an ihm vorbei und die Stufen hinauf.
»Wenn du jetzt zwei Pferde kaufen möchtest, geh nicht in den Mietstall, sondern zum Schmied. Der hat ein paar feine Gäule im Corral. Und ich wette, er wird sie dir billig abgeben.«
Diese Worte murmelt der Kleine.
»Geh weiter, geh weiter!«, zischt er, als Jesse sich umwenden will.
Und er geht weiter und erkennt, dass überall Leute auf den Gehsteigen stehen und ihn scharf beobachten. In der letzten halben Stunde sind noch mehr Menschen in den Ort gekommen. Vor den Lokalen gibt es für Pferde kaum noch einen Platz an den Haltestangen. Längs der Straße stehen einige Wagen.
Als einsamer Mann, von vielen Augen beobachtet, so geht Jesse die Mainstreet entlang. Er fühlt wieder, dass er hier keine Freunde hat.
Sein Vater war ein berüchtigter Bandit und Revolvermann. Jesse versucht sich daran zu erinnern, warum sein Vater die Cannegans so hasste. Und er erkennt ganz plötzlich, dass er es nicht weiß.
Langsam geht er die Main Street hinunter. In den Bergen auf seiner kleinen Pferderanch, da war er nicht so einsam wie hier in diesem überfüllten Ort.
Sie kommen alle, um Timber mit den Cannegans kämpfen zu sehen – und um zu sehen, ob ich mich auf die Seite meines Bruders stelle, denkt er. Aber ich werde jetzt zwei Pferde kaufen, mit ihnen vor das Zuchthaustor reiten und Timber zwingen, aufzusitzen und mit mir zu reiten.
Das ist sein Plan.
Jesse erreicht die Einfahrt zur Schmiede und geht auf das rote Feuer zu, das aus der Dunkelheit der halb offenen Werkstatt leuchtet.
Die Werkstatt eines Schmiedes, jedenfalls die Feuerstelle, darf nicht zu hell sein. Nur im Halbdunkel kann er das glühende Eisen, welches er mit Hammerschlägen formt, zieht und staucht, gut beobachten und erkennen, ob es noch die richtige Wärme hat.
Jesse wartet, bis der Schmied das Stück wieder ins Feuer geschoben hat und der Junge mit seinen langen Armen den Blasebalg zieht.
Der Schmied wischt sich mit seinem behaarten Unterarm über das geschwärzte Gesicht.
»Hallo, Jesse, ich kannte deinen Vater.«
»Dann werden Sie mir sicherlich keine Pferde verkaufen wollen, was?«
»He, warum sollte ich das nicht? Reden wir nicht darüber. Hinter dem Haus ist ein Corral. Sind gute Pferde drin. Das Stück zum Aussuchen fünfzig Dollar. Im Schuppen daneben liegen einige alte Sättel. Die kannst du für zehn Dollar haben. Junge, ich kann mir denken, wozu du die Pferde haben willst. Die ganze Stadt rechnet es sich aus. Well, vielleicht tue ich ein gutes Werk, wenn ich dir ein paar erstklassige Pferde verkaufe.«
»Erstklassige kosten mehr als fünfzig Dollar«, murmelt Jesse bedächtig und sieht ernst in das geschwärzte Gesicht des Schmiedes.
Es zeigt zwei weiße Zahnreihen.
»Ich bin der Verkäufer – und ich setze den Preis fest, Jesse. Nimm sie für fünfzig Dollar oder scher dich zum Teufel!«
Jesse geht zum Corral.
»Es sieht bald so aus«, murmelt er, »als hätte ich doch ein paar Freunde im Ort.«
Sechs Pferde bewegen sich im Corral, und jedes einzelne Tier ist Klasse. Keines wäre mit zweihundert Dollar zu hoch bezahlt. Jesse Flynn überlegt und kommt zu der Erkenntnis, dass der Schmied einen bestimmten und sehr wichtigen Grund haben muss, ihm die Tiere so billig zu geben.
»Ich werde sie mir also für fünfzig Dollar leihen«, murmelt er und nimmt das Lasso vom Corralpfosten. Er schüttelt es aus und taucht unter den Corralstangen durch.
Der Pinto und der weißbestrumpfte Fuchs gefallen ihm.
Er fängt sie sich heraus und sattelt sie.
Als er damit fertig ist, holt er eine billige Nickeluhr aus der Tasche. Es ist viertel nach elf. In fünfundvierzig Minuten wird Timber Flynn entlassen.
Der Schmied kommt um die Ecke.
»Ich hätte darauf gewettet, dass du dir diese beiden Böcke aussuchst«, sagt er ruhig.
»Hier sind einhundertsiebenundfünfzig Dollar«, erwidert Jesse leise und hält ihm das Geld hin.
»Ich bekomme hundertzwanzig, mein Junge, mehr nicht.«
Er nimmt nur diese Summe und lässt das andere Geld in Jesses Hand.
»Warum tust du das, Schmied?«
»Junge, es hat keinen Zweck, dass ich's dir erkläre – gar keinen! Nimm die Pferde und verschwinde. Viel Glück für dich! Ich mochte deinen Vater. Was wissen schon die Leute von ihm. Wenn du dort den Feldweg nimmst und um den halben Hügel herumreitest, so kommst du an einen anderen Weg, der dich von hinten ans Fort führt. Du brauchst dann nur an der Mauer entlang zu reiten und erreichst das Eingangstor.«
Er dreht sich um und stampft davon.
Jesse sitzt auf. Langsam reitet er durch die Felder davon, den Fuchs an der Leine mitziehend.
Eine halbe Stunde später reitet er um die Ecke der Zuchthausmauer und auf den freien Platz vor dem Eingangstor, durch das Timber Flynn in genau sieben Minuten kommen muss.
Der Platz vor dem Tor ist leer.
Aber ringsum stehen Menschen, und sie stehen so, dass sie nicht in der voraussichtlichen Schussrichtung sind. Die Fenster und Türen der Aufseherhäuser sind dicht mit Körpern und Köpfen gefüllt. In den dürftigen Gärten und dazwischen sind überall Menschen, die leise miteinander murmeln und die Köpfe zusammenstecken.
Als Jesse Flynn mit seinen Pferden um die Ecke kommt, wird das Gemurmel lauter.
Er fühlt eine heiße und wilde Wut über diese neugierige und sensationslüsterne Masse in sich aufsteigen.
Er fühlt sich einsam und allein.
Plötzlich sieht er zwei Männer aus einem der Häuser kommen. Er hat sie vor Jahren schon einmal gesehen und erkennt sie sofort wieder.
Sie sind so groß wie er, Jesse, aber etwas schwerer. Sie wirken beide wie zwei riesenhafte Indianer, wild, hart, geschmeidig und stolz. Es sind Zwillinge. Ihr dunkles Haar rollt sich auf ihren Hemdkragen. Ihre dunklen Gesichter sind hager und glatt rasiert.
Sie tragen Maßstiefel, weiche Lederhosen, grüne Stetsons mit flachen Kronen. Sie sind sich vollkommen ähnlich – so wie zwei schwarze Panther. Aber einer hat eine Narbe am Kinn, und das ist Sloan Cannegan. Sie kommen geradewegs auf ihn zu und halten drei Schritte vor ihm an.
»Du bist ein richtiger Mann geworden, Jesse«, beginnt Sloan schleppend.
»Yeah, damit du es auch von uns hörst, Jesse: Wir sind hier, damit deine Bruderliebe nicht nach uns suchen muss. Was hast du vor, Jesse?«, fragt Roger.
»Ich hoffe, dass ich mit Timber in Frieden davonreiten kann«, murmelt Jesse ruhig.
»Wir wetten mit dir, dass er dich gar nicht ansehen, sondern sofort auf uns schießen wird«, sagt Sloan heiser und leckt sich über die schmalen Lippen.
»Und was hast du dann vor, Jesse?«, fragt Roger wieder, und in seinen Augen leuchtet es gierig.
»Er wird mich sehen und wird mich anhören«, erwidert Jesse starrköpfig. Aber seine Rechte spielt unbewusst mit dem Coltkolben. Und als ob er sich erst jetzt darüber klar würde, fügt er hinzu: »Wenn ihr zu zweit gegen ihn kämpft, schicke ich euch zur Hölle.«
»Keine Angst, Jesse, er soll jede Chance haben – jede«, grinst Sloan.
Roger sieht Jesse eine Weile an.
»So groß bist du nicht, Junge – noch längst nicht, obwohl du wie dein Vater aussiehst und auch seinen Colt trägst. Du magst für dein Alter ganz tüchtig sein, aber so groß bist du noch nicht. Vielleicht, wenn wir mit deinem Bruder fertig sind, vielleicht bekomme ich dann Lust, die ganze Flynn-Sippe vom Erdboden zu vertilgen. Dein Bruder ist ein Narr. Die Dummheit scheint in eurer Sippe verbreitet zu sein!«